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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1872
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 33.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Ein Orangenzweig.


Von A. Godin.


In bengalischen Flammen.


Im Sommer 1868 war die Zahl der in Wiesbaden anwesenden Fremden ungewöhnlich groß. Die Stammgäste, deren jeder Badeort ein kleines Contingent besitzt, stellten heitere Vergleiche zwischen dieser Saison und den beiden vorhergegangenen an. Allerdings folgte dem Kriegsgrauen von 1866 im nächsten Jahre ein ruhig ungestörter Sommer, dennoch schien ein Nachklang übrig geblieben – die Zugvögel waren nur in Pausen, in vereinzelten Schaaren erschienen und hatten sich nicht so heimisch und freudig dort niedergelassen, wie ehemals – die Leidensgestalten der Hülfesuchenden waren in den Vordergrund getreten.

Im gegenwärtigen Sommer jedoch schien der schöne Badeort in höchster, reichster Blüthe zu stehen und von Tag zu Tage steigerte sich der Zudrang der Curgäste.

Ein warmer Augustabend dämmerte herein. Es hatte den Tag über geregnet, noch hing eine weiche, gewitterschwüle Luft über der träge der Schlummerzeit entgegendunkelnden Welt, doch begannen die Wolken sich jetzt zu theilen, und schon zitterten einzelne Sterne auf den dicht mit Menschen besetzten Curplatz hernieder. In den Sälen, unter der Veranda und am feuchten Ufer des Weihers wogte und drängte sich eine von Minute zu Minute wachsende Menge. Der König war im Laufe des Nachmittags angekommen, um einen oder zwei Tage in Wiesbaden zu verweilen, und wurde jetzt am Curhause erwartet. Die schwarzweiße Fahne flatterte lustig im Abendwinde von der Spitze des reich mit Teppichen, Guirlanden und Draperien geschmückten, erhöhten Musikpavillons, von welchem der Monarch einem für ihn vorbereiteten Feuerwerke zusehen sollte, während die Capelle des garnisonirenden Regimentes ihren Platz auf der Galerie des Curhauses gefunden. Als nun, pünktlich zur angesetzten Stunde, die edle, stattlich schöne Kriegergestalt des hohen Gastes erschien und, von zahlreichem Gefolge umgeben, mit dem bekannten energischen Schritte den Pavillon betrat, schallte ihm die jedem Preußen theure Hymne „Heil Dir im Siegeskranz“ volltönig entgegen.

Zugleich stieg die erste Rakete von der kleinen inmitten des Weihers ruhenden Insel zu den Sternen empor. Im bunten Wiederschein eines dem Signal unmittelbar folgenden Bouquets farbenprächtiger Leuchtkugeln zogen die Schwäne vereinzelt über das Wasser hin. Als sich nun aber zum Lichte der Ton gesellte, Sonnen und Feuerräder zischend und prasselnd aus der Wassertiefe aufzutauchen schienen, erfaßte sie doch ein Grauen; aufschreiend, mit den Flügeln schlagend, schossen, flatterten sie über das Gewässer hin, vereinten sich oder drängten sich dicht am Uferrande eng aneinander. Nur ein erhabener Geist unter ihnen verschmähte Flucht und Gemeinschaft: in majestätischer Ruhe schiffte der schwarze, bei Tag und Nacht freiwilliger Einsamkeit geweihte Schwan inmitten seines Elementes auf und nieder, nur mitunter regte er die dunkeln Flügel, das Wasser leise aufspritzend, und tauchte wie kosend den Purpurschnabel in die glänzende Woge.

Wer könnte ein Feuerwerk schildern? – ebensowenig, wie sich ein lebendiges, in Gedanken blitzendes und in Witzen hin- und hersprühendes Gespräch beschreiben läßt! Die dunkle Nacht mit ihrem zum Theil noch wolkenschweren Himmel bildete gleichsam eine Folie für all die bunten Sterne, Purpurkugeln und goldenen Pfeile, die in hoher Luftregion plötzlich wieder verschwanden, nachdem sie momentan, bald hier, bald dort, in geheimnißvoller Helle irdische Gruppen enthüllt, bald Baum und Strauch, bald ein Menschenantlitz.

Eben war solch flüchtiger Glanz auf ein Angesicht gefallen, das wohl verdiente, von Göttern und Menschen geschaut zu werden. Wenige Schritte vom Uferrande entfernt stand, auf den Arm eines stattlichen Mannes gelehnt, ein junges Mädchen von reizender Schönheit. Ein weiter dunkler Burnus verhüllte die Gestalt und ließ nur erkennen, daß dieselbe mittlere Größe nicht überschritt. Der zierliche Hals leuchtete unverhüllt, denn die spitzenbesetzte Kapuze des Mantels, welche vorher Nacken und Haupt bedeckt haben mochte, war herabgeglitten. Die blonde Lockenfülle des überaus fein geformten Kopfes floß, durch die feuchte Luft halb aufgelöst, schwer auf Brust und Schultern. Was den künstlerisch schönen Zügen eine so entzückende Lieblichkeit verlieh, konnte auf den ersten Blick unentschieden bleiben, schon beim zweiten empfand man jedoch, daß der Zauber vor Allem in den ungewöhnlich langen, leicht gebogenen Wimpern und den köstlich geschweiften Lippen ruhte. Von Zeit zu Zeit hob sie den Kopf, um ihrem Gefährten eine lächelnde Bemerkung zuzuraunen; in dieser Bewegung lag vollendete Anmuth.

Das Feuerwerk hatte seinen Höhepunkt erreicht. Eine von kreisenden Sternen umgebene Sonne entfaltete immer glänzendere Strahlen, und das Musikcorps, welches bisher heitere Tanzweisen gespielt, schmetterte jubelnd das Lied: „Ich bin ein Preuße, kennt Ihr meine Farben?“ Hurrahruf erschallte, Hände schlugen kräftig aneinander, Tücher und Mützen wurden geschwenkt, und Alles wandte die Blicke dem Pavillon zu, wo die königliche Heldengestalt freundlich dankend das Haupt neigte.

Der an die Platane gelehnte Mann, auf dessen Arm das [532] schöne Mädchen sich stützte, fuhr zusammen. Sie schmiegte sich dichter an ihn und flüsterte: „Ich wußte wohl, daß es Dir wehe thun würde – wir hätten nicht kommen sollen!“

Nur ein ungeduldiges Kopfschütteln gab ihr Antwort. Im gleichen Moment erklang aus einer Gruppe junger Männer, welche einige Schritte näher am Weiher standen, halblaut ein spöttisches Wort:

„Dieser alberne Pöbel! Wie armselig schwach der Hurrahruf – das soll wohl gar eine Demonstration sein? Sie sollten ihrem Schöpfer danken, daß ihnen die Ehre geworden, Preußen zu heißen!“

Eine sonore Stimme fiel ein, ohne sich die Mühe zu geben, ihren Klang zu dämpfen: „Ehre dafür diesen Nassauern! Sie beweisen damit, daß sie deutscher Art sind! Wäre es etwa erfreulicher, heute schon ein serviles Unisono zu hören? An unseres Königs Statt würde ich so leichten Erwerb wenig schätzen. Männer tauschen nicht Regenten wie Gewänder, und ich kenne auf der Welt überhaupt nur ein Ernsthaftes: Treue!“

Des jungen Mädchens Arm drückte den ihres Begleiters, lebhaftes Roth stieg ihr bis zu den Schläfen auf, ihr Auge schien das Dunkel durchdringen zu wollen. Als hätte es Kraft, dem Licht ein „Werde!“ zuzurufen, erglänzte plötzlich Alles ringsum in bengalischen Flammen. Gleich einem Feenlande stiegen Park, See und Inseln in grüngoldigem Schimmer aus dem Dunkel. Die leichte Brücke von Birkenrinde wandelte sich zum farbigen Regenbogen, der in Zauberreiche führt, denn jetzt hob sich, vom zartesten Rosenroth angehaucht, die Fontaine langsam aus den Wassern empor. Hochauf sprühten die purpurnen Perlen, wie in neckischem Spiel immer neu emporgeworfen, und immer neu wallten die breiten, zackigen Schleiergewänder der verborgenen Wasserfee.

Die lautlose Menge stand wie gebannt durch die Magie des Momentes – kaum ein tieferer Athemzug des Entzückens klang durch die nur von weichen Melodien erfüllte Luft. An der Platane aber seufzte eine junge, von Poesie der Schönheit ganz erfüllte Brust tief auf; leise sanken die Wimpern vom perlenden Gipfel der verglühenden, gleichfalls sinkenden Wassersäule – leise, wie suchend, tauchte das schimmernde Auge in die nächste, tageshell erleuchtete Gruppe. Ein aufleuchtender Blick begegnete ihr aus feurig blauem Augenpaare, über dem eine blendende Stirn sich wölbte, und mit diesem Blick zugleich brach mit demselben sonoren Klang, der vorhin in dem Worte „Treue“ verhallt war, jetzt der Laut hervor: „Undine!“

Im nächsten Moment versank die Wasserkönigin in ihre feuchten Tiefen, der Rosenglanz erlosch – Nacht und Dunkel umhüllte die Welt.




Zehn Flaschen Champagner.


Die Table d’hôte im „Nassauer Hofe“ war bereits vorüber und der Speisesaal größtentheils geleert. Nur an einem Seitentische saß noch gegen sieben Uhr Abends eine Gruppe von Officieren, theils in Uniform, theils in Civil, in angeregtester Stimmung beisammen. Lebenslust und Rheinwein funkelten aus den muntern Augen, gute und schlechte Witze flogen wie Fangbälle hin und wieder – Alle, oder doch fast Alle schienen in jener beneidenswerthen Stimmung, worin man bereit ist, Erde und Himmel für Momente verpuffen zu lassen.

„Kellner!“ rief ein für die knappe Uniform fast zu wohlbeleibter Husarenofficier über die Schulter hinweg, „noch eine Flasche Sect!“

Sein Tischnachbar legte abwehrend die Hand auf seinen Arm, indem er die Uhr zog. „Gleich sieben! ich dächte, es wäre Zeit, daß Jeder sich nach seinem Tusculum zurückzöge und Toilette machte. In einer Stunde beginnt die Réunion.“

„Und lohnt es hinzugehen, wirklich, Wellenberg?“ frug ein eleganter Mann in Civilkleidung, dessen nachlässig zurückgelehnte Haltung das ausgezeichnete Ebenmaß seiner Gestalt nicht beeinträchtigte. „Wir sitzen hier so sehr gemüthlich! Können Sie mir für das Opfer, diesem dolce far niente zu entsagen, dort etwas Hübsches zur Augenweide versprechen?“

„Hübsches, Schönes, Brillantes – Alles, was das Herz begehrt! Seit Jahren waren die Réunions nicht so glänzend als während dieser Saison, und heute wird deren Krone sein, denn man erzählt sich, daß unsere Majestät dort erscheinen wird. Dies geschieht übrigens nicht, wie ich aus bester Quelle erfuhr – einerlei, um so besser, möchte ich sagen, man ist bei solchen Gelegenheiten durch Anwesenheit der höchsten Herrschaften doch immer etwas genirt. Jedenfalls garantirt die hohe Sage aber doppelt entzückende Toiletten und einen Flor aller fremden und einheimischen Schönheiten. Wenn Sie Lust haben, auf den Fischfang zu gehen, Triefels, so könnte ich Ihnen einige ganz annehmbare Goldfischchen nachweisen – Sie müßten dann freilich den Gedanken aufgeben, schon morgen abzureisen, sonst wäre die Zeit zum Kapern einer Erbin doch zu kurz.“

„Was gehen mich Ihre Erbinnen an,“ lächelte Triefels; „ich frug nach Schönheiten! Im Uebrigen – ein Ballabend zu kurz, um ein Weiberherz zu gewinnen? – das ist mir neu!“

„Bramarbas!“ spottete Wellenberg.

„Was gilt die Wette?“ rief Triefels übermüthig, indem er, den Antinouskopf leicht zurückwerfend, aufsprang und das halbgefüllte Glas erhob. „Sucht eine Eurer Ballschönheiten aus, ganz nach Belieben, und ich mache mich verbindlich, bis zum Schluß der heutigen Réunion ihr Jawort gewonnen zu haben! Kann ich die Wette nicht halten, so gebe ich zehn Flaschen Champagner verloren! Nur eine Gegenbedingung: es darf keine Braut sein, weder eine[WS 1] heimliche, noch eine öffentliche – die nehme ich aus!“

„Die nimmt er aus!“ höhnte der dicke Husar.

„Nur wegen allzubeschränkter Zeit!“ lachte der Geneckte. Er hatte vielleicht etwas Anderes erwidern wollen, denn bei den zuletzt getauschten Worten war ein blitzartiger Glanz in den feurigen Augen aufgestiegen, doch traf ihn, noch ehe er sprach, aus einem Augenpaare gegenüber ein Blick, welcher den vorigen Uebermuth zu verdoppeln schien. Es war ein ernster, fast strafender Blick gewesen und ging von einem kaum dem Jünglingsalter entwachsenen Manne aus, der, gleich der Mehrzahl der Tischgenossen, die Uniform des in Wiesbaden garnisonirenden Regiments trug. Bis jetzt ein schweigsamer Gesellschafter, ließ er der stummen Opposition, die er, vielleicht unwillkürlich, jedenfalls wirkungslos, an sein Gegenüber gerichtet, auch jetzt kein ausgesprochenes Wort folgen. Um so lebhafter schwirrte dagegen das Zurufen, Lachen und Applaudiren der Anderen durcheinander.

„Topp!“ rief Wellenberg, „wir halten die Wette, – nun gilt es aber auch, den Wahnsinn mit Methode zu betreiben. Ein Vorschlag! Wir Hiesigen kennen ja die Damenwelt der Saison ziemlich genau – ich entwerfe eine Liste, sie soll die Runde machen. Ist ein Name vergessen, oder zu viel, so bleibt Jedem das Recht eines Veto! Sobald die Liste fertig – bis zu Tausend und drei wird sie wohl nicht steigen – schütteln wir die Urne, und Don Juan zieht seine Göttin als Loos!“

„Bravo!“

„Doch einmal eine Abwechselung in diesem Jammerleben!“

„Vorwärts, hier ist mein Notizbuch mit Bleifeder!“

„Das giebt ein Göttervergnügen!“ jubelte die ganze Tafelrunde durcheinander.

Während Wellenberg schrieb und eine Minute später das Blatt circuliren ließ, beobachtete Triefels mit halbem Blick sein Gegenüber, und die gewölbte Lippe zuckte unmerklich unter dem lockigen Bärtchen, als der junge Mann die Liste, ohne sie nur anzusehen, weitergab.

„Oho, Eckhardt, nicht geschwänzt, das gilt nicht!“ rief sein Nachbar.

Der Angeredete zuckte leise die Achseln, ohne ein Wort zu erwidern.

„Laß doch,“ unterbrach Wellenberg mit einem Theaterflüstern, „der jungen Dame sind wir wieder einmal zu frivol.“

Der Officier wandte mit ruhiger Bewegung den Kopf und sagte einfach, indem er das intelligente Auge fest auf den Sprecher richtete: „Sie meinten, Herr von Wellenberg?“

Wellenberg lachte. „Ich meine, Sie sollen kein Spielverderber sein, Eckhardt! Aber – suum cuique! – sehen Sie wohl, wenn ich auch lieber Champagner trinke, als, wie gewisse Leute, mit alten und neuen Classikern handgemein werde, mein Schullatein ist noch nicht vergessen, ich kann sogar mit Uebersetzung aufwarten: Jedes Thierchen hat sein Manierchen! Aber nun zur Sache! Die Liste ist vollständig – Kellner! eine Scheere und einen leeren Aschebecher! – So, nun sind die Präliminarien vollendet – jetzt zum Pakt!“ – Er rollte die ausgeschnittenen [533] schmalen Streifen auf, warf sie in die Schale und schüttelte sie durcheinander. Indem er den Becher mit feierlicher Miene emporhob, sagte er mit Emphase: „Ehe Sie das große Loos ziehen, Triefels, müssen noch verschiedene Stipulationen gehört und insgesammt genehmigt werden: Paragraph Eins: Der Bevollmächtigte wird ohne jeden Einwand derjenigen Schönen die Cour schneiden, welche ihm Fortuna bestimmt, auch in dem Falle, daß ihm eine Andere besser gefällt.“

„Angenommen,“ nickte Triefels.

„Paragraph Zwei: Er giebt sein Ehrenwort, daß er, der Feldzug möge nun ablaufen, wie er wolle, nach Beendigung des Balles im zweiten Restaurationszimmer mit uns zusammentrifft und Sieg oder Niederlage bekennt.“

„Abgemacht, versteht sich von selbst!“

„Paragraph Drei: Im Fall er abblitzt, werden die zehn Flaschen Champagner sofort gemeinschaftlich vertilgt, reüssirt er, so wird Ort und Zeit des Bankets seinem Ermessen anheimgestellt, wir Alle aber jedenfalls zur Hochzeit geladen!“

„Halt da!“ rief Triefels, „Hochzeit?! Warum nicht gar! Meinen Sie etwa, ich hätte Lust, mich, wenn überhaupt je, schon jetzt in den Käfig sperren zu lassen? – origineller Gedanke!“

„Ich glaubte verstanden zu haben, daß es sich um ein Jawort handle, Herr Rittmeister?“ fragte Eckhardt, ruhig aufblickend.

„Allerdings, und was weiter? Der Traum einer Ballnacht – man schläft aus und er ist zerstoben – Liebeserklärungen empfangen zu haben, bleibt für jede Dame eine angenehme Erinnerung, und seufzt sie dabei ihr Ja, so ist das nichts als schuldige Dankbarkeit. Sie blicken d’rein, als ließe der Scherz sich tragisch nehmen, lieber Camerad? Glauben Sie mir, nach fünf, sechs Jahren sehen Sie das Leben und nun gar die Weiber ganz anders an. Ich kenne diese zarten Wesen sehr genau, sie sind insgesammt große Lebenskünstlerinnen, denen so leicht keine Aufgabe zu schwierig wird. Suchen, Finden, Fliehen ist das Thema, nach dem sich alle Variationen ihrer Tage abspielen, verschwindet ein Bild – pah! der gefällige Rahmen bleibt, und rasch wird ein anderes hineingeschoben!“

„Hört! hört!“ rief der Husar, „Triefels hält Vorträge zur Ausbildung der Jugend!“

„Und vergißt darüber, was seines Amtes ist,“ grollte Wellenberg, indem er zum zweiten Male den Becher hinüberreichte.

Triefels hob die Hand – eine feine, wohlgepflegte Hand, deren Weiße sich ein Mädchen hätte rühmen dürfen. Am kleinen Finger der Rechten funkelte ein Brillant; offenbar war der Ring ursprünglich für eine Frau bestimmt, oder von ihr getragen worden. – Lächelnd hielt der junge Mann das erfaßte Röllchen einen Moment zwischen den Fingern, dann glättete er es mit schelmischem Aufblick, und las in klarem, halb fragendem Ton: „Eugenie Wallmoden?“

Noch klang der Name, als ein rasch unterdrückter, unverständlicher Laut den Blick des Lesenden auf sein Gegenüber zog, dessen bis in die Lippen hinein erblaßtes Gesicht eine Secunde lang fassungslose Aufregung verrieth. Im nächsten Moment verdrängte jedoch schon ein geringschätziges Lächeln den leidenschaftlichen Zug von Entrüstung, und Eckhardt lehnte sich in gleichgültiger Haltung in seinen Sessel zurück. Nicht auf ihn allein schien jedoch der eben ausgesprochene Name Eindruck gemacht zu haben, denn hier und dort in der Runde hörte Triefels wiederholen: „Fräulein Eugenie?“ – „Die Wallmoden?“ – „Merkwürdig!“

„Nun?“ frug er lebhaft.

„Nun!“ wiederholte Wellenberg, „Sie sind ein Glückspilz, Triefels! Die Sache wird nun wirklich interessant. Eugenie Wallmoden ist das schönste und reichste Mädchen unserer guten Stadt Wiesbaden, übrigens eine ziemlich hoch in Wolken thronende Göttin, zu welcher empor der Flug sich schon für Manchen als Ikarusgeschäft erwiesen. Gewinnen Sie hier binnen einer Nacht, so ziehe ich vor Ihnen den Hut ab.“

„Na, Triefels, in diesem Falle sind Sie wenigstens sicher, daß kein Bühnenvater Sie aus dem Ballsaale zum Altar schleppt –“ rief laut lachend der Husar. „Sich dem Staatsrath Wallmoden als lieber Schwiegersohn in königlich preußischer Uniform zu präsentiren – ha, ha, ha! Anomalie – Anachronismus – wer weiß noch mehr so’ne französische Worte?“

Triefels hob leicht die Brauen: „Ein Preußenhasser?“

„Und wie! Hat sofort nach der Annexion sein Amt niedergelegt, auf Pensionsbezüge verzichtet und lebt seitdem im tiefsten Hintergrunde seiner allerdings ganz erträglichen Höhle – stolz schweigend, wie ein eingesperrter Löwe.“

„Eben deshalb wird das ganze Vergnügen zur Seifenblase, Ihr Herren,“ warf ein spitznasiger Hauptmann sarkastisch ein. „Wallmodens, die man überhaupt nie auf einer Réunion im Cursaale trifft, werden heute, wo man dort den König erwartet, ganz sicher nicht hinkommen!“

„Wüßte ich nicht das Gegentheil, so hätte ich den Namen überhaupt nicht auf die Liste gesetzt,“ erklärte Wellenberg siegreich. „Der Alte kommt natürlich nicht, wohl aber Fräulein Eugenie. Die Familie hat Besuch aus Köln, einen reizenden Backfisch, dem zu Liebe meine Wenigkeit so genau orientirt ist, und dem zu Liebe die exclusive Schöne heute einmal den Cursaal mit ihrem Besuche beehren wird. Beide junge Damen erscheinen unter den Flügeln der Verschönerungspräsidentin.“

„Wer ist denn das?“ lachte Triefels.

„Sie haben noch nichts von der Verschönerungspräsidentin gehört? – o Vandale! Ja so, ich vergesse, daß Sie erst seit wenigen Tagen so glücklich sind, in der einzig menschenwürdigen Atmosphäre der Wiesbadener Gesellschaft zu athmen. Nun, Herr von Fulhem ist Vorstand aller Annehmlichkeiten, die aus der Casse der Bank in die der Stadt fließen, und seine würdige Gattin besitzt eine seltene Anziehungskraft für mutter- oder tantenlose Schönheiten. So oft sie erscheint, persönlich mehr einer gefüllten Sonnenblume, als der Sonne selbst zu vergleichen, wird sie von den anziehendsten Planeten umkreist. Nie also ward ein vielversprechender Name mit größerem Rechte verliehen!“

Triefels sah nach der Uhr. „Auf Wiedersehen, Ihr Herren; à propos, wer von Ihnen wird die Güte haben, mich meiner Zukünftigen vorzustellen?“

„I!“ sagte der Sarkastische im harmlosesten Ton – „Lieutenant Eckhardt etwa.“

Der Genannte blickte auf. Während der lebhaft getauschten letzten Sätze war die gleichgültige Haltung, die er angenommen, bereits wieder mühsam bekämpftem Unmuth gewichen; die feinen Lippen hatten sich fest auf einander gepreßt und öffneten sich jetzt nur, um in schneidendem Tone das Wort fallen zu lassen: „Diese Ehre muß ich ablehnen.“

„Und weshalb, Herr Camerad?“ fragte Triefels aufmerksam, indem seine hohe Gestalt zu wachsen schien.

„Weil ich Fräulein Wallmoden zu sehr schätze, um in dem sie betreffenden Lustspiel eine Rolle übernehmen zu können.“

Auch er hatte sich erhoben; die beiden jungen Männer maßen sich einen Moment mit ziemlich zweifelhaftem Ausdruck. Eckhardt’s schmächtige Gestalt und feingeschnittene Züge ließen ihn der männlich kräftigen Erscheinung des ältern Officiers gegenüber noch jugendlicher aussehen, als er wirklich war. Dennoch lag in den grauen Augen des Jüngern eine eben so zwingende Macht, wie in dem leuchtenden Feuerblick des Andern. Es war nur ein Moment. Dann wandten sich Beide fast gleichzeitig ab. Eckhardt griff nach Degen und Mütze, und war schon im Begriff, sich zu entfernen, als das verdrießlich gemurmelte Wort Wellenberg’s ihn aufhielt:

„Dieser junge Cato wird uns noch den ganzen Spaß verderben.“

Eckhardt berührte zu Gruß die Mütze und sagte, ruhig über die Schulter zurückblickend: „Ich denke zu wissen, was Cameradschaft heißt, Herr von Wellenberg. Uebrigens habe ich nur die Ehre, der Familie Wallmoden bekannt, keineswegs aber verwandt zu sein.“

„Pedant und kein Ende!“ lachte der Husar hinter ihm her, sobald die Thür sich geschlossen. „Na Kinder, man muß ihm christlich vergeben! Solch einen Nebenbuhler, wie unseren lieben Gast hier, gleichsam aus einer Versenkung plötzlich aufsteigen zu sehen, wäre Jedwedem ungemüthliche Ueberraschung. Gott sei Dank, daß man über solche Kinderkrankheiten hinaus ist! Brrr – o wie schmeckt mir täglich mein Diner so gut!“

Triefels stand einen Augenblick in Gedanken. Jetzt hob er mit eigenartig unterjochendem Ausdrucke das Auge und sagte in hellem Tone: „Sie hatten Recht, Wellenberg – die Sache beginnt interessant zu werden. Auf’s Wohl der Schönen!“ Er ließ sein Glas anklingen und leerte es in raschem Zuge, sprühende Lebenslust in jeder Muskel.



[534]
Rudolph Eckhardt.


Im Bowling-Green nächst dem Theaterplatze wanderte eine einsame Gestalt ruhelos auf und nieder. Die beiden Cascaden waren erleuchtet, und immer neue Wogen stürzten rauschend aus einem Marmorbecken in das andere nieder, über die blitzenden Lichtringe hinfluthend, welche, goldenen Reifen gleich, hinter den Wasserschleiern zitterten. Von hohen Candelabern herab schwankte ungewisses Licht auf all’ die farbenbunten Blumenbeete, dunkel begrenzt von mächtigen Platanen, in deren Allee sich die Gruppen der Spaziergänger schattenhaft bewegten, oder an denen Wagen auf Wagen blitzschnell vorüberrollten und mit ihren Lampen gleich feurigen Augen neugierig in die stille Dämmerung hinübergrüßten. Inmitten all’ des wogenden Abendlebens draußen schien Duft, Licht und Frieden sich in diesen magischen Zauberkreis geflüchtet zu haben.

Nichts von Frieden lag aber in Bewegung und Zügen des uns bekannten Wanderers, der dort rastlos auf- und niederschritt. Eckhardt’s Auge schweifte zerstreut über die duftenden Beete, welche sein Fuß streifte, nur zuweilen hob es sich und schien scharf durch die Nacht zu dringen – einem Hause am Theaterplatze zu, dessen Umrisse selbst die davor brennende Gasflamme nicht klar von hier aus unterscheiden ließ.

Wie stürmte es in ihm! Wer es je erlebte, einen geliebten Namen spöttelnd aussprechen zu hören, weiß, daß dies allein schon empfunden wird wie ein Schlag. Erfaßt uns doch schon ein gewisses Staunen, wenn das, was wir im Allerheiligsten unserer Seele vor jedem fremden Hauche schützen, von Dritten überhaupt nur, so obenhin, als Gesprächsgegenstand abgefertigt wird! Und Eckhardt hatte mit anhören, hatte dulden müssen, daß der Name des Mädchens, welche der lichte, unerreichbare Morgenstern seiner Tage war, zum Thema des frivolsten Gespräches – des geringschätzigsten Planes geworden! Und nichts, nichts gab ihm ein Recht, gegen solchen Frevel einzuschreiten – er mußte schweigen, der Ausführung des kecken Spieles unthätig zuschauen – wirklich! konnte, durfte er das?

Obgleich er im Gesellschaftsanzuge seine Wohnung verlassen hatte, jagten sich noch immer Zweifel und Ungewißheit in ihm, ob er sich die Folter dieses Balles auferlegen solle, oder nicht. Der Instinct, sein Theuerstes womöglich zu schützen, trieb ihn vorwärts; der noch stärkere Instinct nahender Schmerzen suchte ihn zurückzuhalten.

Er warf sich mit tiefem Athemzuge auf die Bank gegenüber einer der Cascaden. Achtlos hing sein Auge an der breiten Lichtwoge, welche, über die still gesammelten Wasser des Bassins ausgegossen, dort zu ruhen schien. Mit einem Male trat der Vollmond aus dem Gewölk, ruhig und groß. Ein eigenthümlich besänftigendes Gefühl ergriff den Aufgeregten – die Bürde, welche ihn eben noch so schwer bedrückt, erschien ihm gelüftet, als wäre sie fast geschwunden. Das reine Bild der Geliebten schien ihm hoch über jeder frevelnd ausgestreckten Hand zu stehen – wie das klare, ewige Himmelslicht droben über den zuckenden Flämmchen stand, die vor ihm flackerten. Plötzliche Zuversicht erfüllte das noch immer bewegte Gemüth – sein Gedanke hing an dem edeln Mädchenbilde, er dankte es ihr, daß sie auf der Welt war.

Da stieg neben ihr die Gestalt des Mannes auf, der den Sinnenden heute so aus allen Fugen gerissen, und von Neuem krampfte sich sein Herz zusammen – war dies Herz ein Orakel, oder flohen Ruhe und Sicherheit vor der Erinnerung an Triefels’ Persönlichkeit? Eckhardt leugnete es nicht, ihm war vorher nie seines Gleichen begegnet. Nie hatte eine fremde Individualität so stark auf ihn gewirkt, als diese, deren starkes inneres Leben, sich in allen Facetten reichster Empfindungs- und Genußfähigkeit tausendfältig wiederspiegelte. Verständnißvoll für die feinsten Regungen des Geistes, für jeden Pulsschlag der Begeisterung – einem Cultus des Schönen hingegeben, der den lachenden Himmel heitern Griechenthums über die gegenwärtige Stunde zu wölben verstand – dazwischen selten anklingende, aber volle Harfentöne männlicher Kraft und Ehre – dies Alles zum Bilde verkörpert in einer Erscheinung, die nirgends übersehen, niemals mit Andern verglichen werden konnte – hatte Triefels den jüngeren Mann seit der ersten Stunde des Zusammentreffens zu einer Bewunderung hingerissen, die um so energischer wirkte, als es ihr an Widerstreit nicht fehlte.

Rudolph Eckhardt war ein Charakter von bedeutendem, doch eigenartigem Gepräge und fühlte sich unter den Cameraden einsam und unverstanden. Nichts ist in einem Verbande ganz verschiedenartiger Naturen gefährlicher, als nicht gerade auf der Linie der Mittelmäßigkeit zu stehen. Jedes Hervortreten bringt um so mehr in Gefahr, ironisirt zu werden, als es eine Eigenthümlichkeit mancher geistestiefer Menschen ist, daß sie selbst unbedeutend erscheinen, sobald sie nur über unbedeutende Dinge zu sprechen haben. Triefels dagegen verstand es, jeden schlummernden Funken zu wecken, und hatte sich dem Zurückhaltenden anfangs mit unverhohlener Sympathie zugewandt, ohne sich jedoch je in Aeußerungen eines Wesens zu beschränken, das Eckhardt mitunter aus allen Geleisen schleuderte. Ein keckes Verwerfen allgemeiner Gesetze – ein frivoler Uebermuth, womit Jener hier und da Menschen und Dinge behandelte, und für welchen Nichts zu existiren schien, was ihm ein „Halt!“ zurief – der von feinen Formen verhüllte, darum aber doch dem tiefer blickenden Auge nicht unsichtbare starke Glaube an das eigene Uebergewicht – waren Züge, die Triefels fast geflissentlich gerade in Eckhardt’s Gegenwart aufblitzen ließ und die zu sagen schienen: „ich schätze Dich doch nicht genug, um Deinethalben zu unterdrücken, was mir eben durch den Kopf fährt.“

Heute steigerte sich der innere Widerspruch, der Rudolph seit einigen Tagen bald an diese Erscheinung fesselte, bald von ihr abstieß, fast zum Haß. – Würde – konnte Eugenie dem Zauber des Verwegenen anheimfallen, im Laufe weniger Stunden?! – Alles ist denkbar, Alles war darum auch möglich! Und er selbst sollte ein müßiger Zuschauer bleiben, während mit ihrem Glück, ihrem Frieden gespielt wurde wie mit einem Würfelbecher?

Sie warnen! Der Gedanke war schon wiederholt aufgestiegen, jetzt stand er gleichsam greifbar vor ihm. Eugenie war immer gütig gegen ihn gewesen, er hatte das Bewußtsein, ihr sympathisch näher zu stehen als mancher Andere, und durfte ein freundschaftliches Wort wohl wagen. Und doch klang in ihm ein leisestarker Ton, der abmahnte! Zu sehr war er sich der heiligen Unbeholfenheit bewußt, welche tiefstes Gefühl leicht begleitet, um ein Wort finden zu können, durch welches solche Warnung nicht der Achtung zu nahe treten würde, welche hohe Weiblichkeit als Schutz vor jeder Unbill von selbst umgiebt.

Die Thurmuhr schlug acht; Eckhardt erhob sich. Sein Blick schweifte noch einmal zum Theaterplatze hinüber. Vor dem Eckhause zur Rechten schimmerten zwei Lichtpunkte, die sich eben in Bewegung setzten, und eine Minute später rollte ein geschlossener Wagen dicht am Staket des Bowling-Green vorüber. Eckhardt unterschied im Schein des nahestehenden Candelabers hinter dem Wagenfenster die Gestalt einer wohlbeleibten, reichfrisirten Dame, welche allein den Sitz einnahm. Er folgte dem Wagen mit den Augen, bis er ihn zur Linken des Curhauses dem Parke zurollen sah, und murmelte vor sich hin: „Wirklich, sie fährt nach der Villa.“ Dann ging er festen Schrittes dem Curhause zu.

(Fortsetzung folgt.)




Aus den Bergen.


Wie der Rhein mit seinen Rebgeländen und Burgen, wie das Meer mit seiner träumerischen Weite den einen Theil des Reisepublicums anzieht, so locken die grünen Matten und hellglänzenden Firnen der südlichen Gebirgswelt den Touristen, und wer einmal dort gewesen in den Bergen und mit Sitten und Gebräuchen daselbst sich vertraut gemacht hat, kommt immer gern wieder und fühlt das Herz aufgehen, wenn er im Nachen den tiefblauen Alpensee befährt und von der „Alm“ herunter einen fröhlichen „Juchazer“ hört.

Aber unsere Bergbewohner sind auch ein gar biederer Schlag Leute, rauh oft von außen, aber brav von innen, und wem so ein derbbeschuhter Sohn der Berge einmal recht herzlich die Hand drückt, der mag über die allzu große Herzlichkeit vielleicht nicht sehr erbaut sein und mit Bangen die losgelassene Hand betrachten,

[535]

Die letzte Fahrt des Wildschützen.
Originalzeichnung von Gustav Sundblad.

[536] aber – es war gut gemeint. Und da muß man unseren Bergbewohnern schon etwas nachsehen.

Wie der Flachländer, so hat auch der Gebirgler seine „Passionen“. Nicht die geringste ist das „Jagen“. Wenn aus fast allen „Schnaderhüpfeln“ ’s Deandel und die Cither herausklingen, so muß als Dritter im Bunde der „Stutzen“ dabei sein. Ein „Gamsei abischieß’n“ ist einer der seligsten Augenblicke des Gebirglers. Das Jagen liegt ihm im Blute und er ist darin fürwahr ein würdiger Nachfolger unserer Altvordersten. Je mehr vollends Gefahr dabei, desto größer ist der Reiz. Galt doch überhaupt zu allen Zeiten, um die Kraft und den Muth des Mannes zu erproben, die Jagd als die ehrenvollste, welche die meiste Gefahr bot. Und wenn die Helden Griechenlands sich um Jason, Theseus, Nestor versammelten, um den kalydonischen Eber zu jagen, wenn Hercules seinen Ruhm durch den Sieg über den Eber von Erymanthos erhöhte, wenn man in Ostindien Elephanten und Tiger jagt, so unterscheidet sich davon natürlich die Jagd in unseren südlichen Bergen wesentlich, erfordert aber gleichwohl ebensoviel Muth wie Ausdauer, wenn der Bergschütze der Gemse in die Regionen der Wolken nachsteigt, wo jeder Fehltritt den sichern Tod in Aussicht stellt.

Unsere modernen Schießwaffen haben sich in der Hütte des Gebirglers noch nicht eingebürgert und mit „Hinterladern“ hat er nichts zu schaffen; wenn ihm aber ein Stück schußgerecht ist, so „tragt“ seine Kugelbüchse „halt“ schon auch „sakrisch weit und ’s Gamsei gehört ihm“.

Das Jagen auf den Bergen ist nämlich nach den Begriffen und Anschauungen dieser Natursöhne frei. Unser Herrgott läßt die „Thierln“ da droben für Alle herumlaufen, meint er, und so leicht es dem hochwürdigen Herrn gelingt, dem Sohne der Berge in seiner Gutmüthigkeit den Glauben an die „unbefleckte Empfängniß“ oder an die „Unfehlbarkeit“ beizubringen, auf so große Schwierigkeiten dürfte Hochwürden stoßen, wollte er dem eingefleischten Gebirgssohne einen überzeugenden Begriff von Jagdhoheit, Jagdrecht etc. beizubringen versuchen.

Und diese Lust am Jagen ist den Burschen wie in’s Herz gewachsen, und wenn einer heraus auf’s Flachland „verschlagen“ wird, so fehlt ihm etwas, und kommt die Rede zufällig auf’s Schießen und die kecke Jagd in den Bergen, da blitzen die Augen lustig auf, und die Hände jucken, als faßten sie den Schaft der Büchse, und in der Fremde sind es gewiß die schönsten Träume des Gebirglers, wenn ihm träumt, wie er in frühester Morgendämmerung der Gemse nachsteigt oder auf dem Wechsel sich anbürscht und lautlos harrt, bis die Beute kommt.

Mühen und Strapazen bringt die Jagd in den Bergen an und für sich mit, wenn dieselbe aber unberechtigt getrieben, das heißt wenn „gewildert“ wird, so häufen sich dieselben und gesellen sich Gefahren aller Art dazu. Doch gerade das lockt den „Wilderer“ und hat für ihn besondern Reiz. Er kennt alle Wege und Stege, alle Wechsel und Schlupfwinkel in den Bergen, und keine Stunde ist ihm zu früh oder zu spät, wenn er wildern geht, kein Weg zu lang, kein Steg zu gefährlich, wenn es gilt, den wachsamen Jäger zu täuschen und ein Stück Wild auf eigene Faust zu schießen.

Er weiß, was ihm droht, wenn ihn der Jäger erwischt. Wilderer und Jäger sind die erbittertsten Feinde und gehen sich häufig aus dem Wege; denn stehen sie einander einmal gegenüber, Aug’ in Aug’, Jeder im Anschlag, wird’s sehr ernst und meist ist’s um Einen geschehen.

Doch auch das Bewußtsein, schwere Strafe im Betretungsfalle zu erhalten, selbst das Risico, von des Jägers Kugel zu fallen, vermag der Lust zum „Wildern“ keinen Einhalt zu thun, und wir glauben, es liegt dies dem kecken Sohn der Berge so im Blut, daß er davon nicht ließe, wenn auch wie im fünfzehnten oder sechszehnten Jahrhundert, die Strafe für Wilddieberei in Rädern, Kreuzigen, Lebendigbegrabenwerden unter Steinen, Schmieden auf Hirsche, Abhauen der rechten Hand etc. bestünde.

„’s nutzt holter Alles nix und wenn mer a obi putzt wer’n, mer loss’n ’s doch nit,“ war die Schlußentgegnung eines Fährmanns auf einem Bergsee, hinter dem wir nicht mit Unrecht einen Wilderer vermutheten und dem wir das Unberechtigte und Gefährliche seines Treibens vorzustellen suchten. „’s nutzt holter doch nix,“ gab er uns zur Antwort, „d’Jaga geh’n uns schon aus dem Weg’, weil s’ wissen, daß wir kein’ Spaß verstehen.“ Da mache Einer nun länger Besserungs- und Bekehrungsversuche.

Die Jäger gehen aber nicht immer aus dem Wege, sondern dem Feind in ihrem Gehege oft gar fleißig und unverdrossen nach, und wenn sie sich gegenüberstehen, Beide allein, da kommt häufig nur Einer von Beiden heim. Der Andere bleibt verschollen, denn er wurde von der Kugel des Feindes über einen Felsen gestürzt, tief in einen Abgrund, wo kein menschlicher Fuß hinkommt, oder, wo eine Grenze ist, hinunter über ein Joch geworfen. In der Erbitterung kennt der Ueberlebende häufig keine Mäßigung mehr. Natur und stete Gefahr stählen eben die Nerven und härten das Gemüth.

Von den an Felswänden und Baumstämmen angebrachten frommen Bildern, im Volksmund „Marterln“ geheißen, haben nicht wenig Bezug auf irgend ein Vorkommniß, wobei das Blut der Thiere mit dem der Menschen sich mischte. Das sind die dunkelsten Seiten des Wildschützenlebens, und uns speciell ist ein Fall erinnerlich, der vor einigen Jahren sich zugetragen. Am Eibsee, einem nicht gar großen, düstern, von Wänden fast ganz eingeschlossenen See an der bairisch-österreichischen Grenze, hart am Fuße der Zugspitze, hatte sich seit vielen Jahren eine Zigeunerfamilie angekauft und angesiedelt. Ein Sohn derselben machte sich gar bald die unerlaubte Passion für das edle Waidwerk so zu eigen, daß er gleich einem eingeborenen Wildschützen das gefährliche Handwerk leidenschaftlich betrieb. Das Ende sehen wir auf dem Bilde, das Gustav Sundblad charakteristisch wiedergegeben hat. Der Wildschütz ist droben zwischen zerrissenem Felsgestein gefunden worden, von einer Kugel durchbohrt. Ob er angegriffen, ob er meuchlings gefallen, ob Nothwehr oder Rache das Geschoß geleitet, wer kann’s hinterher sagen, und der Wildschütz hätte es vielleicht selbst verschwiegen, wenn er noch lebend getroffen worden wäre. Die „Commission“ hat den Befund an Ort und Stelle aufgenommen und zu Protocoll gegeben, es wird sich eben, wie meist in solchen Fällen, nicht viel herausstellen. Der Leichnam wird den Angehörigen überlassen. Der überlebende Bruder hat ihn aus den Bergen heruntergebracht und bringt ihn auf dem „Einbaum“ über den See zu den Seinen. Grollender Donner und zuckende Blitze sind sein Geleite auf der düstern Fahrt. Und wenn der Fährmann auch in dem gesetzwidrigen Treiben des Erschossenen keineswegs ein Unrecht sieht und vielleicht dem Jäger flucht, der nicht schießen läßt, was frei in den Bergen herumläuft, so bekreuzt er sich doch im selben Augenblick gar andächtiglich, wenn der Blitz niederfährt und der Donner krachend wiederhallt von den Bergen, denn bigott bleibt der Wilderer immerhin, und wie es schon vorgekommen, daß ein „kraftadliger“ Niederbaier der Mutter Gottes das Messer weihte, womit er bei Raufhändeln einen Anderen erstochen, so kommt es vor, daß der „Wildschütz“ zu irgend einer schwarzen oder braunen Mutter Gottes sich verlobt, oder beim Fortgehen aus dem Hause sich andächtig mit dem „Weihbrunn“ besprengt, auf daß sein unerlaubtes Thun ihm glücke. Dahin ist der von Grund aus schlichte und leichtgläubige Sohn der Berge durch wohlgeplanten geistlichen Einfluß gekommen.

K…lp.




Was die heutige Wissenschaft vom Blitz erzählt.


Von H. J. Klein.


Ueber das Gewitter, so denkt gar Mancher, läßt sich nicht viel Neues mehr sagen, denn das ist eine allbekannte Erscheinung, die Jeder hundertmal erlebt hat. Diese Meinung ist eine grundfalsche, denn das Gewitter ist eine Naturerscheinung, welche selbst der heutigen, so weit fortgeschrittenen Wissenschaft noch sehr viel Geheimnißvolles bietet. Freilich, wäre es mit dem bloßen Erleben eines Gewitters gethan, so würde man diese großartige Erscheinung längst genau genug kennen. Aber was giebt das bloße Sehen des Blitzes und das Hören des Donners für einen Aufschluß über die Natur des Gewitters? Unter tausenden von [537] Fällen gar keinen. Ja, sollte man es glauben, der Anblick eines Blitzes, der zuckend aus einer Wolke zur Erde herniederfährt, giebt gar keinen sicheren Anhaltspunkt darüber, ob der Blitz aus den Wolken zur Erde herabstürzte oder von der Erde gegen die Wolken herauffuhr. Und wenn auch Tausende einen Blitzstrahl aus einer Wolke zur Erde herabfahren sehen, so hat die übereinstimmende Wahrnehmung dieser Tausende noch ganz und gar keine Bedeutung für die Entscheidung der Frage, nach welcher Richtung sich der Blitzstrahl bewegte, ob von der Wolke zur Erde oder von der Erde zur Wolke. Unter Hunderttausenden von Blitzschlägen gestatten nur verhältnißmäßig wenige einen sicheren Schluß über die Richtung der Bewegung des Blitzes, nämlich ob aufsteigend oder niedersteigend. In dieser Hinsicht kann sich Niemand die Bedingungen der Erscheinung wählen, sondern muß dieselbe beobachten, wie sie eben auftritt; denn der Blitz ist, wie Voltaire sagt, ein großer Herr, dem man sich nur mit äußerster Vorsicht nahen kann, der es aber durchaus nicht duldet, daß man mit ihm Versuche anstellt. Trotzdem hat eine genaue Untersuchung vieler tausend Blitzschläge nunmehr eine Anzahl von Fällen ergeben, aus welchen sich hinterher ziemlich sichere Schlüsse über die Richtung der Bewegung des Blitzes oder richtiger über die Lage seines Ausgangspunktes ziehen ließen. Ich will einige solcher Fälle anführen.

Im Sommer 1787 wurden bei dem Dorfe Tacon in der Gegend von Beaujolais zwei Menschen, die sich während eines Gewitters unter einen Baum begeben hatten, vom Blitze getödtet. Man fand die Haare der Unglücklichen hoch auf dem Baume, und ein eiserner Ring aus dem Holzschuh des Einen hing an einem hohen Zweige. Am 29. August 1808 schlug der Blitz in das Gartenhaus einer Schenke hinter dem Spitale der Salpetrière in Paris. Ein Arbeiter, der sich zufällig dort befand, wurde. getödtet; man fand Stücke seines Hutes in der Decke haftend. Ein Mann hielt sich zur Zeit eines Gewitters im zweiten Stockwerk eines aus Backsteinen gebauten neuen Hauses auf, als ein Blitz durch das erste und zweite Stockwerk hindurchschlug und den Mann sofort tödtete. Seine Mütze wurde emporgeschleudert und fand sich andern Tages an der Zimmerdecke zwischen den Latten.

Noch andere Beispiele habe ich in meiner Schrift „Das Gewitter“ gesammelt, aber schon die angeführten beweisen, daß mitunter der Blitz aus dem Boden hervordringt und in die Luft hinaufschlägt. Im Allgemeinen muß man annehmen, daß bei jedem Blitzschlage gleichzeitig ein Strahl aus der Wolke und aus dem Erdboden hervorbricht und beide sich in der Luft vereinigen. Die ungeheure Geschwindigkeit des Blitzfunkens verhindert jede genauere Wahrnehmung beim directen Anblick. Aus den Untersuchungen von Wheatstone hat sich ergeben, daß die wirkliche Dauer des Blitzes noch nicht den tausendsten Theil einer Secunde beträgt. Beim unmittelbaren Anblick des zuckenden Blitzes ist Jeder gern geneigt, demselben wenigstens eine Dauer von einer Secunde zuzuschreiben und den Blitz selbst für einen langen, im Zickzack dahinfahrenden Feuerstreifen zu halten. Allein diese Wahrnehmungen sind nichts als Täuschungen. Wenn man ein kleines Stückchen glühender Kohle rasch herumschwingt, so glaubt man eine ununterbrochene glühende Kreislinie zu sehen, weil der Lichteindruck von jedem Punkte des Weges der glühenden Kohle längere Zeit im Auge andauert, als die Kohle gebraucht, den ganzen Weg zurückzulegen. Ganz ebenso verhält es sich mit dem Blitz. Derselbe ist ein gewaltiger elektrischer Funken, der einen zickzackförmigen Weg durch die Luft zurücklegt. Dieser Weg stellt sich aus dem soeben angegebenen Grunde als eine leuchtende zickzackförmige Linie dar, und die Zeit von etwa einer Secunde oder weniger, während welcher diese zickzackförmige Linie sichtbar wird, ist daher nicht die Zeitdauer des Blitzes, sondern die Zeitdauer, während welcher die Lichtempfindung im Auge haften bleibt.

Eine Folge der ungeheuren Schnelligkeit des Blitzes ist die Thatsache, daß nach Allem, was wir hiervon wissen, der Tod durch den Blitz völlig schmerzlos ist. Man hat viele Beispiele, daß Menschen vom Blitze getroffen und betäubt, jedoch nicht getödtet wurden. Als sie wieder zu sich kamen, wußten sie nichts von Dem, was mit ihnen vorgegangen war; sie hatten weder den Blitz gesehen, noch seine Wirkung verspürt. Ein Mann, der vom Blitze getroffen worden, wußte sich, als er zum Bewußtsein kam, des Vorganges nicht zu erinnern, sondern fragte verwundert, wer ihn geschlagen habe. Am 22. Januar 1849 schlug der Blitz in der Nachbarschaft von Clermont ein und richtete große Verwüstungen an. Herr Desormery ritt gerade die Landstraße entlang, als ein heftiger Schlag erfolgte. Er selbst, ohne übrigens irgend etwas davon zu vernehmen, stürzte herab, und ebenso wurde sein Pferd zu Boden geschleudert. Wie lange Herr Desormery ohnmächtig am Boden gelegen, vermag er nicht anzugeben; als er wieder erwachte, spürte er keinerlei Schmerz und war ganz ohne Verletzung davongekommen. Der Blitz hatte seine seidene Börse durchlöchert und mehrere silberne Geldstücke zusammengeschweißt. Eine der nebenan befindlichen Pappeln war gänzlich niedergeschmettert. Die Rinde derselben erschien wie von Menschenhand abgeschält, und die Zweige waren zerrissen. Eine in der Nähe befindliche Ziege war von demselben Blitzstrahl erschlagen worden. Man fand sie auf den Beinen stehend an einer Hecke angelehnt und noch ein grünes Blatt im Munde haltend, das sie im Augenblicke des Schlages abgeweidet hatte. Reimarus berichtet einen Fall, wo zwei Menschen, die, um dem Gewitter zu entgehen, hinter einer Hecke Schutz gesucht hatten, dort vom Blitz erschlagen wurden. Man fand sie ganz in ihrer früheren Lage, mit offenen Augen; der Eine hielt noch ein Stück Brod in der Hand, das er einem Hunde, der auf seinem Schooße saß und mit ihm erschlagen wurde, reichen wollte.

Diese Beispiele, welche ich leicht vermehren könnte, beweisen daß der Tod durch den Blitzschlag so schnell eintritt, daß der Getroffene nicht Zeit hat, auch nur eine einzige Bewegung auszuführen. Das Gleiche ergiebt sich auch aus folgender Ueberlegung.

Das Nervensystem ist bekanntlich der Apparat, mittelst dessen alle Empfindung zu Stande kommt. Die Nerven leiten jeden Eindruck zum Gehirne, wo er als Empfindung zum Bewußtsein gelangt. So schnell nun auch dieser Rapport überbracht wird, so bedarf es doch immer einer gewissen Zeitdauer. Mittelst sehr sinnreicher Vorrichtungen, auf deren Beschreibung ich aber hier nicht eingehen kann, hat man gefunden, daß die Geschwindigkeit, mit welcher eine Bewegung in den Empfindungsnerven fortgepflanzt wird, ungefähr hundert Fuß in der Secunde beträgt. Die Geschwindigkeit des Blitzes ist um viele Hunderttausend Mal größer, da er den Beobachtungen zufolge in weniger als einer tausendstel Secunde einen weiten Weg durch die Atmosphäre zurücklegt. Nachdem dies einmal feststeht, begreift man leicht, daß ein Blitzstrahl das Nervensystem und seine Empfindungsfähigkeit gänzlich zerstören kann, ehe die Empfindung dieses Vorganges selbst bis zum Gehirn fortgeleitet und hier wahrgenommen werden könnte. Man darf also dreist behaupten, daß der Tod durch den Blitz die angenehmste Art und Weise von allen sein muß, das Leben zu verlieren. Indessen verliert Niemand gern sein Leben, selbst wenn dies auf die angenehmste Weise von der Welt geschehen sollte; deshalb denn die Angst sehr Vieler, wenn während des Gewitters Blitze das Firmament durchzucken und vollends Donnerschläge ihnen folgen. Wenn solche ängstlichen Leute das vorstehend Gesagte gehörig überlegen, so können sie daraus eine sehr große Beruhigung schöpfen. Denn da der Blitzschlag momentan das Bewußtsein aufhebt, so ist klar, daß ein Blitz, den man sieht, nicht mehr zu fürchten ist.

Unmittelbare Bekanntschaft mit dem Blitze zu machen, dazu bietet sich in den überwiegend meisten Fällen keine Gelegenheit. Sehr interessant ist es daher, die Berichte von Leuten zu hören, die unfreiwillig in nähere Berührung mit Gewitterwolken kamen, indem sie auf hohen Bergen von Gewittern überfallen wurden. Gegenwärtig sind indeß nur wenige Beispiele bekannt, daß Menschen sich eine Zeitlang mitten in Gewitterwolken befanden, und diese wenigen Fälle haben noch dazu einen sehr verschiedenartigen Ausgang gehabt.

Ich will die merkwürdigsten dieser Fälle hier mittheilen.

Herr Apotheker Pfeffer ging in Begleitung eines Bekannten am 15. Juli 1839 über den Col de Balan nach Chamouny. Als Beide gegen vier Uhr Nachmittags noch etwa eine halbe Stunde von der Paßhöhe entfernt waren, wurden sie von einer schon vorher aufgestiegenen Gewitterwolke überfallen, die sich immer tiefer herabsenkte und die beiden Wanderer umhüllte. Ein heftiger Regen durchnäßte sie bald bis auf die Haut, und dabei war es so finster und nebelig, daß sie kaum fünf Schritte weit zu sehen vermochten. Blitze fuhren hin und her, doch vernahm man keinen Donner.

[538] „Wir hatten,“ schreibt Herr Pfeffer, „unser Leben aufgegeben, marschirten deshalb, obgleich dadurch die Gefahr vergrößert wurde, mit aufgespanntem Regenschirme, und ich betrachtete Alles mit einer gewissen stoischen Ruhe. Wir hörten nur ein starkes Knistern der Blitze, die, so dick wie schwache Strohhalme, bald von einer Wolkenschicht zur andern, bald in die Tiefe fuhren, aber häufig in Entfernungen von zwei bis vier Fuß uns umzüngelten. Plötzlich fuhr ungefähr anderthalb Fuß vor mir ein Blitzfunken aus der Erde, der sich etwa drei bis vier Fuß erhob und sich hier mit einem aus der Wolke kommenden Funken vereinigte. Ich stand im ersten Augenblicke wie geblendet und in einer starken Dunstatmosphäre. Der Funken war beinahe aus derselben Stelle des Bodens gekommen, wo ich gerade meinen Fuß hinsetzen wollte. Nachdem wir nun ungefähr eine Viertelstunde weiter marschirt waren, kamen wir plötzlich über die Wolken und sahen über uns ganz klaren Himmel und Sonnenschein.“

Am 5. Juli 1832 befand sich Herr Oberst Buchwalder auf dem Gipfel des Säntis in der Schweiz, um daselbst ein für die Vermessungen dienendes Signal aufzurichten. Es regnete und aus der Ferne ließ sich rollender Donner vernehmen, der näher und näher kam. Herr Buchwalder war mit seinem Gehülfen aus dem Zelte getreten, um das Unwetter zu beobachten; allein die heftigen Blitze veranlaßten sie, sich wieder zurückzuziehen. Bald war die ganze Spitze des Berges in eine düstere Wolke eingehüllt. Die Luft, von ununterbrochenen Blitzen erhellt, schien in Flammen zu stehen; unaufhörlich rollte der Donner und wurde in tausendfachem Echo von den Bergwänden zurückgeworfen. Buchwalder’s Gehülfe gerieth in die größte Aufregung. Um ihn zu beruhigen, erzählte ihm sein Vorgesetzter, daß auch Biot und Arago bei ihren Vermessungen in Spanien auf den Gebirgshöhen von Gewittern überfallen worden seien, daß aber die Blitze an dem Zelte herab in den Boden gegangen seien, ohne Jemanden zu beschädigen. In diesem Momente erschien auf dem Boden des Zeltes zu den Füßen des Gehülfen eine feurige Kugel; dieser erblickte sie und rief aus: „Ach Gott!“ Dann stürzte der Feuerball auf ihn zu und warf ihn zu Boden. Herr Buchwalder selbst empfing eine heftige Erschütterung an seinem linken Schenkel, und ein allgemeines Zittern seiner Glieder stellte sich ein. Ungeachtet der eigenen Schmerzen versuchte er, seinem Begleiter beizustehen, aber alle Bemühungen waren vergeblich. Derselbe war todt. Seine linke Seite zeigte braune und röthliche Flecken; Haare, Augenlider und Augenbrauen waren zum Theil verbrannt. Herrn Buchwalder war es selbst zu Muthe, als wenn er sterben müsse, doch war die Gefahr vorüber, und mühsam schleppte er sich bis zum Dorfe Saint Johann.

Von der Ebene aus erblickt man die Gewitterwolken hoch und meist in majestätischer, düsterer Größe durch die Luft dahinziehen; wie hoch sie sich über dem Boden befinden, das entzieht sich hier natürlich der unmittelbaren Beurtheilung. Es ist aber interessant und wissenschaftlich von einer gewissen Wichtigkeit, die Entfernung einer vorüberziehenden Gewitterwolke vom Beobachter zu kennen. Mancher glaubt aus der Stärke des Donners auf die Entfernung der Gewitterwolke schließen zu dürfen, aber das ist ganz unrichtig; die Heftigkeit des Donners giebt für diese Entfernung gar keinen Maßstab ab. Um dieselbe einigermaßen zu ermitteln, bedient man sich einer einfachen Methode. Man zählt nämlich die Anzahl der Secunden, welche zwischen dem Aufleuchten eines Blitzes und dem nachfolgenden Donner verfließen. Multiplicirt man diese Secundenzahl mit tausend, so erhält man annähernd die gerade Entfernung des Ausgangspunktes jenes Blitzes vom Beobachter in Pariser Fuß. Auf diese Weise kann man im Allgemeinen beurtheilen, ob ein Gewitter näher kommt oder sich entfernt. Will man genau die Höhe einer Gewitterwolke über der Erdoberfläche erfahren, so geschieht dies durch Hülfe einer kleinen mathematischen Rechnung, auf die ich aber, meinem Zwecke gemäß, hier nicht weiter eingehe.

In unseren Alpenländern ziehen die Gewitter meist in Höhen von fünf- bis sechstausend Fuß dahin. Doch kommen auch weit höhere Gewitterwolken daselbst vor. So fand ich zum Beispiel am 24. Juli 1861 die senkrechte Höhe des Anfangspunktes zweier Blitze zu neuntausendvierhundert Fuß. Beide Blitzstrahlen durchliefen einen Weg von mehr als einundzwanzigtausend Fuß und stürzten sich auf ein kleines Gartenhäuschen, in dessen Nähe eine Frau erschlagen wurde. Am 26. August 1827 entlud sich über dem Kloster Admond in Steiermark ein Gewitter aus einer Wolke, die nur neunundachtzig Fuß hoch schwebte und noch nicht fünfundzwanzig Fuß dick war. Die herausfahrenden Blitze tödteten zwei Priester im Chore der Klosterkirche. Man ersieht aus diesen Beispielen, wie verschieden die Höhen sein können, in welchen Gewitterwolken schweben. Natürlich ist damit, unter übrigens gleichen Umständen, auch die Gefahr, vom Blitze getroffen zu werden, eine verschiedene. Nehmen wir eine Gewitterwolke in sechstausend Fuß Höhe schwebend, eine andere aber in dreitausend Fuß Höhe an, so ist im ersteren Falle eine viermal so große Fläche der Gefahr des Blitzschlages ausgesetzt, für jeden einzelnen Punkt ist also diese Gefahr viermal geringer als im letzteren Falle. Dazu kommt noch, daß mit zunehmender Höhe überhaupt die Anzahl der auf die Erde herabfahrenden Blitzstrahlen geringer wird. Denn nur der weitaus geringste Theil der bei einem Gewitter entstehenden Blitze schlägt überhaupt auf den Erdboden herab; die meisten verlöschen in der Luft, oder um richtiger zu sprechen, die meisten Blitze haben ihre beiden Ausgangspunkte in den Wolken, und nur bei einigen wenigen liegt ein Ausgangspunkt in der Gewitterwolke, der andere befindet sich auf der Erde.

Wie dem aber auch immer in jedem einzelnen Falle sein möge, so viel steht fest, daß der Weg des Blitzes niemals ein zufälliger, sondern stets ein durch bestimmte Umstände vorgeschriebener ist. Die unterirdischen Wassermassen, die mit Flüssen und Meeren durch die verschiedenartigsten Canäle in Verbindung stehen, sind das gemeinsame Reservoir der sich gegen die Erde entladenden Gewitterwolken. Um dieses Reservoir zu erreichen, durchläuft der Blitz seine Bahn, und zwar benutzt er hierbei alle die Gegenstände, welche ihm eine gute Fortleitung gewähren, also Metalle, feuchte Luftschichten, spitze, hoch hervorragende Gegenstände, Bäume u. dgl. Solchen Körpern hat man daher beim Gewitter vorzugsweise aus dem Wege zu gehen, um sich nicht zufällig in die Bahn des Blitzes zu begeben und daher von diesem getroffen zu werden. Solche Vorsichtsmaßregeln, besonders das Vermeiden von Bäumen während des Gewitters, kennt heutzutage Jedermann; nichtsdestoweniger liest man jeden Sommer in den Zeitungen über Unglücksfälle durch den Blitz, die in Folge der eigenen Unvorsichtigkeit der Erschlagenen sich ereignen. Lichtenberg hatte sehr Recht, als er bemerkte: „Die Menschen werden vom Blitze erschlagen, weil sie es nicht anders haben wollen.“

Es giebt gewisse Orte, welche häufiger von Blitzschlägen heimgesucht werden als andere; der Grund hiervon ist in der geologischen Beschaffenheit und den Terrainverhältnissen dieser Gegenden zu suchen. Eine solche Localität ist z. B. „el Sitio de Tumba barreto“ in der Nähe der Goldmine von „Vega de supia“ in Neu-Granada (Südamerika). Niemand hält sich hier zur Zeit der Gewitter gern auf. Als Boussingault diese Gegend bereiste, streckte ein Blitzstrahl den Neger, der ihn führte, an seiner Seite zu Boden. Bei Popayan befindet sich eine Localität, „Loma de Pitago“, die ebenfalls wegen der Häufigkeit der dort einschlagenden Blitze verrufen ist. Ein junger schwedischer Botaniker, Planchemann, der trotz der Warnungen der Eingebornen während eines Gewitters diesen Ort besuchte, wurde daselbst vom Blitz erschlagen. Bei uns kennt man ebenfalls gewisse Localitäten, welche mehrfach vom Blitz getroffen wurden. Den Förstern sind mannigfache Beispiele bekannt, daß Blitzschläge wiederholt die nämlichen Bäume mitten im Walde treffen. In allen solchen Fällen sind es locale Ursachen, welche vorzugsweise den Blitz anziehen; je bedeutender eine solche Anziehung ist, oder mit anderen Worten, je besser die Leitung ist, welche an einem bestimmten Punkte dem Blitze nach den unterirdischen Wassermassen hin geboten wird, um so sicherer wird ein Blitzstrahl hierhin seinen Weg nehmen, statt nach einem benachbarten Orte.

Auf dieser Thatsache beruht auch die ganze Wirksamkeit der Blitzableiter. Diese so überaus einfachen und doch bei richtiger Construction so sicher wirkenden Apparate haben keineswegs, wie Viele irrthümlich meinen, den Zweck, den Blitz von dem Orte, woselbst sie angebracht sind, abzuhalten, sondern ganz im Gegentheile ziehen sie den elektrischen Strahl an. Indem sie aber den Blitz anziehen, bieten sie ihm gleichzeitig den bequemsten Weg in die Tiefen der Erde, so daß der etwa herabstürzende Strahl dem [539] Ableiter folgt und weder Gebäude noch Menschen in dessen Nähe beschädigt. Gegenwärtig ist die Wissenschaft über den großen Nutzen der Blitzableiter längst einig, aber im Publicum trifft man noch vielfach die unrichtigsten Ansichten in dieser Beziehung. Manche, die von der anziehenden Wirkung des Blitzableiters gehört haben, glauben, daß ein mit einem solchen Apparate bewaffnetes Gebäude mehr bedroht sei als jedes andere. Um die Grundlosigkeit dieser Meinung darzuthun, will ich den gegenwärtigen Artikel mit einem Beispiele schließen, das auch selbst sehr voreingenommene Gemüther überzeugen dürfte.

Palästina ist ein Land, in welchem sehr zahlreiche und heftige Gewitter vorkommen, trotzdem ist im Verlaufe von tausend Jahren der Salomonische Tempel zu Jerusalem nicht ein einziges Mal vom Blitze getroffen worden. Dieser Tempel besaß ein mit stark vergoldetem Cedernholze getäfeltes Dach, das von einem Ende bis zum andern mit langen, spitz zulaufenden und vergoldeten Eisenstangen besetzt war, um, wie Josephus berichtet, die Vögel abzuhalten sich darauf niederzulassen und dasselbe zu verunreinigen. An den Seiten war das Gebäude ebenfalls allenthalben mit stark vergoldetem Holze bekleidet, und unter dem Vorhofe befanden sich Behälter, in denen sich das vom Dache ablaufende Wasser, durch Metallröhren fließend, ansammelte. Das Ganze stellte also einen Blitzableiter im größten Maßstabe dar, und ohne eine Ahnung hiervon zu haben, hatte der Baumeister des jüdischen Tempels denselben so gut gegen den Blitz geschützt, daß nur wenige Gebäude der Gegenwart eine ähnliche Sicherheit durch Blitzableiter darbieten. In der Verschonung des Salomonischen Tempels von Blitzschlägen innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahrhunderten besitzen wir also einen der schönsten Beweise für die schützende Wirksamkeit dieser Apparate.




Aus der Glanzzeit Pius des Neunten.[1]
Von einem braunschweigischen Officier.


Es war am 26. März 1848. Hoch schlugen bereits überall in Europa die Wogen der Revolution. Frankreich war Republik geworden; Wien hatte den Sturz des allgewaltigen Metternich gesehen; in Berlin hatte Friedrich Wilhelm der Vierte die Revolution erst mit Waffengewalt niedergeworfen, dann aber selbst anerkannt. Auch Italien stand in Flammen, ja es war der eigentliche Herd der revolutionären Bewegung gewesen. Und an der Spitze der Freiheits- und Einheitsbewegungen Italiens befand sich das Oberhaupt der katholischen Kirche selbst, der Papst Pius der Neunte. Es war ein wunderbares Schauspiel: ein liberaler Papst, damals der Abgott des ganzen italienischen Volkes. Und doch wie natürlich! Noch mächtiger als in der deutschen Nation lebte in der italienischen der Drang nach Einheit. Denn noch lastete auf zweien der schönsten Länder der Halbinsel, der Lombardei und Venetien, die Fremdherrschaft und wurde vom Volke, namentlich den höheren Ständen, als eine unerträgliche Schmach empfunden. Und darum richteten sich Aller Augen auf den Mann, von dem sie hofften, er könne und werde die Einheit herbeiführen: auf Pius den Neunten. Diese Hoffnung erschien damals keineswegs so thöricht. Die Vereinigung der einzelnen Länder Italiens zu einem Bunde, ein Haus der italienischen Fürsten unter dem Ehrenpräsidium des Papstes und eine gemeinschaftliche Vertretung des italienischen Volkes – das waren die Wünsche und Pläne des Papstes und der Italiener, die verhältnißmäßig geringe Anzahl der Republikaner ausgenommen. Pius der Neunte war Italiener und Patriot; er trat an die Spitze der Bewegung, um sie zu leiten, in Schranken zu halten und den Strom der Revolution zu hindern, die Dämme zu durchbrechen und sich verheerend über das Land zu ergießen. Darum war er auch der Auserwählte der ganzen italienischen Nation. Man sang Hymnen auf ihn, man gab ihm die schönsten, die hochtrabendsten Namen, und wo er sich zeigte, war er der Gegenstand begeisterter Huldigungen. Freilich hatte mir schon am Schlusse des Jahres 1847 in Civita Castellana ein feiner Jesuit bei einer Flasche Orvieto gesagt: „Wenn Sie morgen nach Rom kommen, werden Sie sehen, daß Alles nur ein Possenspiel ist, welches zu gar Nichts führen kann und wird.“ – Dennoch war es unmöglich, daran zu zweifeln, daß Pius der Neunte so warm und aufrichtig, wie je ein Fürst, das wahre Beste Italiens auf dem Wege der freiheitlichen Reform suchte. An dem Tage, von welchem ich rede, erschien die Lage Italiens auch noch durchaus hoffnungsvoll. Man prophezeite der französischen Republik nur kurze Dauer und fürchtete von ihr keinerlei Eingriffe; man wußte, daß Oesterreich am Rande des Zerfalles stand und daß Mailand sich bereits erhoben hatte; von den Ereignissen der Berliner Märztage aber hatte man in Rom noch keine Kunde.

Auch wir deutschen Touristen waren aus der Ruhe aufgeschreckt. Bis jetzt hatten wir die italienische Revolution, welche sich seit mehreren Monaten in liebenswürdiger und heiterer Weise vor unsern Augen vorbereitete und abspielte, als ein ergötzliches Schauspiel betrachtet, welches uns selbst nur wenig anginge. Der Sturz Metternich’s war von uns mit Freuden begrüßt – Deutschland war ja von dem Alp befreit, der so unsäglich auf ihm gelastet hatte. Aber daß das tapfere österreichische Heer nach dreitägigem Straßenkampfe Mailand und die Lombardei hatte räumen müssen, das griff uns trotz aller Sympathien für Italien tief an’s Herz. Bellona begann ihre Locken zu schütteln, und unseres Bleibens war nicht länger in dem „Schmuck der Städte“. Jeder rüstete sich zur Heimkehr und war froh, wenn Torlonia noch den deutschen Creditbrief honorirte, und nicht ein gar zu unsinniges Agio für die französischen Goldstücke berechnete. Auch kleine Conflicte hatte es schon gegeben. Das übliche „Morte ai Tedeschi“ war freilich ein durchaus harmloser Ruf, und mehr als einmal, wenn wir während des Carnevals auf dem Corso mit unsern Damen fuhren, furchtlos die deutschen Farben zur Schau tragend, ertönte aus denselben Kehlen ein freudiges „Evvivano le donne Prussiane!“ Als wir aber am 21. März, wo beim Eintreffen der Nachricht von der Wiener Revolution das Volk vom Palaste der österreichischen Gesandtschaft das kaiserliche Wappen herabriß, hinter einem Esel den Corso hinabschleifte und auf der Piazza di Popolo verbrannte, als wir da im deutschen Künstlerclub zum Zeichen entrüsteter Mißbilligung plötzlich unsere prachtvolle Fahne einzogen, da drohte man uns mit gewaltsamem Angriff auf unser Casino und die dort vorhandenen Kunstschätze, und nur die bestimmte Erklärung, wir würden den Palazzo Ruspoli mit bewaffneter Hand vertheidigen, bewog die Leiter der Volksbewegung, von ihrer bösen Absicht abzustehen.

Auch heute ging es in der Siebenhügelstadt wieder lustig her. Irgendwo war „Revolution“, wie fast täglich, d. h. man zog unter Anführung populärer Demagogen mit Fahnen und Musik vor das Haus eines Mißliebigen, tobte dort eine Zeitlang, verfügte sich darauf zum Quirinalischen Palaste, sang die Nationalhymne, brachte Pius dem Neunten ein Vivat, ließ sich seinen Segen ertheilen und ging dann ganz vergnügt nach Haus, fest überzeugt, wieder einmal das Vaterland gerettet zu haben.

[540] Dieses Treibens müde, waren wir aus dem Corso über den capitolinischen Berg und das Forum zum Colosseum gegangen. In dem mächtigen Rundbau, dessen Boden unter den römischen Kaisern allein das Blut von zweihundertsechszigtausend Christen getrunken hat, herrschte so tiefe Ruhe, als stände die Zeit still. Warm ergoß die Frühlingssonne ihren Strahl von oben; blühender Goldlack kleidete allenthalben das zertrümmerte Gemäuer in wundervolle Farbe und verhauchte entzückenden Duft. Lange saßen wir dort, um Abschied zu nehmen von dieser Stätte, die eindringlicher als irgend eine andere von Menschenhand geschaffene die Vergänglichkeit alles Irdischen predigt. Und wie bedeutungslos und nichtig erschien Das, was an diesem Tage Hunderttausende von Herzen so leidenschaftlich bewegte, gegen die großen Ereignisse, welche seit dritthalb Jahrtausenden sich auf diesem classischen Boden abgespielt hatten! Endlich mußten wir uns losreißen. Ich stieg zur Casa Tarpeja hinauf, dem höchsten Punkte des capitolinischen Berges und Roms, wo ich beim Organisten der preußischen Gesandtschaft ein freundliches Zimmer bewohnte, mit entzückender Aussicht über die im schönen Bogen vom Tiber durchschnittene Stadt, die Campagna, das Sabiner- und Albanergebirge und den schneehäuptigen Soracte.

Da lag auf dem Tische ein zusammengefaltetes Papier, mit einer Oblate versiegelt und der einfachen Aufschrift: Al Signor Barone di N. .. Casa Tarpeja, welches ich im ersten Augenblick für nichts Anderes halten konnte, als die Rechnung der Angela Bianchi über die gestern zum Mitbringen eingekauften seidenen römischen Shawls und Schärpen. Rechnungen zu eröffnen, ist stets unangenehm. Indeß es war Zeit, meine Angelegenheiten zu ordnen; daher griff ich tapfer nach dem Papier. Da las ich:

 „Aus dem päpstlichen Oberhofmeisteramt im Quirinal, 25. März 1848.

Der Herr Baron N. .. (natürlich war der Name falsch geschrieben) wird benachrichtigt, daß Seine Heiligkeit die Gnade haben wird, ihn morgen, am 26. d. M., Abends 7½ Uhr zur Audienz zuzulassen.

 Aufgang über die große Treppe.

 Der Oberkammerherr Seiner Heiligkeit

 de Medici.“

Ich traute meinen Augen nicht. Es war zu jener Zeit für einen Fremden, selbst einen Protestanten, nicht schwer, zu den häufig stattfindenden großen Audienzen Zutritt zu bekommen, wo Pius hundert und mehr Personen auf einmal sich vorstellen ließ und an Viele von ihnen huldvolle Worte richtete. Aber sowohl der hannoversche als der preußische Gesandte, meine beiden natürlichen Beschützer, hatten mir erklärt, bei einer derartigen Cour mich nicht vorstellen zu können, weil ich die Uniform zu Hause gelassen hatte und der schwarze Frack zu bescheiden für solchen welthistorischen Moment erschien. Auf den Rath eines Freundes, welcher in römischen Hintertreppen wohlbewandert war, hatte ich indeß eines Tages en passant meinen Namen nebst Adresse auf dem Bureau des päpstlichen Oberhofmeisteramtes in ein dickes Anmeldungsbuch eingezeichnet, mehr im Scherz als im Ernst, und ohne die geringste Hoffnung, durch diesen schwachen Versuch etwas zu erreichen. Und nun sollte ich nicht etwa in der großen Herde mitlaufen, welche dem Statthalter Christi vorbeigetrieben zu werden pflegte, sondern ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen und mit ihm reden. Ich gestehe, daß in meine Freude sich allerlei schwere Besorgniß mischte. War ich im Stande, in den wenigen Stunden, die mir noch blieben, mich in den Besitz einer etiquettemäßigen Toilette zu setzen? Denn ich stand ja schon mit einem Fuße in der Kalesche des Couriers, der mich nach Ancona befördern sollte. Und mehr noch: mein Italienisch reichte wohl aus, mich mit Wirthen, Facchinos und Custoden herumzuschlagen, auf meinen Streifereien im Gebirge in einladenden Klöstern beim Wein vom besten Fasse die Mönche auf meine Kosten zu amüsiren und mich noch besser auf die ihrigen, oder Abends im Café irgend einem modernen Horatius Cocles von meinem deutschen militärischen Standpunkte aus zu demonstriren, der Wunsch des „morire per la patria“ (für’s Vaterland sterben) könne ihm leichtlich erfüllt werden, aber es sei verzweifelt wenig Aussicht vorhanden, damit die tapfere österreichische Armee zum Weichen zu bringen, und was dergleichen Scherze mehr waren. Aber dem vielgeliebten Pius meine tiefgefühlte Ehrfurcht und meine aufrichtige Bewunderung auszudrücken, ohne mittelst eines bösen Sprachverstoßes vielleicht etwas sehr Unpassendes an den Tag zu fördern, das traute ich mir keineswegs mit Sicherheit zu. Ich wollte doch auch ihm gegenüber eine andere Form wählen, als kürzlich jener Pole gethan, zu dem Pius mit freundlichem Klopfen auf die Schulter gesagt: „bravo Polacco“, und der sich kurz und bündig dadurch revanchirt hatte, daß er die Hand des heiligen Vaters ergriff, sie tüchtig schüttelte und dreimal „bravo Papa“ ausrief. Schon begann ich ernstlich den Vorwitz zu bereuen, mit dem ich meinen Namen in das dicke Buch im Quirinal hineingekritzelt hatte. Indeß die Sache konnte doch auch gut ablaufen, und was hatte ich dann in der Heimath zu erzählen!

Glücklicherweise lag der Palazzo Caffarelli, wo die preußische Gesandtschaft sich befindet, nur wenige Schritte von der Casa Tarpeja entfernt. Dort verscheuchte ein befreundeter Attaché meine Toilettensorgen durch die Mittheilung, daß ein einfacher schwarzer Anzug mit weißer Cravatte für die Audienz genüge; auch in Betreff der zu beobachtenden Formen, welche für Protestanten andere sind als für Katholiken, erhielt ich von ihm einige Anweisung und wurde im Uebrigen auf die Eingebung des Augenblicks vertröstet. Dann hinterließ ich beim preußischen Gesandtschaftsprediger, wo heute Abend ein kleines Abschiedsfest für mich angeordnet war, die Nachricht, daß ich vielleicht etwas später erscheinen würde, und benutzte die wenige noch übrige Zeit zu einem Spaziergange in dem reizend auf einer Anhöhe am Tiber gelegenen Garten des Priorats von Malta und zum Bewundern des Sonnenunterganges von der Loggia auf dem Dache der Casa Tarpeja. Guten Muthes bestieg ich Abends den pünktlich gekommenen Wagen, und fünf Minuten vor der festgesetzten Zeit stand ich am Aufgange der großen Treppe im Quirinalischen Palaste, den Pius damals bewohnte.

Von den beiden Schweizern, welche unten in der Halle Wache hielten, mit gelb und roth gestreiften mittelalterlichen Wämsern und Pluderhosen, lange Hellebarden in der Hand, fragte mich der eine nach meinem Begehr. Ich eröffnete ihm sofort auf gut Deutsch, was mich hergeführt; er erkannte in mir den norddeutschen Landsmann, denn er war ein ehrlicher Westphale aus dem Münsterlande, und begleitete mich nun sehr dienstfertig die Treppe hinauf bis zum dienstthuenden Kammerherrn. Diesem, einem feinen jungen Italiener in geistlicher Tracht, überreichte ich meine Karte; er ersuchte mich darauf, ihm die Citation zur Audienz vorzuzeigen, überzeugte sich, daß ich kein frecher Eindringling sei, auch Tag und Stunde richtig innegehalten habe, und führte mich oben in eine Art Galerie, welche durch mehrere, von der Decke herabhängende Ampeln ziemlich schwach beleuchtet war.

„Nehmen Sie Platz – man wird Sie rufen“ – damit war er verschwunden.

Ich befand mich ganz allein in der Galerie; es kam auch weiter Niemand, und ich erkannte bald, daß ich die Ehre haben sollte, unter vier Augen von Seiner Heiligkeit empfangen zu werden. Um so besser! – Es war genau halb acht Uhr. Ich wiederholte in Gedanken rasch Alles, was ich zu thun hatte und zu sagen beabsichtigte; denn ich hatte mir doch der Sicherheit wegen beim Abendspaziergange noch einige schöne Redensarten zurechtgelegt, knöpfte den Knopf des rechten Glacéhandschuhes zu und war nun völlig bereit, dem höchsten Gebieter in der Christenheit entgegenzutreten. Indeß, eine Viertelstunde verging, und nichts unterbrach das tiefe Schweigen. Da öffnete sich leise die Thür; ein Geistlicher huschte herein, mit flüchtigem Kopfnicken an mir vorüber und verschwand. Wieder verging eine geraume Zeit. Ich wurde ungeduldig. Die Fürsten pflegen sonst von größter Pünktlichkeit bei Audienzen zu sein. Ich begann die Galerie auf den weichen Teppichen auf- und abzuwandeln und mir die großen Landkarten und die wenigen Bilder an den Wänden zu betrachten. Wieder ein Herr in geistlicher Tracht. Diesmal war ich kühn – ich vertrat ihm den Weg und sagte ihm, weshalb ich hier sei. Er antwortete sehr höflich: „Ja, mein Herr, ich weiß“ – und fort war er.

Indeß hatte, wie es schien, mein Wagstück doch einige Frucht getragen; der dienstthuende Kammerherr trat gleich darauf ein.

„Sie werden sich noch etwas gedulden müssen,“ sagte er „es sind gegen Abend politische Nachrichten von größter Bedeutung [541] eingetroffen, welche Seine Heiligkeit sehr in Anspruch nehmen; aber geben Sie die Hoffnung nicht auf, daß die Audienz stattfinden wird.“

Da stand ich nun! Es war im Grunde eine Lächerlichkeit, zu erwarten oder gar zu verlangen, daß der Mann, welcher in diesem Augenblicke vielleicht über das Schicksal eines ganzen Landes entschied, sich im nächsten dazu hergeben sollte, die Neugierde eines hergelaufenen Touristen zu befriedigen, der nicht gern in Rom gewesen sein wollte, ohne den Papst gesehen zu haben. Und doch, wie würde es mich zeitlebens geschmerzt haben, unverrichteter Sache zurückkehren zu müssen, nachdem ich so nahe am Ziele gewesen!

Ich begann meine Wanderung die Galerie auf und ab von Neuem, aber schon in Aufregung; die schönen Redensarten waren alle vergessen. Mehrmals schritten wiederum eiligen Schrittes Geistliche mit ernsthaften und erregten Mienen an mir vorbei. Ich merkte wohl, daß etwas Außergewöhnliches vor sich ging; mit jeder Viertelstunde des Wartens sank meine Hoffnung. Es schlug zehn Uhr. Von den nahen Kirchen ertönten die Glocken – mir war, als wäre es das Grabgeläute meiner Wünsche und Hoffnungen. Rasch berechnete ich, ob es möglich sei, noch einige Tage in Rom zu verweilen, um eine neue Audienz zu erwarten; aber mein Urlaub war abgelaufen, und die Rückkehr nach Deutschland wurde mit jedem Augenblicke dringender. Kaum hatte ich indeß voll Resignation den Entschluß gefaßt, unter allen Umständen Rom jetzt zu verlassen, da erschien der Kammerherr und sagte freundlich:

„Entschuldigen Sie das lange Warten – ist es Ihnen jetzt gefällig, mir zu folgen?“ – Dann führte er mich durch eine lange Reihe von Zimmern, stieß eine Flügelthür auf und blieb an derselben stehen mit den Worten: „Belieben Sie hier hereinzutreten.“

Ich trat über die Schwelle, die Thür schloß sich hinter mir; ich stand in einem kleinen schwach erleuchteten Gemache mit rothen Seidentapeten, von dessen Inhalte ich im ersten Augenblick durchaus Nichts erkennen konnte. Ich erwartete, wie bei Audienzen in Deutschland üblich, Se. Heiligkeit würde nach einigen Augenblicken durch eine andere Thür hereintreten. Aber noch ehe ich mich dazu in angemessene Stellung setzen konnte, sprach eine Stimme von unendlichem Wohlklange: „Approchez, Monsieur“ (Treten Sie näher, mein Herr). Nun bemerkte ich, daß ich nur fünf Schritte von dem Statthalter Christi auf Erden entfernt stand. Pius der Neunte saß auf einem kleinen Lehnstuhl vor seinem Arbeitstische; ein dichter Lichtschirm von grüner Seide hinderte den Schein der beiden auf dem Tische stehenden Arbeitslampen, auf ihn zu fallen. Er schob den Schirm zur Seite; nun erkannte ich sein edles Gesicht, welches ich schon bei so vielen Gelegenheiten stets mit dem größten Interesse betrachtet hatte. Rasch trat ich näher; er streckte mir die feine mit Ringen gezierte Hand entgegen. Ich beugte, der empfangenen Belehrung gemäß, in angemessener Weise das Knie und küßte die Hand. Dann trat ich ehrerbietig einige Schritte zurück und er wartete, daß Se. Heiligkeit das Wort an mich richten würde.


(Schluß folgt.)




Was die Schwalbe sang.


Von Friedrich Spielhagen.


(Fortsetzung.)


Herr Wollnow öffnete die Thür zu einem geräumigen, halb als Speisezimmer, halb als Wohnraum behaglich ausgestatteten Gemache und lud seinen Gast ein, an dem mit schneeweißem Linnen gedeckten und mit allerlei guten Dingen in kostbarem Porcellan und mehreren Flaschen Wein besetzten Tische Platz zu nehmen. Gotthold’s Blicke schweiften, während er sich setzte, nach ein paar größeren und kleineren Oelbildern, die an den Wänden schicklich vertheilt waren.

„Halten Sie dem Künstler seine Neugier zu gut,“ sagte er.

„Ich verstehe wenig oder nichts von Ihrer schönen Kunst,“ erwiderte Herr Wollnow, indem er sich die Serviette unter dem vollen Kinn befestigte, „aber meine Frau ist eine große Liebhaberin und, wie sie in schwachen Stunden sich einredet, Kennerin. Sie müssen ihr die Freude lassen, Ihnen ihre Schätze zu zeigen. Ich fürchte freilich, die kleine Sammlung wird wenig Gnade vor Ihren Augen finden, mit Ausnahme etwa eines Bildes, das auch ich für ein Meisterstück halte und das von Allen, die es sehen, höchlich bewundert wird.“

Gotthold wäre gern näher an die Bilder getreten, von denen ihm eines, das etwas weiter weg hing, sonderbar bekannt vorkam; aber Herr Wollnow hatte bereits die grünen Gläser mit duftendem Rheinweine gefüllt, und eine ältliche robuste Frauengestalt kam geräuschvoll herein, eine dampfende Schüssel frisch gebratener Seefische in den feuerrothen Händen.

„Stine behauptet, Sie hätten die Flundern immer besonders gern gemocht,“ sagte Herr Wollnow, „und da hat sie sich denn nicht nehmen lassen, Ihnen Ihr ehemaliges Lieblingsgericht selbst zu präsentiren.“

Gotthold blickte zu der robusten Person empor und erkannte alsbald die gute Stine Lachmund, welche während seiner Knabenzeit in dem Hause von Dollan an Stelle der kränklichen Frau die innere Wirthschaft beinahe, und nach deren Tode ganz allein geführt, und aller Welt und besonders auch den Knaben gegenüber sich in ihrer manchmal nicht leichten Stellung immer mit gutem Verstand und gutem Humor zu behaupten gewußt hatte.

Er reichte der alten Freundin die Hand, in welche diese kräftig einschlug, nachdem sie die Schüssel auf den Tisch gesetzt und die feuerrothen Hände ganz unnöthiger Weise an der Schürze abgewischt hatte.

„Ich wußte es ja, daß Sie mich wiedererkennen würden,“ sagte sie, und ihr dickes Gesicht strahlte vor Freude bei diesen Worten. „Aber Herr meines Lebens, wie haben Sie sich verändert! was sind Sie für ein hübscher Mensch geworden! Sie hätte ich nicht wieder erkannt!“

„So war ich damals wohl verzweifelt häßlich, Stine?“ fragte Gotthold lächelnd.

„Na, es ging so,“ sagte Stine mit ernsthaftem Forscherblick; „hübsche blaue Augen hatten Sie, das ist wahr, aber die schauten immer so groß und traurig, daß es Einen jammern konnte. Und dann das magere Gesichtchen entzwei geschlagen, von da bis da – es sah schrecklich aus; so einen guten Jungen noch dazu, es war zu schändlich –“

„Das ist Alles längst vergessen,“ sagte Gotthold.

„Und ein großer Bart darüber gewachsen,“ ergänzte Stine.

„Du kannst Line sagen, daß sie uns von dem Rothgesiegelten hereinbringt,“ sagte Herr Wollnow, der zu bemerken glaubte, daß sein Gast diese Erkennungsscene abgebrochen wünschte. „Sie müssen verzeihen,“ fuhr er, nachdem Stine nach nochmaligem Handschütteln hinausgegangen war und das hübsche junge Dienstmädchen, das auf leisen Sohlen kam und ging, die Aufwartung der Herren übernommen hatte, zu Gotthold gewendet fort, „Sie müssen mir verzeihen, daß ich Ihnen diese kleine Scene nicht ersparte. Die gute Person hatte sich so auf Ihr Kommen gefreut, und wer in die Heimath zurückkehrt, muß sich schon darauf gefaßt machen, auf Tritt und Schritt alten bekannten Gesichtern zu begegnen.“

„Ich habe es heute erfahren,“ erwiderte Gotthold; „auch Ihre Frau Gemahlin, sagten Sie –“

„Ist stolz darauf, Sie gekannt zu haben, als Sie noch kein berühmter Maler, sondern ein scheuer Knabe von ungefähr dreizehn Jahren waren, der sich hartnäckig weigerte, an einer Tanzstunde, welche die hiesigen Honoratiorenmütter mühsam zusammengebracht, theilzunehmen, und dann doch theilnahm, als er hörte, es wolle sonst Keiner mit der kleinen Ottilie Blaustein tanzen. Sie hat Ihnen diese Großmuth nicht vergessen.“

„Und sie – Fräulein Ottilie –“

„Ist seit sechs Jahren meine Frau,“ sagte Herr Wollnow. „Sie sehen mich mit discretem Erstaunen an; Sie haben schnell ausgerechnet, daß die kleine Tanzstundendame von damals heute nicht viel über fünfundzwanzig Jahre sein könne, und Sie taxiren [542] mich sehr richtig auf fünfzig und einige – sagen wir sechsundfünfzig. Aber wir Juden –“

„Sie sind Jude?“ fragte Gotthold.

„Reinster Race,“ erwiderte Herr Wollnow; „haben Sie das nicht gesehen, als ich vorhin Ihr Geld so eilig wieder in den Schrank schloß? – Reinster polnischer Race, wenn ich auch meiner Frau zu liebe, die hinreichend unter dem Judenthum gelitten zu haben erklärte, und auch aus geschäftlichen Gründen, den für mich sehr leichten Schritt aus einer positiven Religion, die mir gleichgültig war, in eine andere, die mir nicht minder gleichgültig war, gemacht habe. Aber was ich sagen wollte: wir Juden oder wir jüdisch Erzogenen sind hinsichtlich der Ehe ebenso wenig wie in anderen Dingen Romantiker, sondern halten uns an das Gesetz; ich meine hier das Gesetz der Natur, das freilich gar nicht romantisch, sondern sehr nüchtern, aber desto logischer ist.“

„Und da meinen Sie, daß eine größere Differenz in dem Lebensalter der Gatten eines dieser streng zu beobachtenden Naturgesetze sei?“

„Keineswegs, nur unter Umständen kein Hinderniß.“

„Gewiß nicht, aber –“

„Verstatten Sie mir, meine Meinung durch einige statistische Daten zu erläutern. Ich stamme aus einer langlebigen Familie. Mein Großvater soll – er wußte weder den Ort noch die Zeit seiner Geburt genau anzugeben – über hundert Jahre alt gewesen sein, als er, erblindet freilich und gelähmt, aber noch in fast ungeschmälertem Besitz seiner geistigen Kräfte, starb. Mein Vater wurde neunzig Jahre. Ich, der ich es mir nicht mehr ganz so sauer werden zu lassen brauchte, konnte vor sechs Jahren bereits, in meinem fünfzigsten Jahre, heirathen, und so habe ich die Aussicht, mein kleines Dreigespann, auch wenn uns noch ein Zuwachs dazu geschenkt werden sollte, aufwachsen und erwachsen zu sehen, vorausgesetzt, daß ich die achtziger Jahre etwa erreiche, worauf ich väterlicher Seits, wie Sie mir zugeben werden, die gegründetsten Ansprüche habe.“

Herr Wollnow drückte die starken Schultern behaglich in die Lehne seines Stuhles und strich sich mit beiden Händen über die breite Stirn und das dichte schwarze Haar, in welchem Gotthold noch nicht den leichtesten grauen Streifen bemerken konnte. – „Sie sind also,“ sagte er, „wenn ich Sie recht verstehe, der Ansicht, daß die Ehe in erster Linie den Kindern zu Gute kommen soll, wobei es sich denn nur noch darum handelt, auf die Zeichen der Zeit zu achten, in welcher und für welche die Kinder geboren werden.“

„Durchaus,“ erwiderte Herr Wollnow, „in erster Linie, ich möchte fast sagen: in erster und letzter.“

„Und die Gatten?“

„Sollen und werden in der Liebe zu ihren Kindern, in der Freude an der neuen, jungen Welt, die aus ihnen geboren ist, ihr Genüge finden und eine ausreichende Entschädigung für die verlorenen Illusionen und eine Belohnung für die Sorgen, die Entbehrungen, welche ihnen aus dieser Liebe und Freude nothwendig erwachsen.“

„Und ihre Liebe, ihre eigene Liebe, die Liebe, die sie zusammenführte, aus der unzähligen Menge der Möglichkeiten heraus diese, gerade diese Wahl treffen ließ – die Liebe, die nur immer wachsen und wachsen muß, bis sie zuletzt jeden Gedanken durchleuchtet, jedes Gefühl erhöht, jeden Blutstropfen erwärmt – sie wollten Sie aus der Ehe nehmen? oder als etwas ausgeben, das da sein kann oder auch nicht sein kann? Nimmermehr! Liebe ist allenthalben, außer in der Hölle, sagt Wolfram von Eschenbach. Ich weiß nicht, ob er Recht hat, das aber weiß ich, daß eine Ehe, in der keine Liebe, ja, was sage ich? die Liebe nicht ist, wie ich sie fasse, in meinen Augen die Hölle ist.“

Gotthold hatte mit einer Leidenschaft gesprochen, die, so sehr er dieselbe zu unterdrücken sich bemühte, den scharfen Ohren seines Wirthes nicht entgangen war.

„Lassen Sie uns das Thema abbrechen,“ sagte er mit Freundlichkeit, „und uns ein anderes suchen, über welches wir uns gewiß leichter verständigen werden.“

„Nein, lassen Sie uns dabei bleiben,“ sagte Gotthold; „es liegt mir daran, über einen so wichtigen Punkt die Ansicht eines Mannes zu hören, dessen Urtheil und Charakter ich so hoch schätze, – die ganze Ansicht; denn ich bin überzeugt, daß Sie noch gar Vieles zu sagen haben.“

„Gewiß,“ erwiderte Herr Wollnow zögernd; „gar Vieles, aber ich fürchte: Weniges, was Ihnen, wie Sie jetzt über die Ehe denken, gefallen wird. Ich sage, wie Sie jetzt denken, und bitte, mir das nicht übel zu deuten, denn Sie, der Sie in romantischen Traditionen aufgewachsen sind und, als Künstler, vielleicht noch ganz besonders zu einer idealistischen Auffassungsweise der menschlichen Dinge neigen, können wohl kaum anders als durch die eigene Erfahrung von Ihrer vorgefaßten Meinung zurückkommen. Aber immerhin: ich müßte von der Richtigkeit meiner eigenen Meinung weniger fest überzeugt sein, als ich es bin, oder meinen Gegner minder hochachten, als ich es thue, wollte ich Ihren letzten Satz ohne Erwiderung lassen. Sie sagten, daß ohne die Liebe, wie Sie sie so beredt schilderten, die Ehe eine Hölle sei; ich behaupte, daß gerade diese Liebe, oder vielmehr der nicht verwirklichte Traum dieser Liebe sehr viele, nur zu viele Ehen zu einer Hölle macht.“

„Nicht verwirklicht,“ sagte Gotthold; „o ja, das eben ist das Unglück.“

„Ein unvermeidliches, oder doch wenigstens ein in unzähligen Fällen nicht zu vermeidendes. Sie werden mir zugeben, daß die meisten Ehen schon mit diesem, je nach der Natur und dem Bildungsgrad der Träumer, mehr oder weniger glänzenden Traume beginnen, – beginnen müssen, um überhaupt zu beginnen. Es giebt so wenig Menschen, welche nicht noch besonders dafür belohnt sein wollen, daß sie thun, was sie der Natur und der Gesellschaft schuldig sind. Sehen sie nun hinterher ein, daß es sich in der Ehe um ganz andere Zwecke handelt, als um die Verwirklichung ihrer Träume, und diese Zwecke um so besser erreicht werden, je weniger man träumt, so reiben sich die Meisten allerdings im Anfang ein wenig verwundert die Augen, nehmen die Sache aber nicht weiter tragisch, sondern wie sie ist; und das sind die Ehen, welche ich – mit aller schuldigen Hochachtung vor der Menschheit, die ja aus Durchschnittsmenschen besteht, – Durchschnittsehen nenne und die ich in Deutschland, in England, in Amerika, auch in Frankreich, Italien, so weit ich nur auf der civilisirten Erde herumgekommen bin, einander ähnlich gefunden habe, wie ein Ei dem andern. Es ist, Alles in Allem, sehr trockne, aber sehr gesunde Prosa, die hier zu Hause ist; viel bescheidenes, ruhiges Glück, natürlich auch viel, sehr viel Leid; aber doch keines, was nicht dem Menschen als solchem – ich meine, der gebrechlichen, leicht verletzlichen, endlich dem Tode verfallenen Creatur – zukäme, und sehr wenig, was aus der Ehe resultirte. Das aber findet sich in überreichem Maße da, wo die Menschen den Traum, den sie als Liebende geträumt, durchaus realisiren, ja, in eine noch glänzendere Wirklichkeit verwandeln wollen. Wie viel herzbrechende Kämpfe, wie viel vergebliches Ringen, wie viel vergeudete und, lieber Himmel, zu so viel wichtigeren Zwecken hochnöthige Kraft, wie viel sinn- und nutzlose Grausamkeit gegen sich selbst, gegen den Andern! Sie sehen, ich spreche nur von den Menschen, die es ernst meinen mit dem Leben; ich spreche nicht von der Gemeinheit des Stumpfsinns, der keiner moralischen Ideen fähig ist, noch von der womöglich noch größeren Gemeinheit der Frivolität, die aller Moral ein freches Schnippchen schlägt.“

„Ich weiß es,“ erwiderte Gotthold, „aber weshalb sollten ernste, ehrliche Menschen, wenn sie sich ihres Irrthums bewußt werden, nicht, so lange es noch Zeit ist, den Fehler, der sich in die Rechnung ihres Lebens eingeschlichen hat, wieder herauszubringen suchen?“

„Wodurch?“

„Dadurch, daß sie sich einer dem andern die Freiheit wieder geben.“

„Die Freiheit? Welche Freiheit? Die Freiheit, sich möglichst bald wieder zu fesseln, möglichst bald wieder eine neue Wahl zu treffen, wenn sie eine solche, wie es meistens der Fall ist, nicht bereits zuvor getroffen hatten; eine neue Wahl, die voraussichtlich nicht klüger, umsichtiger ausfallen wird, als die erste. Bedenken Sie, wir sprechen von ernsten, ehrlichen Menschen! Nun, so gingen sie doch wohl auch bei der ersten Wahl ernst und ehrlich zu Werke, und irrten sie sich, trotz alles Ernstes, trotz aller Ehrlichkeit, wo sie doch frei und unbefangen wählen konnten, sollten sie das zweite Mal unter dem Druck selbstgeschaffenen Leides, geblendet von einer verbrecherischen Leidenschaft – sehen Sie, wenn ein neuer Commis die erste Calculation, die ich ihn

[543]

Stadtkinder auf dem Lande. Originalzeichnung von Friedrich Hiddemann.

[544] machen lasse, mit einem total falschen Ansatz beginnt, so schicke ich ihn deshalb vielleicht noch nicht fort, aber ich werde ihm nie wieder eine wichtige Aufgabe ohne Controle anvertrauen. Und dann – so lange es noch Zeit ist – sagten Sie? Wann ist es noch Zeit? Vielleicht nie, wenn Zwei sich angehört haben mit Leib und Seele – denn ernste, ehrliche Menschen werden sich doch ihre Seelen geben – vielleicht nie, und ganz gewiß nicht mehr, sobald – und hier komme ich zurück, wovon ich ausging, zu dem O der Ehe, wie es ihr A ist – sobald der Bund, der eben dadurch ein heiliger wird, mit Kindern gesegnet war. Glauben Sie mir, der ich gar manche Beobachtung nach dieser Seite machen konnte: der Riß, der die Gatten trennt, er geht immer, immer mitten durch das Herz der Kinder; sie werden früher oder später diesen Riß schmerzlich fühlen, ihn nie ganz verwinden, vorausgesetzt, daß sie – was freilich nicht allemal der Fall ist – ein Herz haben.“

„Und wird das Herz eines Kindes nicht zerrissen,“ rief Gotthold in schmerzlicher Erregung, „wird es nicht bluten bei dem Gedanken an seine Eltern, die sich gegenseitig zur Qual gelebt, in dieser Qual sich verzehrt haben?“

„Sie würden sich nicht verzehrt haben,“ erwiderte Herr Wollnow, „wenn sie sich in meinem Sinne beschieden hätten, wenn sie sich immer gesagt und immer im Herzen getragen hätten: um unseres Kindes willen dürfen wir nicht verzagen, müssen wir es tragen, müssen wir leben, müssen wir das Hauptbuch unseres Lebens heilig halten und, hat sich wirklich ein Fehler eingeschlichen, rechnen und rechnen, bis wir ihn gefunden. Wer in aller Welt soll für das Resultat stehen als Derjenige, welcher das Buch angelegt! Und dann! es giebt auch einen Bankerott, aus dem der Unglückliche arm, vielleicht bettelarm hervorgeht, mit nichts, seine Blöße zu bedecken, als dem Bewußtsein: du hast deine Pflicht, hast deine Schuldigkeit gethan. Wehe dem, der das nicht von seinen Eltern denken, wohl dem, der es denken und sagen und an den Gräbern seiner Eltern schmerzliche und doch süße Thränen weinen und in Frieden weiter ziehen kann.“

Gotthold’s Kopf ruhte in der aufgestützten Hand. „Laß uns Frieden haben,“ hatte er zu dem Schatten seines Vaters gesagt, und schmerzliche und doch süße Thränen waren aus seinen Augen auf seiner Mutter Grab gefallen. Würden sie weniger süß gewesen sein, wenn sie den Vater, den sie, der sie nicht glücklich machen konnte, verlassen? wenn sie ihr Glück in den Armen eines Andern gesucht und vielleicht gefunden hätte?

Herrn Wollnow’s dunkle Augen hafteten mit einem Ausdrucke halb des Mitleids, halb der Strenge an den edlen, von Trauer und Zweifel verdüsterten Zügen seines Gastes. Hatte er bereits zu viel, hatte er noch nicht genug gesagt? sollte er schweigen, sollte er weiter sprechen, dem jungen Manne, der seiner Mutter so ähnlich sah und doch auch wieder so viel von seinem Vater hatte, die Geschichte seiner Eltern erzählen?

Doch da ertönte die Hausglocke und in demselben Momente auf dem Flur auch schon die Stimme seiner Gattin. Sie war die Frau dazu, hätte das Gespräch eine zu ernste, vielleicht bedenkliche Wendung genommen, mit ihrer muntern Laune die Männer bald wieder auf andere und heiterere Gedanken zu bringen.


(Fortsetzung folgt.)




Aus dem Todtentanz der Geschichte.[2]


Von Feodor Wehl.


1. Wie Fürsten und Monarchen sterben.


(Schluß.)


Viel leichter als Karl der Neunte schied Jakob der Erste, der Nachfolger, den Elisabeth sich gab und der ein Sohn der Maria Stuart und des Darnley war, aus dem Leben. Nach Allem, was man von ihm weiß, war er ein etwas curioser, sehr gebildeter, aber abergläubischer Mensch, der echte Vorfahre Karl des Ersten, gutmüthig und eigenmächtig zugleich. Er ließ sich im Sterben andächtige Gebete lehren und drückte sich mit eigenen Händen die Augen zu.

Mit einer seltsamen Wahrnehmung schloß Ludwig der Dreizehnte von Frankreich seine Augen. Als er sich dem Tode nahe fühlte, aber wohl noch nicht an sein Ende glaubte, ließ er sich den fünfjährigen Dauphin auf’s Bett setzen, um sich von ihm vorplaudern zu lassen. Nachdem das eine Weile geschehen, fragte er den Knaben scherzend: „Wie heißt Du denn?“

„Ludwig der Vierzehnte!“ antwortete das Kind.

„Noch nicht! Noch nicht!“ stöhnte der Leidende, indem er ein Zeichen gab, den Knaben fortzunehmen, und sich dann zur Wand kehrte.

Nie ist die französische Staatsregel: „Der König ist todt, es lebe der König“, eindringlicher und eclatanter gepredigt worden, als von solchen Kindeslippen.

Gefaßten Geistes und „mit dem Muthe eines ritterlichen Herrn, mit der Geduld und Milde eines reuigen Christen“ endete Karl der Erste. In der Nacht vor seiner Hinrichtung schlief er vier Stunden überaus fest und ruhig in St. James. Dann ließ er sich von seinem Diener ankleiden. „Gieb Dir Mühe wie sonst mit meinem Anzuge,“ sagte er zu diesem, „ich will heute festlich erscheinen wie ein Bräutigam.“

Bei Tagesanbruch kam Bischof Juxon und der König betete inbrünstig mit ihm, bis der Oberst Hacker meldete, daß es Zeit geworden, sich nach Whitehall zu begeben. Hierauf erhob er sich und ging, von dem Bischof und dem Oberst Tomlinson begleitet, zwischen einem Spalier von Soldaten, festen Schrittes und unter fast heiteren Gesprächen durch den Park, der zwischen seinem Gefängniß und dem berühmten Staatspalaste lag. In seinem Schlafzimmer zu Whitehall empfing er aus Juxon’s Händen knieend das heilige Abendmahl. Um ein Uhr klopfte Hacker an die Thür, zum Zeichen, daß Alles bereit sei. Der König war es auch. Zwischen zwei Reihen Soldaten, die schweigend dastanden, hinter ihnen viele Männer und Frauen, die sich mit Lebensgefahr durchgedrängt hatten und still für den König beteten, schritt er durch den sogenannten Banketsaal, an dessen äußerstem Ende man am Tage vorher eine Oeffnung in die Mauer geschlagen hatte, die gerade auf das schwarzbeschlagene Blutgerüst hinausführte. Dort erwarteten ihn zwei verlarvte Henker zur Seite des Blockes, auf welchem das Beil lag. Unerschüttert von diesem Anblick, trat er festen Fußes an den Rand des Schaffots, um zu dem Volke zu reden. Da er aber sah, daß die Truppen dasselbe weit zurückgedrängt hatten und den Platz rings um ihn einnahmen, wandte er sich an Juxon und Tomlinson, indem er seine Unschuld betheuerte, seinen Feinden verzieh und bat, daß Gott ihre Herzen zur Reue wenden möge. In der Verachtung der Rechte des Herrschers, meinte er, liege der Grund alles Unglücks für das Volk; nicht im Mitregieren bestehe die Freiheit, sondern in den das Leben und Eigenthum schützenden Gesetzen. Nur wenn dies anerkannt werde, könne das Reich den Frieden und die Unabhängigkeit wieder erlangen. Er habe gethan, was seines Amtes gewesen, und sterbe ein Märtyrer des Königthums von Gottes Gnaden. So ungefähr lauteten seine Worte, und da er während derselben bemerkte, daß Jemand der Umstehenden, um die Schärfe des Beiles zu prüfen, verstohlen dessen Schneide mit dem Finger berührte, unterbrach er sich und sagte zu diesem: „Verletzt das Beil nicht, es möchte sonst mich verletzen.“

Nachdem er seine Rede geendet, setzte er sich eine seidene Kappe auf, unter die er vorsorglich sein Haar versteckte. Hierbei gewahrend, daß Jemand sich ziemlich unvorsichtig dem Blocke näherte, rief er abermals: „Nehmt Euch in Acht mit der Axt, ich bitte, nehmt Euch in Acht!“ und sich dann zu Oberst Hacker wendend, fügte er hinzu: „Traget Sorge, daß man mir keinen unnöthigen Schmerz verursacht!“ Dann, als er gesehen, daß einer der Verlarvten die Axt ergriffen, sprach er zu diesem: „Ich werde, wenn ich den Kopf auf den Block gelegt, noch ein kurzes Gebet sprechen und hierauf meine Arme ausstrecken. Das mag das Zeichen für Deine Verrichtung sein.“

[545] Als er Alles soweit angeordnet, kehrte er sich wieder dem Bischof zu mit den an ihn gerichteten Worten: „Ich habe hier unten eine gute Sache und da droben einen gnädigen Gott für mich.“

„Ja, Sire“, erwiderte Juxon, „Ihr habt nur noch einen Schritt zu thun, einen angstvollen, aber kurzen Schritt; bedenkt, wenn Ihr ihn thut, daß er Euch eine große Reise vollbringen und von dieser Welt in jene gelangen läßt.“

„Ich werde es wohl bedenken,“ lautete die Antwort, „ich lasse eine Krone irdischer Unruhe, um eine der himmlischen Ruhe zu erlangen. Was zögre ich also?“

Und somit kniete er nieder, neigte sein Gesicht auf den Block, betete kurz und gab das verabredete Zeichen, worauf der eine Verlarvte mit einem gewaltigen Hiebe das Haupt vom Rumpfe trennte, und der andere, dasselbe hoch in die Höhe hebend und dem Volke zeigend, mit lauter Stimme ausrief: „Seht hier den Kopf eines Hochverräthers!“

So starb Karl der Erste, ein Fürst, der sich durch geistige Bildung, Wohlwollen, Reinheit und Strenge der Sitten sowie durch manche andere gute Eigenschaft auszeichnete. Man begrüßte ihn beim Antritt seiner Regierung mit freudigem Jubel und hoffte das Glück des Landes von ihm. Leider sollten blinde Hartnäckigkeit im Behaupten königlicher Vorrechte, beständige Geldnoth und religiöse Verwirrungen alle diese günstigen Erwartungen vernichten, den Bürgerkrieg heraufbeschwören und den unseligen Mann einem blutigen Verderben weihen.

Als Cromwell, der Besieger des unglücklichen Königs, dessen Kopf aus dem Sarge nahm und ihn betrachtete, murmelte er leise für sich in den Bart: „Es war ein kräftiger Körper, der ein langes Leben verhieß.“ Auch er selbst war von starker Constitution und schien für ein langes Dasein geschaffen, dennoch erreichte er nur das Alter von neunundfünfzig Jahren, obschon er mäßig, äußerst gesetzt und wie ein bürgerlicher Hausvater lebte. „Er war ein treuer Freund, ein zärtlicher, liebevoller Gatte und Vater, gegen seine alte Mutter voll der höchsten Ehrfurcht bis an ihren Tod, als Feind versöhnlich, bei allen religiösen Verirrungen ein frommer Christ, als Feldherr voll Heldenmuth und glücklich, als Regent nur auf das Wohl des Volkes bedacht, so daß er die innere Verwaltung des Landes geordnet, das Ansehen desselben nach außen befestigt hinterlassen konnte. Seine Soldaten ehrten ihn; das ganze Land gehorchte ihm; von allen auswärtigen Mächten wurde er gefürchtet.“ Aber die Sorgen und Mühen einer stürmischen Regierung rieben ihn auf. Er wurde sehr bald mürrisch, trübsinnig, verschlossen und mißtrauisch. Seine Lage war keine glückliche. Ein Feldherr von ausgezeichnetem Talente, wie alle und selbst seine strengsten Beurtheiler einräumten, fand er nach der Besiegung der Royalisten und der Vertreibung der Stuarts nirgend mehr eine rechte Gelegenheit dasselbe zur Geltung zu bringen. Macaulay hat ohne Zweifel Recht, wenn er sagt: „Nichts hatte Cromwell in seinem eigenen wie in dem Interesse seiner Familie so sehr zu wünschen Ursach, als einen allgemeinen Religionskrieg in Europa.“ In einem solchen Kriege hätte er der Führer der protestantischen Armeen sein müssen. Wäre er wie Gustav Adolph ausgezogen, seine Mannszucht, sein Puritanerwesen, sein militärisches Genie würden Wunder gewirkt haben. Er war der echte Held eines Glaubensheeres und er hätte unbedingt, wo er auch immer gekämpft, in seinen Kämpfen große Erfolge errungen. Daß aber das Herz Englands mit ihm gewesen wäre und man seine Siege mit einem einstimmigen Enthusiasmus begrüßt hätte, wie er seit der Vernichtung der spanischen Armada im Lande unbekannt geblieben, das liegt außer allem Zweifel, und eben so wenig zu bezweifeln ist, daß solche kriegerische Triumphe den dunklen Flecken sehr verwischt und übertüncht hätten, den die Hinrichtung des Königs nicht nur auf seinen Namen, sondern auch wohl auf sein Gewissen geworfen hatte. Er würde in sich noch mehr und bestimmter, als ohne dies, das Rüstzeug Gottes erkannt und im Sturm und Drang großer Ereignisse sich über den Zwiespalt hinweggesetzt haben, dem in einer stilleren und ruhigeren Zeit seine Seele und zum Theil auch sein Charakter zum Opfer gefallen sind.

Ein Mann des Schwertes und der Abgott seiner Soldaten, wagte er nicht, sich zum Könige krönen zu lassen, weil diesen puritanischen Kämpen und Gottesstreitern das Königthum zuwider war, und doch kam er in die Lage, zuweilen despotischer zu regieren, als das je ein König zu thun sich erlaubt hatte. Würde er das mit der Krone auf dem Haupte und dem Purpur um die Schultern gethan haben, die Cavaliere hätten ihm das sicherlich verziehen und nach und nach an seinem Hofe sich eingestellt, um als hohe Peers des Königreichs ihre Obliegenheiten wieder aufzunehmen. Sie konnten wohl die Stuarts, nicht aber den Verlust ihrer eigenen Staatsstellung verschmerzen. Cromwell war klug genug, dies einzusehen, zermarterte sich aber vergebens den Kopf nach einem Auskunftsmittel. Mit seiner Armee durfte und mochte er es nicht verderben. Sie war seine Hauptstütze und er liebte sie. Auch hatte wohl der königliche Pomp nur wenig Reiz für ihn. Er begriff indeß vollkommen, daß er desselben der Gentry gegenüber bedurfte. Hätte er als König von England nach dem alten Brauche die Peers des Königreichs zu sich in’s Parlament berufen, viele wären sicher einem solchen Rufe gefolgt. Aus Rücksicht für das Heer konnte er das jedoch nicht, und so kam es, daß er den Häuptern der ersten Familien als Lord Protector – ein nur klägliches Auskunftsmittel in dieser politischen Verlegenheit – vergebens Sitze in seinem neuen Senate anbieten ließ. Er blieb die ganze Zeit seiner Regierung hindurch so zu sagen zwischen Baum und Borke, und dieser Zustand, der unausgesetzte Reibungen, Aufstände und Mordpläne hervorrief, rieb ihn auf, quälte ihn, machte ihn sorgenvoll und unruhig. Cromwell hat traurige Tage verlebt und ist zuletzt sogar uneins mit seinem Gott geworden, mit dem er sich doch sonst immer gut gestanden. Als er mehr und mehr hinfällig wurde und sich seinem Ende nahte, hörte man ihn häufig sehr geängstigt rufen: „O, es ist eine gar fürchterliche Sache, sterbend in die Hände eines ewig lebenden Gottes zu fallen!“ Ein anderes Mal stöhnte er: „Ich empfinde wohl, daß ich die elendeste Creatur der Erde bin, aber ich liebe Gott, oder richtiger gesagt, doch bin auch ich von Gott geliebt.“

Seine letzten Lebenstage brachte er in unausgesetztem Gebet zu. Die Worte, die man zuletzt von ihm hörte, waren die folgenden: „Ich möchte wohl noch leben, um auch ferner Gott und seinem Volke zu dienen; aber mein Werk ist gethan. Gleichwohl wird Gott mit seinem Volke sein!“

Im Uebrigen hörte man ihn nur noch unverständliche, abgebrochene Reden führen, Reden, in denen er sich selbst schwer anzuklagen und mit vernichtender Schärfe sein eigenes Handeln zu verurtheilen schien. Bis in seine Sterbestunde hinein spielte also der Zwiespalt seines Lebens, und er gab seinen Geist gleichsam unter dem Druck und den dunklen Schatten desselben auf.

Ganz ruhig, in Gott gefaßt, starb Maria die Zweite von England, die Gattin Wilhelm des Dritten, die sich dem Tode willig hingab, so glücklich und ruhmreich sie auch mit ihrem Gemahle lebte. So oft man sie auf ihrem Sterbebett fragte, was ihr wohl Linderung und Erleichterung verschaffen könne, stets antwortete sie: „Nichts thut mir so wohl als Gebet.“

Wilhelm der Dritte, der bei ihrem Tode in Verzweiflung gerieth und jammernd ausrief: „Ich war der glücklichste Mann auf Erden und werde hinfort der allerunglücklichste sein. Sie ist ohne Fehler gewesen; Niemand kann wissen, wie gut sie war, als ich!“ – Wilhelm der Dritte folgte ihr in einigen Jahren in den Tod nach und erlitt ihn ganz ebenso ergeben und gefaßt wie sie. Er traf alle nöthigen Anordnungen und nahm einen rührenden Abschied von seiner Umgebung und seinen Freunden. In seinen letzten Augenblicken ruhte unablässig seine Hand auf seiner Brust und als er geschieden war, zeigte sich, daß sie dort ein Stück Silberband gehalten, welches er auf der bloßen Brust trug und worin sich der Trauring und eine Locke seines ihm vorangegangenen Weibes befand.

So bürgerlich starb Wilhelm, einer der klügsten Monarchen und besten Kriegsherren, die es je gegeben, dabei ein Mann, der meist einsylbig, verschlossen und von wenig romantischem Wesen erschien.

Traurig und ziemlich trostlos ist der Lebensauslauf von Ludwig dem Vierzehnten, diesem prächtigen und pomphaften Herrscher, der sich von dem Königthum eine fast göttliche Vorstellung gebildet. Nach einem geräuschvollen, glänzenden und glücklichen Dasein überschlich ihn ein trübseliges, stumpfsinniges und langweiliges Alter. Seine Politik litt überall Schiffbruch, seine Armee Niederlage über Niederlage, rings um ihn raffte der Tod alle seine Lieblinge hinweg. Still und einsam saß er zu Versailles, diesem Memphis der bourbonischen Dynastie, [546] wie eine geschminkte und aufgeputzte Leiche, um in die frommen Unterhaltungen der Frau v. Maintenon hineinzugähnen. Als er kaum noch sich aufrecht zu erhalten vermochte und bereits ein ganz entstelltes Gesicht hatte, ließ er doch noch Gesellschaft um sich versammeln und von Lully’s Capelle heitere Weisen spielen. Er repräsentirte bis in den Tod hinein, dieser Grand Seigneur, der da meinte, daß er damit auch schon ein großer König sei.

Nichts ist gravirender und schneidender für seinen Ruhm und sein ganzes langes Leben als jener Spottvers, den man seiner Leiche nachsang und der da lautet:

Daß er im Grabe endlich ruht,
Das ist für ihn und Alle gut.
Auf seinem Thron, im Sarg von Erz,
Stets ist er Herrscher ohne Herz.

Sein Herz wurde bei der Einbalsamirung bekanntlich herausgenommen und besonders in einem goldenen Behälter aufbewahrt.

Ludwig der Fünfzehnte sollte beim Austritt aus dieser Welt noch eine ganz eigene Erfahrung machen. Als dieser allerabsoluteste König im Sterben lag, verordnete ihm sein Arzt noch eine Medicin, die er sich jedoch zu nehmen weigerte. „Er muß! Er muß!“ rief der Doctor, indem er den Dienern befahl, dem Herrscher die Medicin einzugeben. Als derselbe sie verschluckte, murmelte er zwischen den Zähnen: „Muß, muß!“ Er hatte nie in seinem Leben gemußt; nun sollte er im Verscheiden noch kennen lernen, daß es auch für Könige ein Muß giebt.

Friedrich dem Großen blieb von all seinem Ruhme, seinen Siegen im Tod nichts als eine menschenverachtende Bitterkeit. Er verlangte in Einem fort von seinem Kammerdiener, neben seinen Hunden und Pferden begraben zu werden. Von Menschen wollte er nichts wissen. „Wohl uns, der Berg ist überschritten!“ lautete sein letzter Seufzer. Wie bekannt, war es nur der General Möllendorf, welcher Friedrich den Zweiten beweinte, dessen fast alleiniger Gesellschafter er in den letzten Lebensjahren gewesen. Das Dasein des großen Königs und Feldherrn lief in Vereinsamung, Verkennung und Trostlosigkeit aus. Von den schönen, musikdurchrauschten Nächten zu Reinsberg, von dem heitern Umgange mit französischen Gelehrten und Dichtern, von epochemachenden Siegen und Eroberungen blieb dem großen Regenten nichts als Podagra, grämliche Tage, gründliche Menschenverachtung und Liebe zu seinen Hunden.

Dieses traurige Ende ist vielen Geschichtsschreibern die Veranlassung geworden, den genialen Monarchen in seinen Thaten und Erfolgen zu verketzern. Onno Klopp hat daraus eine Menge von Anklagen und Verdächtigungen geschmiedet und selbst Macaulay Manches gefolgert, das für das Ansehen und den Ruf des großen Königs gravirend ist. Nur freilich ist der englische Historiker weit davon entfernt, mit der Verbissenheit und blinden Wuth zu verfahren, wie unser deutscher historischer Klopffechter. Jener weiß doch immer die Vorzüge Friedrich’s zu schätzen und seine schließliche Verlassenheit und Verstimmung in den richtigen Ursachen zu suchen.

Die unaufhörlichen Kriege, welche Preußen so wesentlich vergrößert und zur Großmacht erst eigentlich gestempelt, hatten allerdings das Land entvölkert und verwüstet und ihm damit die Unbefangenheit genommen. Die Leiden, welche die damalige Bevölkerung erduldet, waren viel zu niederdrückender Art, als daß man über sie hinweg sofort zur Würdigung des Geleisteten hätte kommen können. Erst die Nachwelt konnte das thun. Friedrich selbst jedoch mußte den Rückschlag seiner siegreichen Feldzüge schmerzlich genug empfinden und diese Empfindung durch den hier schwer in’s Gewicht fallenden Umstand gesteigert sehen, daß er durch die strenge, unliebsame und bärbeißige deutsche Erziehung seines Vaters sich aus natürlicher Opposition recht geflissentlich in die französische Bildung und Literatur hineingetrieben sah. Von classischen Studien fern gehalten, vergaffte er sich in deren steife und unfruchtbare Nachahmung so sehr, daß er dadurch dem Geiste des deutschen Volkes sich entzog und schließlich als Fremdling in seiner eigenen Schöpfung dastand.

So weit reicht seine Schuld, aber nicht weiter, und Alles, was Onno Klopp zu folgern sich bemüßigt sieht, ist leergedroschenes Stroh auf der Tenne der Parteilichkeit.

Ludwig der Sechszehnte nahm seinen Tod hin, wie er Alles hingenommen, was ihm zustieß, ohne Größe, ohne Geste, ohne Declamation. Man hat eine Art Tagebuch von ihm gefunden, und dieses Tagebuch kennzeichnet den Mann, wie er war, in erschreckender Weise. „Nichts“ – dieses kurze, einsilbige Wort ist die einzige Notiz, die sich darin unter dem Datum des 14. Juli 1789 findet. Nichts! Und an diesem Tage nahm das Volk die Bastille!

In einem gelblichen Ueberrocke, mit dem Hute in der Hand, erschien er vor dem Convent. Der Präsident giebt ihm die Erlaubniß sich zu setzen, und er setzt sich, um auf die abgeschmacktesten Anklagen in beinahe umständlicher Auseinandersetzung zu antworten. Nichts beleidigt oder empört ihn. „Mein Gewissen ist rein,“ versichert er, indem er hinzusetzt: „man wirft mir vor, ich habe Blut vergießen wollen, und diese Beschuldigung zerreißt mir das Herz.“ Diese Auslassung ist von rührender Einfalt, nein, beinahe abgeschmackt. Ludwig’s Geist war allem Affect, aller Emphase fern, unbeholfen, linkisch. Es wäre ihm leicht gewesen, zu rühren, zu erschüttern. „Ihr klagt mich an, daß ich habe Blut vergießen wollen. Hätte ich’s vergossen, so flösse jetzt meines nicht!“ Wie nahe lag ihm eine solche Wendung! Aber sie kam ihm nicht in den Sinn. So zugespitzt, so scharf, so dramatisch zu sprechen, lag nicht in seiner Art. Breit erging er sich, ängstlich, daß man ihm etwas Uebles nachsagen möchte. Die Geister zu entflammen, das Mitleid zu wecken, seine Feinde niederzudrücken mit der Wucht seiner Rede, seines Blickes – das fiel ihm nicht ein. Er war der echte Philisterkönig, der Monarch, der im Purpur wie in einer ungewohnten Verkleidung ging. Er starb wie ein Spießbürger.




Blätter und Blüthen.


„Die Gartenlaube“ zur See. In diesen Tagen wird in Stralsund ein Schiff von Stapel laufen, welches den Namen „Die Gartenlaube“ führt. Die sehr ehrende Theilnahme, welche durch diese Namenswahl sich für unser Blatt bethätigt, verpflichtet uns, unsern Dank dafür öffentlich auszusprechen. Der Stralsunder Kaufmann und Rheder, Herr Gustav Siewert, schreibt uns darüber: „So wie man einem Kinde beim Eintritt in’s Leben gern den Namen eines geliebten Menschen beilegt, gleichsam als ob man mit dem Namen die liebenswürdigen Eigenschaften desselben auf den jungen Weltbürger übertragen wolle, ebenso ist es mit einem Schiffe, das den sichern Stapel, auf dem es erbaut, verläßt, um auf gefahrvollem Meere Jahre hindurch den Elementarkräften zu trotzen … deshalb hege ich den Wunsch, dieses mein schönstes Schiff mit dem Namen ‚Die Gartenlaube‘ zu benennen.“

Es versteht sich von selbst, daß diese ehrenvolle Pathenschaft angenommen ist. Die neue dreimastige „Gartenlaube“ ist eine für transatlantische Fahrten bestimmte Barke von fünfhundertsechszig Tons, hundertzwanzig Fuß Kiellänge, kupferfest und gekupfert. Ihr Erbauer ist der Schiffsbaumeister Kirchhoff, ihr Capitain J. F. Krüger, Beide in Stralsund; sie segelt gleich nach ihrem Stapellauf über Norwegen nach Südamerika.

Möge auch diese „Gartenlaube“ überall freudig begrüßt werden, wo man ihre Pathe willkommen heißt! Und darum lautet der letzteren Pathenspruch:

„Fahr’ hin, mein Schiff, mit deutschem Gut
Auch du zum Heil dem deutschen Fleiße!
Von Land zu Land, von Hand zu Hand
Bringst du den Gruß vom Vaterland!
Mein Pathenkind: Glück auf die Reise!“



Vermißt in Deutschland! Aus dem sächsischen Dorfe Schedewitz bei Zwickau ging vor etwa fünf Jahren ein Schlossergeselle, eines alten Bergbeamten Sohn, Bruno Christink, vom „Glück auf!“ seines Vaters begleitet in die Fremde. Als liebevoller und gewissenhafter Sohn hielt er mit seinem Vater einen lebhaften brieflichen Verkehr fest; der letzte Brief kam aus Schwerte in Westphalen. Als die gewöhnliche Frist des Empfangs eines Briefes verlaufen war, erkundigte sich der alte Christink in Schwerte nach seinem Sohn und erfuhr, daß er von dort nach Dortmund, und dort, daß er, nachdem er einige Zeit gearbeitet, in die Schweiz abgereist sei. Seit nun fünf Jahren ist keine Spur von dem Wandernden ermittelt worden. Vielleicht führt Name und Profession doch noch auf eine Kunde über ihn; wäre es auch die schlimmste, so würde sie der bekümmerte Vater Christink der quälenden Ungewißheit vorziehen und mit Dank entgegennehmen.



Dem Zwerg Paul Dietze, dessen arme Mutter „alle Tage älter wird und sich fast zu Tode grämt“, sind wir auf der Fährte. Ein Maler für Schaubudenbesitzer schreibt uns, daß der Sohn des Herrn Kaufmann, jenes Panoramenbesitzers, welcher den Paul Dietze für Geld sehen ließ, noch vor etwa sechs Wochen als Menageriebesitzer im preußischen Regierungsbezirke Königsberg (namentlich in Osterode) sich aufhielt. Da Menagerien sich nicht so rasch bewegen, so ist’s wohl möglich, daß dieser Herr Kaufmann jun. nach dem Verbleiben des Paul Dietze befragt und die gewonnene Auskunft uns mitgetheilt werden könnte.

Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Die Gegenwart ist durch eine Reihe jesuitisch-hierarchischer Schöpfungen, wie „Unbefleckte Empfängniß“, „Syllabus“, „Encyklica“, „Sanct Arbues“, „Unfehlbarkeit“ etc. so sehr daran gewöhnt, in Pius dem Neunten das Urbild eines religiösen und politischen Reactionärs zu erkennen und zu belächeln, daß es der jüngeren Generation unserer Leser schwer werden wird, an die Wahrheit eines Bildes zu glauben, welches denselben Mann, nur vier- bis sechsundzwanzig Jahre früher, als einen gefeierten italienischen Patrioten, als einen angebeteten römischen Volkstribun im Purpur darstellt. Und doch strahlte dieser Papst in so unerhörtem Glanze des wohlverdientesten Ruhms, daß sein Name damals auch im protestantische Europa, und namentlich in Deutschland, nur mit Verehrung genannt wurde. Er war in der That ein Neuerer im besten Sinne des Wortes, schon als Erzbischof in seinem Sprengel, und als Papst im ganzen Kirchenstaat, ein Reformator allerdings nur in weltlichen Dingen: seine Verbesserungen erstreckten sich auf den Jugendunterricht, auf Steuer-, Post- und Polizeiwesen, auf Erleichterung des Preßzwanges, Hebung des Verkehrs, er zog Laien in den Staatsdienst, sogar in sein Ministerium, gab den Römern eine Stadt- und verhieß seinem Lande sogar eine Staatsverfassung mit Volksvertretung! Letzteres glich einer Drohung für Oesterreich und erregte den Zorn Metternich’s, diesem schlossen sich die Jesuiten an, und später erhob auch der „Präsident“ Louis Napoleon seinen Drohfinger gegen den „liberalen“ Papst. Man zwang ihn auf andere Wege – und wo er auf diesen schließlich angekommen ist, sehen wir heute. Aber gerade deshalb halten wir es für gerecht, einmal auch jener Zeit des Pio Nono wieder zu gedenken, wo er so verehrungswürdig und gewiß in seinem Herzen glücklich war.
    Die Redaction.
  2. S. 1872, Nr. 19, S. 309.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: ein