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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1873
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 51.   1873.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Der König auf Besuch.
Historische Novelette.
(Fortsetzung.)

Ein ganz eigenthümlicher Reiz liegt in der Waldruhe. Geist und Sinn fühlen sich durch sie angesprochen. Die tiefe Stille, der Friede drängt zur Rührung; die Empfindungen läutern sich, und das Phlegma sinkt zu Boden; Herz und Gemüth werden gleich frischen Quellen von allem Zusatze entbunden, und für den Geist dient das feierliche Schweigen zur Erhebung; ein heiligender Anhauch bricht die Fessel der ihn für gewöhnlich niederziehenden Außendinge … ein entfesselter, freier Geist hat viel Aehnliches mit einem von der Bogensehne geschnellten Pfeile; er fliegt unaufhaltsam in die Weite.

Das war auch der Fall mit dem Berliner Flautisten. Er dachte, langsam fortschreitend und zuweilen stehen bleibend. Dann und wann zog er ein Buch aus der Tasche und las eine oder die andere Stelle nach, die er durch ein eingelegtes buntes Buchzeichen im Voraus findbar gemacht hatte. Auf dem Einbande trug das Buch den Titel: „Mahomet“. Der Inhalt desselben vereinte ihn mit dem bewundertsten Geiste seiner Zeit, mit Voltaire. Er liebte ihn, und daher beschäftigte er sich vorzugsweise mit den reichen Früchten von dessen Geiste.

Die Luft war so mild und dabei so ruhig, daß von dem in den Septembertagen beginnenden Blätterfalle kaum ein Zeichen auf den Wegen, am Fuße der hohen Stämme zu bemerken war. Hier mußten die Töne der Flöte herrlich klingen. Der Spaziergänger schien Lust zu haben, seinem Instrumente auf dem Wege, den er langsam wandelte, Melodien zu entlocken; aber eine knorrige Kastanienwurzel, die den Pfad uneben machte, hätte ihn, der sie nicht bemerkte, beinahe zu Falle gebracht; darum gab er den Gedanken auf, gehend zu musiciren; es gab ja noch genug Stellen im Parke, wo er sein Vorhaben ausführen konnte. Die immer stärkere Hellung zwischen den hohen Bäumen vor sich machte ihn aufmerksam, daß er dem großen Durchbruche zwischen dem Palais und dem Hasensprunge nahe sei. Dort gab es kleine Partien Gebüsch mit Moosbänken; das wußte er von einem frühern Besuche des Parks her. Er wollte eine Moosbank aufsuchen, und der von ihm eingeschlagene Pfad führte ihn gerade auf eine solche zu; aber als er in deren Nähe war, blieb er überrascht stehen, denn er sah ein blaues Damenkleid von daher schimmern. Auf dem moosigen Boden zwischen den Baumstämmen blieb sein Schritt unhörbar, und als er sich geräuschlos so weit genähert hatte, daß er die daselbst Sitzende von der Seite sehen konnte, erblickte er ein in tiefes Sinnen verlorenes junges Mädchen. Wie ernst auch die Gedanken des Lauschenden für gewöhnlich sein mochten, so fühlte er sich jetzt doch nicht frei von Neugierde. Was konnte Das sein, was so schwer auf diesem jungen Frauenzimmer lastete, das seinem Aeußern nach alle Ursache hatte, frisch und fröhlich in das so sichtbar sich vor ihm erst erschließende Leben zu schauen?

Während sein Blick sich durch das hochaufgeschossene Strauchwerk, das ihn verbarg, auf die Sitzende richtete, welche die Hände nachlässig in den Schooß gelegt und das hübsche Gesicht auf den Busen niedergesenkt hatte, rollte langsam auf dem Wege außerhalb des Parks am Hasensprunge ein Bretterwagen vorbei; aber das durch ihn verursachte Geräusch hörte plötzlich auf, ein Zeichen, daß das Fuhrwerk anhielt.

Sowohl die junge Dame wie auch der hinterm Strauchwerk Lauschende wendeten die Augen dem Hasensprung zu, und was sie da sahen, war ganz geeignet, ihr Erstaunen zum höchsten Grade zu steigern. Zwei Männer zogen ein starkes, sehr langes Brett mit größter Eilfertigkeit hinten vom Wagen herab, dessen Gespann und Vordertheil nicht zu sehen waren, denn die Umgrenzungsmauer deckte sie. Nachdem es kaum heruntergezogen, schoben sie es mit außerordentlicher Schnelligkeit über die in der Breite mehrellige, tiefe Kluft des Hasensprunges, die sie dadurch vollkommen überbrückt haben würden, wenn das starke Eisengeländer des auf der Parkseite befindlichen Kluftmauerrandes das gestattet hätte; aber so konnte das Brett nur eine Auflage von wenigen Zollen gewinnen, und ganz deutlich hörten die voll Erstaunen Zusehenden einen der das Brett Regierenden sagen:

„’s faßt nicht Auflage genug … Was nun?“

„Haltet’s nur fest, Leute! nicht locker lassen … ich komme schon hinüber.“

Der das sprach, ein junger Mann in einem Leinenkittel, einen Dreispitz auf dem Kopfe, trat neben der Mauer hervor, die das Gespann und das Vordertheil des Wagens verdeckte, und schwang sich auf das Brett, das unter seiner Wucht von dem jenseitigen Mauerrande langsam abzurutschen begann.

„Ach Jesus!“ rief Einer der das Brett Haltenden … in diesem Moment wagte der diesen höchst unsichern Steg Passirende einen gewaltigen Sprung und ergriff glücklich mit beiden Händen das Geländer; zugleich aber polterte das Brett in die Tiefe hinunter. Die beiden Männer hatten es nicht von dem Sturze zurückhalten können; der Druck, den der Springende durch seine Körperwucht auf dasselbe bewirkt, war zu stark gewesen; sie mußten es loslassen, wenn sie nicht vom Uebergewicht mit hinabgerissen werden wollten.

„Fort! fort!“ rief der junge Mann, dessen Arme eine so [820] rapide Muskelkraft entwickelt hatten, daß er im gleichen Augenblick, als das Brett unter ihm wich, sich an dem Eisengeländer anklammernd, dem Mauerrand mittelst eines gewaltigen Schwunges mit den Fußspitzen als Haltepunkt erreicht und sofort über dasselbe gesprungen war.

Der Wagen donnerte auf dem unebenen Wege fort. Alles das geschah so schnell, daß die beiden Personen im Parke von Dem, was sie eben mit Augen gesehen, wie betäubt waren. Das Erstaunen des hinter dem Strauchwerke Lauschenden wuchs aber ebenso bedeutend wie das der jungen Dame, als diese den auf so ungewöhnliche Weise in das Mosczynskische Territorium sich Einschmuggelnden erkannte und seinen Namen „Willi!“ rief.

„Ah, Du hier, Schwester Doris? Das ist ein Glück für mich. Wahrhaftig, mein Stern meint es gut mit mir.“ Mit dieser Erwiderung eilte der kühne Springer auf die junge Dame zu, die sich von der Moosbank erhoben hatte. „Daß ich Dich hier finde, ist mir ein Zeichen, daß der König ausgeritten ist; sonst hättest Du Dich wohl nicht in den Park gewagt,“ sagte der junge Mann rasch. „Habe ich recht vermuthet, Doris?“

„Ganz recht, Willi, und ich habe diese Gelegenheit benutzt, um nur ein wenig mich auszugehen, den frischen Aushauch der Bäume zu athmen. Ach, es ist schrecklich, immer und immer, wie ein gefangener Vogel im Käfig, in der Stube sitzen zu müssen, deren Kleinheit fast erdrückend wirkt. – Aber sage mir nur um’s Himmelswillen, was treibst Du denn für Possen? Warum kommst Du nicht zum Thore, wie jeder andere vernünftige Mensch, herein? Das ist noch das Beste bei der ganzen königlich preußischen Wirthschaft hier, daß die Wachtposten ganz und gar nicht auf die Leute aufpassen, die zu uns hereinkommen.“

„Ja, Kind, daß ich nicht so frank und frei wie jeder andere vernünftige – wohlverstanden, vernünftige! – Mensch hereinkommen kann, hat seinen guten Grund. Sollst’s gleich hören. Rücke zu, Doris!“

Nachdem er sich neben ihr niedergelassen, redete er weiter: „Daß man mich für einen Tollkopf hält, je nun, ’s ist ’was daran; ich mag’s gar nicht leugnen, und zu allem Unglück bin ich noch über die Möglichkeit verliebt … weißt ja, in die kleine, wunderhübsche Karoline Vitzthum. Es giebt nichts Langweiligeres in der Welt als das Lagerleben, nicht zum Aushalten, sage ich Dir, vielmehr zum Umkommen. Da fasse ich gestern Abend den Entschluß, einen Abstecher in die Residenz zu machen, und heute Morgen saust mein Cäsar auf gut Glück nach hier, natürlich nicht auf der Straße, die zwischen uns und den Preußen als neutraler Boden für den Courierwechsel und dergleichen Ueberraschungen angesehen und respectirt wird, denn ich hätte da einen Paß mit unseres Königs Unterschrift vorzeigen müssen. Die preußischen Husaren kriegten mich auf’s Korn und die Kerls reiten wie der helle Teufel; aber mein Cäsar hat eine eisenbeschlagene Lunge. Es ging wie im Fluge mit ihm, und trotz einiger mir nachgeschickter Kugeln kam ich glücklich nach Räcknitz. Dort ließ ich Cäsar beim Bauer Ulbrich stehen, der, wie Du weißt, Alles, was Stall und Feld gab, an die Hausverwaltung der Frau Gräfin Mosczynska bis Dato abgeliefert hat, jetzt aber nichts mehr abliefern kann, weil ihm die Preußen Vieh, Futter und Getreide weggenommen haben. In einem Planwägelchen fahre ich ungehindert in die Stadt – und komme zu spät. Karoline ist mit ihrer gnädigen Mama bei Holzendorfs zum Diner geladen, nach vier Uhr erst zu sprechen. Die Zeit von vier Stunden todtzuschlagen, gehört schon unter die Künste, wenn man sie nicht geradezu verschlafen will; gehe also zu Zimmermann, dem Traiteur am Neumarkt bei der Moritzstraße. Alles gut dort, Speisen und Weine. Kommen viele Pensionärs, Angestellte aus den Collegien, mit einem Worte, gute Gesellschaft hier. Trifft mich doch fast der Schlag, als ich den Hauptmann von Köpping vom Bataillon Neuwied, das einen Theil der hiesigen Garnison ausmacht, eintreten sehe. Du erinnerst Dich doch, Doris, des stark angetrunkenen rüden Officiers, der wegen Dir mit Major von Wangenheim in Conflict gerieth und ihn zum Duell forderte, nicht wahr?“

„O gewiß. Dieser Mensch ist mir die einzige unangenehme Erinnerung an unseren vorjährigen Aufenthalt in Berlin,“ antwortete die Gefragte.

Der Jagdjunker fuhr fort: „Daß er auch sofort, als er meiner in der Gaststube ansichtig wurde, den Entschluß faßte, mit mir anzubinden, sah ich an seinem rothen Gesichte. Er war kaum vermögend, seine bösartige Freude zu verbergen. Der Zufall wollte, daß er mir gegenüber zu sitzen kam, und es dauerte nicht lange, als er über unseres Königs Majestät zu schimpfen anfing, demselben schändliche Titel beilegte und dann ein höchst ehrenrühriges Raisonnement über die Königin und die Mitglieder der königlichen Familie anhob. Keiner der Gäste wagte, den Lümmel von Hauptmann auf die nöthige Rücksichtnahme aufmerksam zu machen; mehrere eilten sogar fort, weil sie ein schlechtes Ende dieser Tafelfreude voraussahen. Ich allein erhob mich und sagte dem Elenden, daß seine Schimpf- und Lästerbravade sicher nicht mit der Absicht seines königlichen Herrn, der alle Höflichkeitsformen gegen unsern König und Allerhöchstdessen Familie streng beobachte, übereinstimme, und rieth ihm an, zu schweigen. Aber nun begann der Mensch einen Scandal so gemeiner Art, daß ich ihm zurief, nur ein so Nichtswürdiger, wie er sei, könne so gemein sein. Das machte ihn vollends rasend. An den Fenstern vorübergehende Soldaten seines Bataillons schrie er herein, mich zu arretiren. Diese Feigheit bezahlte ich ihm jedoch mit einer Ohrfeige prima Sorte, daß er an die Wand fiel. Den Eintritt der Soldaten, die noch nicht wußten, weswegen sie hereingerufen worden waren, benützte ich, um die Gaststube zu verlassen, doch kaum war ich auf dem Markt im Freien, als sie die Hetze nach mir begannen; aber sie lief schlecht für sie ab. Mit gezogenem Hirschfänger entsprang ich auf der Pirnaischen Gasse in’s Judenhaus,[1] wo früher ein Freund von mir wohnte, weshalb ich die Oertlichkeiten dieses großen Gebäudes kenne. Die in’s Schloß geworfene Thür und der von mir schnell vorgeschobene Riegel machte eine Arretur unmöglich. Ich entkam über die Gartenmauer in den Hofraum eines Hauses der Rampeschen Gasse, wo ein Zimmermann, dessen Sohn bei der königlichen Jägerei als Unterpiqueur angestellt ist, mich glücklich hierher spedirt hat. Nun, Doris, weißt Du Alles. Ich höre nicht auf, Tollheiten zu machen. ’s ist ein Unglück, aber wer kann’s ändern? Ehe der Morgen anbricht, muß ich von hier fort. Ich werde gleich neben Eurem Wohnhause die Mauer übersteigen und mich dann nach Räcknitz zu meinem Cäsar begeben, der mich hoffentlich gesund und heil wieder nach Struppen in’s Lager bringen wird.“

„Man kommt mit Dir aus einem Tod in den andern,“ sagte das junge Mädchen.

„Das trifft, Doris, trifft auf’s Blatt; aber jetzt komm’! Ich habe Hunger und brauche auch Ruhe,“ mahnte der Jagdjunker. „Wahrhaftig, Kind, das soll meine letzte Tollheit gewesen sein … ich werde nun ein frommer Waldbruder.“

„Als Jagdjunker bist Du ja schon bei der Waldbrüderschaft,“ entgegnete Doris lachend. „Mit Deiner Frömmigkeit wird’s aber immerdar schlecht bestellt bleiben, denke ich mir.“

Der hinter dem Strauchwerk Stehende blickte den sich Entfernenden mit einem Gemisch von Staunen und Heiterkeit nach, das sich, als sie zwischen den Bäumen seinen Augen entschwunden waren, in ein Selbstgespräch auflöste. „Der Mensch bleibt immer Lehrling,“ redete er vor sich hin. „Wenn er es am wenigsten denkt, drängt sich ihm eine Lehre auf, welche, läßt er sie unbenützt, ihn in Gefahr bringen kann.“ Seinen Blick nach dem Palais zurückwendend, fuhr er fort zu sich selbst zu sprechen: „Ich befinde mich da auf einem sehr ausgesetzten Posten. Wer bürgt dafür, daß es nicht noch andere Tollköpfe giebt, die denselben Weg, den dieser Piquebube hier herein als einen sicheren in Ausführung brachte, ganz praktisch finden, um mich nächtlicher Weile in aller Gemüthlichkeit aufzuheben? Dem muß man im Voraus begegnen mit einem Grenadierpiket … das ist eine Abhülfe. Ich werde die betreffende Ordre geben.“

Langsam verließ er seinen bisherigen Standort, nach dem Palais zurückgehend. „Doris heißt die junge Dame … Doris … der Name hat guten Klang bei mir … Doris Ritter … arme, arme Doris!“

In den so ernsten Gesichtszügen des Mannes zeigte sich eine tiefe Erregung bei diesem Rückblick. Eine schmerzliche Jugend-Erinnerung mochte in diesem Augenblicke wieder vor seine Seele treten. Doris! Eine Welt voll Wonne und Schmerz, voll höchsten Glückes und tiefster Resignation tauchte bei diesem Worte in dem Dahinwandelnden auf. Ueber seine Stirn glitt es wie ein Schatten der Wehmuth und doch lag in seinem Auge etwas wie Indignation, [821] ja sogar wie Zorn. „Doris, arme Doris!“ flüsterte er, indem er langsam weiter schritt.

„Auch sie heißt Doris … hm, wer mag sie sein?“ Diese natürlich unbeantwortet bleibende Frage erhielt jedoch eine Enträthselung durch seine Erinnerung an Einzelheiten in der Erzählung des Junkers. „Der Wangenheim kennt sie,“ sagte der König. „Er muß mir über diese Doris rapportiren.“

Nach und nach verfinsterte sich sein Gesicht wieder, und zwischen seinen von Aerger ziemlich zusammengekniffenen Lippen drangen die Worte: „Köpping … Hundsfott der … soll mich kennen lernen … elender Raisonneur!“ hervor. – –

Der Hauptmann der dem königlichen Quartier zu Schutze dienenden Wachtmannschaft erhielt Befehl, bei dem König zu erscheinen, eine Ordre, die, weil man nicht vermuthen konnte, was sie bezwecke, bei seinen Umgebungen eine nicht geringe Sensation hervorrief, umsomehr, als nach langer Besprechung der König darüber schwieg und der Hauptmann gleichfalls Schweigen beobachtete. Das war so lange beunruhigend, bis einer der königlichen Ordonnanzofficiere die Entdeckung machte, daß am Hasensprunge ein Doppelposten aufgestellt worden. Darüber lachte man, denn die Geheimnißthuerei mit dieser Ordre erschien doch ein wenig zu weit getrieben; das konnte ja wie alle anderen Befehle ohne solche Verhüllung abgemacht werden.

Von den Stadtthürmen hatte die erste Stunde nach Mitternacht geschlagen, als eine Patrouille von sechs Mann, einem Corporal und dem wachthabenden Lieutenant aus dem Gatterthore marschirte, welches das Palais-Territorium nach jener großen tiefliegenden Wiesenfläche zu, die den Namen „Bürgerwiese“ führte, abschloß. Das war ungewöhnlich. Bisher hatte die jeden Mittag wechselnde Mannschaft der königlichen Quartierwache einen Patrouillendienst weder innerhalb noch außerhalb des Mosczynski’schen Grund und Bodens zu verrichten gehabt. Schweigend marschirte die Patrouille (… Jeder war neugierig, wohin es gehen werde …) längs der Umgrenzungsmauer hin; sie brauchte nicht Schritt zu halten, eine Thatsache, welche die Leute in Erstaunen setzte, weil das ganz gegen das gewöhnliche Herkommen lief. Tritt und zwar sehr hörbaren, gleichmäßigen Tritt halten, gehörte zur unerläßlichen Vorschrift für die größte wie für die kleinste Soldatenabtheilung. Am Hasensprunge außerhalb angelangt, wurde einen Augenblick Halt gemacht. Innerhalb am Eisengeländer stand der Hauptmann der Wache, und der die Patrouille führende Lieutenant wechselte mit ihm ein paar Reden in französischer Sprache; dann gab er Befehl, womöglich leise aufzutreten.

„Was soll das nur geben?“ flüsterten die Soldaten untereinander.

Endlich erreichten sie die beiden kleinen, niedrigen Gebäude, die mit ihren Dächern die Mauer überragten und zwischen denen sich das große eiserne Gitterthor befand.

Es war gestern windstill gewesen. Die mitternächtliche Stunde brachte einen gewaltigen Umschlag in dieser Beziehung mit sich. Von Westen erhob sich ein scharfer Luftzug, der, sich allmählich noch verstärkend, zum brausenden Winde anwuchs. Am Himmel zogen dunkle, schwere Wolkenmassen auf, die ihn unter dem Einflusse des sie gewaltig treibenden Windes bald ganz bedeckten und für den nächsten Tag viel Regen ankündigten. Der Lieutenant erreichte endlich mit seiner Patrouille, die, dem Winde entgegenmarschirend, nur langsam vorwärts kam, die beiden niedrigen langgestreckten Häuser und vertheilte seine Leute so, daß drei derselben mit ihm an dem einen, die anderen Drei mit dem Corporal an dem andern Gebäude Posto faßten. Ein gewaltiges Rauschen machte hoch über ihren Häuptern aus dem Parke her sich hörbar, als zöge die Gespensterschaar der fabelhaften wilden Jagd durch die in tiefe Nacht gehüllte Baumwelt. Um sich nur ein wenig vor der Unbill des immer ärger tobenden Windes zu schützen, standen die Mannschaften beider Posten hart an die Mauer gedrückt in anbefohlenem Schweigen. Es war eine sehr harte Prüfung, der sie sich ausgesetzt sahen. Auch nicht einmal der Uhrschlag von den Stadtthürmen kürzte ihnen die Zeit, denn jeder Ton verwehte ungehört im Winde.

Sie mochten in dieser höchst unerquicklichen Position ungefähr anderthalb Stunden ausgehalten haben, als ihnen in einer nur wenige Secunden dauernden Pause, die der heulende Wind in seinen fürchterlichen Anstrengungen eintreten ließ, ein lebhaftes Geräusch, als werde ein schwerer Gegenstand oben an den Mauerrand gelehnt, zu Ohr kam. Leise befahl der Lieutenant, da dieses Geräusch an der Stelle hörbar ward, wo er mit seinen drei Mann stand, daß der Corporal mit seiner Mannschaft zur Unterstützung seines Postens herankomme. Kaum war dies geschehen, als sich oben auf der Mauer eine kräftige Stimme hören ließ:

„Haltet die Leiter fest, Leute! Ich lege jetzt die Schlingen um die beiden Langstangen und dann halte ich meine Niederfahrt. Eine verdammt finstere Nacht, meine Seel’! Aber sie hat auch ihr Gutes.“

Dieser, wenigstens in Beziehung auf die Mauerhöhe, auf der sie ausgesprochen wurde, erhabenen Aeußerung folgte eine Pause, dann hörte man dieselbe Stimme sagen:

„So, das wäre fertig. Grüßt mir meine Schwester und die Frau Castellanin! Sollen keine Angst um mich haben. Nun aber die Leiter festhalten, daß sie nicht wankt. Jetzt!“

Unmittelbar nach dem letzten Worte wurde das Geräusch des an der Mauer geschehenen Herabrutschens eines Gegenstandes vernehmbar. Das lange Verweilen der Soldaten in der finstern Nacht hatte ihre Augen insoweit an diese gewöhnt, daß sie die Gestalt eines Menschen erkannten, der zwischen zwei von der Mauer niederhängenden Leinen herabfuhr. Ehe er noch mit den Füßen den Erdboden erreichte, nahmen die Soldaten ihn fest, und zu gleicher Zeit, ehe er einen Laut schreckhafter Ueberraschung ausstoßen konnte, drückte sich eine breite feste Hand auf seinen Mund.

„Keinen Mucks, Herr, um Ihrer selbst willen nicht! Die Bekanntschaft mit unseren Bajonneten ist keine angenehme,“ raunte ihm der Lieutenant zu. Für den Ergriffenen war stilles Fügen in diese gleichsam vom Nachthimmel auf ihn gefallene Schicksalstücke das einzig rathsame Mittel, besonders da er keine Gegenwehr leisten konnte, denn um seine Hände vor dem Durchreiben an den beiden zu seiner Niederfahrt dienenden Leinen zu bewahren, hatte er sie mit Tüchern umwunden. Jenseits der Mauer wurde, da unter dem sausenden Winde kein Laut von ihm zu hören war, die Leiter aufgerichtet und dadurch die mittelst Schlingen an deren Langstangen befestigten Leinen in die Höhe und über den Mauerrand zurückgezogen. Mittelst eines um jeden seiner Arme gelegten Strickes, dessen Ende sich in den Händen der Soldaten befand, wurde der Gefangene auf demselben Wege, den die Patrouille hierhergenommen, forttransportirt. Der feste Tritt der Soldaten, welche sehr eilig im Geschwindschritt marschirten, blieb unhörbar unter dem gewaltigen Rauschen des Windes und seinem vielstimmigen Geheul über die Felder hin.




4.

Mit Anbruch des Morgens hatte sich der Wind gelegt, und die schweren dunkeln Wolkenmassen, welche dem folgenden Tage das üble Prognostikon eines sehr regenreichen gestellt hatten, waren mit ihm verschwunden, dafür war aber bis in die neunte Morgenstunde ein grauer Nebelschleier zurückgeblieben, den jedoch die Sonne mit siegesstrahlendem Antlitze durchbrach. Sie goß über das reizende Elbthal die Fülle ihrer Glorie.

Die Frau Castellanin saß beim Morgenkaffee so still in ihrer Stube, als haben sich ihre Gedanken in die ziemlich mißlichen Zustände der Zeit vertieft. Trotzalledem war sie ungewöhnlich geputzt. Ein pfirsichblüthenfarbiger, sehr weiter und bauschiger seidener Rock, ein blauseidenes enganliegendes Mieder mit kurzen Aermeln und einer sehr langen Schneppe, ein schneeweißes Brusttuch von Mull mit ebenso reichem Spitzenbesatz wie die Miederärmel, das als eine zierlich gesteckte Draperie den Busen verhüllte, und eine ganz ausgezeichnete Dormeuse, die ihrem Kopfe das Ansehen einer umfangreichen Bastion verlieh, auf der zwei breite blauseidene Schleifen wie ein paar Maulthierohren sich erhoben und mit dem unter dem Kinn zusammengebundenen gleichfarbigen Bindebande correspondirten – alles dies verschönte heute das Aeußere Frau Mariannens. Vorzüglich die Dormeuse, ein Haubenungeheuer damaliger Zeit, erweckte bei ihr, die ihre Blicke auf den ihr gegenüberhängenden Spiegel gerichtet hielt, sichtbares Wohlgefallen. Sie erinnerte sich an die Zeit ihrer Kammerjungferschaft, wo sie in Verfertigung von derlei Putzgegenständen für ihre gnädigste Gräfin, eine Dame, welche den Ton im höchsten Hofkreise anzugeben pflegte, [822] excellirt hatte, und gestand sich’s mit vielem Vergnügen zu, daß die Dormeuse, welche sie heute trug, ein wahrhaftes Meisterstück ihrer Kunstfertigkeit sei. Und dabei, während sie hin und wieder einen Schluck Kaffee und einen Bissen Zwieback genoß, lebte in ihrem Herzen die stille Hoffnung auf das Wiedersehen des Berliner Flautisten wie eine von Zauberkraft emporgetriebene Blüthe auf.

„Es ist wirklich eine Feindseligkeit des Schicksals, daß es uns solche wichtige Momente in unserem Leben, wie meine gestrige Begegnung mit dem Herrn Fritz, nicht vierundzwanzig Stunden voraus ahnen läßt, damit man sich doch respectabel dazu ankleiden könnte,“ sprach sie dann etwas unwirsch vor sich hin. „Was muß der Mann von mir gedacht haben, als er mich in dem schon etwas verschossenen apfelgrünen Rocke und der Lila-Contouche sah! Schändlich! Just wenn man Epoche machen kann und auch will, steht man wie ein Aschenbrödel da.“

Diese sie in ärgerliche Stimmung versetzende Betrachtung über die Rücksichtslosigkeit und Tücke des Schicksals in solchen delicaten Angelegenheiten erlitt sofort eine Ableitung auf ganz andere Gedanken, denn durch die Stille des sonnendurchleuchteten Morgens wurden vom Palais drüben Flötentöne hörbar. Frau Marianne sprang wie elektrisirt auf, öffnete das Fenster und horchte hinaus. Ob es der Herr Fritz sei, der die Flautuse so schön blies? Dieser Gedanke beschäftigte sie ausschließlich. Die mit großer Virtuosität geblasenen Passagen klangen so rein und glockenhell ihr in’s Ohr, daß sie ganz und gar ihr Frühstück vergaß, und als der Unsichtbare die prächtige Fantasie, die er seinem Instrumente entlockt hatte, endlich schweigen ließ, hielt sich die mit einer gleichsam andächtigen Hingebung Lauschende überzeugt, nur ein Künstler, wie Herr Fritz einer sei, könne der Schöpfer dieses melodischen Genusses gewesen sein, obwohl sie nicht die geringste Berechtigung für diese Annahme hätte geltend machen können.

Die Frau Castellanin gehörte zu Denen ihres Geschlechts, welche einen großen Fond von Reizbarkeit im Gemüthe tragen und dadurch leicht zu Selbsttäuschungen verführt werden. Ihre hübsche jugendliche Erscheinung war die Ursache gewesen, daß selbst Cavaliere, die im gräflich Mosczynskischen Hause viel verkehrten, es nicht verschmäht hatten, ihr, natürlich unter dem Deckmantel des Geheimnisses, die Cour zu machen. Ihre zwölfjährige Ehe gehörte zwar zu den friedlichen, wenn auch nicht zu denen, wo wirklich beide Gatten sich durch einander beglückt fühlen. Ihr Mann war ein Vielschwätzer, und die Ueberzeugung Mariannens, daß ihm Selbstachtung fehle, weil seine Verheirathung mit ihr nur ein Ergebniß des Eigennutzes sein konnte, da er in ihr einen beständigen Rückhalt in der Gunst der Frau Gräfin sah, ließ ihr seinen Tod nicht sehr zu Herzen gehen. Sie fühlte keinen Antrieb in sich, Wittwe zu bleiben, und Herrn Nehemia Drill’s unterwürfige Verehrung für ihre Person hatte die beste Aussicht, sie zur Verbindung mit ihm zu gewinnen, obwohl für sie etwas Verletzendes in dem Bewußtsein lag, daß der Mann mit den strammen Schenkeln die Hoffnung auf den mit ihrer Hand zugleich zu erhaltenden Castellansposten als einen zuweilen sich verrathenden Hintergedanken in sich trug. Erst durch sie gelangte er dann zu einer guten einträglichen Stellung im gräflichen Hause; ohne sie blieb er Das, was er war, ein Diener von sehr untergeordnetem Range. Sie konnte nicht stolz auf diese Errungenschaft sein … der Eigennutz war auch bei ihm die Triebfeder seiner Neigung zu ihr.

Wie ganz anders hatte der Herr Fritz ihr gegenübergestanden! Er, ein Künstler, ein Flautusenspieler gewiß ersten Ranges – sonst hätte ihn der König nicht nachkommen lassen – und dann seine imponirende Ruhe, seine kurze Redeweise, als wäre er nicht gewöhnt, viele Worte zu machen, und als müsse Jeder damit zufrieden sein, wenn er überhaupt gewürdigt werde, daß er mit ihm sprechen dürfe, und schließlich seine großen zauberischen Augen … ha, diese Augen hatten so fest auf ihr geruht, daß sie deren wunderbaren Blick nicht vergessen konnte. Eins nur beunruhigte sie. War er verheirathet oder Junggeselle? Der erstere Stand hätte natürlich alle ihre Träumereien niedergeschlagen; aber Frau Marianne besaß eine große Ausdauer im Capitel der Hoffnungen. Mit großer Befriedigung war sie auf den Gedanken gekommen, er könne Wittwer sein. Das erhielt sie bei frohem Muthe. Sie lebte sich ebenso rasch, weil es ihrem Wunsche entsprach, in diese Vorstellung hinein, wie in die Annahme, nur er könne der Künstler gewesen sein, der die Flautuse so meisterhaft geblasen. Um über alles Das in Klarheit zu kommen, bedurfte es nur einer Begegnung mit ihm, und eine solche herbeizuführen, erschien ihr gar nicht so schwierig. Herr Nehemia Drill sollte den Kammerdiener des Königs befragen, wann sein Herr ausreite. Bisher war das jeden Vormittag geschehen, und warum sollte heute gerade eine Ausnahme stattfinden? Der Saal bedurfte einer Reinigung und bei dieser Gelegenheit hoffte sie Herrn Fritz zu sehen.

Sie hörte Doris im Hausflur mit Nehemia sprechen, schloß eilig das Fenster und setzte sich an den Kaffeetisch. Gleich darauf trat das Fräulein in die Stube.

„Mein Himmel, wie blaß Sie aussehen!“ rief ihr die Castellanin entgegen, „so übernächtig. Aengstigen Sie sich doch nicht um den Junker Willi. Der sitzt sicher im Lager und lacht über sein glücklich bestandenes Abenteuer. Müßte den nicht kennen!“

Diese Tröstung wollte aber bei dem Fräulein nicht verfangen. Doris ließ sich ganz ermüdet auf dem Kanapee nieder und erzählte, daß sie erst gegen Morgen, als sich schon das erste Streiflicht des Tages an der Wand der Schlafkammer bemerkbar gemacht, eingeschlummert sei.

„Und haben ganz köstlich geschlafen, Fräulein Doris,“ sprach Frau Marianne. „Bin bei Ihnen drinn gewesen und habe mich, auf den Zehen schleichend, leise wieder herausgemacht, um Sie ja nicht zu wecken.“

„Sie ist immer gut und sorgsam, Frau Castellanin,“ entgegnete die junge Dame. „Wenn ich nur die Angst von mir scheuchen könnte, aber die lastet wie Centnergewichte auf mir.“

„Was denn für eine Angst, Fräulein? Junker Willi ist ja glücklich entkommen und der preußische Sachsenfresser … Köpping nannte er ihn … hat seine Ohrfeige in aller Ruhe einstecken müssen. Das ist doch eher zum Lachen, als zum Aengstigen.“

(Schluß folgt.)




Alte Städte und altes Bürgerthum.
2. Heilbronn am Neckar.


Es ist ein zwar durchaus nicht großartiges, aber äußerst liebliches, herzerfreuendes Landschaftsbild, das vor den Blicken Desjenigen sich ausbreitet, welcher der alten Neckarstadt Heilbronn einen Besuch macht. Hat der Reisende, von Süden her kommend, dem prachtvollen Bahnhof der württembergischen Landeshauptstadt sich entwunden, so besteigt er in anmuthigen Windungen der Bahnlinie, von welchen aus die freundlichsten Ausblicke auf die Residenz und ihre reizenden Umgebungen sich bieten, ein Plateau. Von der Höhe desselben bei der Knotenstation Bietigheim herabgefahren begrüßt er den Hauptfluß des Landes, den Neckar, da, wo dieser, am Fuße der alterthümlichen Landstadt Besigheim, die grünen Gewässer der dem Schwarzwald enteilten Enz in sich aufnimmt. Hier engt das Neckarthal sich so sehr ein, daß einer der dem gewundenen Stromlaufe folgenden Rebenhügel durch einen Tunnel von beträchtlicher Länge durchstochen werden mußte. Dem Dunkel dieses Tunnels entkommen, eilt die Locomotive an dem alten Lauffen vorüber, wo rechts von hoch über dem Flusse sich erhebendem Gemäuer die stattliche Hauptkirche dem Reisenden zuwinkt. Neben derselben birgt sich die kleine, aber durch ihre reine Gothik interessante Regisuinde-Capelle, während links vom Geburtshause Hölderlin’s, einem zu dem ehemaligen dortigen Kloster gehörigen Gebäude, her die zum hundertjährigen Geburtsfeste des unglücklichen Dichters (geboren 1770) gestiftete, jüngst durch eine ansprechende Feier inaugurirte metallene Portraitbüste ihm entgegen blinkt, welche dessen Züge in überraschender Jugendschöne wiedergiebt. Bald öffnet sich die Enge, welche Lauffen umschließt, zu einem weiten, lachenden Thale, umspannt von einer Reihe von Hügeln, welche in allen ihren sonnigen Halden mit Reben bepflanzt und oben meist mit Wäldern bekränzt sind, und in dessen Mitte die zahlreichen

[823]

Götzen-Thurm.
Kätchen´s-Haus. Rathaus.
Wartberg. St. Kilians Kirche. Alter Brunnen.
Am Neckar.
Heilbronn am Neckar.
Originalzeichnung von E. Schröder.

[824] Thürme und thurmartigen Schornsteine Heilbronns weithin die Blicke auf sich ziehen.

Führen wir, um dieses anmuthige Landschaftsbild in seiner ganzen Ausdehnung überblicken zu können, unsere Reisenden auf eine der umgebenden Höhen, etwa den vielbesuchten Wartberg. Es breitet hier ein ansehnlicher Theil des niederschwäbischen Berg- und Hügellandes vor dem Blicke sich aus: süd- und westwärts einzelne Höhen der schwäbischen Alb, des Strom- und Heuchelberges und nördlichen Schwarzwaldes, nordwärts Theile der Vogesen und des Odenwaldes, rückwärts oder ostwärts die Löwensteiner Berge, deren äußerster, bis dicht an das rechte Neckarufer vorgeschobener Ausläufer eben der Wartberg ist, der neunhundertsechsundvierzig Pariser Fuß über das Meer, vierhundertsechsundvierzig über den Neckarspiegel sich erhebt. Als einzelne von hier aus sichtbare Höhenpunkte sind zu nennen: die Weibertreue, die Waldenburg, der Stocksberg bei Löwenstein, der Hasenberg bei Stuttgart, die Solitude, Hohenasperg, die Ruine der Burg Neipperg, des Stammschlosses der Grafen gleichen Namens, die Heuchelberger Warte, der kegelförmige Steinsberg, der weltbekannte Königsstuhl bei Heidelberg, der nur durch den Neckar von diesem getrennte, aber einem anderen Gebirge, dem Odenwalde, angehörige Heiligenberg und die Haupterhebung des letztgenannten Gebirges, der durch vulcanische Kräfte erhobene imposante Katzenbuckel (Melibocus) von tausendneunhundertzweiunddreißig Fuß absoluter Höhe.

Den Mittelpunkt dessen aber, was zunächst zu den Füßen des Beschauers sich ausbreitet, bildet die Stadt Heilbronn selbst mit ihren vielen Thürmen, unter welchen der hoch aufstrebende, vielfach durchbrochene Hauptthurm der Kilianskirche einen besonders schönen Anblick darbietet.

Gehen wir nun von der landschaftlichen Betrachtung zu der geschichtlichen über. Der Landstrich, auf welchem heute Heilbronn steht, tritt in die Geschichte ein mit seiner Eroberung durch die Römer zur Zeit des Kaisers Hadrian. Er gehörte nämlich zu jener Südwestecke Deutschlands, welche die Römer das „Zehentland“ nannten und welches sie durch eines der gewaltigsten Werke, die je eine Menschenhand geschaffen, den „römischen Grenzwall“ (im Munde des Volkes in seinen Resten „Teufelsmauer“ benannt), gegen die Einfälle aus dem freien Deutschland sich zu sichern gesucht hatten. Aber dennoch durchbrach die stürmische Tapferkeit der Alemannen gegen Ende des dritten Jahrhunderts den Wall und trieb die Römer aus dem Lande, in welchem sie nun zwei Jahrhunderte lang herrschten. Im Jahre 496 aber erlagen diese Alemannen, für welche später der Name „Schwaben“ üblich wurde, dem Frankenkönig Chlodwig, und da nun der Landstrich vom unteren Neckar bis zur Lahn von ihnen, aus Haß gegen die Franken und ihre Herrschaft, größtentheils verlassen wurde, so versetzte Chlodwig eine Masse seiner Franken aus ihren damaligen Wohnsitzen im nördlichen Gallien in dieses rechtsrheinische Gebiet herüber, das seitdem den Namen „Franken“, eigentlich Ostfranken erhielt. Demzufolge gehört die Bevölkerung Heilbronns dem deutschen Volksstamm der Franken an, wie auch ihr Dialect ausweist, wiewohl dieser, wegen der unmittelbaren Nachbarschaft, des vielfachen Verkehrs und der politischen Verbindung auch viele schwäbische Bestandtheile in sich aufgenommen hat. In politischer Beziehung nämlich ist Heilbronn mehr eine schwäbische, als eine fränkische Stadt, da sie schon dem alten schwäbischen Städtebunde und später dem weiteren Bunde der schwäbischen Reichsstände angehört hat und von Kaiser Max dem Ersten bei seiner Eintheilung des deutschen Reiches in zehn Kreise dem schwäbischen Kreise zugetheilt worden ist.

Der Name unserer Stadt erscheint zuerst in der Mitte des achten Jahrhunderts, und zwar in der Schreibart „Heliprunna“ oder „Heilieprunna“; er rührt ohne Zweifel her von dem mitten in der Stadt gelegenen, jetzt sogenannten Kirchbrunnen, wird aber eher Brunnen der Heiligen, als Heilbrunnen zu deuten sein. Der Ort war ursprünglich ein Palatium regium oder Kammerort, das heißt seine Einkünfte standen den fränkischen, beziehungsweise deutschen Königen zu, wie denn auch gleich der erste der letzteren, Ludwig der Deutsche, vorübergehend sich daselbst aufgehalten hat. Dieses Verhältniß zum jeweiligen Könige schloß aber nicht aus, daß auch zahlreiche untergeordnete Herren weltlichen und geistlichen Standes Besitzungen, Gefälle und Rechte in Heilbronn erwarben.

Kaiser Friedrich der Zweite verlieh dem Orte Stadtrechte; und nach der Verfassung, wie sie unter dem der Stadt vorzugsweise günstigen König Rudolf (1273 bis 1291) sich ausbildete, stand ihr im Namen des Kaisers ein Reichsvogt vor, unter welchem ein Schultheiß mit zwölf Rathmannen die Civilprocesse entschied und die Polizei handhabte; an der Spitze der Bürgerschaft standen ein, später zwei Bürgermeister.

Immermehr erweiterten sich die Rechte der Stadt, immer unabhängiger wurden Bürgermeister und Rath, besonders auch durch die Begünstigung der Kaiser Ludwig des Baiern (1314 bis 1347) und Karl des Vierten (1347 bis 1378), so daß ihr staatsrechtlicher Charakter jetzt aus dem einer Königsstadt in den einer eigentlichen Reichsstadt überging. Diese Umwandlung wurde vollendet im Jahre 1360, indem Kaiser Karl der Vierte der Stadt gestattete, das von ihm an den Grafen Eberhard den Greiner von Württemberg verpfändet gewesene Schultheißenamt einzulösen, welches von da an niemals mehr aus dem Besitze der Stadt gekommen ist.

Um dieselbe Zeit, Mitte des vierzehnten Jahrhunderts, begannen die demokratischen Regungen auch hier hervorzutreten; die Zünfte erhoben sich wider die Geschlechter und verlangten, daß der Rath auch aus ihrer Mitte besetzt werden solle, eine Forderung, welche sehr natürlich erscheint, wenn man bedenkt, welchen Wohlstand die Zünfte durch die mit dem steigenden Luxus immer gesuchteren Erzeugnisse ihres Kunst- und Gewerbefleißes erworben hatten, und wie sehr ihr Selbstgefühl theils hierdurch, theils durch das Bewußtsein ihrer physischen Kraft und numerischen Stärke gehoben war. Der erste Versuch der Erhebung der Zünfte wurde freilich von den Geschlechtern blutig niedergeschlagen, und Titot, unser vorzüglichster Gewährsmann bezüglich der Heilbronner Specialgeschichte, meint sogar, sechszig steinerne Kreuze, die man noch bis zum Jahre 1745 in der Nähe der Straße nach Neckarsulm auf dem heute noch sogenannten „Kreuzacker“ habe stehen sehen, hätten die Gräber der damals Hingerichteten bezeichnet, und der Name „im Gschrei“, den die Aecker auf einer Anhöhe dort tragen, rühre daher, daß dort die Frauen und Kinder der Hingerichteten der Abschreckung wegen dem blutigen Schauspiel hätten zusehen müssen. Zuletzt jedoch konnte es nicht fehlen, daß in Heilbronn wie anderwärts der dritte Stand seine Forderungen im Allgemeinen durchsetzte: man verständigte sich über eine Umänderung der Verfassung, welche dem demokratischen Elemente neben dem aristokratischen seine berechtigte Stellung einräumte, indem sie den Zünften die Rathsfähigkeit innerhalb gewisser gesetzlicher Schranken zugestand. Nach dieser neuen Verfassung, welche vom Kaiser Karl dem Vierten im Jahre 1373 bestätigt wurde, sollten künftig sowohl die Geschlechter als die Zünfte je dreizehn Rathsherren und je einen Bürgermeister wählen, beide Stände gleiche politische Rechte haben, die Zahl der Zünfte jedoch nicht vermehrt werden dürfen.

Diesen inneren Entwickelungen ging die Kräftigung der Stadt gegen außen durch vorzügliche Befestigungen, mit denen unter dem Hohenstaufen Friedrich dem Zweiten begonnen wurde, zur Seite. Zu diesem Zweck wurde vor Allem der Neckarfluß benutzt; durch ein Wehr gestaut, bildete er einen starken Schutz der ganzen Westseite; auf den anderen drei Seiten füllte sein Wasser einen tiefen Stadtgraben, welcher eine hohe und überaus feste Stadtmauer umsäumte, deren zahlreiche und stattliche Thürme, die jetzt nicht mehr alle erhalten sind, der Stadt früher, wie zum Beispiel ein Bild vom Jahre 1643 aufweist, von den benachbarten Höhen aus gesehen ein Achtung gebietendes Ansehen verliehen haben müssen. Und freilich bedurfte die Stadt solcher Schutzmittel in hohem Grade unter den anarchischen Verhältnissen des Reiches in den späteren Jahrhunderten des Mittelalters. Zahllose Streitigkeiten, die daraus hervorgingen, daß den verschiedensten geistlichen und weltlichen Herren in Stadt und Gebiet Besitzungen und Gerechtsame zustanden; dann das Unwesen der in Franken besonders üppig wuchernden Raubritter, welches, als die Städte hiergegen durch Bündnisse untereinander sich zu sichern suchten, auch Heilbronn bewog, im Jahre 1377 dem großen schwäbischen Städtebunde beizutreten; die Feindseligkeiten und Angriffe von Seiten der größeren Dynasten, die stets auf die Städte eifersüchtig waren – man denke an den Grafen Eberhard den Greiner [825] von Württemberg, dessen gewaltige Faust auch die Heilbronner (bei Döffingen, 1388) zu fühlen bekamen – dies Alles gab der Stadt und ihrer Bürgerschaft oft genug Gelegenheit, ihre Festigkeit und Stärke an den Tag zu legen, was auch meist auf achtungswerthe und erfolgreiche Weise geschehen ist.

Weniger Ehre macht den alten Heilbronnern ihr Auftreten gegen die Juden. Ueber deren Wucher entrüstet erklärte der Rath nicht nur wiederholt alle Schuldforderungen der Juden für ungültig, sondern er vertrieb sie auch zu öfteren Malen Alle aus der Stadt, am gründlichsten im Jahre 1469. Seitdem mußte jeder Jude, wenn er die Stadt nur betreten wollte, am Thore fünfzehn Kreuzer Leibzoll bezahlen. Aber seit Mediatisirung der Stadt haben die Juden natürlich nicht mehr ferne gehalten werden können; im Gegentheile hat eben in den letzten Jahren ihre Zahl, infolge der äußerst günstigen Lage Heilbronns für den größeren Handel, ganz erstaunlich zugenommen, und eben jetzt erheben sich aus dem Boden die Grundmauern einer Synagoge, die ohne Zweifel nach wenigen Monaten schon von dem Wohlstande der neuen Gemeinde und ihrer Opferfähigkeit auch für ideale Zwecke ein redendes Zeugniß ablegen wird.

Wenden wir uns nunmehr zum Uebergange aus dem Mittelalter in die neue Zeit, so begegnet uns an der Schwelle der letzteren die Gestalt eines Mannes, der mit seinem ganzen Wesen noch dem ersteren angehört und als einer der charaktervollsten und eigenartigsten Repräsentanten desselben, hochgefeiert von Deutschlands größtem Dichter, im Gedächtniß des gesammten deutschen Volkes fortlebt, während sein Name durch eines der Ereignisse seines wechselvollen Lebens speciell mit dem der Stadt Heilbronn eng verwoben ist. Wir meinen den biderben Ritter Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand, über dessen Lebensschicksale sich die Gartenlaube bereits früher hat vernehmen lassen.

Zur Zeit des Götz von Berlichingen begann auch der vierte Stand in Deutschland, die vom Reichsadel und hohen Clerus schwer gedrückten Bauern, auf seine Menschenrechte sich zu besinnen und an seinen Ketten zu rütteln. Zu den ersten Erhebungen, welche hieraus hervorgegangen sind, gehört der „arme Konrad“ (das heißt „koan Rath“, weil die Leute sich nicht mehr zu rathen wußten), ein Aufstand der Bauern im Remsthale gegen den wilden Herzog Ulrich von Württemberg. Bei diesem Anlaß zog Götz dem Herzoge mit etwa dreißig Pferden zu Hülfe; aber die hierdurch eingeleitete nähere Verbindung mit diesem Fürsten brachte großes Unglück über den Ritter. Ulrich, wegen schwerer Gewaltthaten (Ermordung des Edelmanns Hans von Hutten, Ueberfall und Eroberung der Reichsstadt Reutlingen) vom schwäbischen Bunde bekriegt, verlor rasch alle seine Festungen und Burgen, nur Hohen-Asperg und Möckmühl hielten sich noch, Letzteres durch Götz auf’s Tapferste vertheidigt.

Endlich capitulirte er gegen das Versprechen freien Abzugs. Aber dieser Vertrag wurde von den Bündischen schmählich gebrochen. Kaum hatte er die Burg verlassen, als man über ihn herfiel, worauf er durch das Haupt des Bundes, den Herzog Wilhelm von Baiern, der Gemeinde Heilbronn zu sicherem Gewahrsam übergeben wurde. Hier mußte er die erste Nacht – es war die Nacht vor dem Pfingstfeste 1519 –, weil er die ihm auferlegte Urfehde zu unterschreiben hartnäckig sich weigerte, in jenem viereckigen, am Südwestende der Stadt gelegenen Thurme zubringen, der noch heute seinem Namen trägt und wohin ihn zu bringen den Weinschrötern, die der Magistrat als derbe, kräftige Leute dazu beigezogen, nicht geringe Anstrengung gekostet hatte. Aber schon am Pfingstmorgen verbreitete sich in der Stadt die Nachricht, daß Götzens ritterliche Freunde, von seinem treuen Weibe in aller Eile aufgeboten, im Anrücken begriffen seien, und so entließ ihn denn der Rath, der dem Ritter überhaupt persönlich durchaus nicht übel wollte, des Thurmes und wies ihm in einer „luftigen Stube“ des Rathhauses ein ritterliches Gefängniß an; ja, einige Wochen später durfte er eine Herberge in der Stadt beziehen, infolge der drohenden Haltung, die seine Freunde, namentlich die berühmten Ritter Georg Frundsberg und Franz von Sickingen, welche damals mit einer Schaar von nicht weniger als zwölftausend Reisigen in Franken gegen die „Fürsten“, d. h. die höhere Reichsaristokratie in den Waffen standen, gegen die Stadt angenommen. Und hier verweilte er bis zum Jahre 1522, wo er endlich, der langen Haft und Unthätigkeit müde, die vom schwäbischen Bunde geforderten zweitausend Gulden für die Landsknechte, welche bei Möckmühl ihn niedergeworfen hatten, bezahlte und versprach, wegen der überstandenen Gefangenschaft nichts Feindliches auszuüben und mit den Ständen des schwäbischen Bundes lebenslänglichen Frieden zu halten.

Es folgte die trübe Zeit der Betheiligung Götzens am Bauernkrieg, in welchen bald auch die Stadt Heilbronn so unfreiwillig wie ihr früherer Gast wider Willen sich verwickelt sah. Ein brutaler, lüderlicher, verschuldeter und deshalb gerichtlich versorgter Bauer aus dem heilbronnischen Dorfe Böckingen, Jakob Rohrbach, wiegelte die Bauern in der Umgegend, namentlich in den Ortschaften des Deutschordens auf und führte sie den „hellen Haufen“ der aufrührerischen Bauern zu, welche aus dem Würzburgischen unter einem gewissen Georg Metzler von Ballenberg heranrückten.

Auch diese Bauern zogen aus in der Absicht, „das Kaiserthum wieder herzustellen“, entschlossen, wie einer ihrer Artikel wörtlich besagte, in Zukunft nur den römischen König und Herrn anzuerkennen; auch sie fochten, wie angeblich jene Ritter unter Sickingen, für „die deutsche Freiheit“, denn „die Freiheit“ war der schöne Name, unter welchem jeder Stand in Deutschland, Fürsten, Ritter und Bauern, die Interessen seiner Kaste begriff. Aber der schöne Name konnte nicht verhindern, daß der Ingrimm über vielhundertjährige Mißhandlung jetzt in entsetzlichen Gewaltthaten sich Luft machte. Eine der gräßlichsten derselben war die schon so oft beschriebene Gräuelscene bei dem benachbarten Weinsberg, bei welcher Jäcklein Rohrbach von Böckingen eine Hauptrolle spielte.

Von Weinsberg zog der Haufe direct auf Heilbronn und verlangte Einlaß. Da nun unter den Rathsherren selbst nicht die beste Eintracht waltete, von der Bürgerschaft aber sehr Viele auf Seite der Bauern standen und diese ihre Gesinnung in drohender Weise kundgaben, da die Hülfe, welche der Rath vom schwäbischen Bunde und dessen Feldhauptmann Georg Truchseß erbeten hatte, ausblieb und die Bauern ihrerseits versicherten, den Bürgern nichts anhaben zu wollen, sondern nur den Geistlichen, so erhielten die Bauern am Osterdienstag 1525 Einlaß in die Stadt. Hier plünderten sie nun vor Allem das Haus der Deutschherren, deren Commenthur nach Heidelberg sich geflüchtet hatte, gründlich aus, wobei die deutschmeisterischen Bauern, wie es scheint die wüthendsten unter Allen, schrieen: „Wir haben lange Zeit hereingeführt, wir wollen nun auch eine Weile hinausführen.“

Mit Beute beladen – der Verlust des Deutschordens wurde nachher auf mehr als zwanzigtausend Gulden geschätzt –, zogen sie aus der Stadt wieder ab. Aber bald darauf brach die Strafe über die Aufrührer herein. Sie erlagen der Kriegskunst des Truchseß von Waldburg und verfielen nun der schrecklichen Rache ihrer Herren vom hohen und vom niedrigen Reichsadel; Jäcklein Rohrbach wurde auf einer Wiese bei Neckargartach, eine Stunde Wegs von seinem Heimathsorte, an einem langsamen Feuer lebendig gebraten.

Bei einem der rebellischen Bauernhaufen hatte auch Götz von Berlichingen gezwungenermaßen, da er in ihre Hände gefallen war, kurze Zeit ein Commando geführt, was übrigens auch von einigen anderen Edelleuten, wie den Grafen von Henneberg und von Wertheim, berichtet wird. Er hatte dieses Commando, wie er in seiner Selbstbiographie betheuert, benutzt, um manches Ueble zu verhindern, und hatte nach Ablauf der vertragsmäßigen Zeit sich beeilt, die Bauern wieder zu verlassen. Eben gedachte der Ritter in die Dienste des Kaisers zu treten; aber der schwäbische Bund, der wegen seines Verweilens im Lager der Bauern ihn hart anfeindete, lud ihn zur Verantwortung vor nach Augsburg und legte ihn, der diesem Rufe arglos folgte, dort in einen Thurm. Erst nach zwei Jahren und gegen Beschwörung einer harten Urfehde, der zufolge er den Rest seines Lebens in seinem Schlosse Hornberg hätte zubringen müssen und dieses keine Nacht hätte verlassen dürfen, erhielt er die Freiheit.

Die ebengenannte schöne und umfangreiche Burg, vier Stunden unterhalb Heilbronn am Neckar gelegen, hatte Götz vor Kurzem teilweise mit Geld, das man in Heilbronn ihm geliehen, erworben; dieselbe befindet sich jetzt im Besitze einer Linie der vielverzweigten freiherrlichen Familie von Gemmingen; [826] sie birgt heute noch Götzens Brustharnisch, welchen er einst dem Heilbronner Syndikus Stephan Feyerabend verehrt hatte; die eiserne Hand wird in Jagsthausen aufbewahrt. Jenes harten Bannes aber wurde der Ritter, dessen Unschuld nachträglich auch gerichtlich anerkannt wurde, später vom Kaiser entbunden, und wir finden ihn in dessen Dienste im Jahre 1542 in Ungarn und 1544 in der Champagne. Von da an – er war jetzt vierundsechszig Jahre alt – scheint er sich ziemlich ruhig gehalten zu haben; am 23. Juli 1562 machte der Tod seinem wechselvollen Leben auf seinem Schlosse Hornberg ein Ende.

Unter den historischen Gebäuden der Neckarstadt ist eines der bekanntesten das Haus jenes Käthchens, das Heinrich von Kleist zum Mittelpunkte seines romantischen Dramas gemacht und mit einem Nimbus von wunder- und märchenhaften Motiven umgeben hat. Allein bei näherer Untersuchung über Person und Leben dieses Käthchens schwindet, wie auf Grund neuester Untersuchung immer mehr zu Tage tritt, das, was an ihr historisch sein soll, mehr und mehr in den grauen Nebel der Mythe, und wer andächtig vor dem Hause des wunderbaren Mädchens steht, der befindet sich im Banne eines Gefühls, welches jeder historischen Grundlage entbehrt.

In der neueren Geschichte spielt Heilbronn keine Rolle; nur zur Zeit des dreißigjährigen Krieges gewann es vorübergehend noch eine gewisse Bedeutung durch den daselbst 1633 tagenden Convent, dessen Ergebniß der Heilbronner Vertrag zur Fortsetzung des Krieges war.




Eine böse Fee der Alpen.


Vor dem Hausthor meines Oheims stand der Reisewagen, der uns vor vielen Jahren, mich und meinen Vater, von Triest nach einer Ferienreise wieder in die Heimath bringen sollte. Noch einmal wurde Abschied genommen, und mein Oheim entließ uns endlich mit dem wiederholten besorglichen Ausruf: „Wenn nur die böse Fee nicht kommt!“

„Diese böse Fee,“ lautete die Antwort auf meine Frage nach ihr, „wohnt da oben unsichtbar auf den Höhen des Karstes, verbirgt sich lange, fast den ganzen Sommer über, in den Höhlen und Spalten des Gebirges; plötzlich aber springt sie hervor, fliegt, Menschen, Thiere, Wagen, ja Bäume und Gebäude vor sich niederwerfend, über die Flächen des Karstes, über Triest in das Meer hinaus, die den Hafen suchenden Schiffe weit hinaus über die Fluthen der Adria jagend und diese selbst zum gefährlichsten Wogentanze aufwirbelnd. Es ist wohl möglich, daß sie heute komme.“

Nun, sie ist wirklich gekommen, die böse Fee, und ich habe sie später gar oft noch und recht gründlich kennen zu lernen Gelegenheit gehabt; sie ist ein so launisches, räthselhaftes Wesen, daß ich den Lesern wohl Etwas erzählen zu dürfen glaube von dieser bösen Fee, der berüchtigten Bora des Karstes.[2]

Der Schauplatz ihrer Thätigkeit hat schon ein eigenthümliches, zum Theil von ihr ihm aufgedrücktes Gepräge. Es ist die südöstliche Abdachung der südlichen Kalkalpen. – Diese unterscheiden sich von den nördlichen durch ihre Wasserarmuth. Während dort die großen Wasserbecken, welche die schönen Seen des Salzkammergutes und Oberbaierns bilden, den Reichthum an Wasser verrathen, fehlen in den südlichen nicht nur die Seen fast gänzlich, sondern sie sind auch überhaupt ärmer an Flüssen, Bächen und Quellen, wie Jeder, der in ihnen herumgewandert, in unliebsamer Weise sich überzeugen konnte; dort jedoch, wo diese Alpen sich zum Meer abdachen, an der Nordküste des adriatischen Meeres, tritt dieser Charakter der Wasserlosigkeit besonders hervor; dort ist die Schichtenstellung des Kalkes eine solche, daß alles darauffallende Wasser schnell in die Tiefe sinkt; dort rauschen in der Tiefe der Erde die Gewässer, die erst weit entfernt irgendwo zu Tage treten oder unterirdisch zum Meere fließen. An der Oberfläche aber, der somit das Lebenselement aller vegetativen Thätigkeit, die Feuchtigkeit fehlt, vergilbt alsbald die spärliche Vegetation; dort breitet sich die Wüste der Alpen aus: der Karst.

Die Bora selbst ist ein heftiger mit sturmartiger Geschwindigkeit wehender Nordostwind, der seinen Namen wohl von dem classischen Boreas ableitet und im Slavischen zum Weibe geworden ist, meist plötzlich aufspringt und einen beschränkten Verbreitungsbezirk hat, vorzüglich aber deswegen merkwürdig ist, weil er so scharf begrenzt ist, daß auf einer Meile Weges völlige Windstille und heftiger Sturmwind zu finden. Die Bora tritt gewöhnlich nach länger dauerndem Siroccal-Regenwetter und gleich mit Heftigkeit auf.

Die Leser erinnern sich wohl einer auch bei uns zuweilen eintretenden Witterungsänderung, die einen schnellen Wechsel von Regen zu kaltem, schönem Wetter in sich schließt. Es heben sich in solchem Falle die Wolken, die, tief herabhängend, warmen Regen niederrieseln ließen, im Westen; es wird da ein lichter Streifen sichtbar, ein frischer Westwind springt auf, der, in Nordwest übergehend, die Wolkenschichten in Haufenwolken auflockernd, diese vor sich hertreibt, später als Nordwind über den reinen Himmel weht und dann immer schönes Wetter und ein starkes Fallen der Temperatur im Gefolge hat. In solchem Falle tritt am Karst die Bora auf. Hier und da erhebt sich nur schwache Bora und weht kurze Zeit ohne Aufheiterung, gewöhnlich aber setzt die Bora schnell mit ganzer Stärke ein und weht, diese festhaltend und den Himmel aufheiternd, ununterbrochen durch drei Tage.

Die Richtung ist anfangs immer Nord, allmählich Nordost, dann in Ostnordost und zuletzt in Ost übergehend. Der Barometer steigt während des Wehens der Bora und zeigt zuletzt sehr hohen Luftdruck an. Die Luftwärme hingegen sinkt, behält aber fast immer noch ein paar Grade über Null. Die Feuchtigkeit der Luft, die früher meist damit gesättigt ist, nimmt rasch ab, und die Luft, die mit der Bora kommt, ist sehr trocken.

Die Stärke der Bora ist die eines heftigen Sturmwindes; sie weht mit ziemlich gleichbleibender Kraft, nur seltenen Intervallen und stärkeren Stößen; zur Zeit des größten Luftdruckes, acht oder zehn Uhr Morgens, nimmt ihre Heftigkeit zu, und es ist ein Zeichen baldigen Erlöschens, wenn dies nicht der Fall ist; sie weht auch nicht überall gleich. In einigen Schluchten und besonders eigenthümlich configurirten Thälern des Karstes scheint ihre Intensität am stärksten zu sein.

Im Observatorium der nautischen Akademie in Triest wird die Geschwindigkeit des Windes durch eigene Anemometer (Windmesser) gemessen. Nach diesen Beobachtungen betrug die Geschwindigkeit der Bora am 13. Januar 1871 68 Kilometer per Stunde, d. h. die Luft legte an diesem Tage in einer Stunde einen Weg von 68 Kilometer oder 9 geographischen Meilen zurück. Bei der starken Bora am 24. März 1870 war die Geschwindigkeit 73 Kilometer oder nahe 10 Meilen per Stunde. Wenn wir bemerken, daß ein Wind von 10 Kilometer per Stunde Geschwindigkeit schon ein recht bemerkbarer Wind ist, so haben die Leser ungefähr einen Maßstab für diese Geschwindigkeiten. Einige andere Beispiele wollen wir noch folgen lassen, die F. Pfeiffer in einer Broschüre über die Karsteisenbahn angeführt hat.

Die mit Steinen von 10 Pfund auf den Quadratfuß beschwerten Hohlziegel der Dächer werden wie Spreu auf die [827] doppelte und dreifache Entfernung ihrer Vollhöhe getragen, was einen Druck von 10 Pfund per Quadratfuß und eine Geschwindigkeit von 80 Fuß ergiebt. Ein mit 80 Centnern beladener Frachtwagen, der dem Winde 100 Quadratfuß Fläche darbot, wurde mit einer Geschwindigkeit von 8 Fuß per Secunde horizontal fortgetrieben; Fensterscheiben von 18 Zoll im Quadrat wurden vom Winde eingedrückt, woraus ein Druck von 22 Pfund per Quadratfuß berechnet wird.

Im Jahre 1805 wurde eine Abtheilung der aus Italien sich zurückziehenden Armee auf der Strecke gegen Präwald beim Ansteigen der Höhe von heftigem Borasturme überfallen, so daß buchstäblich Roß und Reiter in den Graben und auf nachrückendes Fußvolk geworfen, jede Hoffnung des Weiterkommens aufgegeben wurde und viele Mannschaft zu Grunde ging. Auf der Strecke der alten Laibach-Triester Poststraße zwischen St. Peter in der Poik bis Divazza bei Canzia wurde der von Triest kommende Postwagen einmal von einem heftigen Boraschneesturme, gegen welchen doppelter Vorspann von Pferden nichts mehr vermochte, in den Straßengraben getrieben und umgeworfen; während der Postillon selbst mit Lebensgefahr in das nächste Dorf zu gelangen und Hülfe zu bringen suchte, war der Conducteur, der den Wagen nicht verlassen wollte (Fleischmann hieß der Brave) von den endlich herbeikommenden Bauern ganz in Schnee begraben, fast erfroren gefunden und konnte erst spät wieder zum Leben gebracht werden. Es könnten noch eine Menge Unglücksfälle, durch die Bora verschuldet, angeführt werden. Die Eisenbahn kann während ihres Wehens nur dadurch in Betrieb erhalten werden, daß sie dort, wo sie ihrem Anprall ausgesetzt wäre, durch starke Holzgalerien geschützt ist.

Der Schauplatz ihres stürmenden Laufes ist im Allgemeinen die Nordküste des adriatischen Meeres, zunächst der Karst, Görz, Istrien, der Quarnero, die dalmatinische Küste und das Meer bis in die Breite von Ancona; sie ist an der östlichen Küste viel stärker als an der westlichen, von Triest gegen Venedig abnehmend, am Quarnero und seinen Inseln oft mit Heftigkeit wehend, während sie in Venedig und weiter hinab wenig verspürt wird.

Das Sonderbarste an ihr ist die scharfe Grenze ihres Verbreitungsbezirkes gegen Nord; sie scheint hier eigentlich auf dem Karstplateau von Adelsberg zu entstehen; sie stürmt gerade da bei Planina und stoßweise selbst noch in Loitsch mit größter Heftigkeit, während in Oberlaibach, Laibach und ganz Oberkrain völlige Windstille herrscht. Die Grenzlinie zieht sich von da gegen Westen über die Höhen bis etwas nördlich von Görz zwischen Udine und Palma hin, wo sie an Stärke abnimmt, so daß dieselbe z. B. in Grado schon viel geringer ist als in Triest und gegen Venedig ihren stürmischen Charakter ganz verliert; ebenso gegen Ost.

Wie ist nun aber diese seltsame Erscheinung überhaupt und vorzüglich der sonderbare Umstand zu erklären, daß sie eine so scharfe Begrenzung zeigt, jenseits welcher regelmäßig auf großen Strecken völlige Windstille herrscht, während diesseits der gewaltige Sturmwind braust? Man hat immer den Gegensatz der bei Regenwetter über dem Meere lagernden warmen feuchten Luft zur kalten trockenen, auf den Alpen ruhenden als die Entstehungsursache der Bora angesehen, konnte aber damit weder die Länge der Dauer oder die Menge der abfließenden Luft, noch die scharfe Grenze derselben erklären.

Eine nach unserer Meinung völlig befriedigende und auch allgemein angenommene Erklärung des verwickelten Phänomens hat die Zeitschrift der österreichischen Gesellschaft für Meteorologie geliefert, die wir den Lesern mittheilen, wobei wir jedoch nicht außer Acht zu lassen bitten, daß die Veränderlichkeit des Wetters unserer Breiten durch den Kampf zweier entgegengesetzten Luftströmungen erklärt wird, der warmen Aequatorial- und der kalten Polarströmung. An den heißesten Stellen der Erde, der Tropenzone, steigen die erhitzten, am warmen Meere mit Dunst gesättigten Luftmassen in die Höhe, fließen zu beiden Seiten des Aequators gegen die Pole hinab, werden auf der Wanderung abgekühlt, lassen ihre Feuchtigkeit als Regen oder Schnee fallen und strömen endlich als kalter trockener Polarstrom (Passatwind) wieder gegen den Aequator hin. Durch die Achsendrehung der Erde erhält der vom Aequator kommende Luftstrom eine südwestliche, der polare eine nordöstliche Richtung. Je nach dem Vorherrschen der kalten trockenen Polar- oder der feuchten Südströmung herrscht also bei uns trockene kühle oder warme feuchte Witterung; der stete Kampf beider bedingt eben die Veränderlichkeit unserer Witterung.

Es liegt nun in der Natur der beiden Ströme, daß der Südwestpassat (Aequatorialströmung) als der wärmere, somit leichtere in der Höhe der Atmosphäre, der polare aber als der kalte schwere an der Erdoberfläche hinströmt; es kann auch gar wohl, und dies ist nicht so selten der Fall, an derselben Stelle einer über dem andern hinziehen. Treffen sie also irgendwo ein Gebirg als Hinderniß, so wird der Südwest über dessen Gipfel ziehen, sie erwärmen, während im Thale noch die kalte Luft des Nordpassates ruht. Daher die in vielen Fällen in der Schweiz und regelmäßig in Kärnthen beobachtete Erscheinung, daß vorzüglich im Winter die Höhen viel mildere Temperatur haben, als die am Thalboden liegenden Orte. – Zieht aber der kalte Polarstrom über eine gebirgige Gegend, so wird er durch die Gebirge aufgehalten und gezwungen, über ihre Kämme und Gipfel aufzusteigen, darüber wegzuziehen und nur dort in die Thäler zu dringen, wo niedrige Sättel und lange Thalbildungen ihm dies erleichtern und möglich machen. An solchen günstig gestalteten Passagen wird, wo die Luftmassen durch die nachrückenden und theilweise von der Seite eindringenden hindurch gepreßt werden, der Wind zu starkem Sturm sich steigern. Wo aber das Gebirge zur Ebene sich abdacht, werden die darüber wegströmenden Lustmassen in einer ihrer Geschwindigkeit entsprechenden Entfernung von demselben mit Gewalt zu Boden stürzen. Die Erscheinung gleicht dann ganz im großen Maßstab einem Stauwerke (Wasserwehre), über welches das Wasser mit großer Geschwindigkeit dahinfließt und in parabolischem Bogen zu Boden stürzt. Die freilich mit viel größerer Geschwindigkeit bewegte Flüssigkeit ist hier die kalte Luft, die, eben durch ihre Geschwindigkeit, weit dem Gebirge zu Thale stürzt, hier Sturm erzeugt, während dicht am Fuß der Berge (wie bei dem Wehre) die Luft ganz ruhig bleibt. Es kann somit sehr wohl von den Berggipfeln und in besonders gestalteten Thalbecken stürmen, während in andern, nahe liegenden Windstille herrscht.

Daß dem auch wirklich so sei, haben auch die Beobachtungen dargethan. Gerade in der Nähe des Boragebietes haben wir ein Gebirgsland, das, wie kein anderes, mit zahlreichen und sorgfältig gepflegten Beobachtungsstationen versehen ist, nämlich Kärnthen, das deren noch viel mehr als die Schweiz besitzt. Die dort seit einer langen Reihe von Jahren fortgesetzten Beobachtungen haben gezeigt, daß an Berggipfeln und am Fuße der Pässe der Tauernkette sehr häufig Nordwind mit boraartiger Heftigkeit weht, während sonst im Thale Windstille herrscht. Ein solcher Beobachtungsort befindet sich am Berge Obir, der in der zwischen Kärnthen und Krain gelagerten Gebirgskette der Karavanken und so gelegen ist, daß man von ihm sogar bis in das Gebiet der Bora sehen kann. Nur zweihundertunddreißig Fuß unter dem Gipfel des sechstausendsiebenhunderteinundfünfzig Fuß hohen Berges liegt ein Bleibergwerk und Knappenhaus, wo durch die Grubenvorsteher schon seit 1846 regelmäßige Beobachtungen gemacht und aufgezeichnet werden. Eben so finden sich an den Pässen der Nordalpen solche Stationen, so St. Peter am Fuße des Katschberges, über den die Straße nach Salzburg, Mallnitz und Oberkellach nahe dem Mallnitzertauern, über den ein Saumweg nach Gastein führt. Dort in Oberkärnthen nennt man den zu Zeiten mit Heftigkeit auftretenden Nordwind den Tauernwind, da er von dem Gebirge der Tauern herabkommt.

Die genaue Durchsicht der Beobachtungen der angegebenen Orte hat nun gelehrt, daß nicht nur die mittlere Stärke des Windes an diesen Orten viel größer als an den übrigen, sondern daß fast ohne Ausnahme an den Tagen, wo in Triest die Bora stürmt, an den Berggipfeln, wie Obir, und an den Tauernpässen (St. Peter etc.) stürmischer Nord- oder Nordostwind herrsche, daß das Eintreten der Bora fast genau mit dem des Tauernwindes zusammenfalle und auch die Dauer dieses mit dem Wehen jenes übereinstimme.

Diese beobachteten Thatsachen nöthigen uns anzuerkennen, daß die Bora und der Tauernwind nicht blos locale, durch locale Bedingungen erzeugte Luftströmungen sind, sondern daß [828] sie eine gemeinsame allgemeine Entstehungsursache haben müssen, daß sie nur locale Modificationen einer und derselben Erscheinung sind: die Bora wie der Tauernwind sind eben nur der in den warmen Südwestwind eindringende kalte Polarstrom, durch locale Bodengestalt verstärkt und modificirt.

Die Bora ist demnach das Widerbild der Erscheinung, wie sie der Südwestpassat an manchen geeigneten Stellen der Südalpen in der Schweiz als gefürchteter Föhn hervorbringt.

Wird nun die Bora, wie der Tauernwind, als locale Erscheinung des Nordpassates betrachtet, so können die besonderen Eigenthümlichkeiten dieses Sturmwindes leicht und ungezwungen erklärt werden. Wie dieser dringt sie meist plötzlich und stürmend in den längere Zeit wehenden Südwestpassat (Sciroccalwetter) in rascher Winddrehung von West durch Nord gegen Ost. Das Lichten der Wolken im Nordwest, die allmähliche Aufheiterung, das Steigen des Luftdruckes, das Fallen der Temperatur etc. sind ihr wie dem Nordpassat zukommende Eigenthümlichkeiten, wie auch ihre Dauer und ihr allmähliches Erlöschen nach allgemeiner Aufheiterung des Himmels. Wir brauchen uns auch nicht mehr zu verwundern, daß ein Wind mit solcher Heftigkeit durch mehrere Tage wehen kann, da wir nun wissen, daß nicht blos local vom Gebirge ober den Ebenen Ungarns, sondern weit von Norden die Luftmassen hergeführt werden.

Die größere Heftigkeit, mit welcher die Bora, so wie der Tauernwind an manchen Orten weht, erklärt sich durch die Gebirgsgestaltung; die Luft wird ja am Gebirge gestaut und stürzt gewaltsam in’s Thal, wo sie noch durch Gebirgsflanken oder durch etliche Arme gepreßt und zusammengeengt wird. Dazu kommt noch immer der bei der Bora als wesentlich betonte Gegensatz der starken Erwärmung der über dem Meere lagernden feuchten zur Kälte und Trockenheit der vom Gebirge kommenden Luft. Die eigenthümliche scharfe Grenze von Sturm und Windstille hat eine dem Zuge der Gebirge und der daraus gefolgerten Erklärung vollkommen entsprechende Krümmung; es ist eben die Linie, wo die Luftmassen, ihrer Geschwindigkeit entsprechend, in das Thal gelangen können und dort besonders wuchtig niederstürzen; bei genauer Untersuchung der Gebirgsconfiguration lassen sich sehr wohl die Stellen bezeichnen, wo sie, besonders zusammengepreßt, den Wind verstärken müssen, während sich andererseits leicht erklären läßt, wie die westlicheren Gegenden, durch die Gebirge theilweise geschützt, weniger oder nichts von der Bora spüren und auch diese gegen die östlichen hin allmählich in den gewöhnlichen Nordostpassat übergeht.

Ob und in wie weit die vielfach gemachten Vorschläge diese böse Fee des Karstes zu verjagen oder ihr Wüthen abzuschwächen, wirklichen Erfolg haben können, wird der Leser nach dem Vorausgegangenen selbst zu beurtheilen im Stande sein. Da die Bora keine blos locale Erscheinung ist, sondern dem allgemeinen Windsystem unseres Erdtheils angehört und ihre locale Heftigkeit durch den mächtigen Gebirgswall bedingt wird, der ihr Gebiet im Norden umgiebt, so kann wohl selbstverständlich von Versuchen, sie ganz aus demselben zu vertreiben, nicht die Rede sein und diese können sich einzig nur darauf beschränken, ihre locale Heftigkeit theilweise zu mäßigen. Die Wiederbewaldung des Karstes wird als das dazu dienende Mittel häufig in Vorschlag gebracht. Die jetzt so dürren, wasserlosen Einöden sollen ja einmal die schönsten Forste getragen und daraus die Venetianer ihr Schiffsbauholz bezogen haben, aber dabei freilich zu schonungs- und vorsichtslos vorgegangen und so die Veranlassung der kläglichen Verwüstung dieser Erdstriche gewesen sein. Es ist uns nicht bekannt, ob dies überhaupt urkundlich nachgewiesen oder auch nur untersucht worden ist; einigermaßen zweifelhaft schien es uns aber immer, ob bei der durchweg sehr steilen, häufig senkrechten Stellung der Kalkschichten so viel Feuchtigkeit und Humus sich erhalten und bilden konnte, als zur Bildung eines Waldbodens vorausgesetzt werden muß; doppelt zweifelhaft und schwierig aber ist sicherlich das Unternehmen jetzt, wo der Ansiedlung fruchtbarer Erde auch die Wut unserer Bora so oft und nachhaltig entgegenwirkt. Wenn es aber gelingt, hier wieder Waldbestände dauernd zu erhalten, so werden sie nicht nur die Macht des Sturmes ein wenig mäßigen, jedenfalls Schutz dagegen gewähren, sondern überhaupt die klimatischen Bedingungen günstig modificiren und unter ihrem Schutz mannigfacher Cultur wieder eine bleibende Stätte geben. Dann wird man einmal schauerliche Sagen und Märchen zu erzählen wissen von dem einstigen Wüthen der bösen Fee des Karstes.




Thier-Charaktere.
12.   Unser Spatz.

Das Alltägliche ist nicht immer das am meisten und genauesten Gekannte. Gerade weil es alltäglich ist, sieht man gleichgültig drüber weg und lenkt Beobachtung und Forschung von ihm ab. Nichts ist aber für die Wissenschaft gefährlicher, als wenn das Naheliegende, das Heimathgebiet geringschätzig betrachtet und nur in der Fremde das Wissenswerthe gesucht wird. Die Natur ist so reich und die Züge ihrer Gebilde sind so mannigfaltig verzweigt, daß der Forscher in seiner Nähe fortwährend Beschäftigung findet, vorausgesetzt, daß seine Untersuchungen gründlich sind. Auch der gemeinste Vogel, unser Haussperling, verdient noch immer unsere Aufmerksamkeit, und dies um so gründlicher, weil unseres Vogels Charakter ebenso beachtenswerthe Seiten zur Betrachtung bietet, als die wahre Kenntniß seines sehr verschieden beurtheilten Thuns und Treibens dem Landmann und Gartenpfleger zum entschiedenen Vortheil gereicht.

Wir denken uns einen sonnigen Frühlingstag. Die Vögel fliegen emsig umher und feiern durch Gesang die himmlische Jahreszeit. Nur unser Sperling sitzt still am Rande des Lochs in der Lehmwand des Hauses oder in der Mauerspalte und stößt nur von Zeit zu Zeit sein eintöniges „Zwilch“ aus. „Zwilch!“ ruft dieser Schelm und lenkt dabei unsere Aufmerksamkeit auf sein dem schmutzig-grauen Zwilchkleide ähnliches Gefieder, das im Allgemeinen zu seiner Seele paßt. Säuberlich gehalten, ist ja Zwilch ein leichter, bequemer Stoff, der unsere wackeren Turner recht artig kleidet. Aber dieser Leichtfertige hält sein Kleid nicht rein, und wenn er es wäscht, so sucht er dazu häufig eine schmutzige Pfütze aus und wälzt sich noch obendrein im Staube des Wegs. Eben kommt ein Nachbar Seinesgleichen ihm nahe, sofort fährt er unfriedlich auf ihn los und jagt ihn unter boshaftem Gezänke weg. Seine Ruhe will er haben. Streift eine Schwalbe im Fluge dicht an ihm her, so beißt er in die Luft und schimpft, bei aufgerichteten Kopffedern sich schüttelnd, hinter ihr drein mit herrischem „Rrr“. Siehe, da gerathen unten auf der Straße zwei Hähne hart aneinander. Prasselnd prallt Brust an Brust, Flügel an Flügel, und eine Feder fliegt zur Seite. Eilig läßt sich der lauernde Sperling nieder und trägt die Feder im Triumph seinem Neste zu. Der feige, aber schlaue Politiker, er hat sein Vergnügen daran, wenn Andere sich herumbalgen und zerfetzen, und sieht dabei zu, als ob er dächte. „Ja, ich bin klug und weise; denn ich mische mich nicht in Eure Händel, nehme aber, was ich bekommen kann.“

Und in der That, er nimmt auch zu seinem Neste, was er bekommen kann, Stoffe ohne Auswahl, die er im bunten Durcheinander in einer Höhlung oder in einem Winkelchen unserer Wohnungen zusammengeschichtet, ohne allen Kunstsinn, leichtfertig, lüderlich, so daß Strohhalme von Meterlänge seine Familienwohnung oft verrathen. Aber seine Vielseitigkeit läßt ihn bei der Wahl des Nistortes in manchen Gegenden mit dem edlen Geschlecht der Finken rivalisiren, neben deren Kunstbauten natürlich sein Massenbau auf dem Apfel- oder Birnbaum sich ausnimmt wie die alte Bauernscheune neben dem Hause des feinen Salonherrn oder wie das Lumpengewand neben der geschmackvollsten Toilette einer Balldame. Nicht selten tritt er sogar als Concurrent unserer Spechte auf, indem er in die Lehmwand des Hauses tiefgehende Höhlungen zimmert, um sich Nist- und Schlafstätten zu bereiten. So überraschte mich eines Morgens der Kopf eines Sperlingsmännchens in meinem Schlafzimmer, nachdem es von außen bis zur Tapete zimmernd vorgedrungen war und diese mit einem Schnabelhiebe ebenfalls durchbrochen hatte. [829] Neugierig sah sich der kecke Gast um und wollte, durch mein Aufspringen erschreckt, den Kopf zurückziehen, allein die Federn am Hals wurden in der engen Tapetenspalte zur wulstigen Krause vorgedrängt, so daß der Rückzug nur mühsam geschehen konnte und endlich unter Geschrei des Geängsteten mit dem Stuartkragen noch in dem Augenblick gelang, wo meine Rechte ihn greifen wollte.

Zuweilen ist es dem Sperling zu mühsam, ein eigenes Nest zu bauen, und darum wartet er, bis eine Schwalbe mit dem ihrigen beinahe fertig geworden ist. Hartnäckig ergreift er Besitz und trägt nur noch einige Federn zum Auspolstern hinein. Lauernd verbirgt er sich im Neste und läßt die ihre Wohnung liebende Schwalbe zu sich einschlüpfen; dann aber packt er sie und läßt sie eine Weile am Rande des Nestes zappeln, ehe er losläßt. Er ist mir dabei immer vorgekommen, wie ein habgieriger Wucherer, der das Bäuerlein nach und nach aus seinem Besitzthum vertreibt und sich selbst dann als Herr des Hauses breit macht. Jeder Versuch des Verdrängten, wieder in die alten Rechte eingesetzt zu werden, scheitert an der Unbarmherzigkeit und Gewissenlosigkeit des neuen Inhabers.

Die jungen Sperlinge im Neste sind flügge geworden. Die Eltern wollen, daß sie ausfliegen, weil es ihnen zu beschwerlich wird, jedes einzelne ihrer Kinder in der engen Höhle ferner zu versorgen. Wie schlau fangen sie es an, ihren Willen durchzusetzen! Sie lassen die Kleinen eine Zeit lang hungern. Die Größeren derselben sehen hervor und schreien nach Futter. Die Alten fliegen in die Nähe, und während die Jungen gierig sperren, flattern jene langsam wieder weg mit lang gezogenem Lockton. Dies wiederholen sie so lange, bis sie die Brut nach und nach zum Ausfliegen gebracht haben. Kein Wunder, daß die Kleinen große Spitzbuben werden, wenn die Eltern selbst sie so frühe betrügen. Mit jedem Tage ihres Wachsthums und ihrer zunehmenden Fertigkeit im Fliegen sehen sie neue Frevelthaten ihrer Anführer. Sie werden mit den Spalten vertraut gemacht, die auf die Fruchtböden führen, mit den Bäumen, welche die süßesten Kirschen tragen, mit den Käsekörben, die ohne Drahtgitter sind, mit den Höfen, wo junges Federvieh gemästet wird. Aber sie werden auch schon frühzeitig gewarnt, wenn ihnen Gefahr droht, und es wird ihnen gelehrt, von ihren Diebereien mit heiler Haut zurückzukehren. Sind die Felder leer, die Früchte ausgedroschen und tritt der Winter vor die Thür, dann ziehen sich die Sperlinge in die Höfe zurück. Ihr Element ist dann die Miststätte. Noth lehrt sie sorgen und arbeiten. Das ist ein Suchen, ein Umwenden der leergedroschenen Weizenähren, ein Auseinanderpicken des Kehrichts, ein Vorliebnehmen mit der magersten Kost, daß die weichherzige Hausfrau die ihr zur Sommerzeit gestohlenen Erbsen vergißt, der Vater an die Raupen denkt, die sie im Frühling vertilgt haben, und der wilde Knabe in seiner Phantasie schon die Nester zählt, aus denen er ihre Jungen dereinst nehmen kann. Und wirklich, man füttert auch noch die Diebe, man gewöhnt sie auf die Fenstergesimse, wo sie unverschämt mit den Schnäbeln an die Fenster pochen, bis ihnen ihr vermeintliches Recht, ihr standesgemäßes Futter zu Theil wird.

Wie leutselig macht die Noth, wie brüderlich gesinnt, wie herablassend! Der hungernde Sperling, der noch vor Kurzem alle Vorüberziehenden ausschalt, sucht sich nun mit dem Gesinde gut zu stellen. Er folgt ihm auf Weg und Steg, weil er weiß, daß für ihn da und dort etwas von Dem abfällt, was dem Vieh gebracht wird. Wie sehr gleicht er hierin gewissen Menschen, die in ruhigen, harmlosen Zeiten ein stolzes, prahlerisches Wort führen, aber in schlimmen Zeiten sich retten lassen von Denen, die sie verachteten! Das sind traurige Prüfungstage für unsern Sperling, der wahrlich kein Kostverächter ist, Tage der Demuth, der tiefen Erniedrigung und schweren Selbstverleugnung. Da lernt er die Stunden zählen und sich die Minuten merken, wo es etwas zu reißen und zu beißen giebt. Er weiß genau, wann das Tischtuch am geöffneten Fenster ausgeschüttelt, oder der Kehricht auf die Miststätte getragen, oder das Federvieh gefüttert wird, oder auch wann der Hund mit einem Knochen aus der Küche kommt. Sobald der Knochen einen Augenblick von dem Hunde verlassen wird, fallen vier bis fünf Sperlinge gierig darüber her, und nun geht das Zerren und das Durchsuchen der Knochenhöhlen vor sich, daß man meint, man habe „Schlachthyänen“ vor Augen, die einem gefallenen Officier die Taschen durchsuchen.

So muß sich der Schwergeprüfte bei Schnee und hoher Kälte kümmerlich ernähren, und in den langen Nächten ist ihm obendrein noch zu viel Zeit gegeben, das Wenige zu verdauen und vielleicht von Träumen gequält zu werden, die seine unbußfertige Seele in reiche Fruchtfelder und Obstgärten versetzen.

In meinem Urtheile über seine Thaten will ich nun streng sachlich verfahren und die Summen auf Seiten der Nützlichkeit mit denen der Schädlichkeit als kaltblütiger Rechner vergleichen.

Wenn die Gärten und Fluren sich mit frischem Grün geschmückt haben, mit dem Grün aber auch die Kerbthierwelt in tausendfacher Gestalt zu bewegtem Leben erwacht ist; wenn, in Gespinnstklümpchen zunächst vereinigt, ganze Masten von anfangs winzigen, aber in kurzer Zeit zu beträchtlicher Größe heranwachsenden und über große Baumflächen sich ausdehnenden Räupchen ihr Verheerungswerk beginnen; wenn jene mannigfaltigen schädlichen Larven der Spanner, Eulen und Falter aus den Eiern gekrochen sind und ihre geheime vernichtende Thätigkeit beginnen: da entwickelt auch unser Sperling seine allerheilsamste Thätigkeit und wetteifert in Wahrheit mit den eigentlichen Insectenfressern im Durchsuchen der Bäume von den untersten Zweigen bis in die Kronen hinauf. Und aus den Gärten begiebt sich der Raupen- und Käfervertilger auch hinaus in das Feld, wo er in Wiesen und Saatfeldern sich in unzweideutiger Weise nur als Freund des Landmannes im Vertilgen von Kerbthieren erweist. Dem Heere der Mai- und Junikäfer gegenüber ist er freilich, wie überhaupt die denselben nachstellenden Vögel, nur in beschränktem Maße ein beeinträchtigender Feind, zumal da viele der in seine Gewalt kommenden Käfer der genannten und anderer Arten bereits ihre Eier abgelegt haben.

Während das Weibchen brütet, tritt vorzüglich das Männchen als Vertilger der Zerstörer von Blättern und Blüthen unserer Obstbäume oder auch als erfolgreicher Feind der Fruchtknospennager auf. Sehr oft sah ich den Sperling auch Regenwürmer, bloßgelegte Engerlinge und sonstige Käferlarven verzehren. Hier und da wird auch ein Schmetterling, eine Mücke, eine Biene im Vorbeifliegen erhascht. Ich habe Magen von vielen Dutzenden im April, Mai und Juni gefangener Sperlinge untersucht und bei der überwiegenden Mehrzahl nur Käferreste von verschiedener Art und Größe und andere Insecten nebst deren Larven gefunden. Durchaus bestimmend wirkt auf die Ernährungsweise der Sperlinge in den genannten Monaten die Gelegenheit ein, sich auf bequeme Weise Körnerfrüchte anzueignen. Hühnerhöfe, Fruchtböden, Malzbereitungsstätten, welche ihnen zugänglich sind, lenken sie vielfach von der Kerbthierjagd ab. Indessen führt sie doch immer wieder der Umstand in die Gärten, daß die Nestlinge der weicheren Kerbthiernahrung zu ihrem Gedeihen bedürfen. Ist aber die Fortpflanzungsperiode vorüber, so tritt die bis daher gerühmte Eigenschaft des Sperlings wesentlich in den Hintergrund. Schon die zweite Brut wird nicht mehr ausschließlich mit Kerbthieren ernährt, weil es da in den Gärten mancherlei vegetabilische Nahrung, insbesondere junge Erbsen giebt, welche ich – wohl zu merken! – bei den secirten Nestlingen in Menge fand. Noch weit weniger Insectennahrung erhalten die späteren Jungen der Brutperiode, welche bis zum September sich ausdehnt. Lediglich auf den Sommer, ich möchte sagen, auf den Vorsommer, beschränkt sich also der Nutzen dieses Vogels, und wollen wir gerecht sein, so gestehen wir das Gewicht dieser Thatsache ein, wenn dasselbe auch immerhin dadurch etwas herabgedrückt werden mag, daß ich im Sperlingsmagen auch unschädliche und sogar nützliche Kerbthiere gefunden habe, und nicht jedes Insect Ungeziefer ist.

Nun muß ich ebenso unparteiisch wie von seinem Nutzen auch von dem mannigfachen Schaden reden, den der Sperling stiftet. Vor Allem, um wieder mit dem Frühjahre zu beginnen, mache ich darauf aufmerksam, daß er zur Stunde, wo er sich als Beschützer der Obstbäume mit dem Gartenbesitzer befreundet, diesen durch freventliches Zerbeißen der Blüthen- und Blattknospen empört. Mir scheint diese Unart hauptsächlich eine muthwillige Spielerei zu sein, denn der Vogel läßt eine Weile die zerbissenen Knospen im Schnabel herüber und hinüber gehen und alsdann fallen. Daß freilich auch in manchen Fällen die Entdeckung eines Wurms in einer Knospe, zum Beispiel des Apfelblüthenbohrers Larve, den Sperling zu weiteren und öfteren [830] Untersuchungen auch der gesündesten Blüthen und Knospen veranlaßt, möchte ich für höchst wahrscheinlich halten.

Jede Hausfrau, die einen Garten besitzt, kennt die Aergerniß erregenden Thaten des Sperlings an den ausgestreuten Sämereien, wogegen Scheuchen und Klappern nur wenig vermögen. Die pfiffigen Vögel benutzen die Frühstunden, wo es noch still im Haus und Garten ist, und warten den Tag über die günstige Gelegenheit ab, welche von einzelnen dem ganzen nachbarlichen Contingent durch Locktöne gleichsam telegraphisch verkündet wird. Die jungen Erbsenpflänzchen werden mit dem derben Schnabel ausgehoben, wenn ihre Spitzen aus der Erde lugen, und mit der gekeimten Frucht fortgetragen. Die Diebereien werden fortgesetzt, so lange es noch Schoten giebt. Die ausgeflogenen Jungen folgen den Eltern dahin und finden die beste Unterweisung, an die Frucht zu gelangen und die süßeste auszusuchen. Im Nachsommer begeben sich die vereinigten Bruten einer Stadt, eines Dorfes oder auch mehrerer derselben in die reifenden Getreidefelder und plündern gemeinschaftlich die Aehren, vorzüglich in der Nähe der Gärten und Baumpflanzungen. Von ihrem Gewichte beugen sich die Halme, werden teilweise geknickt und zu Boden gedrückt, wo die Körner um so leichter herausgepickt werden können. Wer jemals solche plündernde Schaaren in den Getreidefeldern hat hausen gesehen, der muß den erheblichen Schaden anzuschlagen wissen, den sie dem Landmanne zufügen. Auch die Hanf- und Hirseäcker werden von den Sperlingen heimgesucht und reichlich gezehntet.

Lange vorher, ehe das Getreide, namentlich der Weizen, zur Reife gediehen ist, fallen sie in den Aeckern ein und verzehren die milchigen Früchte. In vielen dergleichen Fällen ist erwiesenermaßen ein Viertel des Körnerergebnisses der geplünderten Grundstücke allein von den Sperlingen verzehrt worden. Selbst den auströpfelnden Saft der Kirschen, Pflaumen, Aprikosen und Zwetschen weiß sich der Sperling anzueignen. Und die Trauben? Wer vermag sie vor dem Sperlinge völlig zu schützen, der heimlich hinter dem Laubschirme seine Mahlzeit hält und so gern auf den Spalieren an Mauerwänden und Häusern schläft? Während er hier einzeln oder nur in kleineren Gesellschaften durch täglich öfters wiederholten Besuch Aergerniß erregt, überzieht er in Massen die Weinberge.

Aber auch in den Gehöften plündert dieser listige Vogel das Getreide auf Fruchtböden und die Sämereien, zu denen er Zugang findet; in Vorratskammern dringt er ein und nimmt, was er haben kann, da er ja Alles frißt, und wer vermag ihm auf allen seinen Diebswegen nachzufolgen, die er schlau und vorsichtig wandelt?

Vergleichen wir nun Nutzen und Schaden miteinander, so liegt das entschiedene Uebergewicht in der Wagschale des letzteren. Hervorzuheben ist indessen, daß das Urteil je nach Gegenden, wo mehr oder weniger Feldwirtschaft, Obstzucht und Weinbau betrieben wird, sich wandelt und die Wage bald nach der einen, bald nach der andern Seite hin schwankt oder auch entschiedener noch zu Gunsten oder Ungunsten spricht. Die Ueberhandnahme der Sperlinge kann ich aus den angeführten Gründen also nicht gutheißen, sondern vielmehr nur eine Niederhaltung des Vermehrungsstandes empfehlen. Der Landmann und Weinbauer muß unbedingt das Recht haben, Vertilgungsmittel gegen die Uebermacht der Sperlinge anzuwenden; ebenso ist es dem Gartenbesitzer zu gestatten, den mit Fleiß und Sorgfalt gezogenen Weinwuchs und seine Obsternte gegen ihre Eingriffe zu schützen. Ich empfehle zu diesem Zwecke mit Dunst (dünne Schrote) geladene Flinten. Wenn die Sperlinge mehrere Cameraden stürzen sehen, so meiden sie sehr bald den Ort, wo ihnen der Schrecken eingejagt wird.

Es handelt sich also darum, daß die Regierung nicht Vertilgungsbefehle giebt, die zu allerlei Grausamkeiten führen, sondern außer der Brutzeit den Fluren-, Garten-, Weinberg- und Obstpflanzungenbesitzern Freiheit der Nothwehr gestattet. Die Tödtung selbst einer großen Menge von Sperlingen wird, wenn auch immerhin bemerkbar, doch keinen bedenklichen Verminderungsstand für das darauffolgende Frühjahr zur Folge haben, denn die Klugheit, mit welcher der Sperling die Gefahr flieht, sichert immer ein hinlängliches Contingent zur Raupenjagd.

In wie weit der Sperling zeitweise verfolgt werden muß, darüber entscheiden so mancherlei Umstände und Verhältnisse, daß ich nach den bereits gemachten Angaben die gesunde Vernunft und beobachtende und erwägende Ueberlegung der Verfolger selbst anrufen muß. Vergessen wir doch nicht, daß der Sperling den Menschen auch wieder durch sein munteres Wesen, sein enges Verhältniß zu ihm und seine treue Hausgenossenschaft vielfach aussöhnt. Er ist und bleibt nun einmal ein aller Welt leidlicher und ergötzlicher Hausgenosse.

Karl Müller. 


Das Bild ohne Gnade.
Erzählung von A. Godin.
(Fortsetzung.)

Das Couvert lag in ihrer Hand. Sie blickte das Siegel an, dann drehte sie den Brief langsam herum. Schauer durchrieselte sie vom Kopfe bis zu den Füßen. Plötzlich barg sie das Couvert in den Falten ihres Kleides, wie einen Raub, stand hastig auf und winkte den Männern mit so sprechender Geberde, sie allein zu lassen, daß selbst Mattern, nach einem kurzen Versuche, ihr zuzusprechen, seinem Schwager fast auf dem Fuße folgte.

Thea eilte zur Thür und stieß den Riegel vor. Sie rang die Hände und riß den Brief hervor. Mitten im Zimmer stehend, brach sie das Siegel. Im Couvert lag Robert’s Brief von einem Blatte umschlossen, das Sandor’s Schriftzüge trug:

„Du sagst mir, Geliebte, ich sollte und müßte Dein Bild so schauen, wie es sich in den Augen Derer spiegelt, die Dich früher geliebt. Vielleicht hast Du Recht, vielleicht forderte es die Wahrheit, welche wir einander zugelobt, daß ich Dich wirklich so schauen mußte. Ich sende Dir, ehe wir uns wieder begegnen, das Blatt zurück, welches zu vernichten nur Dein Recht ist. Was Andere darüber denken, daß Du Dich mir zu eigen gegeben, berührt mich nicht, und erpreßt Dir solches Urtheil der Deinigen Thränen, so kann ich sie Dir nur von den Wangen küssen. Dennoch haben die Worte dieses Briefes einen schweren Gedanken in mir zurückgelassen – keinen Vorwurf für Dich, meine Thea, nur eine Sorge um Dich. Wirst Du an meinem Herzen auf die Dauer vergessen, was Dich vorher so tief gefesselt hatte? – Mir ist, als könnte der Geist des Mannes, den auch Du mir hoch gerühmt, dereinst unsichtbar neben Dir an unserem Herde sitzen und sein Recht einfordern – ich habe Dein Auge mitunter seltsam lauschend in sich hineinblicken sehen.

Darum, Geliebte, gebe ich Dich heute vor Dir selbst noch einmal so frei, wie Du mir gegenüber warst, als wir uns begegneten. Diese Zeilen werden Dich früher erreichen als ich. Dein Glück ist mein höchstes Wünschen und Bedürfen, das bedenke! Und wie es auch enden möge, nimm Dank für Das, was Du mir warst und ewig bleibst! Ich habe durch Dich das Höchste kennen gelernt, was die Erde giebt – ich habe grenzenlos geliebt.

In Zeit und Ewigkeit
Dein Stephan.“ 

Thea faltete das Blatt zusammen und nickte ein paarmal vor sich hin. Dann ging sie gelassenen Schrittes, als sei nichts vorgefallen, zu ihrem Schreibtische, erschloß eines der Fächer und legte beide Briefe sorgfältig hinein. Im Begriffe, das Fach zu schließen, fiel ihr ausdrucksloser Blick auf ihre Rechte. Sie zuckte zusammen, betrachtete ihre Hand ein paar Minuten regungslos und streifte dann mechanisch Stephan’s Verlobungsring von dem Finger, den er umschloß, wie ein anderer Ring ihn umschlossen hatte, den sie gleichfalls abgestreift. Sie hob ihn dicht vor ihr Auge, ließ ihn dann leise auf die Briefblätter gleiten und schloß ab.

Im nächsten Augenblicke lag sie bewußtlos am Boden.


[831]

Weihnachtsabend im Stall.
Originalzeichnung von Otto Fikentscher in Düsseldorf.



13.

Dieselben Wochen, welche Thea vom Treubruche zur Katastrophe geführt, hatten das Herz ihres Erstgeliebten Schlag um Schlag zu Stahl gehärtet. Das Erwachen aus dem ersten Liebestraume, dem Brennpunkte seines Lebens, war allzu jäh gekommen; stumpfem Unglauben folgte plötzliches, tödtendes Begreifen. Die schneidend klaren Worte, womit ihm die Geliebte abgesagt, ließen keine Deutung zu: ihr fehlte die Kraft, dem Gelübde treu zu bleiben, das sie ihm verband. So hatte sie gesprochen, und er hatte es empfangen wie einen Todesstreich. [832] Schwer und kalt sank die Liebe in ihm nieder und regte sich nicht mehr. Nachdem er den Reif, der ihm Glück und Zukunft bedeutet, vom Finger gezogen und Dora zurückgesandt hatte, kam ein seltsames Stillsein über ihn; ihm war, als habe er mit den Pfändern der verrathenen Liebe auch die Erinnerung daran von sich abgethan. Das Idol seines Herzens zeigte sich als ein Phantom – Die, welche ihn fallen ließ, welche der Treue nicht fähig war, Diese kannte er nicht. Das heilige Feuer, welches sie muthwillig verlöscht hatte, war nur noch todte Asche – kein Funke übrig, woran sich auch nur der Schmerz hätte entzünden können.

Und doch trug er sein schweres Geschick stumm und klaglos; denn selbst diese wühlenden Schmerzen vermochten nicht, sein innerstes Leben zu wandeln, das auf Säulen von Granit stand. Mit festem Sinne sah er dem Unabänderlichen in’s Antlitz, und entrangen sich in einfachen Nächten seinem Auge auch oft genug feurige Thränen, so glichen sie den Tropfen, die sich in unterirdischen Gründen langsam zur Säule gestalten – sie formten und härteten sich zum neuen Pfeiler des inneren Tempels.

Ernst begriff, daß es unmöglich ist, Momente aus dem Leben zu streichen, die unvergeßlich sind, und daß es für ihn keine Heilung gab als durch die Zeit. Was ihm nächst seiner Liebe stets das Steuer des Lebens gewesen, Hingabe an geistige Arbeit, ward nun zugleich sein Anker. Er wurde sich einer Kraft bewußt, die ihn nicht am Erlebten scheitern ließ. Wohl hatte er Schiffbruch erlitten an Glück und Glauben, an Allem, was er als Wurzel seines Daseins betrachtet; doch fühlte er sich entschlossen, nicht auf diesem Wrack zu Grunde zu gehen, sondern mit männlicher Kraft den rettenden Hafen zu erreichen. Nicht umsonst! Zu den Dingen, welche sich der Mensch mit vollem Aufgebot seines Willens geben kann, gehört Ruhe – in ihrem stillen Schatten kühlt sich die brennendste Wunde. Auch Wernick’s Beruf war geschaffen, ihn vor Vernichtung zu wahren. Ein Lehrer der Jugend! Selbst jugendlich begeistert für seine Aufgabe, täglich neu erfrischt im Tausche lebendiger Gedanken, fühlte er sich tief eingewurzelt in Gegenwart und Zukunft und schöpfte aus dem großen Athemzuge der Weltgeschichte eigenen Odem.

Wohl kamen Stunden, und sie kamen nicht selten, wo Schmerz und Sehnsucht plötzlich auf ihn niederschossen wie ein Geier, der an seinem innersten Leben fraß. Es giebt unter allem Erdenweh kaum Jammervolleres, als wenn ein vollempfundenes, reines Glück von derselben Hand zerstört wird, die es gereicht. Da ist ja Alles hin, nicht die Zukunft nur, auch die Vergangenheit, jede Erinnerung gleichsam erwürgt, jede Gabe, die voll Wonne an’s Herz gedrückt worden, plötzlich verschwunden wie Hexengold. Stieg Dora’s Bild vor ihm auf, umgeben von hundert trauten Scenen – was war es ihm jetzt? Wo er sein Alles eingesetzt, war ihm nichts geworden, nichts geblieben; sie hatte sich aus ihrem Gefühl ein Gedicht gemacht; die Strophe, welche sie ihm gesungen, klang so süß, die nächste Strophe, die ein Anderer vernahm, vielleicht süßer noch! Vorüber – vorüber! –

Als Ernst erfuhr, was Thea betroffen, fühlte er sich bereits so ganz von ihr abgelöst, daß keine selbstische Bitterkeit die Schwermuth entstellte, womit er ihr Geschick betrachtete. Dieses Leben war ja verloren, so wie so!

Zum ersten Mal wieder sprach er mit Robert, der ihm die Kunde gebracht, über Dora und erfuhr betroffen, mit welcher unversöhnlichen Härte sein junger Freund die Schwester beurtheilte. Ihr tragisches Geschick vermochte des Jünglings abgewandtes Herz nicht milder zu stimmen; er nannte es ein Gottesurtheil, und äußerte sich um so schärfer, je maßvoller Wernick ihm erschien. Wie durch schweigendes Uebereinkommen erwähnten Beide nach dieser Stunde Dora’s nie wieder. Robert hing fester als je an seinem Freunde und Meister, dem er einen förmlichen Cultus widmete. Es war, als wollte er ihm stündlich Alles abbitten und vergelten, was dem Geliebten von den Seinen angethan worden, als müßte er durch ihn auch sich ersetzen, was er selbst verloren. Denn seitdem sich Robert von der Schwester losgesagt, hatte er eine Empfindung von Kälte auch seiner Mutter gegenüber nicht überwinden können. Ihre Zustimmung zu Dora’s Treubruch, ihre Ueberzeugung, damit kein Unrecht gefördert, sondern im Gegentheil beiden Verlobten eine unbefriedigende Zukunft erspart zu haben, eine Ueberzeugung, die so fest stand, daß sie es nicht gescheut, sie gegen Wernick selbst zu vertreten, empörten ihn und störten ihn so sehr in der bisherigen kindlichen Verehrung, daß es einer Aufstachelung seines vollen Pflichtgefühls bedurfte, um diese Stimmung nicht laut werden zu lassen. Kein Bitten und Zureden vermochte den jungen Mann dazu, über die geringe Summe hinaus, welche ihm aus der Hinterlassenschaft des Vaters zustand, fernere Unterstützung für seine Universitätsjahre anzunehmen. Was die Seinen jetzt besaßen, kam von Dora, der er Nichts mehr zu danken haben wollte. Er lebte wie ein Stoiker, hielt sein kleines Erbtheil auf’s Aeußerste zu Rathe und gab Stunden, um sich eine selbstständige Existenz zu ermöglichen, während er von Ernst ohne Bedenken die Erleichterung annahm, welche das fortdauernde Zusammenleben Beider ihm gewährte.

Etwa zwei Jahre nach den in ihrem raschen Gange geschilderten Erlebnissen erhielt Wernick, der sich als Privatdocent durch mündliche und schriftliche Vorträge bereits einen geschätzten Namen erworben, den ehrenvollen Ruf als Professor der Geschichte nach einer süddeutschen Universität. Dies gebot den Freunden Trennung nach jahrelangem traulichem Zusammenhausen. Robert’s Studienzeit war nahezu beendet, und seine Aussichten auf künftige Lebensstellung fesselten ihn an die Heimath.

Ernst erreichte viel, da er zu den seltenen Geistern gehörte, deren Grenzen sich erweitern, indem sie vorwärts schreiten. Erfüllt von seiner Wissenschaft, geschätzt und aufgesucht von Allen, die je mit ihm in Berührung traten, empfand er das Leben inhaltsreich. Und doch gab es in seinem tiefsten Innern eine Lücke, die Nichts zu füllen vermochte, jene Leere, die Jeder in sich birgt, der es nicht wagen mag, an die Vergangenheit zu denken. Vergangenheit! Ein Traum, ein Nichts – und doch das einzige Erdengut, das immer reicher wird, je mehr man davon zehrt, das über Gegenwart und Zukunft verklärende Lichter ausgießt und in den dunklen Tag herüberleuchtet als schattenloses Eden. Ein großer Dichter nannte Erinnerung das Paradies, aus dem Keiner vertrieben werden könnte, hier aber irrte der Prophet. Tausende wandeln auf Erden, denen Vergangenheit jenes verschleierte Bild ist, das zu schauen den Tod giebt.

Jahre waren verklungen, mit ihnen die Jugend, und noch immer zuckte die alte Wunde bei der leisesten Berührung. Mehr als einmal hatte Wernick den Gedanken erfaßt, sich ein Familienleben zu gründen, dennoch war er mit dreißig Jahren noch derselbe einsame Mann. Gerade dann, wenn irgend ein holdes, liebes Bild ihn mit verheißungsvollen Augen ansah, stieg die Gestalt der Verlorenen, Gemiedenen zauberisch vor ihm auf, und Alles, was er sich noch eben erträumt, zerfloß vor ihr in Nebel. Dann wandte er sich zurück zu all der Jugend, welche ihn als ihrem Meister umgab, und fühlte es wieder in sich tagen: „Hier ist deine Zukunft, deine Familie“.



14.

Nicht selten hatte Ernst die Möglichkeit eines Wiederbegegnens mit Dora in’s Auge gefaßt. Er wußte durch Robert, daß sie noch dem Mattern’schen Hause angehörte, und leicht konnte es geschehen, daß ein Zufall sie während einer seiner alljährlichen Ferienreisen auf seinen Weg führte. Doch stand er diesem Gedanken ohne Unruhe; solches Wiedersehen konnte immer nur das flüchtigste Begegnen sein. Was aber der Geschichtsforscher längst als die großartige Poesie alles Völkerlebens anerkannt: daß ein Namenloses existirt, welches sich in alles Berechnete mischt und es wunderbar umgestaltet, zerrissene Fäden wieder aneinander knüpft, überwundene Katastrophen neugeboren aus Trümmern emportauchen läßt – das sollte ihm zur persönlichen Erfahrung werden. Er war völlig darauf gefaßt, das Ideal seiner Jugend unverhofft vor sich zu sehen, Angesicht gegen Angesicht. Statt dessen blickten ihn eines Tages die stummen Augen ihres Bildes an und erschütterten ihn bis zum Grunde der Seele. Als er im befreundeten Künstlerhause plötzlich die Züge wiederschaute, so vertraut und doch so verwandelt, als eine fremde Stimme von ihr erzählte und sie ein Bild ohne Gnade nannte, das wie eine Statue durch das Leben wandle, sonder Freud’ noch Leid – da ergriff ihn alte Liebe und tiefstes Erbarmen so gewaltsam, daß all seine Manneskraft dazu gehörte, fremden Augen den Sturm zu verbergen, welcher in ihm brauste.

[833] Und was nun? Sie war ihm nahe, er sollte wochenlang in derselben Luft leben, die sie athmete. Nein, dem fühlte er sich nicht gewachsen, und wozu auch für Beide so fruchtlose Qual heraufbeschwören! Den Wanderstab zur Hand genommen, und fort in’s Weite – dies war sein erster Gedanke. Und doch, als er dabei stille stand, tauchten laute Widersprüche auf. Er war nach Danzig gekommen, seinen Bruder nach langen Jahren zu besuchen, in Verabredung mit einem Collegen, den er selbst bestimmt hatte, einige Wochen mit ihm in Zoppot zu verleben, und den er in den nächsten Tagen erwartete. Dieser Plan war bereits ausgesprochen und zwar sowohl gegen seinen Bruder, wie gegen den befreundeten Künstler – er war ausgesprochen vor der Fremden, die er am gestrigen Abende in des Letzteren Hause getroffen. Beide waren mit Matterns bekannt – seiner mußte dort erwähnt werden, nachdem er seine Bekanntschaft mit Dora’s Familie zugegeben. Sollte er die Flucht nehmen vor dem Mädchen, das ihn verrathen, vor dem Grafen, der sein alter Gegner gewesen? Sein ganzer Mannesstolz bäumte sich gegen die Vorstellung auf, wie falsch solches Zurückweichen ausgelegt werden konnte. Was hatte er zu scheuen? nicht an ihm war es, die Augen niederzuschlagen, nicht an ihm, sich zu verbergen.

Das erschütterte Herz fühlte sich wieder gestählt. Er blieb eine Woche in Danzig; dann fuhr er nach Zoppot, und schon am ersten Abende seines Eintreffens dort sah er Dora wieder. Seltsam, ihr Anblick ließ ihn kalt. Keine Saite des Herzens, der Erinnerung klang, als er, an die Thür des Ballsaales gelehnt, die herrliche Gestalt vorüberschweben sah. Diese Gestalt erschien ihm so fremd, zu imposanter Schönheit entwickelt, aber dem knospenhaften Reiz, welchen er in Erinnerung trug, enthoben. Noch waren es, ja noch immer waren es die zartgeschnittenen Züge von einst, die unter der schwarzen Haarkrone ruhten – wo aber war der süße, mädchenhafte Ausdruck hin, der ihn einst beseligt? wohin der reizvolle Wandel zwischen Lächeln und lauschendem Ernst? Dieser stolzen Schönheit in’s kluge Auge zu sehen, fürchtete er nicht mehr.

Sie hatte ihn erkannt. Er sah den Wandel, der über sie kam – kein Erschrecken, ein Aufleuchten war es, das ihn einen Moment lang traf, wie ein Blitz; doch änderte sein festverschlossenes Gesicht den Ausdruck nicht; ruhig haftete sein Auge auf ihr – er wollte, daß ihr über ihn kein Zweifel blieb, ehe sie sich begegneten. Und als er ihr kurz darauf gegenüber trat, fühlte er, daß sie ihn verstanden.

So war es; so blieb es. Wernick suchte weder ein Zusammentreffen, noch wich er solchem aus. Daß dagegen der Graf mit sichtlicher Beflissenheit nicht nur seinen Umgang suchte, sondern offenbar jede Gelegenheit ergriff, ihn zu seinem engeren Cirkel zu ziehen, mußte ihm auffallen. Mitunter, wenn Ernst bei einer der gemeinschaftlich unternommenen Partien oder bei dem häufigen Zusammentreffen der Gesellschaft mit Thea eines jener gemeingültigen Gespräche führte, wie sie uns Allen in der Schule der guten Lebensart gelingen, mitunter sah er dann unwillkürlich das Auge des Grafen mit einem gespannten Ausdruck auf sich ruhen, der ihm zu denken gab. Vermied Mattern auch jede leiseste Hindeutung auf Vergangenes so sehr, daß er Wernick’s Namen nur aus dessen literarischer Bedeutung zu kennen schien, so versuchte er doch wiederholt mit großem Geschick, das Gespräch auf seine Pflegetochter zu führen, wenn er sich mit dem Professor allein fand, und so rasch Ernst solche Mittheilungen in ein anderes Thema hinüberzuspielen bedacht war, erfuhr er doch nach und nach genug, um ein klares Abbild des Lebens zu gewinnen, welches sich Thea während der letzten Jahre gestaltet.

Graf Hugo klagte über die Sonderbarkeiten, die Eigenthümlichkeit seiner Hausgenossin: daß sie sich so ganz anders entwickelt, als ihre frühesten Jugendjahre verheißen – daß sie auf Nichts mehr eingehe, was sie sonst interessirt. Der Tod ihres Bräutigams sei ein schweres Unglück gewesen – nun ja! aber jetzt wären seitdem Jahre verflossen, und die Hartnäckigkeit, womit Thea jedes neue Band zurückweise, doch nach so kurzer Verbindung nicht gerechtfertigt. Ueberhaupt ihre sonderbaren Ansichten! Nachdem sie das Vermächtniß, welches sein Vetter für sie bestimmt, ohne Widerspruch angenommen, wie ja auch selbstverständlich, wäre sie nicht zu bewegen, die ihr zustehenden Revenuen nun auch zu genießen, sondern bestände darauf, dieselben für Armen- und Krankenhäuser auf dem ihr zugeschriebenen Gute zu verwenden. In seinem Hause, seiner Familie habe sie sich mit Eigensinn die Rolle der Gouvernante seiner Kinder angeeignet, und da seine Frau sie hierin unterstütze und die Kleinen wie Kletten an ihr hingen, sei ihm nichts übrig geblieben, als darauf zu bestehen, daß sie wenigstens der Außenwelt gegenüber die Stellung einer Tochter des Hauses ausfülle. Ein Stoßseufzer: „Schade um sie! – die Jugend vergeht – Thea ist doch zu etwas Besserem geschaffen, als zum Stundengeben“ – blieb stets der Endrefrain solcher Mittheilungen, die Wernick zuletzt den bestimmten Eindruck zurückließen, daß Mattern des ganzen Verhältnisses zu seiner Pflegetochter überdrüssig sei.

Alles, was Wernick vernahm, versenkte sich einzeln und zerstreut, aber doch wie Samenkörner in seine Seele, und mit einem Male erkannte er, daß der Same aufgegangen war. Es war doch seine Dora noch, das hochgesinnte Mädchen noch, der er das Beste zugetraut! Was sie ihm einst gethan, Gott weiß, aus welchen Untiefen es kam – jetzt büßte sie, freiwillig und in trostloser Einsamkeit. Was war denn diesem reichen Geschöpf geblieben von allen Gütern der Erde? Zwei fremde Kinderseelen, an die sie hingab, was in ihr vergeblich um eine Heimath bettelte! Sein ganzes Leben zog ihn zu ihr hin, forderte von ihm, die Glückverwaiste, Verlassene in seine schützenden Arme zu nehmen, wohin sie gehörte. Aber diese Sehnsucht, welche gleich Vögeln, die man verscheucht, immer wieder dorthin zurückkehrt, wo sie einmal genistet, verstummte und erstarrte, so oft er mit Thea selbst zusammentraf. Es lag zwischen Beiden wie eine Mauer – kein Weg, der hindurch führte.

Zuweilen traf ihn aus der Ferne ein Blick, ein Klang oder eine Stimme, die ihn durch raschen Impuls an ihre Seite führten. Stand er dann aber vor ihr, so wurde sein Herz wieder kalt, und sie war das Bild ohne Gnade.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.

Wie die Päpste von der Bibel denken. In der neuesten Bannbulle beruft sich Pius der Neunte vielfach auf die Bibel; daher mag es nicht uninteressant sein zu hören, wie und was die Päpste von der Bibel eigentlich denken und sagen. Dabei lasse ich nur Päpste nach der Reformationszeit reden.

Bekanntlich sollen nach Benedict dem Vierzehnten Schriften und Bücher religiösen Inhalts, besonders aber die Bibel in der Volkssprache nur gehalten und gelesen werden, wenn sie mit Noten aus den Kirchenvätern oder mit erklärenden Anmerkungen von gutkatholischen Gelehrten gehörig versehen sind; außerdem müßten sie die Approbation des heiligen Stuhls besitzen. Im Gegenfall sind sie „mit Stumpf und Stiel auszurotten“.

Was dieses „Ausrotten mit Stumpf und Stiel“ eigentlich und schließlich bedeutet, zeigt erstlich der Umstand, daß im Jahr 1854 die Polizeidirection von Ofen in Ungarn, natürlich auf Veranlassung und Antrieb der erzbischöflichen Curie, die hunderteinundzwanzig Bibeln, welche bei der evangelischen Gemeinde dort aufgespürt worden, bis auf ein Exemplar, „woran der Pfarrer genug habe“, wegnehmen, in der Papierfabrik zu Brei stampfen, den Erlös daraus der evangelischen Gemeinde zustellen und den Empfang desselben vom Pfarrer sich quittiren ließ; ferner die Thatsache, daß noch am 7. December 1859 vor dem hierzu festlich beleuchteten Palast des Erzbischofs von Santa Fe de Bogota in Neugranada (Südamerika) eine massenhafte Bibelverbrennung stattgefunden hat. Kommen dergleichen Einstampfungen und Verbrennungen nicht zahlreicher vor, so geschieht das wohl nur, um mit Pius dem Siebenten zu reden, „aus zeitweiliger Accommodation an die Verhältnisse der Neuzeit“.

Daß diese „zeitweilige“ Anbequemung keine freiwillige, sondern blos eine durch den „verfluchten Geist der modernen Civilisation“ aufgenöthigte ist, bezeugen die alten und neuen Wuthausbrüche der Päpste gegen Bibeln und Bibelgesellschaften.

So befahl, um nur Einiges anzuführen, eine Satzung des Papstes Innocenz des Elften vom Jahre 1687: „Jeder sei gehalten, seine Bibel den Ortsgeistlichen auszuliefern, welche sie verbrennen sollen.“

Clemens der Elfte verdammte in der Bulle „Unigenitus“ vom Jahre 1713 die Behauptung des Jansenisten Quesnel: „es ist nützlich und nothwendig für Jedermann, zu jeder Zeit und an jedem Orte die heilige Schrift zu studiren.“

Clemens der Dreizehnte bedrohte das Lesen einer italienischen Bibelübersetzung seitens der Laien mit Galeerenstrafe.

Pius der Siebente bezeichnet in seiner Bulle vom 29. Juni 1816 den Wiederabdruck einer polnischen, von Clemens dem Achten im Jahr 1599 genehmigten Bibelübersetzung als „Pest und gottloses Unternehmen“. Die Bibelgesellschaften aber nennt er „arglistige Erfindung, wodurch selbst die Pfeiler der Religion untergraben werden.“

In einer andern Bulle vom Jahre 1819 über Verbreitung der heiligen [834] Schriften in den irischen Schulen schilt derselbe Pius die Bibel „eine Aussaat des Unkrauts, wodurch die Kinder schon früh mit dem heillosen Gift verdorbener Lehre angesteckt werden.“

Leo der Zwölfte bezeichnet in der Bulle vom 3. Mai 1824 die Bibelgesellschaften als „hinterlistige Erfindung“, warnt vor ihrer „tödtlichen Weide“ und nennt eine Bibel in der Volkssprache „todbringendes Geschenk“, eine protestantische Bibel aber gar „Evangelium des Teufels“.

Pius der Achte pflichtet dem Urtheil seines Vorgängers bei, indem auch er die von Bibelgesellschaften verbreiteten Bücher „eine Pest und die gefährlichste aller Ansteckungen“ nennt.

Gregor der Sechszehnte erließ am 8. Mai 1844 eine eigene Bannbulle gegen die Bibelgesellschaften, worin es heißt: „Wir haben beschlossen, sämmtliche Bibelgesellschaften mit apostolischer Autorität zu verdammen.“ Zugleich befiehlt er kraft derselben Autorität den Geistlichen, „die Bibeln in der Volkssprache den Gläubigen aus den Händen zu reißen“.

Pius der Neunte endlich sagt in seinem Rundschreiben an die Bischöfe vom Jahre 1850: „Unter dem Beistand der durch diesen heiligen Stuhl verdammten Bibelgesellschaften entblödet man sich nicht, heilige in die Muttersprache übertragene Bibeln ohne Beachtung der bestehenden Kirchenvorschriften zu verbreiten; unter falschen Vorspiegelungen empfiehlt man den Gläubigen das Lesen derselben. Ihr in Eurer Weisheit, ehrwürdige Brüder, begreift vollkommen, mit welcher Wachsamkeit und Sorgfalt Ihr Euch bemühen müßt, in den Gläubigen einen Schauder vor solch giftigem Lesen zu erwecken. Eure Aufgabe ist, sie zu erinnern daß kein Mensch das Recht hat, mit eigenem Verstande die Bibel zu erklären; daß Keiner sich anmaßen darf, die Schrift anders zu erklären, als die heilige Mutter Kirche, der allein unser Herr die Vormundschaft über den Glauben, die Entscheidung des wahren Sinns und die richtige Auslegung der heiligen Bücher anvertraut hat.“... „Weil also“ – fährt derselbe Pius in seiner Verfügung vom 24. März 1864 fort – „die Erfahrung zeigt, daß, wenn die heilige Schrift allenthalben in der Volkssprache zugelassen wird, daraus durch die Vermessenheit der Menschen mehr Nachtheil als Nutzen entspringt: so sei es in dieser Beziehung dem Urtheil des Bischofs oder des Inquisitors (Ketzerspürers) anheimgestellt, mit Beirath des Pfarrers oder des Beichtvaters das Lesen der von katholischen Verfassern übersetzten heiligen Schrift in der Muttersprache denjenigen zu erlauben, von welchen sie wissen, daß sie durch dieses Lesen keinen Schaden leiden … welche Erlaubniß diese schriftlich besitzen müssen … Wer aber ohne solche Erlaubniß sie zu lesen oder bei sich zu behalten wagt, der soll, bevor er sie dem Diöcesanbischof ausgeliefert hat, keine Sündenvergebung erhalten,“ was nach päpstlichen Begriffen nichts Anderes heißt als: Der soll in Todsünden sterben und – zur Hölle fahren.

Daher kann es nicht auffallen, von Quirinus in seinen Briefen über das vaticanische Concil vom Jahre 1870 zu hören: „Hier in Rom kann man wohl fast in allen Häusern ein Lotterie-Traumbuch finden, aber nie ein neues Testament und nur höchst selten ein Erbauungsbuch. Es ist, als ob der Grundsatz gelten solle: Je unwissender das Volk, desto größer muß der Antheil sein, welchen die Hierarchie dieses Volkes an der Herrschaft in der Kirche hat.“

Dem füge ich nur bei, daß die Bibel von den Papstgläubigen nicht gelesen werden soll, weil die Grundpfeiler des Papstthums und der römischen Curie eben nicht auf der Bibel ruhen.

–h–




Weihnachtsabend im Stall. (Mit Abbildung, Seite 831.) Es ist wirklich nicht blos ein Phantasiebildchen, etwa in eines pferdefreundlichen Künstlers Kopfe entstanden, sondern es ist die reine liebe Wirklichkeit eines Berliner Reiterpferdestalles am Weihnachtsabende, was wir da vor Augen haben. Wie weit diese schöne Sitte außerhalb Berlins verbreitet ist, können wir leider nicht angeben; das aber wird uns versichert, daß nur bei der Garde du Corps ein solches Stallfest nicht zu finden sei. Dagegen ist anzunehmen, daß dasselbe von Berlin sich Bahn in die Provinzen gebrochen habe, schon aus dem einfachen Grunde, weil einem Bedürfnisse des Gemüthes der deutsche Mensch überall mit Vorliebe abzuhelfen pflegt.

Es ist ein harter Dienst, der Reiterdienst. Man sieht nicht umsonst hoch zu Roß auf den Fußsoldaten hinab. In der Sorge für das leibliche Wohl von Roß und Mann nimmt jenes die erste Stelle ein, im Frieden wie im Kriege. Darum ist’s diesem zu gönnen, wenn er am Abende nach der letzten Fütterung und dem Streumachen zum Ausruhen sich so behaglich anlehnen kann, wie’s der Unsrige im Bilde thut. Aber heute ist's Weihnacht: der Kriegsmann hat ja auch eine Kindheit gehabt und hat eine Heimath, ein Vaterhaus, wo jetzt der strahlende Christbaum in einem Winkel des Stübchens oder auf dem alten Familientische steht, oder von der Decke herabhängt – und wie ihm einst als Knabe dort das Herz vor Wonne gelacht, so geschieht es jetzt Anderen, wenn’s nicht ganz still in dem heimischen Raume geworden ist. – Aber wie es auch daheim geworden sein mag, das Herz verlangt sein Recht, es muß seinen Weihnachtsabend feiern, und zwar mit seinem vertrautesten Cameraden. Ohne der menschlichen Freundschaft Eintrag zu thun, steht dem wackeren Reiter sein Pferd sehr nahe, er spricht sogar zu ihm und vertraut ihm Manches, das er sonst für sich behält. Warum soll sich nicht auch sein Pferd gerade heute mit ihm freuen? Also – frisch auf! Die heilige Nacht sinkt herab – es war ja auch ein Stall, in welchem zuerst ihr Stern leuchtete. So schmückt nun jeden Raufenkorb seine Reihe Lichtlein, und wer einen Tannen- oder Fichtenzweig erschwingen kann, belebt das Festbild durch diesen erfrischenden Raufenschmuck. Und so leuchtet der ganze Stall weihnachtfestlich, und ein Theil der Stimmung, der auch um den Familientisch nicht fehlt, ein Zug von heiligem Ernst und feierlicher Stille weht durch die Räume, die sonst an ganz Anderes gewöhnt sind. Es ist gewiß: die Pferde freuen sich mit! Sie wissen, daß ihnen mit dem Lichterscheine eine Freude bereitet werden soll, und sehen sie dies nicht an den Lichtern, so erkennen sie es ganz sicher an den Gesichtern ihrer Reiter, auf die sie sich ja so genau verstehen, wie der Hund. Ja, sie freuen sich, auch wenn sie es in der Freundschaft mit ihren Herren nicht so weit gebracht haben sollten, wie jenes ungarische Husarenroß, dem sein Reiter den Liebesbrief von seinem Schatz vorlas und ihm den Gruß ausrichtete von der Babettl, der guten.

Der Anblick eines solchen Weihnachts-Stallfestes ist um so wohlthuender, als bei der musterhaften Ordnung, Sauberkeit und Aufsicht in derartigen Militärräumen an eine Gefahr durch Feuer nicht zu denken ist; namentlich vom Eingang der Ställe aus übt das weithin übersichtliche Bild der schmucken Thierreihen und bunten Menschengruppen zwischen den flimmernden Lichtern seine überraschende Wirkung aus. Möge die schöne Sitte, von deren Existenz bisher wohl nur wenig bekannt war, treu bewahrt und immer weiter verbreitet werden!




Unvergeßliche Lehre von der Wiener Ausstellung. Wir werden hoffentlich gute Lehren aus der Wiener Ausstellung in das neue Jahr mit hineinnehmen und zwar von den Orientalen, besonders den Japanesen. Sie waren zum ersten Male in dem Turnier der europäischen Industrie erschienen, wurden gesehen und siegten. Die Farbenharmonien auf persischen Teppichen, indischen Shawls oder chinesischen Seidenstoffen wirkten so zauberisch, daß die Stoffe gleich im Anfange wieder und immer wieder, höher und immer höher an immer größere Enthusiasten und Capitalisten verkauft wurden. So muß unsere Kunstindustrie auch zaubern lernen. Wenn Käufer und Käuferinnen in dieser Geschmacksrichtung wählen und anregen, wird sich dies viel eher machen lassen.

Das Geheimniß dieses orientalischen Formen- und Farbenzaubers besteht in sinniger Vertheilung und Dichtung der drei Hauptfarben der Natur, Blau, Gelb und Roth. Jede derselben ist der verschiedensten Tönungen in’s Dunklere und Hellere fähig. Die orientalischen Muster nun wirken angenehm anregend und ungleich befriedigend und beruhigend. Dies kommt daher, weil in ihren Mustern alle die drei Hauptfarben in bestimmten Graden von Schattirung oder Aufhellung in angenehmen, beruhigenden Formen vertreten sind. Letztere wirkten angenehm, weil sie Ruhepunkte und Abschlüsse bieten. Fehlt eine Farbe, so ermüdet das Auge, ergänzt sich die fehlende Farbe und trägt diese auf die gesehenen Farben über, so daß diese unrein, unecht, schmutzig und unbefriedigend erscheinen.

Die Farbenwissenschaft und die Augenkunde lehren, daß das Auge darauf eingerichtet ist, weißes Licht oder die Farben, aus denen es zusammengeflossen ist, zu sehen. Weißes Licht besteht nun wesentlich aus Vereinigung von Blau, Roth und Gelb. Das Vorherrschen einer einzelnen Farbe macht müde, matt oder regt unangenehm auf, zumal wenn auch die Formen etwas zu wünschen übrig lassen. Eine gewöhnliche deutsche Tapete hat erstens fast immer eine vorherrschende Farbe und zweitens eine mechanisch sich bis in’s Unendliche wiederholende Form voll Arabesken, Blumen, Linien, wohl gar Ecken und Spitzen. Solche Farbe ermüdet; solches Einerlei von Form langweilt. Wir müssen orientalisch färben und formen lernen. Das ist die große Hauptlehre, welche dem Abendlande in der Wiener Ausstellung vom Morgenlande wahrhaft bezaubernd eingeprägt ward. Wir meinen damit nicht sclavische Nachahmung, sondern Reinigung unseres eigenen Geschmacks nach diesen Mustern von augenbefriedigender Farbe und beruhigender Form. Das kaufende, sich und seinen Haushalt schmückende Publicum kann durch entsprechende Wahl und Anregung viel zu dieser Läuterung unseres Geschmacks, zur Verschönerung unserer Kleidung und Zimmerausschmückung beitragen. Dies bedeutet mehr, als man glaubt. Geschmacklosigkeit, vorherrschende Einfarbigkeit, mißthönige Farbenzusammenstellungen, langweilige Tapeten, mißfarbige und schlechtgeformte Möbels und Ausschmückungen darin verstimmen und stören, ohne daß man es weiß, den häuslichen Frieden, die Arbeitskraft und die Genußfähigkeit.

Die Wiener Ausstellung hat mit großen Verlusten geschlossen; aber durch praktische Benutzung dieser einzigen aus ihr geflossenen Weisheit können wir mehr gewinnen, als durch die Wiener und Berliner Pleitegeier verschlungen wird.

H. Beta.




Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das vierte Quartal und der einundzwanzigste Jahrgang unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das erste Quartal des neuen Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen.


Besonders machen wir die Postabonnenten auf eine Verordnung des kaiserlichen General-Postamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Neujahr aufgegeben werden, sich pro Quartal und Exemplar um 1 Ngr. erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 17 Ngr. anstatt 16 Ngr.). Auch wird bei derartigen verspäteten Bestellungen die Nachlieferung der bereits erschienenen Nummern eine unsichere.

Die Redaction und Verlagshandlung.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Die alte Post.
  2. Obwohl wir diesem interessanten Gegenstande bereits im Jahre 1865, S. 168 ff. einen Artikel gewidmet, so glauben wir doch angesichts der neuen Ereignisse noch einmal darauf zurückkommen zu dürfen, zumal unser heutiger Artikel die eigenthümliche Naturerscheinung in einer sehr ansprechenden und instructiven Weise schildert. Dem Wiener Blatte „Osten“ berichtet man nämlich aus dem kroatischen Küstenlande: „Seit acht Tagen wüthet hierorts eine ungewöhnlich starke Bora, welche Menschen und beladene Wagen zu Boden schleudert, so daß man sich kaum aus dem Hause wagen darf. Auf dem Meere haben wir beständige Stürme, so daß auch die Dampfer nicht fortkommen können, und so mußte die Localfahrt zwischen Zengg und Fiume seit acht Tagen unterbrochen werden. Wer die Gewalt der Bora selbst nicht an Ort und Stelle kennen gelernt, der kann sich kaum einen Begriff davon machen. In den Häusern, deren Fenster nicht durch andere Gebäude gedeckt und geschützt sind, rumort es gewaltig durch alle Räumlichkeiten und ist man nicht im Stande, Fenster und Thüren so festschließend zu machen, daß die Bora nicht ein etwa im Zimmer angezündetes Licht ausblasen würde. In Folge dessen hat hier in dieser Gegend aller Verkehr aufgehört, so daß die ärmeren Leute, deren es mehr als genug giebt, bald hungern werden.“
    D. Red.