Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1872
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[415]

No. 26.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die Diamanten der Großmutter.


Von Levin Schücking.


(Fortsetzung.)


Herr d’Avelon stand mit zornflammenden Gesicht vor ihm – an der Heftigkeit, womit sich jetzt Valentine an ihn schmiegte und, wie bei ihm Schutz suchend, seinen Arm umklammerte, verrieth sich, wie furchtbar die Aufregung war, in der sie sich inmitten dieses Tumults doch so muthig aufrecht erhalten und Gaston die Stirn geboten hatte – jetzt, wo ihr natürlicher Schützer neben ihr stand, schien ihre Kraft zusammenzubrechen.

„Mein Gott, machen Sie nicht solchen Lärm darüber, Herr d’Avelon,“ versetzte Gaston, sich mit großer Selbstbeherrschung zur Kaltblütigkeit zwingend, „ich denke, es ist nicht so schwer zu errathen, was meine braven Arbeiter hier zu suchen kamen – es sind keine Räuber und Diebe, so daß Sie über ihre Anwesenheit hier so sehr zu erschrecken hätten – sie sind freilich ungeladen gekommen, aber sie werden auch friedlich wieder abziehen! Ich bitte Euch, in der That, meine Freunde, begebt Euch auf den Heimweg,“ wandte er sich jetzt an seine rußige Gefolgschaft, „Ihr seht, wir sind zu spät gekommen, der Feind hat decampirt und wird sich längst in Sicherheit gebracht haben – die Verfolgung wird uns nichts nützen können in dieser häßlichen dunkeln Nacht; auch der große Hund, den Etienne mitgebracht hat, hilft uns da nichts. Die Gelegenheit ist verpaßt und so haben wir hier nichts weiter zu thun. – Geht jetzt, ich bitte Euch darum, stören wir Herrn d’Avelon und die Seinen nicht länger in ihrer Nachtruhe – geht und vergeßt nicht, Raoul und Gilou, die unten auf der Chaussee Wache stehen, abzulösen. Wir werden morgen von einer Entschädigung reden, die ich allen Arbeitern für den verfehlten Fang gewähren werde – wir werden sehen, wie viel Flaschen eines guten Getränks nöthig sind, Euch zu trösten – aber zieht ab, macht keinen Lärm und trollt Euch!“

Gaston’s Reden hatten einen Erfolg, der auf eine ziemlich befriedigende Disciplin unter seinem schwarzen Corps schließen ließ. Sie schalten und wetterten laut genug, verdrossene Flüche und rohe Späße fehlten nicht, aber sie räumten, mit einer gewissen Lässigkeit zwar, doch am Ende sammt und sonders den Flur, um auf dem Hofe, da es keinen „Prussien“ zu maltraitiren gab, eine kleine Rauferei mit den halb angekleidet zusammengelaufenen Knechten der Ferme anzustellen und dann lachend, schimpfend, singend abzuziehen.

Unterdeß hatte Herr d’Avelon längst Gaston in das nächste Zimmer, das Eßzimmer, wohin sich Miß Ellen schon vor einer Weile geflüchtet, gezogen. Er hatte vorher Valentine aus den zitternden Händen das Licht abgenommen und, es hier auf den Tisch stellend und sich selbst wie überwältigt von der ganzen Scene auf einen Stuhl niederlassend, rief er aus:

„Und nun, Gaston, werden Sie mir Rechenschaft geben über dies Alles?“

„Mein Gott,“ antwortete Gaston, wie ein wenig erschöpft von all den Aufregungen des Tages sich ebenfalls setzend, „durchschauen Sie denn nicht die ganze Bedeutung dieser Scene, dieses Ueberfalles Ihres Hauses, der Sie leider so gründlich in Ihrer Nachtruhe stört? Sie haben den preußischen Officier über Nacht bei sich beherbergen wollen – das ist, Gott weiß wie, durch einen Ihrer Domestiken ohne Zweifel, einem meiner Eisenarbeiter kund geworden, er hat es den Cameraden auf dem Hammer erzählt, es hat unter ihnen eine patriotische Gährung hervorgerufen, sie haben sich bis zu dem Entschlusse erhitzt, wider die Ferme des Auges auszurücken, Ihr Haus zu umstellen und den Prussien herauszuholen – hätten sie ihn erwischt, wahrhaftig, ich glaube nicht, daß er lebendig diese Nacht überstanden hätte …“

„Und Sie, Gaston de Ribeaupierre,“ fiel hier empört Herr d’Avelon ein, „Sie konnten einen solchen schändlichen Anschlag wider einen Mann, der mit dem rückhaltlosesten Vertrauen sich in meinem Schutze, unter dem Schutze des Gastrechts, das selbst die Wilden ehren, sicher hielt, unterstützen, Ihre Räuberbande anführen, ihr mit der Kenntniß der Räumlichkeiten hier im Hause beistehen, Sie konnten …“

„Großer Gott,“ unterbrach ihn achselzuckend Gaston, „wie rasch Sie im Verdammen sind, Herr d’Avelon! Ich hörte von dem Anschlag. Einer der Arbeiter, der mir mehr als die übrigen verpflichtet und ergeben ist, kam vom Hammer zu mir nach Givres gestürzt. Er meldete, daß man die Frischfeuer bereits ausgieße, da zu ihrer Bewachung Keiner von der Expedition zurückbleiben wolle. Er sagte mir ferner, daß schon mehrere ausgerückt, um die Straße nach Void zu besetzen und dem Feinde den Rückzug abzuschneiden, falls er aus der Ferme entkomme! Sollte ich da ruhig zu Hause bleiben und mich schlafen legen? Sollte ich die erhitzten unsinnigen Menschen sich selbst überlassen und mich nicht darum kümmern, was aus der Ferme des Auges, was aus Ihnen, aus Valentine, aus Miß Ellen werde bei solch einem Ueberfall mitten in der Nacht? Ich denke, Sie würden es sehr freundschaftlich von mir gehandelt genannt haben! Nein, ich zog vor, mich zu ihnen zu gesellen, und Alles zu thun, um sie [416] zu mäßigen, zu lenken, im Zügel zu halten und sie von den äußersten Ausschreitungen zurückzuhalten. Das war meine Pflicht – wer weiß, wie es in diesem Augenblicke hier aussähe, wenn ich diese Pflicht nicht erfüllt hätte!“

Valentine sah im höchsten Grade überrascht, fast erschrocken Gaston an, während d’Avelon ausrief:

„Aber, zum Henker, haben Sie denn über das Gesindel, das doch in Ihren Diensten steht, das Sie erhalten und ernähren, nicht so viel Autorität und Gewalt, um es von solchen Infamien abzuhalten?“

„Nein!“ versetzte Gaston lakonisch.

„Nun, dann können wir Alle dem Himmel danken, daß dieser Herr Daveland noch zu rechter Zeit Unrath gemerkt zu haben scheint und auf und davon gegangen ist. Hätten Ihre Burschen ihren Vorsatz ausführen können, so wäre ich als Hausherr in einer überaus angenehmen und beruhigenden Lage den Herren Preußen in Void gegenüber gewesen, ich hätte mich nur sofort auf die Flucht begeben können!“

„Allerdings,“ erwiderte Gaston kühl. „Aber der Himmel hat wenig Verdienst dabei, daß es anders gekommen; er ist es nicht gewesen, der den Preußen gewarnt hat,“ setzte er bitter hinzu.

„Und wer ist es denn, was wollen Sie mit diesen Worten, die wie ein Vorwurf lauten, sagen, Gaston?“

„Ich mache Niemandem einen Vorwurf; ich will nur sagen, daß, wenn dabei Jemand Dank verdient, es Valentine ist!“

„Ich bin es allerdings,“ sagte Valentine, „darin spricht Herr von Ribeaupierre die Wahrheit, die ihn warnte und früh genug dafür sorgte, daß der Fremde trotz der Umstellung unseres Hauses und der so klug besetzten Wege nach Void zu den Seinen entkam.“

„Aber,“ rief d’Avelon aus, „wie um’s Himmels willen ahntest Du denn …“

„Sogar, daß der Weg nach Void besetzt war?“ rief Gaston erstaunt dazwischen.

„Ich hatte einmal an diesem Abende meine Ahnungen,“ antwortete Valentine trocken.

Gaston betrachtete sie scharf und lange, dann sagte er:

„Sie haben ihn selbst fortgeführt und ihm die Wege gezeigt; ich sehe, daß Ihr Haar ganz feucht ist! Sie sind lange im Regen gegangen!“

„Möglich!“ antwortete Valentine verächtlich.

Gaston richtete seine scharfen Augen von ihr auf Miß Ellen, die allem Vorgehenden nur mit dem Ausdruck der Verwunderung zuschaute und zuhörte, in welchem ihre Miene förmlich erstarrt zu sein schien.

„Dies Alles ist wunderbar, höchst wunderbar!“ rief d’Avelon aus, Valentine ebenfalls sehr fest und betroffen anschauend. „Deine Ahnungen konnten Dir doch nicht gesagt haben, daß unseren Gast irgend eine Gefahr bedrohe?“

„Doch, mein Vater, der beste Beweis ist, daß ich ihn frühzeitig genug gewarnt habe.“

„Und daß Sie mit ihm durch Nacht und Regen hinausgegangen sind, allein, mit dem deutschen Officier, dem Feinde Ihres Vaterlandes!“ fiel Gaston ein.

„Ich bitte, lassen Sie das Vaterland in Ruhe, Herr Gaston von Ribeaupierre, es hat, glaub’ ich, mit dieser Angelegenheit sehr wenig zu schaffen. Und was sonst mein Betragen angeht, so verbitte ich mir Ihre Kritik darüber; ich spreche Ihnen von heute an alles und jedes etwaige Recht, das Sie glauben könnten zu haben, ab, sich über mein Betragen zu beklagen, sich irgend damit zu beschäftigen.“

„Ah, das ist sehr deutlich geredet!“

„Es freut mich, daß Sie es verstehen!“

„Ich weiß nicht, ob Ihr Vater …“

„Mein Vater wird nie etwas versuchen, was er nicht durchzuführen vermag, nie versuchen, das Gefühl zu ändern, das mir meinen Entschluß dictirt. Er ist unwiderruflich.“

„Gott steh’ uns bei! Nun ist das Schlimmste bei der schrecklichen Geschichte noch, daß sie mit einem Zerwürfniß zwischen Euch Beiden endet,“ rief Herr d’Avelon dazwischen, „Gaston, ich wollte, der Teufel hätte Sie geholt, ehe Sie auf den Einfall kamen, Ihre Bande von schwarzen Hallunken hierher zu führen! Aber es ist wahrhaftig nicht die Zeit, die ganze Sache zu ergründen und in Streit darüber zu geraten; kommen Sie, Gaston, ich lasse Sie hinaus, wenn Sie heimkehren wollen und nicht vorziehen, den Rest der Nacht hier zuzubringen...“

„Ich ziehe vor, heimzukehren …“

„Nun wohl, so kommen Sie, ich schließe die Thür; dann suchen wir uns durch die Fortsetzung des unterbrochenen Schlafs die erhitzten Gemüther zu beruhigen.“

Herr d’Avelon erhob sich und entließ Gaston mit einem ziemlich trockenen „Gute Nacht“. Es war in diesem Augenblick sehr wenig von Schlafbedürfniß in ihm, er hätte auch Lust genug gehabt, das ganze Ereigniß noch gründlicher mit Gaston zu erörtern, aber mehr war ihm daran gelegen, Gaston und Valentine in ihrer erhitzten Stimmung nicht länger einander gegenüber zu lassen.

Während er mit Gaston hinausgegangen war und die Hausthür abschloß, sagte rasch Ellen, mit einem eigenthümlich scharfen und drohenden Seitenblick auf Valentine:

„Werden Sie jetzt auch den Krieg mit mir wie eben mit Gaston beginnen? Thun Sie das nicht, ich möchte nicht so discret sein, um, was ich that, zu rechtfertigen, wie er es eben war, und das Ende würde sein, daß Sie sehr bereuen würden, was Sie gethan haben. Also rufen Sie keine Erklärungen hervor – ich warne Sie; und hüten Sie sich, mich zu einer Vertheidigung vor Ihrem Vater zu zwingen – Sie würden dafür eine Strafe erhalten, die Ihnen blutige Thränen auspressen würde!“

Nach diesen mit einer ganz schneidenden Betonung gesprochenen Worten verließ auch Miß Ellen mit ihrem gewöhnlichen unhörbaren weichen und energielosen Schritt den Raum.

Valentine sah ihr betroffen nach: welches Räthsel, welche Drehung lag in diesen seltsamen Worten? – was war es, das Ellen, statt tief beschämt und gedemüthigt, so gebieterisch warnend reden ließ? Gab es für sie, für Gaston denn eine Rechtfertigung ihres zum guten Glück von Valentine früh genug durchschauten tückischen Anschlags? Die Frage war peinigend und schwer, Ellen’s Drohung war beängstigend genug; dazu kam die Sorge um die Befreiung des auf Valentine harrenden Flüchtlings; aber alles Das war dennoch nicht im Stande, ein stolzes Gefühl von Befriedigung, von innerem Glück in der Brust des jungen Mädchens zu ersticken – ihr Herz schlug mächtig und hoch auf unter diesem Gefühl der eben errungenen Freiheit, der gebrochenen Fesseln.

So eilte sie festen elastischen Schritts ebenfalls in ihr Schlafgemach hinauf, um hier das erste Aufdämmern des Morgens zu erwarten – sie wollte dann möglichst unbemerkt das Haus verlassen, um Max aus seinem Zufluchtsort zu befreien.




7.


Valentine hatte sich in ihren Kleidern auf ihr Lager gelegt, um so den Morgen herankommen zu lassen; trotz der Erregung und alles innern Sturmes in ihr schloß doch endlich der Schlummer ihre ermüdeten Augen; als sie erwachte, nahm sie am westlichen Himmel, der in ihr Fenster hereinblickte, den Reflex der Morgenröthe wahr – an der andern Seite des Hauses über dem Maasthal mußte eben die Sonne mit ihren ersten Strahlen sich ankündigen. Valentine fuhr empor; sie rüstete sich rasch zu ihrem Gange und trat unhörbar auf den Corridor hinaus. Hier hielt sie eine Weile an – mußte sie denn gehen, selbst gehen? – konnte sie nicht ihren Vater wecken und ihn bitten, statt ihrer den Gang zu machen? – war es nicht schicklicher und besser, wenn sie es that? Aber durfte sie noch einmal ihn in der ohnehin schon so heftig gestörten Nachtruhe unterbrechen und, was noch mehr, ihm die Aufgabe zuschieben, bei dem deutschen Officier, den er für die Nacht eingeladen, das, was geschehen, zu entschuldigen? Nein, es war eine zu demüthigende Situation für ihn; sie wollte ihm nicht zumuthen, nun auch noch das über sich zu nehmen – sie sagte sich, welches Herzeleid ihm diese Nacht, ihm ihre Erklärung gegen Gaston zugefügt haben, welchen Kummer sie ihm noch machen müsse, wenn er erführe, daß ihr Entschluß unwiderruflich sei, daß er alle Hoffnung auf eine Verbindung, die ihm so am Herzen lag, aufgeben müsse! – Er sollte jetzt ruhen dürfen, der arme Vater, und sie selbst wollte gehen! Valentine schritt voran; mit einem eigenthümlichen Gefühle von Spannung und Angst vor dem Zusammentreffen mit Max, vor Allem dem, was die nächste [417] Stunde für sie enthalten werde, scheu, als ob sie eine Missethat begehe, entsetzt über sich selbst, daß sie ohne Rücksichten und Bedenken etwas thue, was sie noch vor einem Tage für völlig undenkbar gehalten hätte, erstaunt über ihre Kühnheit – und doch wieder fortgezogen, wie unwiderstehlich und von einer von ihr selbst unverstandenen Macht.

So schlüpfte sie zur Ferme hinaus und schlug draußen denselben Weg wieder ein, den sie in der Nacht mit Max genommen. Er war der kürzeste, und da ihn jetzt bereits die Dämmerung erhellte, so bot er keine Schwierigkeit mehr. Auch legte ihn Valentine rasch und ohne Aufenthalt zurück. Oben auf der Lichtung blieb sie einen Augenblick stehen, um aufzuathmen, und gefesselt von dem prachtvollen Schauspiele des glühenden Sonnenballs, der eben dicht über dem Kamme der Vogesenhöhen jenseits des Maasthals durch die mit Gold- und Purpurströmen übergossenen dichten und schweren Wolkenschichten brach; auf der Ferme des Auges leuchteten die Mansardenfenster wie in rothem Brande davon auf; jenseits der Einsattelung links färbten die Strahlen eine eben aufsteigende Rauchwolke mit leisem rosigem Schein … auf dem Hammerwerke mußte man eben wieder die nie ruhende Arbeit beginnen. Die Ferme aber lag noch im Schatten und im tiefsten Schlummer begraben, der Hof still und wie ausgestorben, nur aus den Stallungen tönte das Wiehern eines Pferdes; drüben im Flußthale begannen die Hähne zu krähen.

Valentine wandte sich und setzte ihre rasche Wanderung durch das feuchte Gehölz, an dessen Zweigen und Blättern die jetzt vom aufsteigenden Licht in Diamanten verwandelten Tropfen hingen, fort … wie kurz fand sie jetzt den Weg, der ihr in der Nacht so endlos geschienen … die Tropfen, die ihr auf Hut, Nacken und Schultern sprühten, waren wie ein Segen, den diese seltsame Morgenwelt, welche Valentine früher nie gesehen hatte, diese bei ihrem Erwachen all’ ihre stille Größe entfaltende Natur über sie ausschüttete. Es wurde in ihr selbst still und ernst und feierlich; ihr Herz begann ruhiger zu schlagen, sie athmete freier. Die bange Scheu vor dem Zusammentreffen mit dem Deutschen wich von ihr, nur in einer gewissen Spannung noch legte sie den Rest des Weges zurück und stand bald am Fuße der Aufschüttung von Felsgerölle, über die es in das Innere der Höhle ging. Valentine sah, daß Max die Höhle nicht geschlossen hatte; die alte Thür, die einst im Innern des Eingangs angebracht war – ohne daß man mehr wußte, von wem und wozu – war vielleicht nicht mehr zu bewegen gewesen. Valentine rief, am Fuße der Höhle stehen bleibend … erst leise, dann lauter. Niemand antwortete und Niemand erschien. Schlief ihr Schützling so fest, auf irgend eine harte Felsplatte ausgestreckt? hatte er sich so weit in’s Innere vertieft? Valentine sah, daß sie schon selbst sich hineinwagen müsse, um ihm ihr Dasein kund zu thun. So stieg sie empor, trat durch die enge Oeffnung und dann, als sie einige Schritte hinein gemacht und die Höhle sich nun plötzlich erweiterte, zur Seite, um das Morgenlicht hereinzulassen, das durch ihre Gestalt ausgeschlossen wurde. Aber wie sie auch ihre Augen anstrengte, sie nahm Niemand wahr, und ihrem lauten ängstlichen Rufe wurde keine Antwort. Erregt ging sie weiter, so weit endlich, wie sie gehen durfte, um nicht in die vom völligen Dunkel verhüllte Gegend zu gerathen, wo der Abgrund begann – und dann kehrte sie zurück, zum Eingange, zum Lichte.

Betroffen blickte sie hier über die unter ihr sich hinabziehende schmale Schlucht fort, dem selten betretenen Fußpfad nach, der sich auf dem Grunde derselben hinabzog, den Windungen eines Baches folgend, welcher etwa hundert Schritte unterhalb des Höhlenganges aus dem Felsgestein brach, hell und wasserreich, wahrscheinlich ein Abfluß des unterirdischen Gewässers im Hintergrunde der Höhle. Rechts und links hoben sich schweigend die Bergwände so steilrecht, als hätten sie einst zusammengehört und aufeinander gelegen und sich nur in Folge eines Haders und Streits so trotzig in den Rücken geworfen, die düsteren Gesellen. Ein Falke schoß eben darüber fort, mit harschem Schrei – ein menschliches Wesen aber war nirgends zu sehen.

Es war seltsam! Valentine hatte Max hinlänglich gewarnt, sich nicht zu weit in die Höhle zu wagen – daß er darauf nicht geachtet, daß er in Folge seiner Unvorsichtigkeit ein grausiges, ein unaussprechlich schreckliches Ende gefunden – es war ja nicht anzunehmen, und Valentine wies den Gedanken daran tief aufathmend weit von sich ab! Nein, er mußte ungeduldig geworden und aufgebrochen sein, beim allerersten Dämmern des Morgens, um sich allein den Heimweg nach Void zu suchen. Auch das war unvorsichtig, entsetzlich unvorsichtig von ihm! Wie konnte er allein den Weg finden aus diesem einsamen, in den Bergen so tief versteckten Winkel; wie konnte er, der Deutsche, hier in Feindesland das wagen, wo er nicht wußte, auf welche Menschen er stieß, er, allein und hülflos, ohne Führer und Steuer! Ein demüthigendes Gefühl, als ob etwas für sie persönlich Verletzendes in diesem Fortgehen liege – sie hatte ihm ja doch gesagt, daß sie wahrscheinlich selbst ihn zu führen kommen werde – trat hinzu, um Valentine über die Unvorsichtigkeit und den Leichtsinn des Deutschen fast zornig zu machen, trotz all’ ihrer Unruhe!

Aber vielleicht hatte er in seiner Ungeduld sie früher erwartet und war, beunruhigt über das, was auf der Ferme vorgefallen sein konnte, fortgegangen, um sich nach dieser zu begeben: er konnte dem Fußwege durch die Schlucht gefolgt sein; dieser Weg führte mit einer Wendung um den Fuß der Bergwand rechts herum auf die Vicinalstraße von der Ferme nach Givres; Max hatte dann denselben Weg eingeschlagen, den ihn Valentine in der verflossenen Nacht ursprünglich führen wollte, bis sie räthlicher fand, den kürzeren, aber schwierigeren durch die Gärten und über die Höhe weg zu nehmen.

So mußte es sein – Valentine beruhigte sich mit diesem Gedanken und eilte nun auf demselben Wege über die Waldhöhe wieder heim. Als sie der Ferme des Auges nahe kam, sah sie nach allen Seiten spähend aus, ob sie von Max etwas entdeckte – ob am Gebäude der Ferme eine geöffnete Thür, ein zurückgeschlagener Laden nicht verrathe, daß man aus dem Schlaf geweckt sei – daß Jemand angekommen, den sie doch jetzt mit einem wahren Entzücken und innerem Jubel erblickt haben würde – so nagend war ihr auf dem einsamen und jetzt doch nur mit Anstrengung zurückgelegten Wege die Sorge um sein räthselhaftes Verschwinden wieder auf’s Herz gefallen. Wenn sie Max nicht auf der Ferme des Auges schon angekommen fand, so war sie entschlossen, nichts zu scheuen, ihre innere Pein um den Deutschen offen zu gestehen und ihren Vater zu bewegen, daß er anspannen lasse, um mit ihr nach Void zu fahren und selbst zu sehen, ob er dort sicher und heil angekommen. Weshalb sollte sie auch Anstand nehmen darauf zu bestehen … sie hatte Gaston’s Bemerkungen nicht mehr zu fürchten, und was Ellen anging – Ellen’s Meinungen, Blicke und Urtheile waren ihr von heute an noch gleichgültiger, sie verachtete sie!

Als Valentine den Hof der Ferme betrat, fand sie auch die ersten Spuren der erwachenden Thätigkeit. Der Knecht, der die Pferde zu füttern hatte, ging eben über den Hof, den Stallungen zu. Valentine fragte ihn nach dem Deutschen; er hatte Niemand wahrgenommen. Des Fremden Pferd stand noch ruhig im Stalle. – Sie ging um’s Haus herum über die Terrasse in den Salon, dessen Thür sie offen gelassen; die Thür stand angelehnt, wie Valentine, als sie gegangen, sie gelassen hatte; die geschlossenen Fensterläden hielten noch jedes Licht aus dem Raume fern – es war nirgends ein Anzeichen da, daß der Verlorene zurückgekehrt sei – er mußte sich nach Void selbst zurückgefunden haben, es war nicht anders möglich!

Valentine öffnete die Fensterläden und dann ließ sie sich in einen der nächsten Fauteuils nieder; ermüdet von ihren Wanderungen, ihren Aufregungen, ihrer jetzt wieder nagenderen Sorge, legte sie eine Weile das bleich und übernächtig aussehende Haupt auf die Lehne zurück, und schloß die Augen wie im tiefen Bedürfniß nach Ruhe.

Sie hätte schlafen mögen, verträumen Alles, vergessen Alles, Alles – den Deutschen, die Schreckensscene der Nacht, die Existenz Gaston’s, die eigene am liebsten – und doch vermochte sie nichts zu vergessen, es stand Alles, wenn sie die Augen schloß, nur desto lebendiger vor ihr – und die Angst ließ sie nach wenigen Minuten wieder in einer wie fieberhaften Erregung aufspringen.

Wenn er nun doch umgekommen – umgekommen auf die grausigste, unerhörteste Weise – umgekommen zum Theil durch ihre Schuld! O mein Gott, hätte sie doch dies Schreckensbild, dies fürchterlichste von allen nur vergessen, nur dies für immer weit von sich scheuchen können! Weshalb kehrte es jetzt gerade so hartnäckig, so ihr das Blut erstarren machend zurück?

[418] Draußen auf der Terrasse in der frischen Luft war es vielleicht besser auszuhalten, war die Angst leichter zu bewältigen. Es ist etwas Quälendes, Entsetzliches um die zähe Hartnäckigkeit fürchterlicher Bilder, die unsere Phantasie einmal aus dem Schooße des Möglichen, des bloßen Vielleicht heraufbeschworen hat! Sie weichen nicht, und wenn der Verstand, die kühle Ueberlegung auch hundert Gründe haben, uns die Thorheit unserer Sorge vorzustellen, zu beweisen – die Phantasie ist stärker und hört nicht auf, das einmal geschaffene Schreckbild auszumalen, zu vergrößern, es lebendiger und bedrängender zu machen. Valentine war in einen Zustand gerathen – als sie auf die Terrasse hinauseilte, hätte sie ihr halbes Leben darum gegeben, wenn in diesem Augenblicke der deutsche Officier lebendig und gesund vor sie hingetreten wäre! …

Aber da war er ja auch – fern in der Mittelallee des Gartens – tauchte er nicht just ebenda unter den überhängenden Obstbaumzweigen auf? – ein Tschako, ein rother Kragen, ein Soldat in der Feindesuniform – und ein zweiter dann – Valentine erschaute von der Terrasse herab sie mit freudigem Erschrecken; dann fuhr ihr ein Stich durch’s Herz: er war es nicht; es waren andere, zwei vorauf, denen noch vier folgten – es waren deutsche Soldaten in grauen Mänteln, die Gewehre übergeworfen; sie kamen den Mittelpfad durch den Garten herauf; schweren lässigen Schrittes kamen sie heran und die Stufen herauf, die aus dem Garten auf die Terrasse führten, und hier oben hielten sie an, setzten ihre klirrenden Kolben auf die Steinplatten, und der Eine von denen, die voraus geschritten, trat auf das junge Mädchen zu, das hochklopfenden Herzens neben dem runden Tisch, an dem Max sie zuerst gefunden, stehen geblieben war, die Hand, wie um eine Stütze zu haben, auf die Rücklehne eines der gußeisernen Stühle gelegt.

Der feindliche Krieger unter dem Landwehrtschako, der auf sie zutrat, hatte in seinem Aeußeren nichts sehr Fürchterliches. Im Gegentheil, er hatte ein äußerst gutmüthiges Gesicht, gefürchtet hätten sich höchstens Kinder vor seinem halb blonden, halb fuchsigen und gar zu struppigen Bart – auch war eine gewisse blöde Verlegenheit nicht zu übersehen, als er, die Finger an den Schirm legend, all sein Französisch zusammennahm und sagte:

„Verzeihung, Mademoiselle! Wir stören ein wenig früh. Aber der Dienst – der Befehl! Streifpatrouille … der Hauptmann hat uns befohlen, bis hierher nach der Ferme des Auges – wir sind doch hier recht? – zu patrouilliren – und den Premierlieutenant von Daveland heimzubegleiten. Würden Sie wohl die Güte haben, uns sein Quartier zu zeigen, oder auch nur ihn wecken zu lassen? Wir warten hier schon unterdeß; der Hauptmann hat befohlen, der Herr Lieutenant selber solle uns zurückführen, wir müssen Sie deshalb schon bitten, Mademoiselle …“

Obwohl das Alles ziemlich ungefüge herauskam und in einem grausam breit und falsch accentuirten Französisch, leuchtete doch dabei das Gesicht des ehrlichen Landwehrofficiers, der es sprach, von einem schlauen und schelmischen Mienenspiel auf, welches errathen ließ, daß er völlig in die Absicht des Hauptmanns von Sontheim eingeweiht war, dem eigenmächtig sich Urlaub nehmenden Premierlieutenant unter dem Vorwande, für seine Sicherheit zu sorgen, einen kleinen Streich zu spielen, und ihn mit Gewalt so früh schon seinem süßen Schlummer in den Gärten seiner Armida zu entreißen.

Valentine verstand nur halb, was der Mann sprach, doch genug, um ihre Sorge um’s Hundertfache zu vergrößern.

Hochaufathmend, nach Luft ringend, stieß sie die Worte hervor:

„Der Lieutenant ist nicht in Void? Nicht zurück? Er ist Ihnen nicht begegnet?“

„Zurück? Nein! Wir haben beim Ausmarsch am Fensterladen vor seinem Quartier angeklopft. Er war nicht zurück. Er ist uns auch nicht begegnet, Mademoiselle; ist er denn schon aufgebrochen von hier?“

„Warten Sie, ich will meinen Vater rufen,“ rief athemlos Valentine und eilte in einem vollständigen Fieber der Aufregung in’s Haus, in den Mansardenstock, in’s Schlafzimmer ihres Vaters.

(Fortsetzung folgt.)




Von Friedrich Gerstäcker.[1]


All’, all’ sind sie fort,
Die alten bekannten Gesichter.

In dem so gastfreien Hause der Wittwe Karl Maria von Weber’s sah ich zuerst unsern Freund, wenn auch nur im Bilde. Der talentvolle, früh verstorbene Sohn des Hauses, Alexander, hatte Gerstäcker in seinem amerikanischen Trappercostüm gemalt, das fast ganz aus Leder bestand und sehr primitiver Natur war, weshalb auch Gerstäcker jahrelang unter uns nur „Lederstrumpf“ genannt wurde. Er war schon damals (Mitte der vierziger Jahre) eine feste, gedrungene Erscheinung mit dem scharfen Blick der Jugend und dem entschlossenen Wesen eines Mannes, der auf eigenen Füßen zu stehen gewohnt ist.

Erst 1852–1855 als er von seiner großen Reise über Batavia nach der Heimath zurückkehrte und in Leipzig ankerte, sollte ich ihn persönlich kennen lernen. Es war dies in einem Zimmer des Hôtel de Bavière bei Dawison, der eben in Leipzig gastirte. Ein kleiner fester Mann, „mit unvertilgbarem Reise- und Wüstenstaub im Gesicht“, wie ich ihm später lachend zurief, einem wilden Bart und krausem Haar, stand breitbeinig mitten im Zimmer, die Hände in den Taschen seiner von ihm unzertrennlichen Joppe. Um den sehnigen sonnverbrannten Hals war ein Halstuch mit einem Schifferknoten geschlungen, eine Weste existirte nicht. Ich bekenne, im ersten Augenblick begriff ich nicht recht, wie dieser Wildling, so zuversichtlich er auch dastand, in Dawison’s Salon kam. Dieser mochte mich errathen und frug mit seiner raschen Art: „Ihr kennt Euch wohl nicht? Das ist ja Gerstäcker und das mein Freund König.“

Schnell ergriff ich seine Hand. „Herr, Sie muß man ja lieben.“ Und ich denke, wir sind treue Freunde bis an’s Ende geblieben.

Ehe ich in meinen Erinnerungen weiter gehe, drängt es mich, über Gerstäcker’s Charakter Einiges einzuschalten. Wenn

[419]

Friedrich Gerstäcker.
Originalzeichnung von Adolf Neumann.

Humboldt’s Aeußerung, daß Energie die erste Tugend des Mannes sei, berechtigt ist, so war Gerstäcker einer der tugendhaftesten Menschen, die mir vorgekommen sind. Da er weniger aus sich schöpfte, sondern bei seinen schriftstellerischen Arbeiten am liebsten Gesehenes und Erlebtes Zug für Zug ab- und niederschrieb, waren ihm seine Reisen eine Nothwendigkeit geworden, theils um der Aufrechthaltung seines Namens willen, theils aus Existenzrücksichten. Und so trat der rastlose Mann namentlich seine letzte Reise, die ihm Pflicht wie Ehre geboten, mit schmerzlichem Lächeln an, denn er mußte! Verstimmt kehrte er auch zurück und [420] warf sich so recht reisemüde in meinen Lehnstuhl mit den Worten: „Gott sei Dank, daß ich wieder da bin! Ich sattle so leicht nicht wieder.“

Aber nicht sowohl auf diese seine Energie, die jede Bequemlichkeit stolz und leicht von sich abschüttelte, die ruhigen Genuß selten kannte, die sich Strapazen aufbürdete, wie sie wenig andere menschliche Schultern zu tragen vermögen, will ich bei Berührung seines Privatcharakters den Hauptaccent legen, als auf seine hohe Biederkeit und Verachtung alles Dessen, was Liebedienerei, Knechts- oder Bedientensinn heißt. Und in diesem Sinne ist es mir eine Freude und Ehre, in diesen Blättern meinen Wahrnehmungen Ausdruck geben zu dürfen, der, in die wenigen, aber schönsten Worte zusammengefaßt, lautet: er war ein Mann!

Wir wurden bald intim, trotz der Verschiedenheit unserer Naturen. Das Auspacken seiner Kisten und Gruppiren der Hunderte von Gegenständen in seinem Arbeitszimmer machte ihm viele Sorge. Da war ich nun ein ganz guter Gesell. Ich arrangirte mit ihm, nagelte an, knüpfte und steckte fest, und in wenigen Stunden hingen die Erzeugnisse aller fünf Welttheile an den Wänden. Gerstäcker war dabei in einem furchtbaren Negligé, so daß seine gute Mutter laut aufschrie, als sie zufällig hereintrat. Auch empörte es sie, wie er bei der Ausschmückung Europa hatte durch einen Frack, Cylinder und ein Paar Glacéhandschuhe vertreten lassen. Solche harmlose Scherze waren ihm ein wahres Gaudium, und er konnte dabei lachen, bis ihm Thränen in die Augen traten. Sonst war sein Temperament ernst, wohl ein Nachhall seines langen einsamen Lebens in den Wäldern und Prairien Amerikas. Wie Gerstäcker in der Wahl seiner Wohnungen nie besonders glücklich und vielleicht deshalb ziemlich veränderlich war, so auch diesmal. Sein Logis in Leipzig war bescheiden, aber durchaus freundlich. Doch dauerte es nicht lange, und wir nagelten wieder und diesmal im Dorfe Plagwitz bei Leipzig, indem ihn plötzlich eine Inclination für’s Landleben faßte. Hier waren wir nun sehr viel und oft zusammen, so daß ich glaube, ich war mehr bei Gerstäcker’s als zu Haus. Dies Familienleben war ein ebenso solides wie ungenirt-behagliches. Frau Gerstäcker (seine erste Gattin) war eine vorzüglich kluge und zusammenhaltende Hausfrau, die ihren Mann und seine näheren Freunde sehr richtig taxirte und danach zu fassen verstand und auf diese Weise eine seltene Harmonie in ihren häuslichen Kreis brachte, was Jeder bemerkte und dankbar empfand. Nur einmal zogen wir ihre Ungnade auf uns, als wir des Abends des Nachbars große mit Quecksilber gefüllte Glaskugel (solche Kugeln haßte nämlich Gerstäcker ganz besonders) in’s nahe Kornfeld trugen und am andern Morgen den bekümmerten Besitzer suchen und rennen sahen, wie eine Gluckhenne, die ein Küchlein verloren hat. Wir erhielten eine furchtbare Strafpredigt, so daß der Weltreisende und ich des andern Abends die famose Glaskugel wieder aus dem Kornfelde holten und auf ihr Postament setzten.

Der zu solchen und ähnlichen Scherzen leicht aufgelegte Mann war der Ernsteste am Schreibtisch. Nur in Ausnahmelaunen empfing er dann Besuche und nur sehr kurze, sonst war es strenge Hausregel, daß Niemand vorgelassen werde, „wenn der Herr arbeitete“. Und wie er Alles mit Energie angriff, so vor Allem bei der Arbeit. Ohne Unterbrechung schrieb er des Tags seine sechs bis acht Stunden, und dies Wochen, ja Monate hindurch. Dann war er völlig abgespannt und erholte sich durch kurze Jagdausflüge, wenn es die Jahreszeit gebot, oder spielte regelmäßig seine Partie Whist. Namentlich durch seine Reisen zur See war es ihm zum Bedürfniß geworden, Alles so stark als möglich zu genießen, so mäßig er auch in seiner Lebensweise war. Aber was er genoß, mußte vorzüglich sein: die schwersten Cigarren, der beste Rum, die vorzüglichsten Cap- oder spanischen Weine; auch liebte er starke Gewürze; wo er das nicht fand, ging er ungern hin, wie er offen gestand, und wollte man es Gerstäcker bei sich behaglich machen, mußte man sich allerdings förmlich auf seinen Besuch vorbereiten. Wer glaubte, von ihm über seine Reisen viel erzählen zu hören, irrte sich gewaltig. „Wozu schreibe ich denn?“ sagte er dann in seiner kurzen offenen Weise.

Es ist bekannt, daß der Herzog von Coburg Gerstäcker in seine Nähe zog. Nie hat wohl ein Fürst einen uneigennützigeren Mann aus dem Volke kennen gelernt. Ich gestehe, mir bangte anfangs für Gerstäcker, als dürfte sein naturwüchsiges Wesen für den glatten Hofboden allzuwenig passen. Aber der ausgezeichnete Kern seines Wesens wird wohl auch hier erkannt und gewürdigt worden sein, und man darf hoffen, daß jener hohe Herr mit gleicher Trauer die Todesbotschaft des armen Freundes empfing wie wir. Wie oft war ich Zeuge, wenn Gerstäcker in die Enge getrieben wurde, Diesen oder Jenen beim Herzog zu protegiren! Kalt und bestimmt entgegnete er dann gewöhnlich: „Da kommen Sie an die unrechte Quelle, ich rede mit dem Herzog nie über so Etwas.“

Eine schändliche Carricatur rührt aus jener Zeit, die ich Gerstäcker sendete, als er nach Coburg übersiedelte. Er erschien lebensgroß als herzoglich coburgischer Jagdsecretär, mit kurzen Hosen und Kreuzbänderschuhen. In einem Begleitschreiben ermahnte ich ihn, sich nicht durch die Hofluft etc. verderben zu lassen und der Stellenjägerei zu ergeben. Er nahm das Conterfei mit nach Coburg, und hat es, wenn ich nicht irre, dem Herzog selbst gezeigt.

Ehe Gerstäcker nach Braunschweig übersiedelte, wo er die letzte Ruhe finden sollte, wohnte er mehrere Jahre mit wenigen Unterbrechungen in Dresden. Er hatte sich zum zweiten Male verheirathet und lebte in den wünschenswerthesten Verhältnissen. Trotz unserer Nachbarschaft und unserer unveränderlichen Beziehungen, kamen wir sonderbarer Weise nicht so oft zusammen, als wir geglaubt hatten. Doch nagelte ich wieder seine transatlantischen Erinnerungen in seinem Arbeitszimmer auf, wobei uns sein jüngstes Kind, ein reizendes kleines Mädchen, das er zärtlich liebte, wacker zwischen den Beinen herumlief. Bis auf einen nahen Verwandten, Consul Kinder, Dawison und meine Wenigkeit, hatte er keinen besonders näheren Umgang. Er schloß sich schwer an, hielt aber erprobte Freunde fest, wie alle tüchtigen Menschen. Bei der Aufführung seines Dramas „Der Wilderer“ am Dresdener Hoftheater, das sich eines sogenannten Hochachtungserfolges erfreute, blieb er ziemlich gleichgültig, und hätte sich gewiß kein Haar ausgerissen, wenn es durchgefallen wäre. Aber wie Alle, die ihn kennen lernten, ihn liebgewinnen mußten, so konnten auch die Schauspieler nicht genug des Lobes erheben von seinem gewinnenden, einfachen Auftreten. Dawison spielte damals noch die Hauptrolle des Stückes, die eigentlich seiner Individualität wenig entsprach, aber mit größter Hingebung schon aus Liebe zu seinem alten Freunde Gerstäcker. Dem schlossen sich die anderen Mitspielenden wetteifernd an, und wenn auch nicht als dramatischer Dichter, so doch, was nicht weniger ist, als liebenswerther Mensch, ging Gerstäcker an diesem Abend triumphirend aus dem Theater. Wie niemals eitel und sich überhebend, so sprach er auch darüber nur wie über einen Versuch, den er sich erlaubt habe, den er aber zum zweiten Mal unterlassen wolle. Und er stieß lachend mit den Anwesenden darauf an, die sich nach dem Theater zu heiterem Festmahl im Hôtel de Pologne versammelt hatten.

Plötzlich kündigte mir Gerstäcker eines Tages an, er wolle nach Braunschweig übersiedeln; über seine Motive ließ er mich im Unklaren. Ich zog bald darauf auf’s Land, und, wie dies leider im Leben so oft vorkommt, wir kamen einander nach und nach aus dem Gesicht. Er ging nach Braunschweig – und wir sollten ihn nicht wieder sehen.

Gerstäcker als Schriftsteller zu beleuchten, war nicht meines Amtes, das haben vor mir bessere Köpfe gethan. Möge aber der Leser aus den kleinen Zügen, die ich hier aus der Erinnerung zusammenstellte, den Privatmann erkennen und lieben lernen – so ist der Zweck dieser Zeilen erreicht.

Neben seinem sonst so praktischen Wesen, das sich selbstverständlich in der großen Schule des Lebens herausgebildet hatte, war er unbegreiflicher Weise, was man so unter der eigentlichen Lebenspraxis versteht, oft von einer fast kindlichen Naivetät. Während es ihm eine Kleinigkeit gewesen wäre, um einen Umweg zu ersparen, durch einen Fluß zu schwimmen, bedachte er sich bei den einfachsten Vorkommnissen des Alltagstreibens fast bis in’s Peinliche. So beim Miethen einer Wohnung, welche Calamität ich in Dresden mit ihm durchmachte, verrannten wir drei geschlagene Tage, ehe er zum Ziel gelangen konnte, und zuletzt, nachdem ihm Alles zu theuer oder zu großartig gewesen war, miethete er eine sehr großartige und sehr theure Wohnung in einem der elegantesten Viertel der Stadt, er, der nie größere Gesellschaften bei sich sah. [421] Doch halt, daß ich nicht lüge! Seiner jungen Gattin zu Ehren gab er mehrmals solche, und ich sah ihn sogar einmal im – Frack, als er einen Hausball gab. Meine böse Zunge fürchtend, gelobte er mir später, das nie wieder zu thun. Wie mir unser gemeinschaftlicher Freund Freiherr v. W. schrieb, der 1849 nach Californien ging, und mit seinen Brüdern ein altes verlassenes spanisches Kloster, Mission Dolores, bewohnte, wo Gerstäcker lange Zeit als Gast war, zeigte er sich dort von einer ganz besonderen Harmlosigkeit, wo Jeder, der nur etwas den Augenblick zu nützen verstand, in allen Ehren sein Schäfchen in’s Trockene bringen konnte. Gerstäcker grub und wusch dort auch eine Zeitlang Gold, aber er wählte, wie mir mein Gewährsmann mittheilte, gerade die unglücklichste Jahreszeit dazu. Zu dem geringsten kaufmännischen Geschäft, von einer eigentlichen Speculation ganz abgesehen, zeigte er sich gänzlich unfähig, um so besser versorgte er aber die kleine Ansiedlung durch seine Büchse, und man kennt die Größe und Stärke eines braven californischen Hirsches.

Einer ergreifenden Scene gedenkt hierbei Herr v. W., als er mit Gerstäcker und einem dritten Jagdgenossen von einem größeren Streifzug zurückkehrt, und auf Büchsenschußweite einen Menschen sieht, der mit Händen und Armen winkt, als er die drei Jäger zu Gesicht bekommt. Der Mensch arbeitet sich näher, mehr kriechend und sich auf die Erde werfend, als vorwärts schreitend. Jetzt ahnen sie das Entsetzliche: der Mensch befindet sich auf einer jener unheimlichen Triebsandstellen, die, unter dem menschlichen Tritte nachgebend und immer weichend, das Opfer zuletzt verschlingen. Aber der Unglückliche arbeitet sich dennoch mit übermenschlichen Kräften so weit vorwärts, daß sie seine Stimme, zuletzt seine Worte vernehmen können. Er fleht, man möge ihn erschießen – die drei Männer stehen todtenbleich da – er wirft die Arme schrecklich empor, die Kräfte verlassen ihn, er sinkt und sinkt, und in wenigen Minuten ist Nichts zu sehen als eine glatte Fläche.

Mir ist in dem Augenblick nicht erinnerlich, ob Gerstäcker in einer seiner Schriften dieses erschütternden Falles gedacht hat. Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt, – und so erzählte mir unter Anderen Herr v. Weber, wie entrüstet der gute Gerstäcker gewöhnlich gewesen sei, habe man sich in seiner Gegenwart Scherze erlaubt, die seiner reinen Natur zuwider. So habe bei ihnen ein alter Förster (ich glaube aus Thüringen) gelebt, den das Schicksal auch in die neue Welt verschlagen. Der alte Mann sei fast zu nichts mehr nützlich gewesen, und um sein Brod nicht gänzlich als Almosen zu betrachten, habe er die Büchsen gereinigt und, wenn größere Gesellschaft gewesen, bei Tische bedient. Bei besonderen Feierlichkeiten habe er dabei seine alte Dienstuniform mit dem Hirschfänger getragen. Dies habe Gerstäcker förmlich empört, und trotz des alten Mannes Sträuben habe dieser nicht mehr bedienen dürfen, so lange Gerstäcker auf Mission Dolores weilte. Ich habe Gerstäcker bei ähnlichen Gelegenheiten öfter beobachtet und so recht den edeln Kern seines Wesens schätzen gelernt. Jeder Bedrückung, jeder Gemeinheit, im Kittel oder in Glacéhandschuhen, war er entschiedener und rückhaltsloser Feind. War der Fall ein besonders starker, so wurde er roth, als schäme er sich des Andern willen, dann sehr bleich, und nannte die Sache ohne Ansehen der Person eine Gemeinheit oder Nichtswürdigkeit. Trotzdem war er nie Händelsucher, nur in den äußersten Fällen vergaß er, wie der echte Mann, jede Rücksicht, und war dabei in seiner Entschiedenheit so imponirend, daß er nicht so leicht auf Widerstand stieß. Als ich ihn einst fragte, wie er sich bei einer Herausforderung benehmen würde, sagte er: „Da ich Niemand absichtlich beleidige, würde ich jedenfalls um Entschuldigung bitten, und wäre Jener nicht damit zufrieden, ihn einfach niederschlagen.“ Und er war der Mann dazu.

Oft befremdete es mich oder that mir im Interesse meines Freundes weh, wenn ich wiederholt hören mußte: Gerstäcker trägt in seinen Schriften zu stark auf, Dies und Jenes sei eines Münchhausen nicht unwürdig, und wie ähnliche Randglossen heißen mögen. Solchen unsanften Bemerkungen möchte ich dadurch entgegen treten oder sie berichtigen: daß Gerstäcker es liebte, hier und da zu fabuliren, ohne jedoch im geringsten dabei die Absicht zu haben, dem Leser Münchhauseniaden oder dergleichen aufzutischen. Er hoffte, man würde die Sache nehmen wie sie ist, und nicht aus einer Mücke einen Elephanten machen. Denn nie habe ich einen wahrheitsliebenderen Mann gekannt, als es Gerstäcker im Privatleben, im Kreise seiner Freunde und Bekannten war. Er hat deren viele, und ich weiß, sie werden mir beistimmen. Seine Güte gegen arme Teufel war geradezu rührend. Und ich erinnere mich genau noch der Scene, wie ich ihn Reiseeffecten in einen Waggon der Leipzig-Dresdner Eisenbahn schleppen sah, die einer verschämten Armen gehörten, der er die Mittel verschafft hatte, mit einem leidlichen Taschengelde in die Heimath zurückkehren zu können. Und die Dame war weder jung, schön, noch interessant, eine alte, gebrechliche, durch Elend stumpf gewordene Frau, die im Kissen lag, das ihr Gerstäcker sorglich unter den Kopf steckte, und statt des Dankes nur leise nickte. So schrieb er auch für den alten Schauspieldirector Magnus in Dresden den „geschundenen Raubritter“, welcher in erster Zeit dem tief herabgekommenen Mann leidlich volle Häuser machte, da das Publicum den Scherz verstand und den Autor ahnte.

Herbert König.




Aus deutschen Lustschlössern.


2. Der vorletzte der fränkischen Hohenzollern.


(Schluß.)


Noch hält der neue Markgraf seine Tollheit im Zaume. Bald jedoch machen sich die Einflüsse seiner Umgebungen geltend. Caspar Heinrich Schröder aus Osnabrück, der glückliche Vertilger hochfürstlicher Leichdornen, sammt einem ungerathenen Bengel von Sohn und einer mit aller Welt liebelnden zigeunerhaften hübschen Tochter, die sich ehedem als Seiltänzerin versucht haben mag, ist als Serenissimi Leibmedicus selbstverständlich von Wandsbeck mit nach Baireuth übersiedelt. Er hat Quartier im Schlosse und Beköstigung aus der Hofküche, eine weit reichere Tafel, als sie der sparsame Markgraf führt, der sich zum Entsetzen sämmtlichen courfähigen Publicums bei seinem Hofmarschall in Pension giebt, und verwaltet mit dem Titel eines Geheimen Bergrathes das Minendepartement des Landes, da er seinem Gönner besondere montanistische Kenntnisse vorgespiegelt hat. Dabei aber bleibt der kecke Abenteurer nicht stehen; ihn gelüstet nach den höchsten Ehren im Staate. Von Anfang an steht sein Plan fest. Fort und fort giebt er dem Markgrafen anzuhören, alle Beamte desselben seien unwissende Tröpfe und ungetreue Haushalter, bis er das Ziel erreicht, nach dem er strebt.

„Spitzbuben seid Ihr Alle!“ tobt Friedrich Christian, im Schlafrock und mit einer hohen seidenen Mütze auf dem Kopfe, im Schlosse umher, und sein Stock saust auf die Rücken von Bürger und Edelmann, von Räthen und Officieren nieder, – und, Krone der Ehrlosigkeit, gar Mancher läßt sich die Demüthigung freudig gefallen, denn er weiß, daß der gottselige Markgraf goldene Pflaster auf die Wunden zu legen pflegt, die sein Bambus schlägt. Das Baireuther Officiercorps aber hält im Gasthofe zum „Reichsadler“ eine geheime Berathung, ob derlei markgräfliche Handgreiflichkeiten mit der militärischen Ehre verträglich seien, und vereinbart schließlich eine Bitte an den Oberhofprediger, den Landesherrn zu ermahnen, das soldatische Ehrgefühl mehr zu schonen. Inzwischen ist eine „geheime Landesdeputation“ zur Untersuchung der Schäden eingesetzt und der weiland „Zahnbrecher und Hühneraugenschneider zu Wandsbeck“, derzeit geheimer Berg- und Obermedicinalrath Caspar Heinrich Schröder ihr Mitglied geworden, will sagen ihr Haupt – der Jahrmarktsquacksalber Regent des Landes; so geschehen nicht in einem erdichteten Roman, sondern vor wenig mehr denn hundert Jahren im Herzen des heiligen römischen Reiches deutscher Nation! Der hochgebildete Reichsgraf Philipp von Ellrodt, so lange der factische Herr, der allmächtige Brühl von Brandenburg-Culmbach, ist bei Seite geschoben von einem plumpen, ignoranten Charlatan; [422] schlimmer noch, er ist angeklagt, Stellen und Aemter verkauft zu haben, und als Gefangener auf Ehrenwort nach seinem Schlosse Drossenfeld verwiesen.

Wer diesen Ort heute sieht, der theils zur Fuhrmannsausspanne, theils zum Holzmagazin und zur Behausung für Büttel und Gerichtsboten degradirt ist, der wird sich schwer ein Bild entwerfen können von der Pracht, welche das Tusculum des reichbegüterten Reichsgrafen Philipp von Ellrodt einst der staunenden Welt vor Augen gestellt hat. Am rechten Ufer des hier fast noch bachartigen rothen Mains erhebt sich der imposante Bau mit seinen beiden Seitenflügeln, den, nach einem alten Kupferstiche, unsere Illustration wiedergiebt, auf einer mit Gartenanlagen im Stile Lenôtre’s geschmückten malerischen Terrasse, welche an Sanssouci erinnert und wohl mit den in der Rococozeit so hochgepriesenen Gärten der Isola Bella im Lago Maggiore verglichen worden ist. Nach allen Seiten hin gewährt das Schloß entzückende und ahnungsreiche Fernsichten, nach der dämmerblauen sanfteren Hügelkette der fränkischen Schweiz, wie nach den stattlicheren Höhen des näheren Fichtelgebirges.

Auf jedem Absatze der hochansteigenden Terrasse tränken künstliche Wasserwerke einen reichen Flor der seltensten Blumen, auf dem Kiesplatze am Fuße der Treppe hauchen alte Pommeranzen- und Citronenbäume ihren feinen Wohlgeruch aus, während rechts und links in groteske Gestalten verschnittene Laubgänge und Taxushecken zu verschwiegenem Wandeln und traulichem Ruhen in labender Kühle einladen. Selbst beim Regengusse mag man ungenäßt weilen unter dem dichten grünen Blätterdache, unter welchem barock verzierte, wundersam verschnörkelte Tische und Bänke und mancherlei burleskes Sandsteingebild, bucklige Zwerge und schnakische Faune neben griechischen Götterfiguren im Zopfgeschmacke umherstehen. Bewaldete Hügel ziehen sich als nächster Saum um das Ganze; bis zu ihnen hinauf verstreut sich das freundliche Dorf, dessen vom Markgrafen Friedrich „seinem Günstling zu Liebe“ erbaute schmucke Kirche ihren schieferbedeckten Thurm unmittelbar hinter dem Schlosse emporreckt. Die zahlreichen Obstbäume an den durch die Gemarkung, meist in Bergeinschnitten höhwärts, führenden Wege zeugen von der geschützten Lage des Ortes. Das Innere des Schlosses ist fürstlich ausgestattet, mit buntbemalten oder vergoldeten Decken, mit Marmorkaminen und Boulemöbeln, seidenen Hautelisse- und Gobelintapeten, Meißner Porcellanungethümen und Schäfergruppen, Krystalllustern und glasumrahmten Spiegeln, geschweiften Commoden und goldfüßigen Schreibtischen, mit verschnörkelten Pendulen und wackelnden Pagoden, wie sie der Zeitgeschmack liebte und wir sie heute wieder nachahmen oder aus Trödlerboutiken um schweres Geld erkaufen.

Ein köstlicher Sitz, dies Drossenfeld des Reichsgrafen von Ellrodt, viel bewundert und viel beneidet in seinen Tagen, ein Beweis aber zugleich, daß das Gerücht wohl nicht so weit von der Wahrheit vorbeitrifft, wenn es die Reinlichkeit der premierministerlichen Hände einigermaßen in Zweifel zieht. Hieran mag auch Ellrodt Vater denken, als er sich in seinem Arbeitscabinete mit dem Sohne, der ihn am Abend vorher durch seine Heimkehr von einer Lustreise in’s Salzburgische überrascht hat, zur Morgenchocolade niederläßt. Auch der jetzt dreiundsechszigjährige Herr zeigt noch Spuren einer ungewöhnlichen männlichen Schönheit; mit feingeschnittenen Zügen und vornehmer Haltung, hochgewachsen und breitschulterig, trägt er ein vollkommen aristokratisches Gepräge, als sei er nicht in einem Predigerhause, sondern im Reichsgrafenpalaste zur Welt gekommen. In der Regel von beinahe fürstlichem Selbstbewußtsein, – ist er heute doch niedergedrückt und kleinlaut. Die Anklage zwar, die eine seiner ehemaligen Creaturen, ein verkommenes bedeutungsloses Subject, wider ihn erhoben, als habe er dem Menschen seinen Posten gegen ein Douceur von dreißig Ducaten verkauft, spottet er – dreißig Ducaten für den reichen Grafen Ellrodt! das ist doch zu abgeschmackt – doch wie, wenn in der bevorstehenden Gerichtssitzung noch andere Dinge und – Weitherzigkeiten zur Sprache kommen, deren Grundlosigkeit sich nicht so ohne Weiteres erweisen läßt? Er fühlt sich eigenthümlich beklommen. Auch dem Sohne liegt es wie ein Alp auf der Brust, allein er kann den Gedanken an die Schuld des Vaters, den er immer nur würdevoll und stolz gesehen, nicht festhalten und bemüht sich durch heiteres, kindlich liebevolles Geplauder, dem theuren Manne, der an ihm von der Wiege an nur Gutes und Liebes gethan hat, die Wolken von der Stirn zu scheuchen. Wie verschieden geartet die Beiden! Der Vater in Denken und Wesen, in Erscheinung und Rede der Repräsentant der sich auslebenden alten, der Sohn geistig und sittlich das Kind der heraufleuchtenden neuen Zeit; der Erstere noch im strengsten Zwange von Puder und Perrücke, der Letztere mit dem ihm Stirn und Schläfe freier umwallenden goldblonden Haare dem Zopfthume schon nach Möglichkeit entschlüpfend; der Eine nach den Grundsätzen einer vornehm-bequemen Moral noch inmitten der frivolen französischen Bildung lebend, der Andere, sittlich strenger und von höheren Idealen getragen, schon ein Pionnier des neuen deutschen Geisteslebens, das, mit der wälschen Convention und Oberflächlichkeit brechend, in den Tiefen des Gemüthes, auf dem Boden menschlicher Sittlichkeit sich Ankergrund und Angelpunkt sucht. Die Hervorhebung des Contrastes und zugleich der Zusammengehörigkeit der beiden Charaktere ist Gutzkow meisterhaft gelungen.

Graf Ellrodt Vater geht glänzend hervor aus dem im Adlersaale des Baireuther Schlosses, in Gegenwart des Markgrafen, tagenden Gerichte. Der Fürst sucht die dem Minister angethane Unbill gut zu machen, indem er demselben einen großmächtigen Titel anhängt, ihn zum Land-Erbkämmerer des Brandenburg-Culmbacher Weltreichs ernennend – ein Beiseitegeschobener, Halbverbannter und Geächteter bleibt Reichsgraf Philipp indeß nichts desto weniger, ein geknickter Mann, der in seiner Vergangenheit keinen Trost finden kann für die trübe Gegenwart und selbst auf den neuerdings bewirkten Erwerb einer „reichsunmittelbaren“ Besitzung in der Rheinpfalz, der seinem Stolze früher so hohes Genügen bereitet haben würde, kaum noch Werth legt. Auch auf die so schön, so reich und verheißungsvoll aufgesproßte Lebenssaat des Sohnes hat das Schicksal des Vaters einen zerstörenden Mehltau geträufelt.

Nach wie vor schwingt Markgraf Friedrich Christian seinen Stock; von Tag zu Tage wächst seine Neigung, „seine nächsten Umgebungen mit Schlägen zu tractiren“, zugleich mit der Verdüsterung seines Gemüths. Die Begräbnißstätte seines Hauses, das von der „weißen Frau“ gestiftete Cisterciensernonnenkloster Himmelskron, ist seine Lieblingsstätte. Dort, in dem unheimlichen kleinen Schlosse, unter einem jedem heitern Sonnenstrahle den Eingang wehrenden Riesenzelte uralter Linden, wie sie vielleicht auf Erden nicht zum zweiten Male vorhanden sind, vertieft sich der der Monomanie entgegentreibende Fürst in die Revision des alten Gesangbuches, welches er mit seinen geliebten „Kernliedern“ bereichert; dort plant er sein eigenes Mausoleum, das er in seinem Geburtsschlößchen zu Weferlingen zu errichten gedenkt; dort hält er gelegentlich auch Hof, trotz aller Weltentsagung und Verschmähung irdischen Glanzes mit ziemlicher Sorgfalt seine äußere Persönlichkeit herausstaffirend, jeden seiner Orden vor dem Spiegel probirend, auf das steifste Ceremoniell und streng darauf sehend, daß nur der Adel Einlaß findet in die freudlosen Räume seiner düsteren Behausung. Der weiland hannöversche Hühneraugenschneider ist, wie man sich denken kann, mittlerweile unter die Edelleute emporgehoben worden und noch immer der Tyrann des Landes. Wohl mag ihn Markgraf Friedrich Christian nachgerade nicht mehr besonders leiden, aber er hält den frechen, eiteln und schlemmenden Patron für den „einzigen ehrlichen Kerl“ in seinen Staaten, und so läßt er ihn seine Scandalwirthschaft ungehindert forttreiben, Judenhetzen in’s Werk setzen, um den Gejagten Geld und Gut wegzunehmen, als Chef der souverainen Landesdeputation auf seinen Rundreisen im Lande ringsum Schrecken verbreiten und treue Staatsdiener und ehrliche Männer in den Kerker werfen. Eine Mißregierung sonder Beispiel, ein Cabinetslichtbild aus der „guten alten Zeit“.

Vielleicht noch ekelhafter zu lesen aber ist es, wie die obersten Hofchargen sich Mühe geben, den prügelsüchtigen Fürsten durch weiblichen Umgang zu sänftigen, und die vornehmsten Damen des Adels den finstern Frauenhasser umschmeicheln, diesen sänftigenden Einfluß auf ihn ausüben – wie hoch- und hochwohlgeborene Eltern ihm zu solchem Behufe ihre Töchter präsentiren!

Erst ein Complot macht, durch Frauenlist verrathen und von Fritz Ellrodt verhindert, dem Unwesen der Schröder’schen Creaturen ein Ende. Dieser mißlungene Anschlag, dessen Hauptanstifter der durch seine Cabalen zum Premierminister aufgerückte Schwiegersohn Schröder’s ist, der Kammerjunker und frühere [423] Attaché bei der brandenburg-culmbachischen Gesandtschaft zu Wien, Johann Christian Trützschler v. Falkenstein, bezweckte nichts Geringeres, als den Markgrafen „wegen seiner geschwächten Geisteskräfte während einer Reise aufzuheben und in sichern Gewahrsam zu bringen, das Fürstenthum aber unter Ansbach’sche Verwaltung zu stellen“. Erst jetzt erkennt der unglückliche Fürst, in welchen Händen er sich befunden und wer seine wahren Freunde sind.

Er giebt die Zügel seiner Regierung unserm jungen Reichsgrafen, dem Wiener und Regensburger Comitialgesandten Friedrich v. Ellrodt, in die Hände. Seit zwei Jahren mit einer Gräfin Löwenhaupt, mütterlicher Seits einem Sprößling aus fürstlichem Hause, vermählt, führt Friedrich v. Ellrodt auf einem seinem Vater gehörigen Gute zu Lindenreuth im Herzen des Fichtelgebirges, Angesichts von Ochsenkopf und Schneeberg, ein glückliches Dasein, dem nur der Kindersegen gebricht; nachdem er zuvor das Baireuther Reich als außerordentlicher Gesandter bei Joseph des Zweiten Kaiserkrönung in Frankfurt am Main vertreten hat. Aber Friedrich v. Ellrodt war zu glücklich, um nicht am Ende den Neid der Himmlischen fürchten zu müssen. Schon nahte ihm das Verhängniß.

Eines Abends – es war um die Zeit des Falkenstein’schen Complotes – an den Ufern eines unfern dem Schlößchen gelegenen großen Weihers spazierend, wird das gräfliche Paar durch einen aus nächster Nähe fallenden Schuß erschreckt. Ein zweiter und dritter Schuß ertönt, und plötzlich bricht aus dem Walde ein mächtiger Hirsch hervor, Jäger und Bauern rennen lautschreiend mit Knütteln hinter dem geängstigten Thiere einher und – entsetzlicher Anblick! grauenhaftes Bild aus unserer „guten alten Zeit“! – am Geweihe des Zwölfenders ist ein Mensch, ein ergriffener Wilddieb, festgebunden. Den Lustwandelnden erstarrt das Blut in den Adern … als der Hirsch näher herankommt, ist ein blutrünstiger Menschenkopf deutlich zu sehen, von dessen Lippen es kläglich winselt: „Barmherzigkeit! Schießt, schießt!“ Grausam brüllt das nachjagende Volk hinter dem Gemarterten her; mit einem Male springt das schweißschäumende Thier in den See. Ein trefflicher Schwimmer, springt Ellrodt in das Wasser nach und rettet, nachdem der Hirsch getödtet ist, mit Hülfe einiger Diener den unglücklichen Menschen. Seine Menschenfreundlichkeit jedoch wird sein Tod. Die Erkältung, die er sich bei seinem Liebeswerke geholt, verschlimmert durch die kurz darauf unternommene Eilfahrt, welche den verrathenen Markgrafen aus den Händen der Verschwörer befreien soll, artet in ein hitziges Nervenfieber aus, welches, jeder ärztlichen Kunst spottend, seinem Leben ein vorzeitiges Ziel steckt.

Da schlummert nun der Verblichene „unter brennenden Wachskerzen und mit fast fürstlichem Glanze“ auf seinem Paradebette, vor welchem, in Thränen aufgelöst, die junge Wittwe kniet, deren Idol der Heimgegangene gewesen ist. Den alten Reichsgrafen hat das Unglück, der Verlust seines letzten Sohnes selbst auf das Krankenbett geworfen – das kaum erblühte Geschlecht, schon verdorrt es ja wieder! Dies rührende Bild eines hoffnungsreichen Anfangs und schnellen Erliegens unter dem räthselhaften Geschicke zu zeichnen, war ohne Zweifel die eigentliche dichterische Aufgabe, welche sich Gutzkow in seinem neuesten Romane gestellt hat, nicht das geschichtliche Gemälde aus dem Jammer der deutschen Kleinstaaterei, wie farbenfrisch, lebensvoll und instructiv dasselbe auch vor uns hintritt. –

Bald nach Fritz Ellrodt bricht auch der Markgraf zusammen. Die Ueberzeugung, von denen betrogen worden zu sein, welche er an seinem Busen genährt hat, raubt ihm den letzten Rest von geistigem Halte, den sein umnachtetes Gemüth noch besitzt. Schrullenhaft, wie er gelebt, so stirbt der Mann auch, welchem trotz alledem das Zeug zu einem tüchtigen Regenten verliehen war. Eigensinnig weist er jeden andern ärztlichen Beistand ab, als den seines Leichdornschneiders Caspar Heinrich Schröder. Zwar macht dieser alle Anstrengungen, den Fürsten am Leben zu erhalten, mit dessen Hintritt ja seine eigene Glückperiode ihr unwiderrufliches Ende erreichen muß, seine Pfuscherei aber führt den Tod seines Gönners nur um so rascher herbei. Kaum hat Markgraf Friedrich Christian die Augen geschlossen, so eilt der Günstling mit seinen beiden Kindern, seinem Schwiegersohn und seinen erplünderten Schätzen aus dem von ihm und seinen Helfershelfern ausgesogenen Lande. Wo er gestorben ist, hat man nie erfahren; in der Gegend von Frankfurt oder Wetzlar geht seine Spur verloren.

Reichsgraf Philipp hat seinen edlen Sohn nur kurze Zeit überlebt. Beide ruhen in der Ellrodt’schen Erbgruft unter der freundlichen Kirche von Drossenfeld. Ihre Grabsteine aber haben einem den Sitzen der Gemeinde bequemeren Fußboden weichen müssen. So ruft uns das „Sic transit gloria mundi“, das als die Devise des heutigen Baireuth gelten kann, auch hier seine wehmüthige Mahnung entgegen.

H. S.




Ein Sonntagsmahl im Thüringerwalde.


Alljährlich durchstreife ich den „Park von Deutschland“, wie E. Humbert, ein Sohn der Alpenwelt, den Thüringer Wald zu nennen liebt. So war ich eines schönen Tages bis zur Höhe des Gebirges emporgestiegen und rastete zu Neuhaus am Rennstieg, wo sich die Sonneberg-Saalfelder und Eisfeld-Rudolstädter Poststraßen, zweitausendfünfhundert Fuß über dem Meere, kreuzen. Als ich mir „beim Just“ (Gasthaus zum grünen Baum) gütlich gethan und mich des herrlichen Blickes auf die malerischen Gebirgsdörfer ringsum erfreut hatte, trat ich in eine der bretterbeschlagenen, vom Unwetter geschwärzten Hütten, die sich auf der waldumrahmten Hochfläche in langgestreckter Reihe von Neuhaus nach Igelshieb ziehen, um in der Werkstatt eines geschickten „Perlismachers“ zu sehen, wie von der Gasflamme, die auch auf diesem Gebirgskamme die sonstige Oellampe verdrängt und ersetzt hat, die schönsten Glasgebilde in wahrhaft künstlerischer Vollendung fast im Nu hervorgezaubert werden.

Allein die Hütte schien wie ausgestorben. Nur ein wirres Durcheinanderzwitschern der gezähmten Kreuzschnäbel, die in winzigen Käfigen an den Wänden hingen, begrüßte den seltenen Gast, als er das kleine, niedrige Stübchen betrat, während eine weibliche Stimme aus der nahen Küche rief:

„Na, wie lange bleibt ihr denn? Wißt ihr nicht, daß der Vater essen will, wenn er aus der Kirche kömmt?“

Jetzt erst dachte ich daran, daß es ein Sonntag war, der auch den Glasbläsern die ersehnte Ruhe gönnt. Nun galt es zunächst, den Irrthum der scheltenden Frau aufzuklären, die vielleicht ihre abwesenden Kinder erwartet hatte. Und siehe! in demselben Augenblicke stürmten sie herein, zwei dralle Buben, die schon in der engen Hausflur riefen: „Mutter, einen ganzen Korb voll!“ – aber verdutzt in die Küche eilten, als sie durch die offene Stubenthür den fremden Mann erblickten. Ich folgte ihnen auf dem Fuße und bot der Frau, die geschäftig am Herde stand, einen guten Tag, indem ich ihr zugleich mein Verlangen offenbarte, die Kunstfertigkeit ihres Mannes zu bewundern.

„Ja, da hätten Se net am Sonntag kommen dürfen,“ entgegnete die Frau, mit der Schürze ihre geschwärzten Hände säubernd, fügte jedoch alsbald hinzu: „Vielleicht thut er’s doch, wenn er heimkömmt, oder die Jungen blasen vor der Lampe, wenn Se net so lang’ warten mögen.“

Ich hatte keine Eile und beschloß zu bleiben, bis der Mann zurückkehre. Unterdessen hatte die Frau ihren Knaben einen kleinen Tragkorb abgenommen und überblickte schmunzelnd dessen Inhalt. „Dacht’ ich’s doch! Der warme Gewitterregen hat sie haufenweis ’rausgetrieben. Das wird ein prächtiges Sonntagsgericht.“ Dabei schüttete sie einen Theil der schönen Pilze, welche die Knaben im nahen Walde gesammelt hatten, in ihre Schürze, und setzte sich damit auf die hölzerne Bank, die vor dem Hause stand. Da ich ihrem Treiben theilnehmend zusah, wie sie die jüngeren Schwämme von allem Unrath säuberte, die älteren aber, deren Fleisch von Maden und Würmern durchbohrt war, wegwarf und die Buben auszankte, weil sie nicht bedachtsamer gewählt hatten, nöthigte sie mich, neben ihr Platz zu nehmen, und sagte: „Ja, lieber Herr, wenn die Schwämme in der Nässe gesammelt worden sind, müssen sie schnell verbraucht werden, weil sie sonst unter den Händen verderben. Und das sollen sie denn auch. Sie sind“ – setzte sie lächelnd hinzu – „unser Sonntagsbraten.“

[424] Damit hatte die arme Frau einen ganz treffenden Vergleich gewählt, ohne zu wissen, daß gerade die Pilze, gleich dem Fleische, viel Stickstoff enthalten und deshalb eine so nahrhafte, fleischartige Speise sind, daß man, wie die reicheren Leute zu ihrem Braten, Kartoffeln oder Brod dazu genießt.

Als ich aber fragte: ob sie nicht ängstlich sei, sich und ihre Familie zu vergiften, da es doch viele Pilze gebe, die wegen ihrer giftigen Eigenschaften sehr berüchtigt, und wieder andere, die wegen ihres schlechten Geschmackes nicht genießbar seien, sah sie mich lächelnd an und meinte: wenn der Genuß der Schwämme so gefährlich sei, wie die Städter fürchteten, so müsse ihr ganzes Dorf längst ausgestorben sein. Denn vom Frühling bis zum Herbste seien die Pilze fast in jedem Hause das stehende Sonntagsgericht, da die meisten Waldbewohner viel zu arm seien, theures Fleisch zu kaufen, während die Schwämme der liebe Gott für Alle wachsen lasse, ohne dafür Bezahlung zu fordern. Und vollends heutzutage, wo die Preise der Lebensmittel immer höher steigen, wenn da nicht der Wald seine Schätze biete, so wisse sie wahrhaftig nicht, wovon man leben solle. Die Hauptsache sei nur, daß man die unschädlichen, eßbaren Schwämme genau kenne. Und zu dieser Kenntniß würden die Waldbewohner durch die Noth des Lebens schon von früher Kindheit an gedrängt, so daß ein Fehlgriff kaum jemals vorkomme, indem man eben nur die Arten sammele, die schon Großvater und Großmutter gegessen.

Die Frau war redselig geworden, da es dem Lob ihrer Schwämme galt.

Als ich aber weiter forschte, ob sie denn alle eßbaren Arten kenne, die Wald und Wiesen, Gärten und Triften in den verschiedenen Jahreszeiten böten, z. B. den Maischwamm, den Steinpilz, den Capuzinerpilz, den Eierschwamm, den echten Reizker, den Parasolschwamm, den Stockschwamm, den Schmerling, den Hallimasch, und wie sie alle heißen, diese originellen Kinder der Pflanzenwelt: da sah mich die Frau mit großen Augen an und schüttelte verwunderungsvoll den Kopf.

Und nun erzählte ich ihr, wie in Polen und Rußland die armen Leute monatelang fast lediglich auf die Schwämme angewiesen sind, um ihren Hunger zu stillen; wie in Oesterreich ungeheuere Pilzmassen zu Markte kommen und dort von einem in der Schwammkenntniß erprobten Marktmeister geprüft werden, ehe sie verkauft werden dürfen; wie anderwärts der Handel mit den gesammelten Schwämmen, die zum Theil sich trocknen und lange aufbewahren lassen, einen bedeutenden Erwerbszweig bildet, und erinnerte dabei an die kostbaren Trüffeln, die in den böhmischen Bädern feilgeboten werden, während in vielen andern Gegenden dieser Reichthum der Natur ein todtes Capital sei, das man nicht zu schätzen wisse und nicht zu verwerthen verstehe.

Die Frau hörte mir aufmerksam zu und hatte währenddeß ihre Vorbereitungen zum Mittagsmahl vollendet. Die Pilze waren zerschnitten und wurden nun mit einem Stückchen Speck in den Kochtopf gethan. Etwas Salz und gehackte Zwiebeln waren die Würze der eben so einfachen und wohlfeilen, als gesunden und kräftigen Kost. In den vornehmen Küchen mögen die Pilze kunstreicher und mannigfaltiger zubereitet werden, so daß bei manchen Arten die künstliche Zuthat zur Hauptsache wird. Da werden sie in Fleischbrühsuppe gekocht, zu Saucen verwendet, mit Butter, Petersilie oder geschabtem Käse gedämpft, oder mit Mehl, Eiern und Gewürz zu einem Teig geformt und in einer Pfanne gebacken. Diese raffinirten Zubereitungsarten sind den schlichten Waldbewohnern fremd, und ich glaube kaum, daß sie etwas dabei verlieren. Die dasigen Hausfrauen haben keine Zeit, lange in der Küche zu hantiren. Rasch sind die Pilze zubereitet und ebenso rasch – binnen einer Viertelstunde – gekocht. Gerade dies empfiehlt sie zu einem noch bei Weitem nicht genug beachteten Volksnahrungsmittel.

Jetzt kam der „Perlismacher“ in seinem Sonntagsstaate, mit dem Gesangbuche unter dem Arm, aus der fernen Kirche und grüßte mich mit der gemüthlichen Unbefangenheit, die den Gebirgsbewohnern eigenthümlich ist. Ich gab ihm meinen Wunsch zu erkennen, „für Geld und gute Worte“ einige Glasgebilde unter seiner geschickten Hand entstehen zu sehen. Er war bereit, diesen Wunsch zu erfüllen, sobald er zu Mittag gegessen habe.

Flugs eilte seine Frau in die Küche, das Sonntagsmahl herzurichten, nachdem sie mir noch scherzhaft zugerufen, daß man den fremden Herrn, der „beim Just“ eine ganz andere Tafel erwarte, doch wohl nicht zu Gaste laden dürfe. Und doch mochte ich einmal gerade mit diesen einfachen Leuten zu Tische sitzen, zumal ich wußte, daß kein Straußenmagen dazu gehört, eine tüchtige Portion schmackhafter Pilze zu ertragen, und daß schon die alten Römer, die wohl verstanden, was gut schmeckt, die Schwämme zu den Leckerbissen zählten. An reichlichem Vorrath aber fehlte es heute auch in der kleinen Hütte nicht. Dafür hatten die fleißigen Knaben gesorgt. –

Genug, ich theilte mit den freundlichen Waldbewohnern ihr einfaches Sonntagsmahl, das ich mit mancher langweiligen Table d’hôte nicht vertauscht haben möchte. Auch bei diesem kurzen Mahle drehte sich unser Gespräch um das Gericht, das insbesondere die Knaben mit sichtlichem Behagen verzehrten, so daß ich allen Ernstes vor bedenklicher Magenüberladung warnte. Der Vater aber lachte dazu und sagte: „Der liebe Gott meint es doch auch mit uns armen Leuten gut. Zwar läßt er kein Manna mehr vom Himmel regnen, aber er läßt nach jedem Regen immer neue Pilze hervorschießen, daß wir die Himmelsgabe nur zu nehmen brauchen, ohne den Herrn Förster um Erlaubniß fragen oder einen Gewerbeschein lösen zu müssen. So ernten wir, ohne gepflügt und gesät zu haben, und ob wir nicht eine Ruthe eigenen Landes besitzen. Und dazu haben wir einen Magen, um den uns die vornehmen Herren oft beneiden mögen. – Sehen Sie nur, die große Schüssel ist leer und bleibt nicht einmal ein Rest für unser Schweinchen übrig, dem die Schwämme ebenso gut schmecken, wie sie uns geschmeckt haben.“

„Sind Ihnen denn aber die Pilze nicht unheimlich, wie sie es, gleich den Eidechsen, Spinnen und Kröten, vielen Leuten sind?“

Diese Frage schien der brave Mann kaum zu verstehen. Als ich mich näher erklärte, daß doch schon viele Leute nach dem Genusse giftiger Schwämme gestorben seien, und daß weder Geschmack noch Geruch, weder Zwiebeln noch silberne Löffel über die Schädlichkeit oder Unschädlichkeit derselben entscheiden könnten, so entgegnete er: „Nun wohl, so lerne man die eßbaren zuverlässig kennen; denn jede Vergiftung ist nur eine Folge der Unkenntniß oder der Unvorsichtigkeit. Sollte mir aber deshalb die Petersilie widerwärtig sein, weil sie dem Schierling ähnlich ist? Freilich giebt es außerordentlich zahlreiche Arten dieser wunderlichen Gewächse, die nicht blos Wälder, Wiesen und Triften schmücken, sondern auch auf den Bäumen und unter der Erde wachsen und, je nachdem sie jünger oder älter sind, ihre Formen und Farben wechseln. Die wir jedoch nicht zuverlässig kennen und als unschädlich erprobt haben, lassen wir ruhig stehen und erfreuen uns an ihrem schönen Anblick.“

„Wir erfreuen uns an ihrem schönen Anblick.“ Dieser Gedanke des wackeren Mannes, der mir zum Andenken einige Glaspilze mitgab, die er vor meinen Augen hervorgezaubert hatte, begleitete mich, als ich meine Schritte wieder dem flachen Lande zuwendete. Ueberall suchten meine Augen diese Parias des Pflanzenreiches, deren manche den prachtvollsten Blumen an Zierlichkeit und Farbenreiz kaum nachstehen. Dazu der tragische Zug des ephemeren Daseins, der durch diese fast märchenhaften Gebilde, durch diese seltsam verkörperten Erdgeister hindurchgeht.

Deshalb ist es geradezu unthunlich, einen irgendwie erschöpfenden Unterricht in der Schwammkunde (Myketologie) nach lebenden Exemplaren zu ertheilen oder Pilzherbarien anzulegen. Und doch scheint mir dieser Unterricht, auch in unseren Volks- und Fortbildungsschulen, wo man gar Manches lernt und lernen muß, was in’s praktische Leben niemals eingreift, um so bedeutungsvoller, als die Benutzung der eßbaren Schwämme noch eine sehr beschränkte und ihr volkswirthschaftlicher Werth, gerade in unserer theuren Zeit, noch lange nicht genug anerkannt ist. Eine trockene Beschreibung aber, selbst nach dem besten Lehrbuche, kann die Anschauung, gerade auf diesem Gebiete, niemals ersetzen. Auch Abbildungen mögen nicht immer genügen. Sind sie gut, so kosten sie viel Geld; sind sie schlecht, so schaden sie mehr, als sie nützen.

Wie ist da zu helfen? Der Zufall kam mir auch hier zu Statten.

Mein Heimweg führte mich über Gotha. Nachdem ich – wie oft schon – die verschiedenen Sammlungen auf Schloß Friedenstein durchstreift, machte mich Freund Z. auf die wahrhaft künstlerische Nachbildung der Pilze aufmerksam, die neuerdings hier gefertigt worden. Nach jenem Sonntagsmahl im Thüringerwalde konnte mir nichts näher liegen, als sofort Heinrich Arnoldi [425] aufzusuchen, der mir schon durch sein mit allgemeiner Anerkennung aufgenommenes, auch in der „Gartenlaube“ unter der Ueberschrift „Immerfrisches Obst“ eingehend besprochenes plastisches Obstcabinet, das bis zu achtunddreißig Lieferungen gediehen ist, rühmlich bekannt war. Wußte ich nun doch, daß er jetzt auch eine Sammlung plastisch nachgebildeter Pilze herausgiebt, die für die Nationalwohlfahrt noch bedeutungsvoller werden kann, als jenes Obstcabinet. Gedacht, gethan.

Mit freundlicher Zuvorkommenheit zeigte mir Herr Arnoldi die zwei bis jetzt erschienenen Lieferungen eßbarer Pilze, deren jede zwölf Stück umfaßt und inclusive Beschreibungen und Carton zwei und einen halben Thaler kostet. Ich bewunderte die täuschende Aehnlichkeit dieser aus Papiermasse gearbeiteten Gebilde, die nicht blos in ihrer natürlichen Größe und Farbe, sondern auch in ihren verschiedenen Lebensstadien so meisterhaft dargestellt sind, daß sie allerdings, wie kein anderes Mittel, geeignet erscheinen, die genaue Kenntniß der Schwämme so zu verbreiten, daß auch den Kindern und den armen Leuten dieser herrenlose Reichthum der Mutter Natur, ohne Gefahr eines Mißgriffs, zugänglich werden kann. Zugleich begriff ich aber auch die Schwierigkeiten, womit gerade die naturgetreue Nachbildung dieser so mannigfach gestalteten, ebenso zarten wie vergänglichen Waldkinder zu kämpfen hat, und drückte dem Künstler, der keine Mühe scheut, im Vereine mit anerkannten Mykologen der Natur ihre Geheimnisse abzulauschen, im Namen des Volkes dankbar die Hand.[2]

Möge das zeitgemäße, wahrhaft verdienstliche Unternehmen, dessen dritte Lieferung die giftigsten der einheimischen Schwämme enthalten soll, vorzugsweise in unseren Volksschulen Eingang finden und als anschauliches Lehrmittel fleißig benutzt werden, damit schon den Kindern ein Feld erschlossen werde, das bisher in vielen Gegenden fast gänzlich brach gelegen!

Und wenn dazu diese Worte ein Scherflein beitragen, so werde ich reicher belohnt sein, als jener Dichter, der eine solche plastisch nachgebildete Pilzsammlung kaufte, um die unschädlichen Schwämme kennen zu lernen und sie für die wenigen Hühner, die er züchtete, als nahrhaftes Futter zu benutzen, damit sie viele Eier legen möchten. Ob sie es gethan, weiß ich nicht. Kostbare Eier sind es aber jedenfalls gewesen, die mein verehrter Freund dann verspeist hat – kostbarer, als jenes „Sonntagsmahl im Thüringerwalde“.

H. S.


  1. Es bedarf wohl den Lesern der Gartenlaube gegenüber nicht einer besondern Motivirung, daß ich das bereits im Frühjahr 1870 veröffentliche Portrait Gerstäcker’s heute nochmals zum Abdruck bringe. Der plötzliche, Allen unerwartete Tod meines lieben und treuen Mitarbeiters und der Umstand, daß Gerstäcker selbst dieses Portrait als das ähnlichste von allen bisher erschienenen bezeichnete, noch mehr aber der seit dem ersten Erscheinen erfolgte Hinzutritt von mindestens 50,000 neuen Abonnenten, die das Bild noch nicht kennen, entschuldigen wohl hinlänglich diesen Doppelabdruck. Wie sprechend ähnlich das Portrait war, schilderte Gerstäcker in seiner humoristischen Weise selbst sehr drastisch. Er schrieb mir Anfang Juni 1870 aus Hamburg, kurz nach Erscheinen des Bildes: „Hol’ der Teufel Ihre Gartenlaube, lieber Keil. Ich laufe jetzt wie ein steckbrieflich Verfolgter in der Welt umher. – ‚Um sieben Uhr, Herr Gerstäcker,‘ sagte der Cassirer eines Hamburger Winkeltheaters, als ich ihn frug, wann es anginge, mit einem malitiösen Lächeln. ‚Ist schon bezahlt, Herr Gerstäcker,‘ bemerkte der Kellner auf der Uhlenhorst bei Hamburg, als ich mit mehreren Freunden dort gegessen hatte. Auf der Dammthorstraße kaufe ich Fische; die beiden jungen Damen im Laden stoßen sich miteinander an und kichern: ‚Nicht wahr, Herr Gerstäcker, wir sollen das Packet in’s Hôtel de l’Europe schicken?‘ Es bleibt mir jetzt weiter nichts übrig, wenn ich Schandtaten begehen will, als meinen Bart abzurasiren und eine Perrücke zu tragen mit vielleicht einer blauen Brille, und das Alles danke ich dem verwünschten Bilde.“ – Daß er den Bart nicht abrasirt und keine Perrücke getragen hat, beweist am besten sein Brief aus Frankreich, wohin er während des Krieges auf meine Aufforderung gegangen war. Er schreibt aus Pont-à-Mousson: „Das verteufelte Portrait spukt noch immer nach. Als ich vor einigen Tagen von Langeweile geplagt auf den hiesigen Bahnhof gehe, war eben ein langer Zug mit Militär angekommen. Arglos schreite ich über den Perron, als plötzlich seitwärts von mir der Ruf ertönt: ‚Hurrah, Gerstäcker – da kommt Gerstäcker!‘ Ich sehe mich verwundert um und schreite auf die Rufer zu mit der Frage, woher sie mich denn kennten? ‚Na nu, Gartenlaube!‘ antwortet ein stämmiger Landwehrmann und reicht mir seelenvergnügt die Hände. Spion werde ich hier unter diesen Umständen nicht spielen können.“ Von dem liebenswürdigen Menschen und Freunde, nicht von dem Weltreisenden, hoffe ich ein anderes Mal mehr zu erzählen. Mit Gerstäcker ist einer der ehrlichsten, besten Menschen begraben.
  2. Ein früheres, von Professor Büchner in Hildburghausen begründetes Unternehmen, eine „Schwammkunde“ mit trefflich modellirten, ebenfalls in Papiermasse ausgeführten und auf’s Sorgfältigste illuminirten Proben von deutschen Pilzen jeden Art, je in drei Lebensaltern und mit der Bodenumgebung jeder Pilzart darf hier, der Gerechtigkeit wegen, nicht unerwähnt bleiben.
    D. Red.




Bauernfängerei.


Eine Warnungstafel für „Potsdamer“ und die es nicht werden wollen.


Von Julius Weil.


Ich weiß nicht, ob es die Gewerbefreiheit macht, oder ob es im Geiste unserer Zeit liegt – niemals, scheint mir, ist die Zunft der Bauernfänger so zahlreich gewesen, als gerade jetzt. Sie ist meines Erachtens zu einer socialen Großmacht ersten Ranges geworden, welche ihre Vertreter in allen Kreisen der modernen Gesellschaft hat. Ich glaube mir deshalb die Anerkennung der dankbaren Mitwelt zu erwerben, wenn ich den Versuch mache, eine Naturgeschichte der Bauernfänger zu schreiben.

Seinen Namen hat der Bauernfänger von seiner unberechtigten Eigenthümlichkeit, „Bauern“ zu fangen. Unter Bauern sind aber nicht blos die Bewohner des platten Landes, die „Knollenpropper“ und „Stoppelhopser“, zu verstehen; sondern der Bauernfänger begreift darunter alle, welche von der Cultur des großstädtischen Lebens noch nicht beleckt sind und welche dem Raffinement des modernen Schwindels die Naivetät einer harmlosen Vertrauensseligkeit entgegensetzen. Er bezeichnet sie auch als „die Dummen“, „die Grünen“ und „die Potsdamer“.

Die Heimath der Bauernfänger sind vorzugsweise die Weltstädte; doch trifft man sie auch in der Hochsaison an Orten, wo der Reichthum und die Blasirtheit aller Länder sich Rendez-vous geben, also in Luxus- und Spielbädern. Ueberhaupt lieben sie ein buntes und volkreiches Treiben, um unbeobachtet und ungekannt ihre Schlingen zu legen. Diese Localverhältnisse vorausgesetzt, gedeiht der Bauernfänger in den Sümpfen der Gemeinheit, des Lasters und der höheren Liederlichkeit und nährt sich von dem Ueberfluß Anderer.

Es giebt nun in dem großen Thiergarten der Menschheit verschiedene Spielarten von Bauernfängern. Am häufigsten ist wohl die Kartenspielart, das ist diejenige, welche die Bauern durch Kartenspiel in die Falle lockt. Der günstigste Boden für diese Species ist die neue Welt- und Kaiserstadt Berlin, weshalb wir hier ihrem Gedeihen und Verderben ein wenig nachspüren wollen.

Rusticifex communis, der gemeine Bauernfänger, lebt in „Kaffeeklappen“ oder „Bummsen“, wo er bei Kümmel und Kümmelblättchen von den gewiegten Altmeistern der Kunst, den echten „Penn-“ oder „Sonnenbrüdern“, in der Lehre des socialen Ausgleichs erzogen wird. Einige von diesen Kellerlocalen sind ausschließlich dem Dienst der „Mogelgöttin“ geweiht und zu Hochschulen der Bauernfängerei auserlesen. Da versammeln sich die Wissenden und berathen in geheimnißvollen Reden gemeinschaftliche Unternehmungen, theilen die Beute und berichten über neue Fangmethoden. Solche Tempel, in denen dem Cultus des „Tempelns“ gehuldigt wird, sind der Polizei wohlbekannt und werden von ihr scharf beobachtet. Oft, wenn sie durch Zufall oder Verrath von einem großen Putsch der Templer Wind bekommen hat, umstellt sie bei Nacht und Nebel ihre Höhlen, dringt plötzlich mit dem Schlachtruf: „Im Namen des Gesetzes!“ in dieselben ein und hebt die ganze Gesellschaft auf – nämlich in dem Prytaneum am Molkenmarkt.

Dies die Wiege des Bauernfängers. In ihr erblickt er das Licht der Verbrecherwelt etwa in seinem achtzehnten Lebensjahre. Erst dann nämlich wird er ein „geborener“ Bauernfänger, wenn er einmal wenigstens vor Gericht gestanden hat und auf ein paar Wochen dingfest gemacht ist. Das ist die Kettenprobe der Zunft, die Feuer-, oder, wenn man will, die Wasser- und Brodtaufe des „Hochstaplers“. Nun wird sein Name in das Rothbuch der Polizei und das schwarze Register der Staatsanwaltschaft eingetragen und bekommt ein großes Kreuz †, welches Gift! Gift! bedeutet. Dies das Geburtsregister der Bauernfänger.

Von diesem Moment ist der junge Gauner zünftig und widmet fortan sein Dasein dem großen Kampf gegen Gesetz und Eigenthum. Er beginnt seine Carrière mit dem gefährlichsten und schwierigsten Posten, dem des „Schlepper“ – und beendet sie im Zuchthause. Der „Schlepper“ aber ist derjenige, welcher den Bauer aufsuchen und in den Hinterhalt locken muß, wo ihn dann die Helfershelfer weidlich ausplündern.

Ich bitte Dich nun, lieber Leser, laß Dich einmal von einem Bauernfänger „leimen“ – natürlich nur in effigie.

Du stehst eines schönen Tages in dem Hofe des Berliner Zeughauses, versunken in die Betrachtung der erschütternden Todtenmasken. Da wirst Du plötzlich aus Deinen Kunstträumen durch die Worte aufgeschreckt: „Von wem sind wohl diese Masken, mein Herr?“ Neben Dir steht ein höflich den Hut ziehender, anständiger Herr, welcher diese Frage an Dich gerichtet hat; und Du bist artig genug, ihm Rede und Antwort zu stehen. Der Fremde ist von liebenswürdig bescheidenen Manieren; mit der größten Offenherzigkeit gesteht er Dir, daß er Dergleichen noch nie gesehen, da man in seiner Heimath – Kyritz – kein Zeughaus habe. Du erwiderst darauf, daß Du ebenfalls nicht „von hier“ seiest, und bei der gemeinschaftlichen Wanderung durch die Säle, auf welcher der Fremde Gelegenheit hat, sich ziemlich unbewandert in der Waffenkunde zu zeigen, werdet Ihr einigermaßen bekannt miteinander. Als Ihr wieder im Freien seid, macht er Dir den Vorschlag, da er hier ohne jeden Bekannten sei, mit ihm nach dem Tempelhofer Felde zu fahren, wo heute große Parade stattfinde. Du willigst ein, und bald sitzt Ihr in dem Schüdderump, den man Berliner Droschke nennt. Während der Fahrt zieht der Fremde eine goldene Uhr heraus und bemerkt: „Das ist ja erst [426] zehn Uhr, die Parade beginnt um Elf, da könnte man inzwischen noch ein Glas Bier trinken. Bon!“ Es wird vor einem Locale angehalten, Ihr steigt aus.

In dem Restaurationszimmer ist es ziemlich leer; Ihr nehmt an einem kleinen Tische Platz. Nicht lange, so treten zwei Herren ein, setzen sich höflichst grüßend an denselben Tisch und knüpfen ein Gespräch mit Euch an. Es stellt sich heraus, daß sie Gutsbesitzer aus Posen sind, daß sie ebenfalls zur Parade wollen, daß diese indessen erst um elf ein halb Uhr ihren Anfang nimmt. Ihr kommt in eine sehr warme Unterhaltung, und im Laufe derselben erzählt der eine Posener, daß er gestern mit seinem Freunde v. Pompowski in einem Vergnügungslocale gewesen sei, in welchem er ein eigenthümliches Spiel gesehen habe; wenn er Karten da hätte, würde er es wohl nachahmen können. Der Posener Nummer Zwei erbietet sich, solche zu holen; bald kehrt er mit einem Pasch Karten zurück – und nun entwickelt sich jene herrliche Blüthe des niedrigen Bauernfanges, das „Kümmelblättchen“.

Kümmelblättchen ist ein Spiel mit drei Karten, welche offen hingelegt werden. Der eine Spieler merkt sich eine Karte, worauf ein anderer sie sämmtlich umwendet und durcheinandermischt, bis er sie umgewendet endlich auf den Tisch fallen läßt. Hat der erste nun seine Karte genau verfolgt und findet sie heraus, so hat er das Spiel gewonnen, andernfalls sein Gegner. Der Bauernfänger versteht es nun, durch allerhand Kniffe, namentlich durch Einschmuggeln falscher Karten, den Mitspieler so zu täuschen, daß er regelmäßig die richtige Karte verfehlt. – Doch kehren wir zu Deinem Abenteuer zurück.

Du hältst das Spiel für kinderleicht und gehst scherzweise auf einige Taillen mit niedrigem Einsatze ein. Der Posener Nummer Eins stellt sich entsetzlich ungeschickt an, und Du gewinnst das erste, zweite, dritte Mal. Da wendet sich das Glück, die Einsätze werden vergrößert, die übrigen Herren betheiligen sich gleichfalls beim Spiel – das Kümmelblättchen ist in vollem Gange und bald haben Dir die drei Bauernfänger – denn das sind die Cumpane, in deren Hände Du gefallen bist – Dein Geld, Deine Uhr, vielleicht gar noch Wechsel, Schuld- oder Ehrenscheine abgelockt und verschwinden allmählich einer nach dem andern unter Zurücklassung eines entsetzlichen Deficits. Du siehst Dich betrogen, und die Parade, die natürlich eine Fabel ist, verwünschend, kehrst Du mit geleerter Tasche, aber vermehrter Erfahrung in Dein Hôtel zurück.

Oft wissen die Gauner ihre Opfer noch lange Zeit in Täuschung zu halten und auf alle Weise Geld von ihnen zu erpressen. Sie nehmen dem Geprellten beispielsweise das Versprechen ab, die Spielschuld in einigen Stunden zu tilgen oder Sicherstellung zu besorgen, und verabreden einen dritten Ort, wo das Geschäft geregelt werden soll. Es sind Fälle vorgekommen, wo Fremdlinge wirklich so befremdend naiv waren, darauf hineinzufallen. Mitunter aber passirt dies dem Bauernfänger selbst, indem der Geleimte hinter den Schwindel kommt und mit der Polizei am Orte des Rendezvous erscheint, welche alsdann die „Sicherstellung“ freundlichst übernimmt.

Auf der Anklagebank benimmt sich der Bauernfänger tactvoll und als gekränkte Unschuld. Bei den Worten „Kümmelblatt“ und „gewerbsmäßiges Hazardspiel“ macht er ein höchst harmloses Gesicht; er heuchelt die größte Unwissenheit und behauptet, von den Karten nur die Land- und Paßkarten zu kennen. Aber das Gericht hat ihm längst in die Karten geguckt und entzieht ihn auf einige Monde seiner spielenden Beschäftigung – von Rechtswegen. Seine Helfershelfer übrigens pflegt auch der verdonnerte Bauernfänger, wenn ihn nicht gerade persönliche Rache leitet, niemals anzugeben, was in der Kunstsprache „alle machen“ heißt.

Die geschilderte Fangart ist die häufigste; sie ernährt den größten Theil der Bauernfänger. Eine andere, die wiederum zum Specialstudium einer anderen Classe gemacht wird, charakterisirt sich durch folgendes Manöver: Es sitzt Jemand, dem man den „Grünen“ ansieht, harmlos bei Mutter Grün im Thiergarten. Ein Herr kommt des Weges daher, sieht sich nach einem Ruheplätzchen um, entdeckt die Bank, auf der der Grüne sitzt, und nimmt neben ihm Platz. Alsbald kommt er mit ihm in ein Gespräch und entpuppt sich als ein „wollhabender“ Oekonom aus Mecklenburg, der einige Zeit sich in der Hauptstadt nach Kräften amüsiren will. Er erzählt von seinen Irrfahrten durch die Nachtlocale Berlins, von der Scylla Orpheum und der Charybdis Ballhaus und von den verschiedenen Circen und Schürzen, die alldort sein Wohlgefallen erweckten. Seine Ausdrücke duften etwas nach der unreinen Atmosphäre jener Locale; der Grüne aber lacht darüber und erzählt wohl auch eine kleine, stark gewürzte Anekdote. Da taucht plötzlich ein Mann aus dem Gebüsch hervor und kommt auf die Beiden zu. Der Oekonom aus Mecklenburg erhebt sich, hält den Grünen fest und wendet sich an den Dritten mit den Worten: „Sie sind Polizeibeamter; dieser Herr hat mir unsittliche Anträge gemacht, verhaften Sie ihn! Ich bin der Polizeirath Preller!“ Der Dritte macht dem Pseudo-Oekonomen seine respectvolle Reverenz und ersucht den Grünen, mit ihm und dem Herrn Polizeirath zur Wache zu gehen. Der Beschuldigte ist höchlichst bestürzt und versichert seine Unschuld. Jener aber bleibt bei seiner Beschuldigung, und der Geheimpolizist läßt ihn nicht locker. Dem Grünen wird angst und bange; er bittet, er droht – vergebens. Auf dem Wege zur Wache führt der Geheimpolizist ihm die ganze Schwere seines angeblichen Verbrechens vor die Seele, erinnert an Corny, Zastrow und räth ihm, die Sache lieber in Güte auszugleichen. Das unschuldige Opfer ist zu Allem bereit, und endlich kommt man dahin überein, den Grünen gegen eine bestimmte Summe freizulassen. – Nicht selten gelingt es den Bauernfängern, ihre „Potsdamer“ so einzuschüchtern, daß diese ihr Schweigen noch durch weitere Geldversprechungen erkaufen. Ja, es ist vor nicht langer Zeit ein Fall vor Gericht verhandelt worden, wo ein so Geprellter Monate lang Geldzahlungen an seine ihm vollständig unbekannten Dränger geleistet hat. Es ist dafür gesorgt, daß die Dummen nicht alle werden.

Eine andere Species von Bauernfängern sind die „Stellenvermittler“ oder „Cautionsschwindler“ – ein Product der modernen Reclame. „Bei sehr bescheidenen Ansprüchen“ und „unter äußerst günstigen Bedingungen“ wird in einem Zeitungsinserat ein junger Mann als „Geschäftsführer“ für ein „großes Haus“ gesucht. Geschäftsführer! Großes Haus! – sehr günstig. Sofort melden sich zahlreiche Jünger Mercurs, welche der Stellenvermittler nach Einziehung verschiedener Gebühren und Empfangnahme eines Provisionsscheines an den eigentlichen „Macher“ weist. Dieser erklärt sich bereit, Den oder Jenen zu engagiren, aber der Umfang des Geschäfts und die Größe der von dem Geschäftsführer zu übernehmenden Verantwortlichkeit zwingen ihn, auf einer Caution von einigen Hundert Thalern zu bestehen. In Erwartung einer ganz besonders ausgezeichneten Stellung wird sie, oft mit den größten Opfern, geleistet – und nie mehr gesehen. Denn das Geschäft, wie der verlockende Geschäftsführerposten erweist sich als purer Schwindel. Der Cautionsbetrug steht gegenwärtig im höchsten Flor und bildet einen Hauptbestandtheil der Criminalfälle; glücklicher Weise pflegt aber meist dafür gesorgt zu werden, daß dem menschenfreundlichen Cautionär und dem dito Stellenvermittler eine unentgeltliche Stelle in „Nummer Sicher“ vermittelt wird.

Die einzelnen Abarten der Bauernfänger, sehen wir, unterscheiden sich lediglich durch die Fangmethoden von einander; soviel Methoden, soviel Classen. Da giebt es Bauernfänger, die auf Landsknecht und Pharao reisen, in den feinsten Hôtels ihren Tempel aufschlagen und die eleganteste Vollblutgesellschaft um sich versammeln – und ausplündern. Ferner bestehen Associationen – ich weiß nicht, ob auf Actien, aber jedenfalls auf Schwindel gegründet –, deren Zweck ist, Waaren auf Credit zu entnehmen, um sie auf schleunige Weise an die „Ramscher“ oder „Meziekäufer“ zu verschleudern und darauf spurlos zu verduften.

Aus einer verwandten Gauneridee sind die Clubs der „Pfandverschieber“, der „Nepper“ und „Flederer“ entsprossen. Die Thätigkeit dieser Ehrenmänner besteht darin, als „heruntergekommene Familienväter“, „bedrängte Kaufleute“, „in plötzliche Verlegenheit gerathene höherstehende Beamte“ sich Darlehen zu verschaffen „gegen drei- und vierfache Sicherheit“, welche selbstverständlich in ganz werthlosen Gegenständen, als Weinen, Gemälden, unechten oder vergoldeten Geschmeiden und falschen Hypothekendocumenten besteht. Ihre Kunst äußert sich darin, diese Nichtse als Werthträger einzuschmuggeln.

Ich muß verzichten, die gesammte Bauernfängerei durch Aufzählung und Charakterisirung aller ihrer concreten Gestaltungen zu erschöpfen. Ich will mich vielmehr damit begnügen, zu den bereits geschilderten noch eine hinzuzufügen, die sich zwar äußerlich

[427]

Der Eingang zum Schwarzathal.
Nach der Natur aufgenommen von Herm. Heubner.

[428] vortheilhaft von den übrigen unterscheidet, aber ihrem Wesen – oder vielmehr Unwesen – nach die gemeingefährlichste von allen ist.

Diese letzte Art von Bauernfängern besteht aus gar reichen und wohlangesehenen Leuten. Sie haben Brillanten auf der Brust und Orden in den Knopflöchern; sie besitzen die schönsten Villen vor dem Thor, und wenn Du, lieber Leser, als ein bescheidener Mann zu Fuß Deine Straße ziehst, so kann es sich ereignen, daß ihre gummiberäderten Equipagen Dich mit Koth bespritzen. Dies sind die „Gründer“ oder „Actienschwindler“. Wie alle Bauernfänger haben auch sie es auf die Börse der Dummen abgesehen, aber sie erreichen ihren Zweck durch die Börse selbst. Man kann sie deshalb die Homöopathen unter den Bauernfängern nennen; aber wohlverstanden, nur der Methode, nicht den Dosen nach. Während der gemeine Gauner auf die Sinnenlust und den Leichtsinn der Menschen speculirt, rechnen diese „unbestraften Verbrecher“ auf ihre Habgier und Bornirtheit. Sie sehen die Welt als ein Actionarrenschiff an, an dessen Steuerruder die Gewinnsucht sitzt. Ihr ganzes Streben ist darauf gerichtet, Dinge zu ergründen, welche sich begründen lassen. Haben sie eins gefunden, so treten sie zu einem Consortium zusammen, schicken famose Lügenprospecte, in denen Aussichten auf fabelhafte Dividenden eröffnet werden, in die Welt, emittiren einige Milliarden Actien, und wenn diese, wie natürlich, überzeichnet sind, ziehen sie sich mit dem Gründergewinn in die Tiefe ihres Arnheim zurück, dem dummen Publicum das Reinfallen freundlichst überlassend. Es ist schwierig, diese Bauernfänger gründlich zu fassen, denn sie wissen sich hinter einem undurchdringlichen Wall von formellen Rechtstiteln zu verschanzen; aber man beginnt jetzt von allen Seiten mit Gesetzen dagegen anzustürmen – hoffentlich mit Erfolg.




Von drei Perlen die eine.



Wie es in der berühmten Erzählung des weisen Nathan drei Ringe giebt, von denen einer der echte sein soll, während sie im Grunde alle drei echt sind, so hat der Thüringerwald seine drei Perlen, von deren jeder behauptet wird, sie sei die wahre „Perle des Thüringer Waldes“. Sie heißen: die Wartburg, Reinhardsbrunn und das Schwarzathal mit der Schwarzburg. Unseres Bedünkens sind die Perlen alle drei echt und wohl geeignet, jedes empfängliche Herz mit Entzücken zu erfüllen.

In der Mitte ihres Laufs von Saalfeld nach Rudolstadt wendet die Saale sich in weitem Bogen gen Westen, um ein frisches und fröhliches Kind des Gebirgs in ihren Schooß aufzunehmen, die Schwarza. Auch der freundliche Ort, wo das geschieht, heißt Schwarza, und von ihm aus beginnt der Reisende, der zur Brunnen- und Badezeit vom Norden her die Zahl der fremden Luftschnapper des Thüringerwaldes vermehrt, seine Wanderung in das Schwarzathal.

Wenn wir das breite Saalthal verlassen und den obstreichen Marktflecken Schwarza hinter uns haben, treten mit jedem Schritte vorwärts die Höhen zur Linken näher an die Straße heran, während zur Rechten die Schwarza den Fuß der Berge bespült. Bald hebt sich aus dem dunkeln Waldberghintergrunde die Ruine Greifenstein heraus, in deren einst glänzenden Räumen Kaiser Günther’s Wiege gestanden, und am Fuße des Schloßberges grüßt uns die freundliche Stadt Blankenburg, ein aufstrebender Badeort. Kurz vor Blankenburg theilt sich die Straße und führt rechts zur Stadt, links über die Schwarza zum Schwarzathal, und hier stehen wir vor unserer Illustration. Wir sehen, wie die Wald- und Felscoulissen sich durcheinander schieben, und können uns im Voraus ein Bild machen von den Schluchten, durch welche der Weg sich zu seinem nächsten Ziele, der Schwarzburg, hindurchwinden muß.

Dreierlei nimmt hier unsere Aufmerksamkeit in Anspruch, ehe wir unsern Fuß in das Thal der Felsen setzen: zur Rechten das neue schmucke Schweizerhaus, dahinter der sog. Chrysopras, und zur Linken die Schwarza selbst. Dem Schweizerhause, einer klimatischen Curanstalt, machen wir auf dem Rückwege unsern Besuch. Wenden wir zunächst dem Wasser unsere Beachtung zu.

Die Schwarza ist nicht nur das schönste der größeren Gewässer Thüringens, sondern auch ein seltenes Glückskind: ihr allein gelingt das Unerhörte, ihren ganzen zwölf Stunden langen Lebenslauf von der Wiege bis zum Sarg, d. h. vom Rennstieg bei Habichtsbach bis zur Saale, in einem Lande, in Schwarzburg-Rudolstadt, zu vollenden. Keinem anderen Gewässer von gleicher Größe ist solche Treue in Thüringen möglich, alle laufen durch mehrerer Herren Länder. Dazu kommt noch ihre goldschimmernde Vergangenheit. Noch heutzutage sind hier und da die gräberähnlichen Erdhaufen zu sehen, die Zeugen der alten Goldwäschereien. Auch hierher versetzt die Sage jenen „Venetianer“ des Kyffhäusers, welcher den Bauer auslachte, weil er nach der Kuh einen Stein warf, der mehr werth war, als die Kuh. Dieser Segen ist verschwunden. Ein Rudolstädter, der aus Californien heimkam, suchte ihn zu erneuen, aber mit all seinem Goldwaschen brachte er es am glücklichsten Tage nur auf vier Silbergroschen.

Noch schlimmer erging es dem Mann, welchem der „Thüringer Hof“ den seltsamen Namen „Chrysopras“ verdankt. Zu Anfang unseres Jahrhunderts faßte ein preußischer Bergrath, Danz, den Entschluß, hier, auf der Grenze des Ur- und Flötzgebirges, den Bergbau neu zu beleben. Er trieb einen tiefen Stollen in’s Gebirge, baute davor ein Zechenhaus, zog mit seiner Familie hinein und verhämmerte rastlos fast sein ganzes bedeutendes Vermögen. Als seinen liebsten Fund zeigte er gern seine Chrysoprase, d. h. Stücke von jenem grünen Chalcedon, einem schönen Mineral, das in Schlesien daheim ist, dort zu mancherlei Schmuck verarbeitet wird und besonders durch Friedrich’s des Großen Liebhaberei für dasselbe zu Ansehen gekommen war. Danz nahm ein trauriges Ende, sein Zechenhaus ward in einer Nacht ausgeraubt und Mann und Familie kamen in’s Elend. Das Zechenhaus ward zum Wirthshaus umgewandelt, der alte Stollen zum Bierkeller, und an den verschollenen Gründer erinnert nichts mehr, als der Name Chrysopras, mit dem der Volkswitz das Haus belegte.

Und nun hinein in das Tempe Thüringens. „Salus intrantibus!“ So ruft das Thal mit goldner Schrift am ersten Fels „den Wanderern seinen Gruß“ zu, und über und hinter ihm türmt es rechts sich hinauf, graublaue Felswand und wieder grünes Moos und Gestrüpp, Felsenzacken und Baumgruppen, immer aufwärts, und ganz oben Kuppel, Pyramide, Faust oder zum Himmel zeigende Finger, Alles Fels! Der Anblick fesselt das Auge des Wanderers so, daß er anfangs fast schleichenden Schrittes vorwärts geht, um kein einziges Felsstück ungesehen liegen zu lassen. Ist er bis zur Mitte der ersten Thalwindung gekommen, wo rechts der Griesbachfelsen schroff emporsteigt, so springt gegenüber von einem der hohen Waldberge – welche bekanntlich die andere Seite des ganzen Thals bilden – aus einer dunklen Schlucht heraus und Satz um Satz herab ein lustiges Wasser in die Schwarza hinein. Jetzt erst bemerkt man eine neue Ueberraschung des Thals: die Windungen desselben sind oft so kurz, daß man sich in der Mitte einer solchen wie in einen rings umschlossenen Kessel eingesperrt deucht. Hoch oben nicken hier die im Sonnengold spielenden Baumwipfel, drohen dort die bestrahlten Felshäupter, senken sich dann die Fels- und Waldwände uns immer beengender herab, bis sie mit dem gewaltigen Fuß oft hart am Fluß- und Straßenrand aufstoßen. Schreiten wir aber vorwärts, so rücken die Coulissen wieder auseinander, hier der Wald, dort der Fels, wie aus gegenseitiger Gefälligkeit, bis das Auge plötzlich wieder aufwärts schwärmt. Diesmal ist es ihm bequem gemacht. In mächtigen Absätzen steigt ein Feld thurmartig aus der Wald- und Schieferwand heraus und an ihr empor. Das Volk nennt dieses Felsbild die Teufelstreppe. Bald ist der Kessel wieder gesperrt, dunkler als vorher, durch eine hochaufragende Waldkoppe zur Linken.

Hier haben wir zum ersten Mal in nächster Nähe auch das im Ruinenstil (um 1844) erbaute fürstliche Jagdschlößchen „Eberstein“, das wir schon am Eingang des Thals und auf unserer Illustration auf jener waldbewachsenen Felszunge, überragt von der Hünenkoppe, herüberleuchten sehen.

[429] Eine neue Thalwindung, neue Wald- und Felspracht und ein viel engerer Kessel, rings düster abgeschlossen, in den der Himmel nur um so herrlicher hereinlacht. Aber vorwärts drängt es, denn es winkt über alle Wipfel herüber der höchste Schmuck des Thals. Je mehr wir um die Biegung herumkommen, desto herrlicher breitet es sich aus und da steigt es empor, Schritt um Schritt mächtiger, überwältigender – bis wir endlich vor der wundervollen Majestät des anderthalbtausend Fuß hohen Kirchenfelsen in Staunen und Andacht stehen bleiben. Ja, das ist ein Dom, den die Gottheit sich selbst in gothischem Lapidarstil aufgebaut. Kuppeln und Thurmzacken leuchten im Sonnengold, aber die Orgel liegt unten im Wasser: das steinerne Wehr, ein Felsenkamm, der sich quer über das Thal gelegt und die Schwarza zwingt, mit den schäumenden Wellen sich Orgelpfeifen in das Gestein zu wühlen und den Grundbaß zu brausen zu dem Rauschen und Flöten und Singen des Waldes.

Neben dem Kirchfelsen erhebt sich ein kleinerer, aber durch die Sage interessanter Koloß: der Adafelsen, denn hier oder auf der gegenüberliegenden Hünenkoppe soll eine Hünenfürstin gehaust und vor vielen tausend Jahren schon die schöne Aussicht genossen haben.

Imposanteres bietet das Thal nun nicht mehr bis zum Trippstein, obwohl wir noch sechs Thalwindungen vor uns haben. Das nächste Felsbild gewährt die hohe, zackenreiche Wand des „Fuchsstein“. Weiterhin erinnert uns der „Floßrechen“ daran, daß die Schwarza auch der Arbeit der Holzbeförderung dienstbar ist. Gleich dabei labt sich das Auge am köstlichen immer quellerfrischten Grün einer kleinen Wiese, die der dunkle Fichtenwald beschattet. Eine Einsiedelei aus rohen Baumstämmen ladet zur Ruhe ein. Aber wir suchen diese lieber in der sogenannten „Oppelei“, einem Wildwärterhäuschen im Schweizerstil, das uns nicht blos daran erinnert, daß wir uns längst in dem großen fürstlichen Wildpark von Schwarzburg befinden, sondern das uns auch mit Speise und kühlem Trank erfrischt, und zwar beim Rauschen eines lustig herabstürzenden Gießbachs. Von da an steigt das Thal, den „Kienberg“ zur Rechten, der Laubwald wird vorherrschend, die Wiesen dehnen sich aus, bis endlich links die Schwarzburg hellleuchtend von ihrem Fels herüberschaut.

Ehe man auf dem bald von den ehrwürdigsten Tannen überdachten Wege zum Schwarzburger Gasthof eilt, setzt man lieber der Wanderung die Krone auf durch die Besteigung des Trippstein. Diese sechshundert Fuß über dem Spiegel der Schwarza emporragende Felsklippe trägt einen einfachen Pavillon, aber jedes Fenster desselben bietet ein interessantes Bild, das seines Gleichen sucht. Man schwimmt hier in der reinsten Waldwonne. Und tief unten, die helle Perle im dunklen Kranz, thront die Schwarzburg mit ihren Zinnen, Thürmen und Dächern und um sie her die Hütten und Häuser der „Männer im Thale Schwarzburg“, wie seit alten Zeiten sich die Bewohner des Dorfes Schwarzburg nennen. Auf lieblich verschlungenen Parkwegen gelangt man zu all diesen Herrlichkeiten hinab.

Zum Schlosse Schwarzburg wie zum Greifenstein führt uns in der Gartenlaube wohl eine andere Gelegenheit. Das Eine ist aber hier dem Schwarzathal zum Preise noch nachzusagen: es verliert nicht beim Vergleich mit vielem später Gesehenen, und auf dem Gange zum Chrysopras zurück bleiben uns vor jedem der Naturbilder, die uns herwärts entzückt haben, die alten Gefühle treu. Sind wir aber aus den Wald- und Felswindungen wieder da angekommen, wo der Blick frei wird über das weite Thal und vor uns die fruchtbare Ebene bis zu der künftigen Saal-Eisenbahnstation Schwarza und in’s breite Rudolstädter Thal sich erstreckt, so eilen wir in den lieblichen Winkel, wo die Gesundheitspflege sich ein Asyl gegründet und gerechter Weise dazu den Schweizer Stil gewählt hat. Wir stehen vor der „Klimatischen Curanstalt“ des Medicinalraths Dr. J. Schwabe.

Diese schon durch ihre Lage und ihr geschmackvolles Aeußere außerordentlich anmuthende Curanstalt enthält zweiunddreißig Zimmer, die sämmtlich herrliche Aussicht haben. Sowohl klimatische Curgäste (die eigentlichen „Luftschnapper“) als auch an Rheumatismus, Blutarmuth, Nervosität etc. Leidende und Reconvalescenten beiderlei Geschlechts bilden das Contingent der Besucher. Die Hauptcurmittel sind hier gesunde und reichliche Kost, die herrliche milde Waldluft, Bäder aller Art in der zum Hause gehörigen Badeanstalt, Elektricität, Heilgymnastik etc. Besonders heilkräftig bewährten sich bisher gegen rheumatische Leiden Kiefernadelextract- und Dampfbäder. Ein heiteres geselliges Leben herrscht im Hause. Bei gutem Wetter lockt von selbst die reizende Umgebung zu gemeinschaftlichen Ausflügen, und auch bei schlechtem Wetter ist man nicht in Verlegenheit um Zeitvertreib; bei Musik, lebenden Bildern, Costüm-Kaffees und anderen geselligen Unterhaltungen in den geräumigen Salons trotzt man mit Vergnügen dem finstersten Himmel. Und so kommt’s, daß es den Gästen dieses Asyls wie den Schwärmern im Schwarzathale ergeht: Alle verlassen es ungern und denken beim Scheiden schon am liebsten an das Wiederkommen.

Leider soll der Chrysopras neuerdings von Berliner Gründern in Besitz genommen sein. Wenn auch dem alten Wirthshause etliche Renovation und gepflegtere Reinlichkeit nicht hätte schaden können, so war’s doch für den ehrlichen Berg- und Waldfreund sicherlich ein entsprechenderer Aufenthalt, als ihn künftig große, stattliche, überglänzende Räume mit Kellnern, deren Bartcotelettes und Haarölduft den besten Appetit schon von Weitem verderben, hier werden bieten können. Hoffen wir, daß der ernste schöne Wald so viel Einfluß auf den Geschmack der neuen Besitzer ausübt, daß ihre Speculation nicht gar zu ausschließlich dem Wohlgefallen einer „modernen“ Gesellschaft mit ihrer verkrüppelten Bildung huldigt.

H. v. C.




Das Wasser kommt.

Ein Bild aus der Ueberschwemmungsnoth Böhmens am 25. Mai 1872.

„Erzählt mir, Schwager, wie es kam!
Ich kann, selbst was ich sah, nicht glauben.
Hier stand ja, als ich Abschied nahm,
Das Haus der Mutter. Von den Lauben
Ward es umhegt der grünen Bäume,
Die oft des Daches weite Räume
Im Herbst mit süßer Frucht gefüllt.
Hier zog sich grüner Rasen nieder –
Ich weiß es ja, als wär’s noch heut’ –
Und alle Bilder kehren wieder
Aus glücklicher vergang’ner Zeit.
Dort lag, in Furchen abgeschichtet,
Der Hopfengarten. Gelb und grün,
An hundert Stangen aufgerichtet,
Sah man ihn schon von weitem blüh’n.
Wir sprangen hundertmal entlang
Die Gräben, galt’s, mit frohem Singen
Das grüne, duftige Gerank
Der Ernte fleißig heim zu bringen.
Schwager! Wohin ist Alles? Sprecht!
Die Mutter, Euer Weib und Kind,
Das Haus und Feld und Flur? O brecht
Das Herz mir nicht! Starrt nicht dem Wind
In’s Weite nach, in’s Oede, Leere!
Erzählt, ich bitt’ Euch!“
      Nun, so höre! –
Sonnabend war’s und vor Dreifaltigkeit.
Das Tagwerk war gethan, wir kehrten heim
Vom Feld, das üppig grünte weit und breit.
Das Frühjahr hat gefördert. Hoch im Keim
Trieb schon der Hopfen auf an seinen Stangen,
Das Futter stand und das Getreide dicht,
Die Bäume waren reich mit Frucht behangen,
Daß kaum ein Strahl durchdrang vom Sonnenlicht,
Das ganze Thal konnt’ eine Ernte hoffen,
Wie seit Jahrzehnten Keiner sie getroffen.
          
Ein Bauer, Schwager, hat sein ganzes Leben –
Wie du’s ja auch noch weißt vom Vater her –
An Feld und Flur, an Baum und Frucht gegeben,
Und ander’ Lieb und Hoffen wiegt nicht schwer.
Mein Leben war nun auch, wie Flur und Feld,
’s ging Alles gut, war dies nur gut bestellt.
          
So kam ich heim mit freudereichem Denken.
Die Kühe standen noch an ihren Tränken,
Die Tauben girrten noch im Hofe munter;
Von ihrer Alten sorgsamlich bewacht,
An fünfzig Küchelchen im Schwarm darunter,
Daß mir das Herz vor Lust im Leibe lacht.
Ich sah den Hof mir an und hätt’ vergessen,
Daß auch für mich schon längst war Zeit zum Essen,
Wär’ Mutter nicht zum Haus herausgetreten,
Und hört’ ich nicht mein Kind am Tische beten.
Da rief auch meine Frau, kaum grüßte ich
Die Mutter, zeigte ihr das lustige Getümmel,
Dann trat ich ein, mein Weib, mein Kindchen küßte ich – –
Allmächtiger da droben, Gott im Himmel,
Das Alles, Alles war zum letztenmal!
          
Ich weiß nicht, wie mir ward, als ich am Tisch
Nun bei den Meinen saß. Das Bier war frisch,
Das Essen kräftig, dennoch schmeckt’ es nicht.
Die Kehle schnürt’ sich in der Luft, der schwülen,
Ein dunkler Flor umtrübt’ das Augenlicht,
Und unablässig, um mein Blut zu kühlen,
Greif’ ich zum Glas und ruh’ im Trinken nicht.
          
Da lacht mein Weib und ruft noch scherzend aus,
Ich tränk’, als wollt’ ich heute Hof und Haus
In Einem Zug vertrinken. Mutter meint,
Das wär’ nun einmal so. Das Stangensetzen
Beim Hopfen sei wohl schwerer, als es scheint,
Ein tücht’ger Trunk muß da die Zunge netzen.

[430]

Doch auf mein Wort, mir war’s nicht um den Trank.
Mir war, als senkte sich die Decke nieder,
Als neigten sich die Wände zu mir. Bang’
Und banger ward mir, bis mich hin und wieder
Unstät der Fuß durch’s heiße Zimmer trug.
Mein Weib bringt nun das Kind zu Bett. Es schlug
Just Neun vom Kirchenthurm. Ich zählt’ die Schläge
und wünschte, angstgepeinigt, fort die träge,
Qualvolle Nacht! Dann schritt ich auf und nieder,
Nachtwandelnd, trotz der Müdigkeit der Glieder.
Da stand auch Mutter auf und sucht zusammen,
Was rechts und links von ihrer Arbeit lag.
„Ich nähe da für Gottes heil’gen Namen,“
Sagt sie zu mir, „und für ’nen heil’gen Tag.
Tritt dann mein Sohn in Wochen zum Altar,
Soll er ein Chorhemd tragen, das genäht
Und reich geschmückt von Mutterhänden war.
Es macht sich herrlich. Seht nur, Schwieger, seht!
Das Kreuz da von dem besten Goldbrocat
Und all’ die Spitzen machen wirklich Staat.“
Sie zeigt es mir. Doch unbegreiflich’ Grauen
Faßt da mein Herz; ich falte meine Hände,
Und wie ich’s nicht vermocht’, mehr hinzuschauen,
Bet’ ich, daß Gott all’ Uebel von uns wende.
          
Bald ward es still um mich, auch still in mir.
Kein Lüftchen regte sich, so weit ich hört;
Der Mutter Athem nur drang durch die Thür,
Des Weibes Trösten, wenn, vom Traum gestört,
Das Kind sich schmeichelnd, bittend zu ihr kehrt.
Dann wieder ward es stille rings im Kreis.
Ich muß wohl, wie ich träumend mich gesetzt
So auf die Bank, entschlafen sein zuletzt,
Denn plötzlich fahr’ ich auf. In heißem Schweiß
War ich gebadet, und die Stirne pochte,
Als ob das Blut in allen Adern kochte.
Die Pfeife, wie ich in der Hand sie hielt,
War ausgebrannt und längst auch ausgekühlt.
Ich blickt’ umher. Zwei Uhr schlug’s von dem Thurme.
So lang’ hätt’ ich geschlafen? Doch, was ist’s?
Rast nicht der Regen durch das Thal im Sturme?
Und donnert es und blitzt es denn und gießt’s?
Ich denk’ es kaum, ich sprech’ es nicht, und stürze
Zur Thür hinaus. Daß ich den Weg mir kürze,
Spring’ ich zur Mauer, schwinge mich hinauf
Und bin im Feld und dann in kurzem Lauf
Am Goldbach, der die Wiesen uns durchschneidet.
Du lieber Gott; ich war noch angekleidet
Und schon durchnäßt, es fröstelte die Haut.
Zurück! rief es in mir, poch’ an die Thüren,
Daß Alles wacht, die Hände all’ sich rühren. –
„Das Wasser kommt! Fort, und den Teich gestaut,
Das Wehr hinauf, die Flöße vor die Fächer,
Und wer tief unten wohnt, hoch auf die Dächer!“
So ruf ich laut, doch ohne Widerhall,
Und schon erhebt des Wassers brauner Schwall
Sich bis zu meinen Knien auf freiem Feld.
Da, horch! Ein Schrei und noch ein zweiter gellt
Nun durch die schwarze Luft! Man ist erwacht,
Man schaut die Noth! O, nur zurück, zurück
Zu meines eig’nen Hauses eig’nem Glück
Und Hülfe dort für Weib und Kind gebracht.
Doch, Herr des Himmels, was ist denn geschehen?
Hier ist kein Weg, kein Wiesengrund zu sehen?
Nein, nicht nach links, nach rechts hin mußt du gehen.
Ich thu’s, jedoch mein Fuß ist festgebannt.
Vor mir, kaum hundert Schritt, steht eine Wand
Die, schwärzer als die schwarze Nacht, im Wogen
Durch’s ganze Thal kommt brausend hergezogen.
So mag die Sündfluth einst hereingebrochen,
Das rothe Meer gethürmt gewesen sein,
Als der Prophet sein herrschend Wort gesprochen
Und Wasser sich wie Balken und wie Stein
Zusammenschloß! Dann kam’s herangekrochen,
Bis es – vom Donner übertönt, erhellt
Vom Blitz – ein grauses, furchtbar grauses Kochen,
Hinab in’s Thal mit Sturmeseile fällt.
Mich faßt’ es an mit starkem Arm. Nach oben
Fühlt’ ich mich plötzlich hoch empor gehoben,
Von Fluth und Steinen und von tausend Aesten
Gebrochner Bäume fortgepeitscht, bis ich –
O, dieser Augenblick war fürchterlich! –
An einem Dache mit den letzten Resten
Der Manneskraft mich festgeklammert hielt.
„Es ist vielleicht mein Haus, mein eigen Haus!“
So schrie ich auf! Da ward es fortgespült
Und ich mit ihm, in grause Fluth hinaus.
Noch hört’ ich Menschenrufe, Kuhgebrüll,
Verzweifelt Bellen – – dann war Alles still.
          
Als Nacht und Tag schon in den Wolken stritten,
Die finster, wie zuvor, am Himmel hingen,
Erwachte ich. In vieler Zweige Mitten,
Die fest mein Kleid umstrickend mich umfingen,
Lag ich wie festgebannt. Und um den Baum
Und rings im Thal die gräßlich bleiche Noth.
Viel Hundert’ hatten in dem Grab schon Raum,
Und rings droht tausendfältig noch der Tod.
          
„Wo bin ich, wo mein Weib und wo mein Kind?“
So ächzt’ ich, als ich in der Pappel Zweigen
Mich höher wand und durch den kalten Wind
Und durch die Wasser, wie sie immer steigen,
Die Blicke drängte, bis ich Alles sah
Und Alles kannt’, was ferne und was nah.
Das sind die Wälder alle, sturmgelichtet,
Das sind die Erntehügel, nun vernichtet!
Hier schwimmt ein Acker, schwimmt ein Wald, da kommen
Viel’ tausend Stangen, die hinweggenommen
Vom Hopfengarten sind. Sie schießen fort,
Zur Tiefe wirbelnd, bersten, brechen, krachen,
Wie Reisig, das gedörret und verdorrt,
Bis aus den sandgemischten, schwarzen Lachen
Die Strömung sie zersplittert wieder speit
Und rings umher mit Laub und Früchten streut.
Doch wo ist denn mein Dorf, mein Heimathsherd?
Hinweggerissen, weg bis auf den Grund!
Doch nein! da steht der Thurm, noch nicht zerstört,
Und da ein Haus! Das Stroh im festen Bund,
Wie es das Dach bedeckt, ist unversehrt,
Und hoch die Bodenfenster wasserfrei!
Da sind die Meinen! Gott gebenedei’
Und rette sie! Nimm mich für Alle hin
Und lass’ sie leben, lass’ das Kindchen blüh’n!
Ja! Ja! Es ist mein Haus! Die Wasser fallen,
Sie müssen fall’n, wenn eine Mutter fleht
Und unschuldsvolle Kinderlippen lallen,
Daß in der Noth Gott nahe sei! – O seht!
Ein Kahn! Nein! Nein! Es ist ein Dach! Vorüber,
Vorüber schießt’s, und in die Fluthen, trüber
Und immer trüber, wühlt es sich hinein!
Ein Mann sitzt drauf, ein Weib bei ihm, sie schrei’n –
Kein Retter hört den Ruf. Hinunter fliegt
Pfeilschnell die Last, bis sie die Fluth besiegt.
Und Balken nach und Betten, Kisten, Kasten,
Ein buntes Durcheinander ohne Rasten.
Und sieh! Da kommt ja meine alte Henne
Und fünfzig kleine Hühnchen rings herum!
Fahrt wohl! Treff’t ihr ein Grab: wen ich auch kenne,
Grüßt ihn, als grüßtet ihr ein Heiligthum! –
Die Hütte meines Hundes: „Treues Thier!
Droht unser’m Haus Gefahr, und du nicht dort?“
Ich ruf’s und seh’, wie ihn die Hütte hier
Vorüberreißt, zum nassen Grabe fort.
Doch horch! Rief’s „Vater“ nicht? Ja, ja, es rief,
Da kommt das Bett, in dem mein Kindchen schlief.
Allmächt’ger! Auch das Kind! Und todt und todt!
Die Wangen noch vom letzten Traum geröthet,
Dem Vater nah’, von kalter Fluth getödtet!
Du Engel sage, eh’ ich mit Dir geh’,
Sag’ mir nur erst, wo ich die Mutter seh’!
„Im Dach, im Dach!“ ertönte fernes Heulen,
Und Kähne sah ich fliegen, Männer eilen.
Woher? Wohin? Ich sah es nicht! Ich sah allein
Ein Chorhemd dort mit einem Kreuzelein,
D’rauf eine Frau, an die mit weißer Hand
Ein Weib sich stöhnend, rettungsuchend wand,
Noch jung und schön! Dann sah ich noch das Dach.
Es ward von braunen Fluthen just verschlungen,
Der letzte Pfeiler aus dem Grund gerungen!
Das Alles sah ich, sprang den Trümmern nach.
          
     „Und dennoch wurdet Ihr gerettet?
     Sagt Alles, Schwager, Alles sagt!“
          
Gensd’armen, die im Nu zusamm’gekettet
Zwei breite Kähne, hatten es gewagt,
Wie sie von fern mich in den Zweigen hängen
Und schwanken sah’n, sich durch die Fluth zu drängen.
Sie rissen mich zurück aus kalter Gruft,
In die ich sprang aus Furcht vor weiterem Leben,
Und sorgten treu, bis man zurück mich ruft
In’s Dasein, das ich selbst dahingegeben.
          
     „Muth! Schwager, Muth! Kommt, laßt uns beten gehen
     Und dann mit Gott nach unsrer Arbeit sehen,
     Bis wir das Feld von Steinen neu gelichtet,
     Der Mutter dann dem Kind ein Kreuz errichtet!“
          
Nein, Schwager! Nimmermehr! Mir ist um’s Herz
Wie einem Liebsten, dem das Wort gebrochen
Die Liebste, die ihm ew’ge Treu’ versprochen.
Ich will zum Wald, will in’s Gebirge dringen
So hoch hinauf bis an das End’ der Welt.
Dort Bäume fällend hoch die Hacke schwingen,
Bis Gott der Herr zuletzt mich selber fällt.
Leb’ wohl! Glaubst du an ihn noch, seine Güte –
O bete, daß im Grab er mich behüte.
Ich bete nicht! Denn braune Wasser schließen
Mit Wirbelwellen meine Kirche ein,
Und über’m Altar brausend hoch ergießen
Die Fluthen sich und über’s Kreuzelein!

Prag, Ende Mai 1872. C. Thomas.

Dieses ergreifende Gedicht, aus der „Neuen freien Presse“ hier mitgetheilt, möge zu den Herzen unserer Leser so eindringlich sprechen, daß aus ihren immer milden Händen der reichste Segen, den Menschen geben können, über die armen Unglückskinder des Böhmerlands komme. Der „Hülfs-Ausschuß zu Leipzig“ ist bereit, die Gaben zu empfangen und weiter zu befördern.

D. Red.




Nicht zu übersehen!


Mit dieser Nummer schließt das zweite Quartal unserer Zeitschrift. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Die Verlagshandlung.




In einer der nächsten Nummern des neuen Quartals beginnen wir den Abdruck der vortrefflichen Erzählung
„Was die Schwalbe sang“
von Friedr. Spiehlhagen
(Verfasser der „Problematischen Naturen“ - „In Reih und Glied“ – „Hammer und Ambos“ etc.),
auf die wir unsere Leser im Voraus aufmerksam machen; gleichzeitig setzen wir den in jeder Nummer an Spannung gewinnenden Roman
„Die Diamanten der Großmutter“
von Levin Schücking
fort, während selbstverständlich nach wie vor den unterhaltend-belehrenden Beiträgen unseres Blattes die gewohnte Aufmerksamkeit gewidmet wird.

     Leipzig, Ende Juni 1872.

Die Redaction.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.