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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1871
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 8.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die Zuwider-Wurzen.
Eine Geschichte aus den bairischen Bergen.
Von Herman Schmid.
1.

„Kreuz Birnbaum und Hollerstaud’n! Wie lang’ soll denn die G’schicht’ noch dauern? Drunten im Dorf werden’s schon bald das Z’sammenläuten anfangen, und da rührt sich alleweile noch nichts!“ So rief es aus der Stube im Erdgeschosse durch das stattliche Bauernhaus, das in der einsamen Jachenau an dem Abhange liegt, wo es „am Berg“ genannt wird und wo der vom Walchensee herkommende Wanderer, nachdem er die feuchten Waldniederungen und den Erlengrund durchschritten hat, zuerst das ganze grüne Gebirgsthal vor sich hingestreckt sieht wie einen großen, von riesigem Bergzaune umgebenen Rasenplatz. Die Stimme gehörte einem hochgewachsenen, hageren Manne, der den kahlen, nur noch mit einem Kranze weißen Kraushaares umgebenen Kopf durch die Thür in’s Hausfletz gesteckt hatte, das er zugleich mit scharf musternden Blicken überschaute. „Na,“ begann er wieder, „hört denn wirklich Niemand? Wenn’s heut’ nichts mehr wird, so freu’ ich mich auf morgen.“ Er hielt wieder einen Augenblick horchend inne; doch in dem Hause waltete tiefe festtägliche Ruhe, und nur ganz fern ließ sich der gedämpfte Ton von Stimmen vernehmen, aber ununterbrochen durch das Rufen und unbekümmert um den Rufenden. Kopfschüttelnd setzte der Horcher den Finger an den Mund, und ein greller, schallender Pfiff gellte so laut durch den Raum, daß nur ein Todter oder ein vollständig mit Taubheit Geschlagener ihn zu überhören vermochte. Darauf antwortete endlich aus der Entfernung ein Geräusch, als ob eine Thür geöffnet würde, und eine Weiberstimme rief: „Wer schreit denn so unsinnig? Was geit’s denn?“

„Langweilige Weibsbilder geit’s,“ rief der Bauer entgegen. „Ich will gern sehen, ob ich Euch vorspannen muß, damit Ihr mit Eurer Hoffahrt fertig werdet.“

„Wir kommen gleich,“ rief eine Weiberstimme entgegen, hell und wohlklingend, aber doch von etwas gereizter Schärfe im Tone. „Wer’s nit erwarten kann, der soll nur schön langsam vorangehen.“

Der Bauer schien eine zornige Erwiderung auf der Zunge zu haben, besann sich aber anders und brummte halblaut in den grauen Schnauzbart, der in zwei mächtigen Flügeln unter der Nase hing, die aus dem kräftigen Gesichte so stattlich hervortrat, als hätte die Natur versucht, die Felsenvorsprünge der Berge im Kleinen nachzuahmen. Von dem Gemurmel waren nur einige Worte zu verstehen, die sich anhörten wie: „Sakrisches Dirndl das, mit ihrem ewigen Aufbegehren! Sie macht’s doch allemal so!“ Dieses „Allemal“ mochte eben die Ursache sein, daß er das Weitere verschluckte und sich ruhig in das Unvermeidliche ergab; er mochte es so gewohnt sein, dem „Aufbegehren“ auszuweichen, denn trotz der Größe und Stattlichkeit der ganzen Gestalt, welche auf Kraft und Derbheit schließen ließ, war um den Mund ein starker Zug jener lässigen Gutmüthigkeit zu bemerken, der nichts lieber ist als Ruhe und Frieden. Die ärgerliche Aufwallung des Augenblicks war rasch vorüber, und der Bauer setzte sich auf die an der Mauer herumlaufende Bank an den Tisch, auf welchem ein großer Foliant aufgeschlagen war, eine Bibel mit mächtigen Lettern und derben Holzschnitten, welche die heiligen Geschichten in fast handgreiflicher Weise erläuterten. Er nahm die kleine blecherne Zwickbrille, welche zwischen den Blättern lag, setzte sie auf die Nase und begann zu lesen; aber es war ihm nicht möglich, in die rechte Stimmung zu kommen. Er legte die Brille wieder weg, und das unbewaffnete Auge blieb an den Bergen und an dem Landschaftsbilde hängen, das sich vor dem Fenster in der ersten Pracht und unentweihten Herrlichkeit des Frühlings ausbreitete; bald schob er das Buch völlig bei Seite, stand auf und öffnete das Fenster; ein lauer, weicher Luftstrom wogte wie grüßend herein und machte die Weinreben erzittern, die mit den ersten aufbrechenden Blattaugen an dem sonnigen Gemäuer emporrankten.

„Kreuz Birnbaum!“ sagte der Bauer in sich hinein. „Einen so schönen Ostertag hab’ ich nicht leicht gesehen und ein so zeitiges Frühjahr auch nicht. Die Luft ist ja hellicht wie Balsam, die Kirschbäume fangen schon zum Blühen an, auf den Büheln ist’s schon ganz awer und grün, und der Schnee auf den Bergen ist schon so krank, alswie sonst bald um Johanni.“ Er verstummte; das Auge war vollauf mit dem herrlichen Anblick beschäftigt und hatte auch guten Grund, dabei zu verweilen, denn das Bild war von entzückender Schönheit. Ueber den Berghang hinab hatten die frischen Grasspitzen schon ihren lichten, grünen Teppich gewoben, stellenweise unterbrochen durch Büschel gelber Schlüsselblumen oder weißer Schneeglöckchen, so eng und dicht, als hätten sie sich zusammengedrängt, um sich vor der Winterkälte zu schützen, die so lange auf ihnen gelastet. Weithin dehnte sich das Wiesenthal, frisch und saftvoll, und die Bäume dazwischen, wenn auch noch blattlos, waren von jenem unbeschreiblichen grünen Schein überflogen, der ein untrüglicher Bote des Frühlings ist. Selbst das Schwarz der Tannen war milder geworden von dem ersten Hervorbrechen [122] der jungen Sprossen. Hier und da aber streckte sich ein schlanker Kirschbaum, über und über mit weißen Blüthen bedeckt, empor, daß er aussah wie ein großer Blumenstrauß, der an eine Stange gebunden worden, damit er weiterhin sichtbar sei und verkünden sollte, daß sie wirklich wieder gekommen, die Zeit des Keimens und Blühens. Rings nach allen Seiten hin drängten sich die Berge heran mit den Wäldern am Fuße, den Felsen am Gürtel und der Eiskrone auf den Häuptern; wohl starrten die weißen riesigen Massen noch weithin in furchtbarer Unbeweglichkeit, aber hier und da hing es doch schon wie gelöstes Silberhaar in abrollenden mächtigen Streifen herunter oder Blöcke lagen in dem Dunkelgrün der Wälder wie Splitter eines zersprungenen Krystalls. Zur Linken zog sich der Bergstock hin, welcher gegen die Ebene hinaus in der Benedictenwand abstürzt, ein majestätischer, ununterbrochener Felsgrat, in wunderlichen Zacken fortlaufend von der Rabenklamm bis zum Latschenkopf und Waxenstein, zu welchen die bewaldeten Vorberge und Thalhügel allmählich wie gewaltige Stufen emporstiegen; rechts erhob sich der Bergrücken, welcher das Flußbett der Jachen von dem der Isar scheidet und sich so hoch emporstreckt, als wollte er die höheren, aber entfernteren Häupter und Schrofen der angrenzenden Tiroler Berge verhindern, durch die Lücken in Wald und Fels neugierig herüberzulugen – über Allem lag blau und klar der Morgenhimmel, und die Frühlingssonne goß ihre Strahlen so mild hernieder, daß am Bienenstande an der Seitenwand des Hauses die Bienen aus den Fluglöchern hervorkamen und die lange nicht gebrauchten Flügel zur Wanderung einzuüben begannen, während am Dachgebälke über ihnen zwitschernde Schwalben so hastig ein- und ausschossen, als könnten sie den Zeitpunkt nicht erwarten, wann das Nest fertig sein werde.

Geraume Zeit hatte der Bauer in Sinnen und Schauen so gestanden und zuletzt wie andächtig die Hände ineinander gelegt. Es kam ihm vor, als stünde er an der Schwelle eines großen Tempels und warte des Augenblicks, in welchem ein wundervoller, geheimnißreicher Gottesdienst beginnen sollte. Feierliche Glockentöne, welche auf den Flügeln der Morgenluft heranschwebten, weckten ihn aus seiner Beschaulichkeit, aber nur um die alte Stimmung und den alten Unmuth wieder hervorzurufen. „Nein, jetzt ist’s aber nimmer zum Aushalten,“ murrte er, „wie lang’ die Weiberleut’ brauchen – jetzt nutzt nichts mehr, jetzt muß ich schon mit einem Donnerwetter dazwischenfahren.“

Mit weit ausgeholten Schritten eilte er zur Thür, kam aber nur bis in die Mitte der Stube, denn mit einem Male flog die Thür auf, daß sie krachend an der Wand anschlug, und im vollen Sonntagsstaate, dem nur noch der Hut fehlte, kam eine alte Frau fliegenden Athems und mit hochgeröthetem Gesichte herein, während von draußen Klirren und Getöse hörbar wurde, als würden Töpfe auf das Pflaster geschleudert, und eine Thür flog dröhnend in’s Schloß, daß die Balken des Hauses schütterten.

„Kreuz Birnbaum und Hollerstauden!“ rief der Alte wieder. „Wie geht’s denn heut’ auf dem Kurzenhof zu? Das ist ja ein Lärm wie bei einer Hexenfahrt.“

„Was wird’s geben?“ erwiderte die Frau, indem sie sich auf die Ofenbank niederfallen ließ, als wenn sie nicht mehr zu stehen vermöchte. „Geärgert hab’ ich mich wieder einmal, daß mich die Füße nicht mehr tragen. Hast schon Recht, daß es zugeht wie bei einer Hexenfahrt, ist aber kein Wunder, wenn man die Hex’ im Haus hat.“

Dem Bauer war das nichts Neues; er fragte nicht weiter, sondern wußte sogleich Bescheid. Die beiden Daumen in den über seiner Brust gekreuzten Hosenträger steckend, ließ er die Finger auf der Stickerei spielen, die mit Pfaufederstiften darauf angebracht war. „So, so,“ sagte er, „die Stasi? Was hat denn das Deandl nachher schon wieder, daß sie nit amal am heiligen Ostertag eine Ruh’ giebt?“

„Ja, was fragt die nach Ostern!“ war die Antwort. „Es ist ein alter und wahrer Spruch: ,Je heiliger die Zeit, je schlimmer die Leut!‘ Was wird sie haben? Die Weih’ will sie nit hinuntertragen in die Kirch’, weil sich das nit für die Tochter vom Haus gehört, weil das eine Arbeit sein soll, die einer Dirn’ zugehört oder einer Bauernmagd.“

„Ah, wär’ ja doch aus!“ rief der Bauer verwundert. „Und wegen so was schlagt sie einen solchen Spectakel auf? Ist denn das Dirndl völlig des Teufels mit seinem Hochmuth?“

„Ach was, der Hochmuth ist es nit bei ihr; es ist nur ihr böser Humor! Sie thut’s nur mir zum Trotz und Widerspruch, weil ich gesagt hab’, sie soll die Weih’ ’nuntertrag’n in die Kirch’, und wenn ich gesagt hätt’, jemand Anderer sollt’s thun, dann wär’ihr das auch nit recht gewesen. Sie muß amal ’was zum Dispetir’n haben! Na, dem Mann gratulir’ ich, der die einmal zur Frau kriegt; der hat’s auch im Mutterleib schon verschuld’t! Aber ich hab’ Dir’s oft gesagt, Lipp-Bruder, hab’ ich gesagt, leid’ ihr den schiechen Humor nit und thu’ dazu, solang das Bäumel noch zum Biegen ist. Aber Du hast ja nie ’was davon hören wollen; das Dirndl ist Dir an’s Herz gewachsen und hast von jeher in sie hineingeschaut wie in einen Spiegel – jetzt hast es; jetzt ist es zu spät dazu.“

„Zu spät?“ rief der Bauer, indem er sich in seiner ganzen Länge aufrichtete. „Ha, was nit gar! Dazu ist’s niemals zu spät, und was sich nimmer biegen will, das kann man brechen.“

„Darauf bin ich neugierig,“ sagte die Frau mit Achselzucken, „wie Du das anstellen willst, Lipp. Mit einem guten Wort wickelt sie Dich wieder um den Finger, und Du hast schon gar keine Zeit mehr dazu. Da unten fangen sie schon mit dem Zusammenläuten an, wir brauchen allemal ein halbes Stündl hinunter in’s Dorf, und besonders heut’, wo die Leut’ aus der ganzen Gegend kommen, sollten wir vor Allen da sein, sonst können wir gar nit mehr in die Kirch’ hinein.“

„Richtig,“ rief der Bauer. „Auf das hätt’ ich bald vergessen. Wie ist’s denn mit dem Osterbock? Der wird doch in Ordnung sein?“

„Da brauchst nit zu fragen,“ erwiderte die Bäuerin mit überlegenem Selbstgefühl. „Den Osterbock hab’ ich besorgt, und wenn ich mich um ’was annehm’, nachher weißt Du, daß es besorgt ist. Heuer ist der Osterbock bei uns, und ich hab’ es schon gerichtet, daß er dem Kurzenhof am Berg kein’ Schand’ macht! Draußen ist er auf dem Wägel; Du kannst nix Schöneres sehen, aber die anderen Sachen alle, die man an einem solchen Tag in einem christlichen Haus weihen laßt, damit bei der Gottesgab’ auch der Segen Gottes bleibt das ganze Jahr, das Geselchte und die rothen Eier und das Milchbrod, sie liegen in der Küch’ auf dem Boden herum, denn die Stasi hat die Schüssel auf den Herd hineingestoßen, daß sie in Trümmer gegangen und Alles nur so herumgekugelt ist. Ich bin fort, daß ich’s nit mehr mit hab’ anschaun müssen! Jetzt kannst Du Deine Herrlichkeit probiren und sehn, was Du mit dem geschupften Dirndl ausrichten kannst.“

„Das will ich auch,“ sagte der Bauer, indem er den langen grünen Rock mit den gelb ausgenähten Knopflöchern vom Nagel herunternahm und sich den niedrigen grasgrünen Hut mit den breiten Bändern auf den Kopf stülpte. Er kam aber nur mit einem Arm in dem weißen Leinenfutter des widerspenstigen Aermels zurecht und rief in steigendem Unmuth: „No’, will mich der Kittel auch noch ärgern? Ich will jetzt einmal zeigen, wer der Herr im Haus ist, ich will dem grantigen Ding den Kopf zurecht setzen!“

„No’, da bin ich, Vater,“ unterbrach ihn das Mädchen, das während der letzten Reden in der offengebliebenen Thür erschienen und auf der Schwelle stehengeblieben war. „Wenn Du mir mein’ Kopf z’recht setzen willst, was hast denn nachher an mir ausz’setzen?“

Der Bauer, schon durch die unerwartete Unterbrechung überrascht, war es noch mehr durch den Anblick des Mädchens, der ganz dazu angethan schien, daß es schwer war, etwas in Wirklichkeit daran auszusetzen. Das Mädchen war sich dessen wohl bewußt. Wie herausfordernd hatte sie den einen Arm auf die Hüfte gestemmt, während der andere die blendend weiße spitzenbesetzte Schürze halb aufzog, als schicke sie sich an, den bevorstehenden Tadel darin aufzulesen. Dem Alten blieb, wie schon einmal, das Wort im Munde stecken. Mit unverkennbarem Wohlgefallen hing sein Auge an dem lieblichen Gesichte und der ganzen gewinnenden Erscheinung des Mädchens. Stasi war wirklich eine Gestalt, welche als Urbild zu dem bekannten und überall verbreiteten Gemälde dienen konnte, auf welchem ein Jachenauer Mädchen in vollem Staate, auf die gekreuzten Arme gestützt, aus einem mit Reben umwachsenen Fenster schaut, als warte sie des Burschen, der würdig sei, sie zum Tanze zu führen und zum Altar. Stasi trug noch ganz die Tracht der damaligen Zeit, die jetzt nur noch in schwachen Ueberresten vorhanden ist – es mögen nahezu vierzig Jahre sein, seit die Geschichte sich zugetragen hat –, ihr reiches, nußbraunes

[123] Haar war in kunstreiche Zöpfe geflochten, welche sich breit an die vollen rothen Wangen anschlossen und dann umgeschlagen und unter dem Hute festgesteckt waren, dessen breite, inwendig mit blaßrother Seide gefältelte Krempe keck auf dem wohlgerundeten Kopfe saß und das leicht beschattete Gesicht mit einem gefälligen Widerscheine überzog, von welchem wieder die breiten, rückwärts herabhängenden und dann nach vorn gezogenen Bänder mit ihrem frischen Grasgrün und den Goldfransen sich angenehm abhoben. Das schwarze mit glänzenden Silberketten reichverschnürte Mieder ließ durch seine Knappheit ebenso die Schlankheit des Wuchses, als die anmuthige Fülle der Gestalt erkennen, und die weißen bis an die Mitte des Oberarmes reichenden Aermel dienten mit ihren breiten Falten ebenfalls dazu, die kräftige Rundung der Arme hervortreten zu lassen, welche der feinsten Städterin nicht zur Unehre gereicht hätten, wenn auch die Farbe die arbeitsgewohnte Tochter der Berge nicht verkennen ließ.

„No’, was ist’s, Vater?“ fragte sie wieder, als der Bauer noch immer nicht die rechten Worte zu finden schien, die angedrohten Vorwürfe darin zu kleiden. „Gewiß hat mich die Mahm’ (Base) wieder bei Dir verklamperlt!“

„Ach, was braucht’s da zu verklamperln,“ rief der Bauer, „wo man selber Ohren hat? Ich hab’ die Schüssel klappern und die Thür zufliegen hören, daß das ganze Haus gezittert hat. Du solltest schon lang unterwegs sein, und jetzt hast die Schüssel mit der Weih’ zerschlagen …“

„Ich, Vater?“ unterbrach ihn das Mädchen, über dessen reizende Züge ein trüber Schatten flog, wie Regenschauer über eine blühende Landschaft. „Ich soll die Schüssel zerschlagen haben? Na, was wird man mir noch Alles aufhalsen! Kann ich dafür, daß die Schüssel nichtsnutzig war? Ich hab’ sie nur ein Bissel fest auf den Herd hingestellt, da ist sie gleich auseinandergegangen.“

„Nit wahr ist’s,“ fiel ihr die Frau von der Ofenbank her in’s Wort. „Eine eiserne Schüssel mußt’ brechen, wenn man sie so aus Leibeskräften aufstoßt, wie Du in Deinem Zorn gethan hast.“

„So?“ entgegnete das Mädchen, dessen blaue Augen in unheimlichem Lichte zu funkeln begannen. „Da soll ich wohl nit in Zorn kommen? Ich soll wohl ein Stock sein und still halten und auf mir trommeln lassen? Kann ich dafür, wenn mich die Mahm’ alleweil zum Zorn reizt?“

„Kreuz Birnbaum!“ rief der Bauer dazwischen. „Werdet Ihr bald still sein und mich auch zum Wort kommen lassen? Die Schwester hat ganz Recht! Was brauchst Du darüber so aus’m Häusel z’kommen? Sie hat nichts Unrecht’s verlangt, wenn sie sagt, daß Du die Weih’ in die Kirch’ tragen sollst – davon wär’ Dir kein’ Perl’ aus der Kron’ gefall’n; das thut überall die Frau oder die Tochter oder sonst die Fürnehmst’ im Haus.“

„Meinetweg’n!“ rief Stasi, deren Wangen sich immer mehr rötheten und deren Stimme immer schärfer klang, „und wenn’s überall so der Brauch ist, so seh’ ich noch lang’ nit ein, warum ich ’was darnach fragen soll! Ich sag’: Der Dirn’ oder Magd kommt’s zu, die schwere Schüssel zu schleppen auf dem weiten Weg’ in die Kirch’ hinunter – und ich will nit, und ich mag nit, und wenn ich’s einmal sag’, so geschieht’s auch nit! Ich will’s nit riskir’n, daß mich das rußige G’selchte oder die schmierigen Eier an mein schön’s Corset’l hinkommen und mir Flecken hineinmachen.“

Die Frau war von der Ofenbank aufgestanden, hatte beide Arme in die Hüften gestemmt und sah nun den allerdings etwas verblüfft dastehenden Bauer mit mitleidigen Blicken an. „No’, was stehst jetz’ da, wie ein Spatzenschrecker, und hörst zu und sagst kein Wort? Du sollt’st Lapp heißen, anstatt Lipp. – Ist dies das Donnerwetter, mit dem Du dem Madl den Kopf zurecht setzen willst?“

„No ja,“ antwortete der Bauer, „ich kann ihr den Kopf doch nit gleich abreißen deswegen! Wenn sie halt die Schüssel durchaus nit tragen will, so ist ja der Welt auch noch nit der Boden aus! Könnt’ ja auch sein, daß sie sich schmutzig macht, und dann weiß ich wirklich nit, warum die Gretl oder die Ursch die Geschicht’ nit auch hinuntertragen kann in die Kirch’!“

„Aha, blast der Wind schon daher?“ rief die Frau. „Hab’ mir’s zuvor eingebildet – aber ich will mich nimmer dareinmischen; ich weiß deswegen doch, was Brauch ist in einem richtigen Jachenauer Bauernhaus! Ich gehör’ auch zum Haus, Gott sei Dank, und solang ich hergehöre, soll beim Kurz am Berg auch geschehn, was da Brauch ist!“

Sie verließ eiligen Schrittes die Stube; das Mädchen aber nahm ihre Stelle auf der Ofenbank ein, als wäre sie angegriffen, und hielt die Schürze vor die Augen, wie wenn sie bitterlich weinte.

„Geh’ doch, Stasi, sei gescheidt!“ sagte der Vater, indem er hinzutrat und ihr begütigend die Hand auf die Schulter legte. „Thu’ Dich nit kränken derentwegen!“

„No’ ja, da sieht’s der Vater,“ schluchzte das Mädchen, „wie die Mahm’ mit mir umgeht! Ich bin die gute Stund selber; aber sie giebt nit eher nach, als bis sie mich auseinander bringt.“

„Laß’ es nur gut sein,“ sagte der Vater und streichelte der verzogenen Tochter die Wange. „Du kennst sie ja, wie sie ist; sie meint halt, es muß Alles nach ihrem Kopf gehen – sonst aber ist sie auch seelengut und thät’ für Dich in’s Feuer gehen. D’rum thu’ Dich nit ärgern deswegen! Die Weih’ wird schon hinunterkommen in die Kirch’, und ich werd’ schauen, wie ich Dir dafür wieder einmal eine Freud’ machen kann.“

Stasi schwieg. Weder das Zureden, noch die Liebkosungen des Vaters waren vermögend, ihren schmollenden Trotz zu entwaffnen.

„Geh’, red’! Sei nicht so bockisch!“ fuhr er wieder fort. „Sag’, was Du willst, sag’, mit was ich Dir eine Freud’ machen kann, und hör’ mir nur mit dem dummen Geflenn auf! Du hast neulich einmal an dem grünseid’nen Fürtuch so ein’ Wohlgefallen gehabt –“

„O nein, Vater,“ erwiderte das Mädchen etwas umgestimmt und trocknete die Augen, die in Wirklichkeit kaum naß geworden waren. „Was liegt mir an dem Fürtuch! Ich hab’ nit mehr d’ran denkt, und es ist mir selbiges Mal nur so durch den Kopf gegangen, wie ich in Tölz gewesen bin und beim Seidenkramer gesehen hab’, daß der Wirth vom Fall seiner Tochter gerade einen solchen grünen Zeug gekauft hat. Das dumme Ding bildet sich ein, daß ihr die Farb’ gut stehen thät’ zu ihrem gelben Gesicht! Da hab’ ich mir freilich denkt: Was die Wirthstochter vom Fall haben kann, könnt’s der einzigen Tochter vom Kurz am Berg auch leiden … aber ich hab’ mir’s schon lang’ wieder aus’m Sinn geschlagen.“

„Brauchst Dir’s nit aus dem Sinn zu schlagen, Stasi,“ rief der Bauer vergnügt; „sollst es haben! Gleich morgen spannen wir ein und fahren nach Tölz hinein zum Seidenkramer und kaufen einen solchen Zeug zu einem Fürtuch und zu einem Corset noch dazu! Wenn’s der Wirth vom Fall zahlen kann, werd’ ich mich auch nit spotten lassen. Aber jetz’ mach’, Stasi, daß wir weiter kommen! – sei gut, thu’ in Dein Tüchl hauchen und druck’s an die Aug’n, daß die Leut’ nit sehn, daß Du geweint hast, die bilden sich sonst gleich allerhand ein. Machen wir uns auf den Weg, die Schwester wird schon nachkommen.“

Endlich schien es dem schönen Trotzkopf gefällig, sein Spiel zu enden; sie schob das Thränentüchlein in die Schürzentasche, strich mit der einen Hand die Fransen des buntseidenen Tuches, das ihren Hals bedeckte, zurecht und drückte mit der anderen den Hut, indem sie einen Blick in den kleinen Spiegel warf, der neben dem Wandkästchen am Eingang unter dem Weihbrunnkesselchen hing. Sie schien mit dem Gesehenen zufrieden zu sein und trat eben mit dem Vater in’s Fletz, als durch dasselbe die Mahm’ geschritten kam, nun auch mit dem grünen Hute bedeckt, begleitet von ein paar ebenfalls aufgeputzten Mägden, in den beiden Händen eine mächtige Schüssel tragend, in welcher, zierlich geordnet und mit Blumen besteckt, die Gegenstände aufgeschichtet lagen, welche die österliche Weihe erhalten sollten. Von einem Kranze roth gefärbter Eier wie von Rosen umgeben, ruhte im Grunde der Schüssel ein mächtiger Laib weißen Brodes, auf welchem sich ein Stück Rauchfleisch, ein Paar Speckseiten und geselchte Würste zierlich geschichtet und verschlungen aufthürmten. Ein mächtiger Schinken, am Knochen mit einer Papierkrause geschmückt, ließ unter der zurückgeschlagenen Schwarte die lockende Rosenröthe seines Anschnitts erblicken, denn das mußte sein, damit nach dem Volksglauben die Weihe im Stande sei, in das Innere einzudringen. Hoch über Allem, wie die siegende Unschuld über dem Laster, thronte ein schneeweißes, aus Butter geformtes Osterlamm in ruhig kauernder Stellung, ein kleines Kreuzlein in den Klauen

[124] festhaltend, mit einem rothen Seidenlappen daran, der das Osterfähnlein bedeuten sollte.

Einen Augenblick hielt Stasi den schon zum Fortschreiten gehobenen Fuß inne; dann stürzte sie gleich einer vorspringenden Katze in aufloderndem Zorne auf die feierlich einherschreitende Trägerin zu und faßte sie am Arme, daß die zierliche Last, die sie trug, abermals in bedenkliches Schwanken gerieth. „Ja was soll denn das heißen?“ rief sie mit kreischender Stimme. „Will etwa gar die Mahm’ selber die Weih’ in die Kirch’ tragen?“

„No’ warum denn etwa nit?“ erwiderte diese. „Die Schüssel hat keine Füß’, daß sie selber hinuntergeh’n könnt’; also muß doch wer sein, der sie ’nuntertragt!“

„Die Magd soll’s thun, hab’ ich gesagt!“ rief Stasi zornig. „Eine von den Dirnen soll’s tragen, und wenn ich’s sag’, so muß es auch geschehn!“

„Aber Kreuz Birnbaum!“ fiel ihr der Vater ins Wort. „Fang’ doch nit schon wieder einen Lärm an wegen nichts und wider nichts! Bei Dir weiß man wirklich niemals, wie man d’ran ist mit Dir. Du bist ja wie das Windfahnl auf’m Dach.“

„So ist’s recht, Vater!“ keifte die Tochter. „Hilf’ noch dazu! Es ist noch nit genug, daß mir die Mahm’ Alles zum Trotz thut, helft nur zusammen, damit Ihr mich unterdrücken könnt! Aber ich lass’ mich nit unterdrücken! Hast Du nit selber gesagt, Vater, daß es immer die Fürnehmste im Haus sein soll, die die Weih’ tragt? Es ist wohl ein dummer Brauch, wenn’s so ist; aber wenn’s einmal keine Magd sein soll, dann kommt’s mir zu; denn die Fürnehmste im Haus – die bin ich!“

Damit hatte sie die Schüssel ergriffen und zog sie mit beiden Händen so heftig an sich, daß die Mahm’ sie ihr überlassen mußte, wenn sie nicht wollte, daß Eier, Brod und Butterlamm abermals mit dem Boden Bekanntschaft machen und für ihren Zweck ganz untauglich werden sollten. Im nächsten Augenblick war Stasi bereits aus der Thür, unbekümmert um die Base, welche die so unvermuthet freigewordenen Hände wortlos über den Kopf zusammenschlug, während der Bauer den seinigen bedenklich schüttelte, sonst aber wie unbeweglich dastand, als wäre er über dem Anblick zu Stein geworden. Die Zunge war es, die zuerst wieder Leben gewann. „Schau, schau,“ sagte er, „so hat sie sich doch noch resolvirt, daß sie die Weih’ tragt – da hätt’ es also den ganzen Streit nit gebraucht! Ich sag’s ja alleweil, die Stasi ist schon recht; es ist schon auszukommen mit ihr, man muß nur verstehn, wie man’s anstellen muß! Aber alterir’ Dich nit, Schwester, und mach’, daß wir nachkommen, und nit gar mit dem Osterbock uns versäumen!“

Vergnügt eilte er aus dem Hause; unwillig folgte die Schwester. „Ich glaub’, er freut sich auch noch, der Lapp,“ rief sie, indem sie die Thür zuschlug und abschloß. „Da heißt’s wohl: Jedem Lappen gefällt seine Kappen – aber meinetwegen! So hart als es mich ankommen thät’, wenn ich von der Heimath weg soll, in der ich geboren und aufgezogen bin – aber wenn das Dirndl nit anders wird, so geh’ ich aus dem Haus.“

Flüchtigen Schrittes und ohne umzublicken, war Stasi inzwischen den Bergabhang hinabgeeilt, an der tiefen Niederung vorüber, welche zur rechten Seite abfällt und sich ansieht, wie das verlassene und übergrünte Becken eines ausgeflossenen Sees. Sie war schon nahe an dem Bühel, wo unter einer anmuthigen Gruppe von Bäumen und allerlei Gebüsch das Kramerhaus sein Kaufmannsschild und das bunt mit Waaren besetzte Ladenfenster zeigt – eine befremdliche Erscheinung in dem einsamen Thale, dessen Bewohner fast alle weit zerstreut in einzelnen Höfen und Sitzen hausen und durch das nur im Sommer die einzelnen Wanderer ziehen, welche die Natur anlockt und die gewaltige Bergeinsamkeit. Gegenüber zieht sich der Weg durch eine kleine Höhlung, an deren Hängen üppige Haselsträuche mit Schlehenstauden um den Vorrang kämpfen; dazwischen hängt der Weinschörl im Sommer seine rothen Dolden neben dem Pfaffenkäpplein auf, der Wildhopfen webt seine Ranken darüber hin, oder die wuchernde Zaunrübe breitet ihren erstickenden Mantel aus, um die buntgefiederten Blüthen darauf ungestört entfalten zu können. Der Weg wendet sich dort um eine Ecke und senkt sich zugleich so rasch, daß ein Fehltritt leicht möglich ist, auch wenn die Geleise desselben minder holprig und die Steine in demselben weniger groß und zahlreich wären. Mit fliegendem Athem und noch immer glühenden Wangen schritt Stasi heran und achtete der Begegnenden nicht, die auf einzelnen Seitenpfaden näher kommend ihr mit Mund und Hand schon aus weiter Ferne vergebliche Grüße zuriefen und zuwinkten; sie achtete auch nicht auf den Weg; denn zum ersten Unmuth war der zweite gekommen, daß die Schüssel in ihren Händen anfing, schwer und unbequem zu werden, und sie sich selbst ausschalt, sich mit einer solchen Bürde beladen zu haben; es fehlte nicht viel, so hätte sie die Schüssel am nächsten besten Platze niedergestellt und unbekümmert ihrem Schicksal überlassen. So kam es, daß sie am Eingange des Hohlwegs auf einen lose liegenden Stein trat, der unter ihrem Schritte zu rollen anfing und sie aus dem Gleichgewichte brachte; der Fall war unvermeidlich, weil sie mit den Händen sich nicht anzuhalten vermochte, in denen sie die Weihschüssel festhielt. Sie wäre sicher hart zu Boden gestürzt und hätte sich vielleicht empfindlich wehe gethan; aber mitten im Taumeln und Schwanken fand sie sich plötzlich unterstützt und von einem kräftigen Arm, der sich von hinten um ihre Hüfte legte, festgehalten, daß sie augenblicklich das Gleichgewicht wieder fand. Verwundert blickte sie um sich und schaute in ein zwar stark gebräuntes, aber männlich schönes Angesicht, auf einen lächelnden Mund, der unter dem Schnurrbart ein Paar blendender Zahnreihen zeigte, und in ein Paar braune Augen, die auf sie so herzlich herniederschauten, daß hinter ihnen die ganze Seele offen dalag.

„Oho, schön’s Dirndl!“ rief der Bursche lachend mit einer Stimme, deren Kraft man es anhörte, daß sie wohl geübt war, während ein gewisser Wohlklang zugleich auf den Gedanken brachte, daß unter den Uebungen auch der Gesang nicht fehlen mochte. „Dösmal bin ich ja gerade recht vom Himmel heruntergefallen, sonst hättest Du ein’ Himmelfahrt gemacht.“

(Fortsetzung folgt.)


In der „Todtenstadt“ von Paris.

Die Friedhöfe von Paris haben in den letzten Monaten eine fürchterliche Ernte gehalten, Gräber um Gräber haben sich in endlosen Reihen aneinander geschlossen und viele hundert Hände waren unermüdlich thätig, die beklagenswerthen Opfer einer jammervollen Zeit in die kalte festgefrorene Erde zu betten. Hunger, Elend, Krankheit, Kälte haben sie zu vielen Tausenden dahingerafft, und während der Feind vor den Wällen der Riesenstadt immer gewaltiger um Einlaß pochte, ging drinnen der Tod in seiner schrecklichsten Gestalt von Haus zu Haus, und die Straßen, welche zu den Kirchhöfen von Paris führen, zum Père Lachaise, Montmartre, Montparnasse und den andern kleineren, wurden nicht leer von Jenen, die, selbst hohlwangig und bleich, auf Augenblicke die eigene Noth vergaßen, um den Heimgegangenen die letzte Ehre zu erweisen.

Viele Besucher von Paris, welche durch die Rue Roquette dem berühmtesten der Pariser Kirchhöfe zugeschritten sind, haben es nicht ohne Tadel hervorgehoben, wie der Franzose selbst mit dem Tode noch Luxus treibt und selbst hier noch eine gewisse Coquetterie zeigt, welche auf die Thränen und den Schmerz der Hinterbliebenen speculirt. Coquett werden alle jene Läden genannt, welche sich zu beiden Seiten der Rue Roquette hinziehen und in ihren Auslagen Grabsteine, Urnen, Kreuze, Gitter, Kränze der verschiedensten Art, von den verschiedensten Formen und den mannigfaltigsten Farben zum Verkaufe bieten. Der Wunsch zu gefallen, dem Auge Schönes zu bieten, tritt selbst hier zu Tage, wo man jede eitle Regung zurückgetreten erwarten sollte, und indem der Verkäufer jener Waaren dem flüchtigen Sinne des Käufers, des Trauernden, des Leidtragenden schmeichelt, wird er selber zum Speculanten, der aus dem Schmerze Anderer Capital zu schlagen sucht. Es ist wohl anzunehmen, daß die Ereignisse der letzten Monate auch hier eine gründliche Aenderung, wenn auch nur vorübergehend, hervorgerufen haben, und den unglücklichen Einwohnern von Paris wird zuletzt nichts übrig geblieben sein, als den Tod wirklich in seinem ganzen Schrecken hinzunehmen und ihm mit seinem ganzen Entsetzen in das unbarmherzige Auge zu sehen.

Kam doch nicht einmal die Natur zu Hülfe, das unsägliche Elend zu mildern und zu verhüllen. Wie herrlich, wie schön breiten

[125]

Vom Père Lachaise. Originalzeichnung von Olaf Winkler.

     Bellini. Chopin.     
 Beranger.      Molière.      Lafontaine.      Talma.

[126] sich sonst diese schattigen Parkpartien des Père Lachaise aus, mit ihren Säulen, ihren Platanen, ihren Sykomoren, ihren Pappeln, ihren Cypressen und mit all’ den Blumen, welche fromme Hände gepflanzt haben. Der Anblick des Père Lachaise ist wie der aller Pariser Kirchhöfe heiter und lächelnd im Frühling, im Sommer, im Herbst; im Winter aber ist Alles traurig, ist es selbst dieser schöne Kirchhof Père Lachaise. Weiß und kalt liegt die Schneedecke auf den Gräbern ausgebreitet, die Bäume, die Büsche, die Gesträuche stehen kahl und die entblätterten Alleen heben sich in einem unheimlichen, feuchtglänzenden Schwarz von dem hellen Hintergrunde. Die Tausende von Denkmälern sind von der unerbittlichen Hülle des Winters zugedeckt, der Marmor, der sonst so lieblich aus seiner grünen Umgebung hervorleuchtet, sieht kalt und frostig darein und selbst jene herrliche Aussicht, die man von „La Chapelle“ über das endlose Häusermeer von Paris, über seine Paläste, Säulen, Thürme, Boulevards und Plätze hat, ist verschwunden und durch einen häßlichen, grauen Nebel dem Auge entzogen. Ob auch hier die vielgerühmte Treue, welche die Pariserinnen dem Andenken der Heimgegangenen widmen, Wahrheit geblieben ist, wenn der Kanonendonner sich in das unterdrückte Weinen und in das Gebet der das offene Grab Umstehenden mischte und ein feindliches Geschoß zerschmetternd auf das Haus niederfallen konnte, das man eben erst verlassen?

Der Père Lachaise ist der Platz, auf welchem sich die Geschichte Frankreichs in den letzten achtzig Jahren am besten studiren läßt. Es sind, wie die Pariser stolz behaupten, mehr als tausend Steine hier zu finden, deren Namensinschriften den Ruhm Frankreichs verkünden: Feldherren, Staatsmänner, Politiker, Dichter, Künstler – die nach vielen Tausenden zählenden Gräber, welche in den letzten Monaten aufgeworfen worden sind, sind es aber vor Allem, welche gewiß die erschütterndste Geschichte von dem Unheil schreiben, welches die französische Nation gegenwärtig über sich selbst heraufbeschworen hat, und wenn auch die armseligen kleinen schwarzen Kreuze, welche die meisten dieser Gräber schmücken, schon nach wenigen Jahren wieder ausgerissen und auf die Seite geworfen sein werden – in den Herzen der Pariser wird die Erinnerung daran haften bleiben und man wird von diesen Hingeopferten noch nach Jahren ebenso gut und mit demselben Rechte sprechen, wie von den Soldaten, welche der bethörte Kaiser auf die Schlachtbank geführt hat.

Um den Kirchhof Père Lachaise zu durchwandern, bedarf man nahezu drei Stunden, und sich in seinen vielen gewundenen Gängen und Alleen zurecht zu finden, ist bekanntlich ein Führer nöthig. Wir wissen nicht, ob der oben angeführte Ausspruch der Pariser von den „mehr als tausend Ruhmeszeugen“ wörtlich zu nehmen ist; immerhin ist und bleibt der Père Lachaise einer der merkwürdigsten und bedeutungsvollsten Punkte in Paris, und kein Besucher der französischen Hauptstadt wird diese verlassen, ohne vor dem Grabmale Abälard’s und Heloisens und so vielen anderen noch berühmteren gestanden zu sein, ohne durch die Gassen und Straßen gewandert zu sein, welche von den monumental gestalteten Todtenhäusern zur Rechten und Linken gebildet werden und welche dem Père Lachaise den Namen einer „Todtenstadt“ zugezogen haben. Auch unserer Armee wird es – so hoffen wir – noch vergönnt sein, die Straßen der „heiligen Stadt“ zu betreten, und so wird denn gar mancher schlichte deutsche Soldat auch die Rue Roquette hinaufschlendern und mit Staunen den Eindruck empfangen, welchen der Anblick dieses ungeheuren Kirchhofs hervorruft. Nicht Wenigen derselben wird es gegenwärtig sein, wie die Asche so vieler berühmter Todten hier ruht, und sie werden ihre Schritte deren Gräbern zuwenden, die, wie alles Große, meist durch prunklose Einfachheit ausgezeichnet sind. Wir haben schon wiederholt in früheren Jahrgängen der Gartenlaube Abbildungen aus dem Père Lachaise und eingehende Beschreibungen desselben gebracht und beschränken uns deshalb hier auf die Schilderung der wenigen Grabstätten, welche wir heute unseren Lesern, freilich im Schmucke und in der Poesie des Sommers, der Alles, auch die Kirchhöfe verschönt, vorführen.

Ein breiter Weg in dem Père Lachaise geleitet da, wo die Treppen zu la Chapelle hinaufführen, rechts ab zu einer großen Gruppe von Monumenten, unter denen Koryphäen der Kunst, namentlich der Musik, ruhen, und von denen zwei sich auf unserer Illustration befinden: das Monument Bellini’s und das Talma’s. Das Grabmal des Componisten der „Nachtwandlerin“, der „Montecchi und Capuletti“ und der „Norma“ lenkt schon von Weitem die Aufmerksamkeit auf sich; es ist bis in das Kleinste mit vollendeter Schönheit ausgeführt, und auf dem Monumente, das mit der Portraitbüste Bellini’s geschmückt ist, hält der Genius der Tonkunst Wache. An Herold, Kreutzer und Mehul vorbei kommen wir zu der ernst-einfachen Ruhestätte des berühmten tragischen Schauspielers Talma. Seine geniale Strebsamkeit, sein umfassendes Wissen, seine Bedeutung als Schauspieler wie als Reformator in gewissen Zweigen seiner Kunst sind bekannt; er war ein Liebling Napoleon’s, der ihn gern um sich hatte und den er selbst nach Dresden und Erfurt begleiten mußte. Sein Denkmal trägt in großen Zügen Nichts, als seinen Namen: Talma. – Son nom fait ses éloges – sein Name verkündet seinen Ruhm.

Nicht weit von ihm, zunächst bei Boieldieu und Cherubini, liegt Chopin, der schwermüthige und zugleich bizarre Musiker, der, ein geborener Pole, in seiner Jugend von der russischen Regierung verbannt wurde, um nach mancherlei Wanderzügen hier in Paris eine zweite Heimath zu finden und zu sterben. Sein Grabmal ist einfach und schön, über dem Steine trauert in ähnlicher Ausführung, wie bei Bellini, die Göttin der Musik, Haupt und Arme hängen schlaff herab und schwermüthig-ernst blickt sie vor sich nieder. Es ist, als rührten leise Schwingen sich um ihr Haupt, als umklängen sie leise Töne, denen sie in stillem Schmerze lausche.

Weit entfernt von dem eben genannten stoßen wir auf ein Doppelgrab, das die Namen zweier wahrer Geistesheroen zeigt: Molière und Lafontaine – der Eine Frankreichs berühmtester Lustspieldichter, der Andere sein berühmtester Fabeldichter. Von einem gemeinsamen Gitter umschlossen, ruhen die beiden Steinsarkophage auf erhöhten Piedestalen, zwischen die ein dunkel glänzender Lorbeer seine Zweige streckt, als sinne er nach, welchem von den Beiden er sie reichen solle. Nicht die Asche der beiden Todten ruht hier, nur ihre Sarkophage wurden hier aufgestellt; ihre Gebeine sind zerstreut: die Kinnlade Molière’s befindet sich bekanntlich im Hôtel de Cluny, wo sie in dem schönsten aller Zimmer auf dem prachtvollen Bureau des Marschall von Crégui ruht.

Ein seltsames Geschick hat gerade dem anmuthigsten, graciösesten und liebenswürdigsten aller Liederdichter, Beranger, ein schwerfälliges, plumpes Denkmal beschieden. Ein massiv geformter, nach oben abgerundeter Stein, von Cypressen umrauscht, trägt im Doppelmedaillon sein und seines Bruders Portrait. Es ist nun schon dreizehn Jahre, daß der Dichter des „Königs von Yvetot“ von dem ihn mit Begeisterung verehrenden Volk von Paris zu Grabe getragen und hier gebettet wurde. Heute aber dürfen wir uns daran erinnern, daß Beranger, ohne es zu wollen, nicht wenig zu der Selbstüberhebung des französischen Volkes und zu dessen Glauben an seine Unbesiegbarkeit beigetragen hat. Er brauchte in den Tagen der Restauration, wo seine Beliebtheit und sein Einfluß am größten waren, Etwas, das er der Lächerlichkeit und der Ohnmacht der Regierung mit Erfolg gegenüberstellen konnte: er zeigte dem französischen Volke die Siegeszeichen seines Ruhmes und dichtete die Napoleonslieder. Indem er damit allein das Selbstgefühl des Volkes zu wecken glaubte, zog er zugleich auch dessen Selbstgefälligkeit, Eitelkeit und Selbstüberhebung groß – zum Unglück des Volkes, wie die Tage der Gegenwart, wie die „fosses communes“, die endlos an einander gereihten „Massengräber“, in denen Sarg an Sarg mit entsetzlicher Schnelligkeit sich fügte, auf dem Père Lachaise beweisen. Der Dichter ruht eine gute Strecke abseits von diesen Massengräbern und ahnt nicht, welches Elend zugleich mit jenen Todten der Erde übergeben wird. Und daß er es nicht ahnen darf, ist gut: Beranger würde diese Erniedrigung seines Volkes nicht ertragen, sie würde ihn um die Ruhe seines letzten Schlummers gebracht haben – denn Eines war, was er heiß und über Alles liebte: sein Vaterland, Frankreich.

Das Frankreich von heute aber möge nicht allein „stolz“ sein auf seine „mehr als tausend Ruhmeszeugen“, sondern pilgernd zu diesen geweihten Orten einer ruhmreichen Vergangenheit möge es hier, an den Ruhestätten der Besten und Edelsten, deren Asche hier ruht, die Tüchtigkeit, Redlichkeit und jenen Sinn für die Tugend wiederfinden, welchen es verloren hat und welcher allein überwindet.



[127]

Im Hauptquartier des Prinzen Friedrich Karl.

Von unserem Berichterstatter Georg Horn.
Elfter Brief. Am Tage von Sanct Hubert.

Es war nach dem Gefecht von Vendome, am 8. Januar, also zwei Tage nach dem blutigen Strauße, bei welchem die Brandenburger wieder „’rangemußt“ hatten und bei welchem General Chanzy eine sehr unangenehme Schlappe erlitten hatte. Denn das Gefecht von Vendome eröffnete uns die Straße vorwärts, immer auf den General Chanzy zu, und die zogen wir nun hin, über uns den Himmel bedeckt und trübe, zur Seite den Wald von Vendome grau und finster wie ein Leichentuch. Und dort drüben ist denn auch manch Einer eingesunken zum letzten Schlaf, nach dem es kein Erwachen giebt, als nur in dem Gedanken der zurückgebliebenen Lieben.

Was man so Alles auf der Landstraße erlebt, halb zum Lachen und halb zum Weinen! und wenn man daheim das Folgende liest, möchte man’s vielleicht kaum für wahr halten.

Wir kamen die Straße nach Le Mans vorwärts an ein Gehöft, das links von der Straße liegt; natürlich war es verlassen. Wenn die französischen Bauern in der Nähe das Schießen hören, dann nehmen sie ihr Bischen Bestes und gehen mit schnellen Schritten landeinwärts – ich glaube, die Deutschen würden es nicht anders machen. An Stelle der Bewohner hatten sich Soldaten vom fünfunddreißigsten Regiment, das in Brandenburg an der Havel in Garnison liegt, dort eingerichtet; einige standen unter der Thür des Hauses, die Lübbener Pfeife im Munde und zu der Uniform die weiße Zipfelmütze der Bauern auf dem Kopfe, die sie in einem geheimen Schranke vielleicht noch vorgefunden hatten; andere Soldaten waren im nebenanliegenden Garten; der eine grub ein Grab, und er hatte dazu eine schöne Stelle ausgesucht, gerade mitten unter einem Apfelbaume, damit dieser es im Frühling mit seinen rosenrothen Blüthen überschütten könne. Da trat ein anderer hinzu.

„Aber dat ist ja viel zu kurz – da geht er doch nich rin; der hat doch seine fünf Fuß acht Zoll im Leben jehabt, und den hat dat Sterben alleene nich kleen jekriegt – et war doch een höllischer Kerl – ick sag’ es Dich, et is zu kleene.“

„Ach wo! Ick hab’ doch noch meine Oogen im Koppe,“ antwortete der Arbeitende und grub weiter.

„Na, wir wollen uns nich darüber erzürnen – dat Beste is, wir nehmen Maß und – dort hinterm Haus liegt er – wir holen ihn her.“

Sprach’s, spuckte sich in die Hände, um besser anfassen zu können, und kam nach ein paar Minuten mit einem zweiten Soldaten, den er sich zu Hülfe genommen hatte, mit dem Todten an. Derselbe, vom fünfunddreißigsten Regiment, hatte einen Schuß in der Brust, die Arme wie gewöhnlich krampfhaft nach den Schultern gezogen und die Augen nach oben weit offen. Es wurde richtig Maß genommen, und der Todtengräber hatte Recht gehabt, das Grab war lang genug; aber er sprach kein Wort darüber, er fuhr in seiner Arbeit auch nicht fort, sondern setzte sich am Fuße des Grabes auf seinen Spaten und schaute ernst und still vor sich hin.

Zu der Gruppe im Garten trat jetzt ein Soldat von der Stabswache des Hauptquartiers; er wollte sich auch den Todten besehen. Aber mit der Regung von Neugier war es bald zu Ende, als er demselben nur kaum in’s Gesicht gesehen hatte, dann kam der Schreck, die Ueberraschung, der Schmerz.

„Herrjott! Det is ja Tetzler!“

„Wat? Du kennst’n?“ frug der eine der Fünfunddreißiger.

„Wie sollt’ ick ihn denn nich kennen? War er doch so und so lange im Regimente mein Nebenmann – sonst ein Klempner – aus Berlin – ein braver – ein schneidiger Kerl – Hansen Tetzler!“

Dann kam ihm so was vom Weinen; aber ein Märker läßt so was nicht gern sehen, und auf einmal wendet er sich nach einem Cameraden, der in der Colonne zurückgeblieben ist, und ruft diesem zu:

„Du – komm’ mal her – Tetzler ist hier.“

„Tetzler? Ach wat! Aber da kann er doch her zu mir kommen.“

„Schafskopp – er ist ja todt!“ – –

Es war zwei Tage später; wir hatten in Bouloire Halt gemacht; der Ort hatte vielleicht fünfzehnhundert Seelen, aber doppelt so viele Soldaten waren darin. Das kam daher, daß wir viel schneller marschirt waren, als die Franzosen retiriren konnten; von den Divisionen des Generals Chanzy, die uns bei Vendome Eines auswischen sollten, stak auch die ganze Umgegend von Bouloire voll, und da war es doch sehr leicht möglich, daß sie das, was sie dort nicht erreicht, hier versuchen konnten. Wäre das ein Fang gewesen, wenn die Rothhosen einmal das Hauptquartier aufgehoben hätten! Zwar an unser Einem wäre dabei so viel nicht gelegen gewesen, aber an dem Kopfe, der Alles regiert! Wie oft haben die französischen Zeitungsschreiber unsern Feldherrn schon „caput“ gehen lassen! Einmal fiel er von einem Schuß durch die Brust getroffen todt vom Pferde, blieb einige Zeit todt und stand plötzlich von den Todten wieder auf, um wahrscheinlich wie der spanische Cid eine Schlacht zu commandiren; ein anderes Mal verlor er, nach einer Marseiller Zeitung, beide Arme; dann müssen diese plötzlich wieder gewachsen sein, denn ein anderes Blatt schrieb einige Tage darauf, daß dem Prinzen-Feldmarschall die Hand zerschmettert worden sei, und eine dritte Zeitung meldete endlich aus Nantes gar, daß dem hohen Herrn durch eine Granate der Kopf abgerissen worden sei – wie ungeschickt! Unser Feldherr kann das Leben verlieren, aber nie den Kopf. Aber so etwas hätte den Franzosen gefallen können, und darum weiß man gegen solche nächtliche Besucher seine Vorsichtsmaßregeln zu treffen, wie eben durch eine starke Besetzung des Ortes Bouloire. An Schlachtenlärm war dieser Tage kein Mangel; am Morgen ging das Kanonenbrummen an und so bis in die sinkende Nacht hinein. Bis Artenay hatten uns die Franzosen kommen lassen, aber dann ging ihnen die Laune und die Geduld aus, und vor Artenay stellten sie sich und sagte zu den Preußen: „Nix weiter!“

In Frankreich streckt unser Herrgott an den Landstraßen nicht weniger seinen Arm heraus als in Deutschland; es giebt dort ebenso viele Wirthshäuser, die einen gehorsamen soliden Ehe- und Jägersmann in Versuchung führen können, und ein solches Haus ist das Wirthshaus „Zum St. Hubert“ an der Straße von Vendome nach Le Mans. Es ist ein ganz anständiger Gebäudecomplex; das Hauptgebäude liegt rechts von der Straße, zwei kleinere Baulichkeiten als Flügel vor demselben und bilden so einen ziemlich geräumigen Hof. Links von der Straße, dem Haupttheile gegenüber sind eine Scheune und ein Schuppen. Daß es ein Wirthshaus ist, steht über der Thür geschrieben und darunter: „Hier servirt man Speise und Trank.“ In Lothringen „giebt“ man, in der Normandie „verkauft“ man Speise und Trank. Die Herberge liegt mitten im Walde, dessen prächtiges Nadelholz mit dichtem Schnee bedeckt ist; hundert Schritte vor dem Wirthshause kreuzt eine quer durch den Wald laufende Straße die schnurgerade ausgehende Chaussee; von dort nimmt dieselbe eine ziemliche Steigung, und etwa tausend Schritte weiter sieht man, daß der Wald ein Ende hat und dahinter die Lichtung beginnt.

Sonst mag es hier recht einsam sein, aber heute kann man vom Kriege hier ein tüchtiges Stückchen erleben.

Auf der schneebedeckten Straße vorwärts, noch über den Kreuzweg hinaus, dann rechts und links in den Wald hinein, so weit man sehen kann, Gespanne, Uniformen und blitzende Bajonnete. Rechts und links ist die Artillerie aufgefahren; an der Achselklappe der Fahrer und der darauf befindlichen Nummer 3 erkennt man, daß es die des dritten Corps ist. Sie wird wohl noch nicht gebraucht werden. Denn das ganze Land ist derart mit Einschnitten, Alleen und Hecken überdeckt, daß die Artillerie weder auffahren, noch zielen, noch visiren kann. Um auf’s Gerathewohl über den nächsten Hügel, der ihr vor der Nase liegt, hinwegzuschießen, dazu haben die Artilleristen ihre kostbaren eisernen Zuckerhüte nicht mitgebracht. Darum abwarten, es wird schon noch kommen.

Währenddem ist rechts im Felde ein höllisches Feuer losgelassen, es kann keine halbe Stunde entfernt sein. Aber hier herum ist Alles ruhig, als ob die da drinnen im Walde nur so zum Schützenfeste wären. Links in einem Knicke sind rothe Husaren abgesessen und wärmen sich an einem großen Feuer; denn [128] die Kälte dringt durch, trotz der warmen Sachen, welche die Mutter von Hause geschickt hat. Das ist das schneidige Regiment vom Zieten aus dem Busch, das heißt nur eine Schwadron, die als Stabsschwadron beim Feldmarschall Dienst thut; die anderen Schwadronen sind beim Herzog Wilhelm von Mecklenburg, bei dem tapfern Reiterführer. Aber weiter davon liegen auch noch Husaren – eine andere Couleur – das sind stämmige Burschen, rothe, blonde Gesichter, und mit Rößchen so gelenk, graciös und leicht, als müßten sie kaum den Erdboden berühren – es sind die Holsteiner sechszehnten Husaren, die kecke behende Reiterschaar aus den Marschen. Weiter vorn hält eine Reitergruppe von Officieren auf prächtigen stämmigen Pferden, Generalstäbler, Infanteristen und Cavalleristen, soweit man aus den Paletots und Mänteln und übergeschlagenen Kapuzen ersehen kann. Ein älterer Herr ist in der Mitte, der trägt keine Kapuze, nur eine simple Infanteriemütze, aber was darunter sitzt und hervorschaut, das ist die Hauptsache, ein eiserner Kopf von einem grauröthlichen Barte umgeben und ein Paar helle, klare, kecke, kriegslustige Augen. Er ist der älteste unter denen, die um ihn sind, vielleicht sechszig Jahre, vielleicht ein paar darüber, aber er scheint das nicht zu spüren, denn er sitzt gar frisch und wohlgemuth auf dem Pferde, den Krimstecher um die Schultern und eine Karte in der Hand. Da kommt ein Jüngerer an ihn herangeritten, macht seine Honneurs und redet ihn mit „Excellenz“ an, und dann hört man so etwas vom neunten Corps – „Excellenz“ und „neuntes Corps“? Richtig, der junge Sechsziger ist der General von Manstein, der Commandirende des neunten Corps. Er versammelt jetzt seine Generale um sich und scheint ihnen Befehle zu geben, er zeigt auf die Karte, dann nickt er grüßend und reitet mit seiner Suite rechts in den Wald hinein. Einer der jüngeren Officiere reitet die Straße nach Artenay zurück.

„Wohin, Herr Camerad?“ fragt einer der bei der Batterie stehenden Artillerieofficiere.

„Nach Champigne, dort sollen sie noch am dichtesten sitzen, ich hole die Elfer und Vierundachtziger heran; das neunte Corps löst das dritte ab, das dritte hat andere Direction bekommen. ’Morgen!“

Vorne, von der Waldecke her, kommen ein paar Bataillone anmarschirt, sie sind vom dritten Corps, biegen links in den Wald ein; nun kommt auch an die Artillerie der Befehl, der Infanterie weiter in den Wald nachzufahren; die Gäule werden angetrieben, vorwärts geht’s, die Bedienungsmannschaften acht Mann hinter der Kanone her, und wenn die Franzosen jetzt dort in dem Holze sich zeigen würden, keine drei Minuten dauerte es, so hätten sie die erste Leib- und Magenpille weg; so fix ist unsere Artillerie. Aber auch rechts von der Straße fährt jetzt die des neunten Corps um die Ecke nach dem Walde hinein, in der nämlichen Richtung, die der General von Manstein vorhin genommen hat. Die Elfer und Vierundachtziger waren etwa drei Viertelstunden auf der Straße zurück, am Morgen war ich durch ihre Colonnen durchgefahren; seit sechs Uhr standen sie gefechtsbereit, die Einen bemüht, sich äußerlich an einem Feuer zu wärmen, die Anderen innerlich aus der Flasche, die wollenen Leibbinden hatten sie sich um den Hals gelegt, die Arme mit den großen Fausthandschuhen schlugen sie sich über die Brust und mit den Füßen hopsten sie, um sich ein Bischen Wärme in den Leib zu bringen. Ich glaube, daß es den Soldaten gar nicht so unlieb war, als der Befehl sie in Bewegung setzte, gleich querüber in den Wald, von wo das Geschützfeuer kam, dort wird’s ihnen noch heiß genug werden, und so zog Alles auf verschiedenen Wegen in den Kampf hinein.

Das ist heute ein Marsch – Marsch – Trab – Trab – Galoppiren und Carrièren auf der Straße, die so etwas wohl noch nicht erlebt hat. Dort kommt schon wieder eine Colonne von zwei, drei Wagen, eine ganze Reihe lange graugestrichene Wagen mit Stangen und Werkzeugen fast übervoll beladen und zu Allem noch oben mit Soldaten und Gewehrläufen dicht besetzt. Bei solcher Ladung sind schon vier und selbst sechs Pferde nicht zuviel. Voran reitet ein Officier – ein Dragoner – wenn man den kennt und sieht, dann weiß man auch, wer ihm folgt. Es ist der Lieutenant Flaminius, aber, wie ich gleich beisetzen will, um Irrthümer zu vermeiden, kein alter Römer. Im Kriege sitzt er als Officier auf dem Pferde, im Frieden aber auf einer königlichen Domaine in der Mark, was auch nicht zu den Unannehmlichkeiten des Lebens gehören soll. Die er führt, das ist die Etappen-Telegraphenabtheilung Nr. 2. Die Wagen halten, die Pionniere sitzen ab, richten eine Stange auf, rammen dieselbe in die Erde ein, und wie sie fest ist, lehnt Einer eine schmale Leiter an, steigt auf und wickelt oben um die Glocke einen Draht, den die Anderen unterdessen in großem schweren Bunde aus dem Wagen genommen haben. Etwa zehn Minuten dauert das Ganze, dann ist die Sache gemacht, die von den Franzosen abgeschnittene zerstörte Telegraphenleitung wieder flott gemacht, und so geht es von einer Stange zur andern, bis vor an die Waldecke. Aber dort steigt der Pionnier, kaum oben angelangt, gleich wieder von der Leiter herunter, so schnell, daß er den Draht noch nicht befestigt haben kann. Er sieht nämlich schwarze Punkte in der Luft – es sind Granatenstücke, die von den Franzosen herüberkommen, ein Beweis, daß diese nicht allzu fern sind. Wenn die aber mit solchen Telegraphen arbeiten und sprechen, dann zieht sich der Pionnier sachte zurück und denkt sich: „Na denn nich.“

Nunmehr macht sich der Pionnier an eine andere Arbeit; es muß doch ein Eckchen zu finden sein, wo man den Apparat aufstellen kann. Vielleicht im Wirthshause selbst – du lieber Gott, das liegt noch vom gestrigen Tage voll Verwundeter, kein Raum ist leer, in dem einen Flügelgebäude ist auch nichts zu machen, da haben die Granaten von gestern gewirthschaftet und Löcher gerissen, daß man besser thäte, den Apparat gleich draußen auf der Straße aufzustellen. Endlich ist in dem andern kleinen Hause ein Local gefunden, aber in einem erbarmungswerthen Zustande. Tische und Stühle, Gläser, zerbrochene Weinflaschen, Patronen und abgenagte Knochen liegen in einem Wust von schmutzigem Stroh; es sieht aus, als hätte sich ein Zug französischer Soldaten darin betrunken und wäre dann durch unsere Granaten genöthigt worden, das Local gefälligst zu verlassen. Wo aber eine Scheuerfrau verzweifeln würde, da greift ein tüchtiger Pionnier wacker zu, und so ist es denn auch schon nach einer halben Stunde vollständig gereinigt, gelüftet, im Kamin brennt ein tüchtiges Feuer und auf dem Tische hämmert bereits der Telegraph. Das ist doch ein ganz eigen Ding, an solch einsamer Stätte im tiefen Walde den Pionnier der Civilisation arbeiten zu hören. Das Hauptquartier hat einen eigenen Telegraphendirector, von Brabender, der sitzt am Apparat und prüft, ob Strom da sei. Er versucht mit Versailles zu sprechen und seinen dortigen Collegen zu fragen, ob er gut geschlafen habe und wie es mit dem Bombardement stünde. Nach einer Weile antwortet der auch, und Herr von Brabender kann dem Generalfeldmarschall melden, die Telegraphenstation Auberge St. Hubert sei eröffnet. Das Jägerwirthshaus im Walde kann nun der ganzen Welt einen schönen guten Tag wünschen, und in ein paar Stunden können es die drüben über’m Wasser in Amerika wissen, daß man sich in Europa, in Frankreich, vor Le Mans im Walde rechts um die Ecke schlug.

Es mochte zwei Stunden später, so am Nachmittage sein. Wenn man über den Hof und den Garten des Wirthshauses und den gefrorenen Schnee hinweggeht und sich nicht scheut, daß Einen hie und da aus dem Schnee ein gelbes Todtengesicht anstarrt, dann kommt man auf den breiten Waldweg, den unsere Truppen am Morgen gegangen sind. Das Kanonen- und Gewehrfeuer wird mit jeder Stunde toller. Vergnügtere Gesichter hatte ich lange Zeit nicht gesehen, als die der französischen Gefangenen, welche uns an dieser Stelle des Tages vorher entgegengekommen waren – meistens Milchgesichter, die man bei uns daheim erst in die Schule, aber noch nicht in den Krieg schickt, auch einige bärtige alte Kerle darunter, die schon Großväter hätten sein können. Die ganze Gesellschaft frierend und abgerissen wie die Betteljungen, aber Allen stand es auf der Stirne geschrieben, wie froh sie in ihrem Herzen, daß sie, wie man in Berlin sagt: „scheene raus wären“. Die heldenmüthigen Kämpfer wurden von den Elfern escortirt, die hatten sie auch zu Gefangenen gemacht.

„Sind Sie Gefangene vom heutigen Tage?“ so fragte ich auf französisch und auf deutsch gab mir einer zur Antwort:

„Jawohl, Herrle, abbe noch kei Viertelstund’ ist’s, da habbe mer uns zu Prisonniers mache lasse.“

„Sie sind wohl ein Elsässer?“

„Noi, Herrle, ich bin aus Saargemünd und hab’ in Lyon und Bordeaux als Böttcher g’schafft und dann sind die Autoritäte komme und habbe g’sagt, ich müßt’ die Patrie mit rette helfe. Aber do glaube mer schon lang’ nit mehr dra – mer sagt bei uns zwar immer, wir hätte de Preiße besiegt, aber dabei müsse mer immer [129] retirire und immer gleich vierundzwanzig Stunde in eener Tour fort – aber nu wolle mer nit länger – bei der erst’ beste Occasion habb’ ich mir vorgenumme gehabt – da hock ich mich nieder.“

„Wieso denn? Was soll denn das bedeuten?“

„Ei, daß ich will nit mehr länger uf die Preiße schieße, erst wirft man die Fusil weg, dann duckt mer sich und dann wisse sie’s scho, daß mer will Prisonnier sei, und dann komme se nach gleich und hole Een. Sage Se, Herrle, wisse Se nit, wohin mer kumme?“

„Wie soll ich Ihnen das sagen können?“

„No, ich meint’ als nur. Es is aber immer besser, lebendig in Preiße, als todtg’schosse in Frankreich.“

Zweihundert Schritte vorwärts, da lichtet sich der Wald auf der einen Seite, da hat man einen freien Ausblick, an der andern See des Holzes im Graben sind Feuer angezündet, um diese liegen Officiere, junge und ältere, Infanteristen, Cavalleristen, Artilleristen und Ingenieure, mitten im Schnee, als wäre es auf grünem, blühendem Rasen und als hätten wir statt des Januar einen sonnigen Juninachmittag – aber so was darf einen echten Kriegsmann nicht geniren.

Transport gefangener Franctireurs bei Rimogue.
Nach einer Skizze des Freiwilligen Knackfuß im Husaren-Regiment Nr. 15.


Weiter nach vorne kann man eine kleinere Gruppe sehen, das sind höhere Stabsofficiere, auch Generale sind darunter; auf einer kleinen Erhöhung steht der Feldherr Prinz Friedrich Karl, den erkennt man an seiner rothen Husarenmütze weithin, die sticht von dem Schneefelde gar hübsch ab, um den Paletot schlingt sich eine Art hellbraune Kapuze, und durch ein Fernglas sieht der Feldherr unbeweglich und ohne abzusetzen nach der schieferen Ebene, die vor ihm aus dem Walde zu einem Hügel ansteigt. Dort auf dem Schneefelde ist der Kampf.

Aus dem Hügelkamm zieht sich eine schwarze Linie hin, das sind aber keine Bäume, wie man glauben möchte, das sind lebendige Franzosen, Linie, Mobilgarde und wer weiß, was für Sorten, aber wie die Bäume scheinen sie dort auf den Höhen zu stehen, diese beherrschen die große Straße von Le Mans und auf dieser wollen sie uns nicht verlassen, und doch müssen die Unseren die Höhen haben. „Das geht nicht anders,“ denkt der Feldmarschall und denkt der Manstein, der dort sein Avantgardenregiment, die Elfer mit der gelben Achselklappe, vorgeschickt hat, später noch die Vierundachtziger – auch eine der besten Regimentsnummern, die wir auf dem Lager haben. Die Franzosen lösen sich von oben in Tirailleurlinie auf – die Unseren von rechts nach dem Hügel auf – es blitzt und knallt von oben und von unten, dann hüllt Pulverdampf die Kämpfenden ein, und man erkennt diese nur als einzelne schwarze Punkte. Da lichtet sich die Rauchwolke wieder – der Kampf setzt sich in ausgeschwärmten Linien fort – er zieht sich bald nach rechts, bald nach links, je nachdem der eine oder der andere Gegner eine schwache Stelle zeigt – er wogt auf und wogt ab, keiner der Beiden kann einen Vortheil über den andern gewinnen; die oben auf dem Hügelkamm haben an einer Stelle Posto gefaßt, wie man sich keine bessere wünschen kann, und die Preußen sind zähe wie Hagebuchen, sie lassen nicht ab und machen immer neue Versuche; bald kommen sie dünner, bald dichter aus dem Walde heraus; wenn sie von denen droben auch einen Sprühregen von Blei bekommen – schadet nichts, und wenn auch manch Einer getroffen in den Schnee hinsinkt und die Stelle weithin mit Blutstropfen färbt, sie gehen doch wieder vor, und daß sie dabei auch im Feuern nicht faul sind, versteht sich von selbst. So währt es wohl eine Weile, bald hat der eine der Gegner einen kleinen Vortheil, bald der andere, einen nennenswerthen Keiner. Dabei geht das Feuern lustig fort, bald stärker, bald schwächer, und ganze Züge sieht man das Gewehr umdrehen und mit dem Kolben arbeiten, gerade wie damals bei Großbeeren, wo es ganz eklig „gefluscht“ hat. Nun aber scheint der Kampf auf unserer Seite zu ermatten, unsere Linien ziehen sich zurück und stellen das Feuer ein – das Feuer schweigt ganz und der Feind scheint das zu benutzen – in hellen Haufen kommt er das Schneefeld herab, um sich auf die Zurückziehenden zu werfen – aber so leicht fängt man die Preußen nicht; mit einem Hurrah und blitzenden Bajonneten stürzen die Unseren aus dem Walde hervor, in panischem Schreck machen die Rothhosen Kehrt, und laufen was sie nur immer können hügelaufwärts, die Unseren mit den blanken, kitzelnden Bajonneten ihnen feste nach, sie immer wie eine Jagd Hasen vor sich hertreibend. Zu gleicher Zeit wälzt es sich den Bataillonen wie eine schwarze Schlange nach – das ist eine Batterie – dort oben ist eine [130] Stelle, wo sie Position nehmen und in die Fliehenden hineinpfeffern kann. Das geht wie ein Donnerwetter – jetzt sind sie oben – aufgefahren – abgeprotzt – da blitzt’s auch schon über die Schneefläche dahin – und das Gewehrfeuer wird immer ferner und ferner – durch die Bäume hindurch kommt die rothe Abendsonnengluth – den Wald entlang ziehen langsam die Krankenträger-Compagnien und hinter ihnen fahren die Wagen mit den wehenden weißen rothgekreuzten Fähnlein; dort oben ist heute für sie noch genug zu thun; die schwarzen Punkte auf dem Schnee sind die Todten und Verwundeten.

Das war der Tag von St. Hubert, einer der heißesten, aber wohl auch einer der letzten Kampftage in diesem gewaltigen erbitterten Kriege. Möge dieser auch der letzte in dem Jahrhundert der Civilisation sein.




Pulver und Gold.
Den Mittheilungen eines Officiers nacherzählt von Levin Schücking.
(Schluß.)


Ich stand meiner Sinne nicht recht mächtig. Meine Gedanken wirbelten mir durch den Kopf; ich wußte nicht recht, was geschehen und was die ganze Scene bedeute; ich fühlte mich selbst nur den Thränen nahe.

So ging ich hinab, in meine Zimmer, mit einer Art von Wuth die Thränen, die in mir aufstiegen, niederkämpfend. Die Wuth richtete sich gegen mich, den Soldaten, der den Kopf oben behalten und kaltblüthig bleiben muß, wenn er inmitten von Tod und Verderben steht und tausendfaches Elend rings um sich her sieht; und nun ließ ich mich übermannen und niederbeugen durch den Anblick von ein wenig Herzeleid, das ich über diese Französin, die doch obendrein noch eigentlich eine Deutsche war und es schmählich verleugnete, gebracht! Was war es denn, um was es sich handelte? Ich hatte ihr einen Haufen von dummem, ekelhaftem Geld nehmen müssen – und wollte ihn ihr ja noch obendrein ersetzen. Konnte sie den Ersatz nicht von mir annehmen? Warum nicht? Und wenn nicht, was that’s, was ging unsere Seelen der Mammon an? War es nicht arg genug, daß dieser verborgene Haufen Geld uns zu einem Spiele wechselseitiger Ueberlistung gezwungen? Und wenn ich dabei auch gesiegt, wenn ich ihn ihr genommen, hatte sie nicht seinetwillen die Komödie von Colomier mit mir gespielt, hatte sie nicht mich mit dem Schlaftrunk des Abbés unschädlich machen wollen, dessen Wirkungen ich an Friedrich hatte wahrnehmen können? Hatte ich nicht tagelang um dieses dummen eklen Mammons willen schon den Stachel und die Pein des bösesten Argwohns in mir wühlen gefühlt? War es nicht elend, klein und engherzig, solch einen Verlust als etwas zu betrachten, was uns auf ewig auseinanderiß? Was kann solch ein erbärmliches, äußeres Ereigniß dem Herzen, der Menschenseele anhaben, und wenn sie das nicht einsah, nicht fühlte, wenn sie nicht verzeihen und nicht begreifen konnte, daß ich ohne Schuld war, wenn sie sich nicht sagte, wie schwer ich selber unter dem litt, was ich aus Pflichtgefühl thun müssen – dann, nun dann mußte ich auf sie verzichten können!

Es war ein Raisonnement wie alle, welche sich Verliebte machen. Sehr logisch, sehr schlagend und von zweifelloser Richtigkeit in seiner Schlußfolgerung! Und doch zieht man nicht einen Tropfen Trost daraus, und in all seiner Logik liegt kein Atom von Beruhigung! –

Ich zerriß den jetzt unnützen Brief, den ich an meinen Geschäftsmann geschrieben, und warf mich auf einen Divan, um nachzudenken, was ich beginnen, ob ich noch bleiben oder mich von diesem Posten hier unter dem Vorwande meiner Verwundung zurückberufen lassen solle. Gewiß, das Letztere war das Beste, das Einzige, was ich thun konnte! Der Arzt kam nach einer Weile und nahm mir beinahe den Vorwand, indem er mir versicherte, daß ich, wenn ich nur noch zwei Tage lang fortfahre, meinen Arm in der Schlinge zu tragen und ihn ruhig zu halten, wegen der Wunde weiter keine Sorge zu haben brauche. Eigentlich war es mir angenehm, daß er mir den Vorwand abschnitt – im tiefsten Grunde meines Herzens zog ich daher vor – zu bleiben! Das Menschenherz ist ein widerspruchsvolles Ding! –

Es war eigentlich ein gesprächiger und gescheidter kleiner Mann, der Doctor aus Noroy; wenn er das erste Mal, wo er gekommen, ziemlich schweigsam seines Amts bei mir gewaltet, so war er heute schon vertrauter und zu Mittheilungen aufgelegter. Er begann vom Kriege zu reden, von den philosophischen Deutschen, die so unphilosophisch nicht lieber nachgäben, als sich mit einem so edlen Volke, wie die Franzosen, schlagen zu wollen; von der seltsamen Marotte Bismarck’s, „ce Monsieur Shylock“, wie er sich ausdrückte, zu wähnen: er könne aus dem lebendigen Fleische Frankreichs ein Stück herausschneiden, just wie der abscheuliche Jude von Venedig.

„Weshalb,“ rief der kleine Doctor aus, „haben die Deutschen nicht Frieden gemacht nach der Schlacht von Sedan, nachdem sie sich diesen Empereur, der ihnen den Krieg erklärt, cette ‚incapacité méconnue‘, eingefangen und uns davon befreit? Wir wären dann durch die Dankbarkeit für immer an sie gefesselt und Hand in Hand wären wir zwei große Völker auf der Bahn zu den gemeinsamen Zielen der Menschheit weiter geschritten!“

Ich war nicht sehr aufgelegt, auf eine Debatte darüber einzugehen, aber ich konnte mich nicht enthalten, lebhaft zu antworten:

„Freilich, Doctor, dann wäre Deutschland in seiner alten bescheidenen Rolle geblieben, die es dahin gebracht hat, daß es überall die Sympathien gegen sich hat; daß Holländer, Belgier, Schweden, Schweizer, all das kleine Völkergesindel, auf uns herabsehen, uns den Sieg mißgönnen und unseren Ruhm benagen. Deutschland, müssen Sie wissen, ist endlich durch Erfahrungen ein wenig klüger geworden. Es hat Frankreich schon einmal von einem Empereur befreit und es dann unverletzt gelassen und keinen Zollbreit von seinen früheren Grenzen verlangt, nicht einmal Straßburg, diesen Knotenpunkt deutschen Lebens! Wie dankbar Frankreich dafür war, haben wir im Laufe der Jahre zu empfinden bekommen; es hat fortwährend unsern Rhein verlangt und uns mit Krieg bedroht und mehr als einmal gezwungen, uns kriegsbereit zu machen, und jetzt hat es uns plötzlich die Kriegsfackel in’s Gesicht geschleudert. Nennen Sie das Dankbarkeit?“

„Das Frankreich von heute ist nicht mehr das von 1814 und 1840!“ warf der Doctor ein.

„Ich will Ihnen das Vergnügen machen, Doctor,“ versetzte ich, „Frankreich einen Löwen zu nennen, den wir friedlichen Deutschen nun einmal leider zum Nachbar bekommen haben. Den Löwen biß eine Hornis und machte ihn so wüthend, daß er uns anbrüllte und verschlingen wollte und seine Krallen wider uns ausstreckte. Nun haben wir ihn niedergerungen und ihm die Hornis nebenbei aus dem Fell gezogen. Sollen wir es nun machen wie der Sclave Androclus, und auf seine Dankbarkeit dafür bauen? Es wäre sehr thöricht! Sicherer ist, wir schneiden ihm die Krallen ab!“

Der Doctor zuckte mit den Achseln.

„Ich habe eine ganz andere Vorstellung darüber, wie wir zu recht aufrichtiger Freundschaft und Frieden kommen,“ fuhr ich fort. „Dann, wenn wir mit unerbittlicher Strenge zeigen, daß wir ebensoviel stolzes Selbstbewußtsein haben, wie die anderen Völker auch. Man wird dann anfangen, uns zu achten – und ohne Achtung, Doctor, dem werden Sie nicht widersprechen, giebt es keine Freundschaft und keine Liebe! Damit Frankreich uns lieben kann, müssen wir ihm zeigen, daß wir ihm ebenbürtig sind und nicht mehr der Diener des glänzenden, stolzen, aristokratischen Herrn! Die Diener der stolzen Herren Völker sind wir lange genug gewesen. Wir haben ihnen die Erfindungen gemacht, mit denen sie großthaten, wir haben wie Bedientenseelen, die sich mit ihrer Herrschaft Kleidern herausputzen, ihre Moden angenommen, ihre Sitten nachgeäfft, ihre Sprache nachgewälscht. Kann ein anderes Volk uns so achten, uns dankbar sein, wie Sie sich ausdrücken, als ob Völker je dankbar wären? Weshalb hat Frankreich immer gedacht, uns den Rhein nehmen und, wann es ihm nur einfiele, einen Spaziergang nach Berlin machen zu können? Weil es sich für vornehmer hielt. Wenn wir ihm zeigen, daß wir ebenso vornehm sind – Sie wissen, vornehm kommt her von [131] nehmen – wird es nicht mehr es unter seiner Würde halten, sich mit uns zu befreunden. Wollen wir Frankreichs Freundschaft, müssen wir ihm Elsaß und Lothringen nehmen. Wir haben ein Recht darauf, und ein ehrenhafter Mann, der etwas auf sich hält, läßt sich sein Recht nicht nehmen. ‚Nur die Lumpen sind bescheiden‘; nur die Lumpen achten das Ihre nicht und wissen es sich nicht zu erhalten.“

Der Arzt sah, daß er mit seiner Art, die Dinge anzuschauen, nicht aufkam. Doch nahm er’s gelassen auf, lächelnd in der stolzen Sicherheit, daß sehr bald Alles eine andere Wendung nehmen und die Republik die „eingedrungenen Horden“ vom „heiligen“ Boden Frankreichs fortkehren werde.

Als er gegangen war, fiel ich in meine schmerzlichen Grübeleien zurück. Der Mann hatte von der Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland geredet! War sie möglich, wenn zwei junge Herzen, die doch im Grunde nichts trennte, als daß der Krieg zwischen ihren Völkern ausgebrochen war, diese Versöhnung nicht einmal finden konnten?

Der Krieg! Er war wie ein böser Genius, den die Hölle ausgesandt hatte, um sein entsetzliches Gift auf Alles, was da lebte, blühte und gedieh, auszuspritzen, auf jede Frucht, auf jedes Glück, auf jeden frohen Menschenkreis und in jedes warm schlagende Herz!

Ich hatte es nie so gefühlt, nie hatte mich so ein Grauen darüber angewandelt – es war freilich sehr egoistisch, daß ich’s jetzt erst so im tiefsten Innern fühlte, jetzt, wo’s mich selber traf.

Es drängte mich in die frische Luft, in’s Weite; ich ließ mein Pferd satteln und ritt mit zweien von meinen Leuten, um über die Oignonbrücke hinaus eine Streiferei auf dem andern Ufer des Flusses zu machen.

Als ich nach einer Stunde heimkam, fand ich auf dem Tische in meinem Zimmer einen Brief liegen. Ich kannte die Hand nicht – aber es war offenbar eine Frauenhand, und in größter Aufregung erbrach ich das Couvert.

Der Brief trug die Unterschrift „Blanche“. Sie schriebt:

„Ich verstehe mich und was in mir ist, selbst nicht. Ich bin empört gegen Sie und bin es gegen mich selbst. Und wenn ich’s mir klar machen will, weshalb ich’s gegen Sie bin, so möchte ich aus Aerger darüber weinen, daß ich’s nicht kann. Ich muß mir gestehen, daß ich Ihnen großes Unrecht gethan; ich fühle, daß Sie mir große Demüthigungen zugefügt haben. Und doch läßt weder das Eine noch das Andere einen Stachel in mir zurück, wie es doch natürlich wäre; und dieses Zerbrochensein, diese Schwäche der – wie soll ich es nennen? der Rancune, der Empfindlichkeit in mir empört mich eben. Vielleicht auch ein wenig das Gefühl der Hülfslosigkeit, womit ich selbst nicht weiß, was ich will, was ich möchte. Jedenfalls haben Sie sich so stark gezeigt, daß es für mich keine Schande ist, die Besiegte zu sein. Als Besiegte will ich um Frieden bitten. Während ich Ihnen einräume, daß Sie mich von einer thörichten Verachtung der moralischen Kraft in einem Manne über sich selbst geheilt haben, verlange ich von Ihnen, daß Sie mir einräumen, ich habe nichts Schlechtes, nichts Unwürdiges gethan, als ich Sie zu täuschen suchte, als ich sogar in des Abbés Vorschlag, Ihre Wachsamkeit durch ein künstliches Mittel unschädlich zu machen, einwilligte! War das unrecht, so konnte ich doch nicht anders. Hätte es sich auch nicht um das anvertraute Gut gehandelt, welches ich meinem Vaterlande retten wollte, ich konnte dem Verlangen nicht widerstehen, der Situation voll wechselseitigen Argwohns, die mich unglücklich machte, ein Ende zu machen. – Durch Ihren Schritt von heute Morgen haben Sie mir bewiesen, daß mein Argwohn ein böser, völlig unbegründeter war, ich spreche es Ihnen offen aus – sprechen Sie auch mich in Ihrem Herzen von Vorwürfen frei, und wenn Sie von hier gehen, so denken Sie gütig und in Frieden an Blanche K.“

Ich brauche nicht zu sagen, wie glücklich diese offenbar in großer Hast hingeworfenen Zeilen mich machten. So glücklich, daß ich den Muth fand, zu ihr hinaufzueilen. Ich fand Blanche inmitten des Salons stehend, als ich in diesen eintrat. Sie sah mich ängstlich an, sie rührte kein Glied, als ich näher trat, sie war regungslos wie in dem Bewußtsein von einem Entscheidenden, über ihr Leben Bestimmenden dieser Zusammenkunft.

Dies Wesen dämpfte, ich muß es gestehen, ein wenig meinen Muth, und es mochte sehr beklommen lauten, als ich sagte:

„Blanche … können Sie denn glauben, ich hätte etwas Anderes als Bewunderung für Ihren Muth, Ihre Stärke, Ihre Geistesgegenwart, Ihre Hochherzigkeit? Etwas Anderes in mir als Verzweiflung über das, was ich Ihnen zufügen mußte? O ja, lassen Sie uns Frieden machen. Wir können es! Sie sagen, Sie haben gesehen, daß Ihr Argwohn ungegründet, daß mein Gefühl für Sie nichts Erheucheltes, sondern daß es stark, wahr und tief sei! Zeigen Sie mir, daß auch mein Argwohn ein Frevel war, zwingen Sie mich, ihn auf den Knieen Ihnen abzubitten …“

„Welchen Argwohn?“ sagte sie halblaut, zu Boden blickend.

„Den Argwohn, daß Ihre Güte, daß all’ Ihre Theilnahme für mich – Ihnen nur von Ihrem Patriotismus eingegeben sei und berechnet, mich willenlos zu machen und mich zu unterjochen!“

„Sie können das jetzt nicht mehr glauben!“ antwortete sie leise, aber rasch … „doch ja, Sie könnten es mit demselben Recht glauben, womit ich Mißtrauen gegen Sie hegte. Wohl denn, ich will Ihnen den Beweis geben, den Sie verlangen. Sie haben mich gebeten, nach dem Frieden zu uns zurückkehren zu dürfen … Sie hatten dann vor,“ setzte sie mit einem leisen Anflug von Lächeln hinzu, „mir allerlei zu sagen, ich weiß es nicht mehr, was! Ich erlaube Ihnen, wenn der Friede geschlossen ist, zurückzukehren!“

Ich ergriff voll inneren Jubels ihre Hand und drückte glühende Küsse darauf.

„Dank, Dank,“ sagte ich dabei – „und nun ist mir, als sei der Friede bereits geschlossen, ein voller, für beide Kämpfer gleich rühmlicher, seliger Friede! Soll ich Ihnen deshalb nicht jetzt schon alles das sagen dürfen, was Sie ‚vergessen‘ haben?“

Sie ließ ihre Hand in der meinigen, schüttelte aber heftig den Kopf und rief lebhaft aus: „Nein, nein, noch nicht, noch nicht! Sie sollen nicht von mir fordern, daß ich so rasch Alles vergesse, mich über Alles fortsetze! So lange der Krieg zwischen unseren Völkern wüthet, dürfen wir nicht egoistisch sein und nur unseren Gefühlen leben wollen. Verlangen Sie nichts mehr von mir. Es würde nicht gut sein, weder für Sie, noch für mich! Die Brücke,“ fügte sie anmuthig lächelnd hinzu, „welche Sie bauen wollten, darf nicht das Werk einer Stunde sein, wenn sie dauerhaft und fest werden soll …“

„Sie soll ja nur uns, nur uns Beide tragen, Blanche, und ich, was mich angeht, fühle mich so leicht, als ob mich Wolken trügen!“

Sie schüttelte wieder mit demselben Lächeln den Kopf und sagte dabei: „O nein, die Brücke muß auch sehr, sehr schwere Bedenken, sehr ernste Vorsätze und sehr wichtige Einwürfe, welche die Meinigen mir machen werden, tragen können!“ –

Ich brauche nicht zu erzählen, daß ich trotz dieses Verbots meiner Beredsamkeit keinen Zügel anlegte! Wie wäre das möglich gewesen, wenn das Herz von innerem Glück und Jubel überströmt? Im Uebrigen aber mußte ich mich Blanche fügen. Unser Bund mußte den Ihrigen geheim bleiben – sie gab mir zum Trost nur die Erlaubniß, täglich mehrere Stunden zu ihr kommen zu dürfen um ihr – den Faust auszulegen!

„In Gegenwart des Abbé?“ fragte ich.

„In Gegenwart des Abbé – vorausgesetzt, daß ihn Ihre deutschen Ketzereien nicht forttreiben!“ – –

Ich habe getreulich den Faust ausgelegt, aber ich fürchte, ich bin dabei sehr ketzerisch geworden und noch weit über den Ulanen-Arianismus Glauroth’s hinausgegangen. Vielleicht wär’s nicht einmal nöthig gewesen, denn der Abbé mied mich von nun an ohnehin. Weshalb? Ich glaube es zu errathen. Doch wenn der Friede da ist, wird auch er sich, hoffe ich, versöhnen lassen.

Ja, wenn nur erst der Friede da wäre! – Nicht eine Woche währte es und ich ward mit meinem Commando abgerufen von Chateau Giron. Das Regiment marschirte weiter südwärts; wir hatten uns bei Dijon zu schlagen, wurden bis Nuits vorgesandt, hatten zu recognosciren und zu fouragiren, wurden endlich als Deckung einer Batterie in dem blutigen Gefechte bei Nuits in einer sehr exponirten Stellung gebraucht … Glauroth traf dort ein Granatsplitter an der rechten Wade, der nebenbei sein Pferd unter ihm tödtete; ich bekam wenige Minuten nachher ebenfalls die mir bestimmte Kugel; sie ging durch den rechten Arm unmittelbar unter der Achselhöhle durch – Gottlob, ohne den Knochen zu verletzen; und so sind wir Beide denn auch zur Heilung in ein und dieselbe Stadt fernab vom Getümmel des Krieges gesandt, um hier mit den täglich wachsenden Kräften der Genesung das tägliche Stoßgebet zu sprechen: Wenn doch erst Friede wäre!



[132]

Das böse Haus.
Historische Erinnerungen von Georg Hiltl.


Der Schreiber dieser Zeilen hat oftmals Gelegenheit und Veranlassung gehabt, sich mit der Geschichte von Paris und dessen Umgebungen zu beschäftigen; manche Aufzeichnungen sind in seinem Besitze. Malmaison der Lust- und Leidensort der Kaiserin Josephine, war ihm von allen Orten, welche die Riesenstadt umgeben, der liebste, der anziehendste. Warum? – weil inmitten der Pracht, des Luxus, den Versailles, St. Cloud, St. Germain etc. aufweisen oder aufgewiesen haben, das stille und reizende, geschmackvoll heimische Malmaison doppelten Werth erhält. Die Ueberladung und der Pomp vermochten nicht die wohlthuende Stimmung zu erzeugen, welche des Beschauers der Räume von Malmaison sich bemeisterte. Es war so natürlich, so selbstverständlich, daß dereinst große und mächtige Gestalten, edle und liebenswerthe Persönlichkeiten hier sich eine Stätte bereitet hatten, wo sie ruhen, genießen, endlich weinen konnten.

Und dieses Malmaison, diese berühmte Stätte so schöner, strahlender und zugleich so schmerzlich wehmüthiger Erinnerungen, ist nicht mehr. Was die Revolution, was der Sieger von 1815 schonte, das zerstörten die Machthaber von Paris im Jahre 1870 durch ihre plumpen Geschosse; in ohnmächtiger Wuth zertrümmerten sie das Eigenthum Frankreichs, zu dessen besten und interessantesten Kleinodien Malmaison gehörte. Französische Geschosse haben die Mauern zerstört und französische Kugeln sausten durch die Gänge des Parks, in denen einst die Personen lustwandelten, heiter und ernst plauderten, auf welche der Franzose so stolz war. Die Macht, die Gewalt, die Liebenswürdigkeit und die Grazie hatten ihre Erinnerungen in Malmaison hinterlassen; die Schatten der Gefeierten schienen durch diese Räume und Gärten zu schweben; die platzenden Granaten haben sie wohl verscheucht. Malmaison ist ein von den Söhnen Frankreichs verstümmeltes Glied geworden und die Kugellöcher starren gleich drohenden Augen hinein in diese Verwüstung.

Husaren und Franctireurs in Rimogue.
Nach einer Skizze des Freiwilligen Knackfuß im Husaren-Regiment Nr. 15.


Malmaison hat eine Geschichte, welche sich bis in die Nebelregionen der Sage verliert. Gewöhnlich gilt der Ort als eine Stätte, die bei den räuberischen Einfällen der Normannen zur Bergung des entwendeten Gutes diente. Es ist richtig, daß eine Anzahl von Orten in der Nähe der Seine jene Silbe „Mal“ ihrem eigentlichen Namen vorgesetzt haben, und daß daher wohl auf trübe Erinnerungen geschlossen werden darf, die an solche Zusätze sich knüpfen. So bezeichnet auch der Name Malmaison (von mala mansio stammend) einen schlimmen Ort. Bestimmtes verlautet darüber Nichts, und die Verantwortung dafür müssen wir den Herren Delort, Saint Fargeau und dem gelehrten Historiker von Rueil, einem Abbé, überlassen, der für gegenwärtige Zeiten so unglücklich ist, einen Namen zu führen, welcher wie mala mansio an trübe Momente erinnert: jener Gelehrte heißt nämlich Leboeuf. Alle die Genannten haben weitläufige Abhandlungen über den Ursprung des Namens Malmaison geschrieben, ohne etwas Anderes als scharfsinnige Kritiken zu geben.

Vielleicht ist dem Leser aber auch eine andere Sage nicht unwillkommen, nach welcher der Name durchaus viel jüngeren Ursprungs sein soll. In einer finstern Nacht des Jahres 1631 trafen sich in der Nähe des heutigen Malmaison in dem kleinen räucherigen Wirthshause an der Seine zwei Männer am gastlichen Heerde. Einer von ihnen war ein schöner, lebenslustig dreinschauender Cavalier, der Andere ein Mann in gereiftem Alter mit finsteren, unheimlichen Zügen, dessen dunkle Kleidung ganz zu den buschigen Augenbrauen paßte, welche der finstere Gast fortwährend runzelte. Jugend und Lebensmuth fragen aber meist nicht nach solchen Erscheinungen, und so kam es denn, daß der junge Cavalier bald mit dem Griesgrämigen Bekanntschaft machte. Der Wein öffnete Mund und Herz, und der Finstere hatte schnell genug erfahren, daß sein junger Tischgenosse ein Edelmann aus La Rochelle und auf Ladung des Ehrengerichtes nach Paris berufen sei, um sich wegen eines scharfen Pamphletes gegen den Cardinal Richelieu zu verantworten. Der junge Cavalier galt als Verfasser, obwohl er das auf’s Bestimmteste leugnete. Die Jugend und Schönheit des Bedrohten hatten auf den Finstern sichtlich Eindruck gemacht. Er ward unruhig und konnte kaum das Ende der Mahlzeit erwarten. Er winkte dem Cavalier, schritt mit ihm hinaus und blieb auf einem kleinen Hügel stehen.

„Sehen Sie dort das Schloß?“ fragte er.

„Gewiß,“ entgegnete der Cavalier. „Es ist ein Haus, welches der böse Mann bewohnt.“

Unter diesem Titel verstand man den Cardinal Richelieu, der auch „Blutige“ oder „Rothe Eminenz“ genannt wurde. Jenes Haus war das heutige Schloß.

„Gut also,“ fuhr der Finstere fort. „Wissen Sie, wen Sie vor sich haben?“

[133]

Schloß Malmaison vor seiner Zerstörung durch die Franzosen.
Nach der Natur aufgenommen von Fritz Schulz und auf Holz gezeichnet von R. Püttner.

[134] „Nein.“

„Ich bin der Henker von Chartres.“

Der Cavalier stutzte.

„Ich will Ihnen beweisen,“ ließ der Blutscherge sich vernehmen, „daß ich auch menschlich sein kann. Ich warne Sie. Auf Befehl Laubardemont’s bin ich hierher gekommen, um eine Hinrichtung vorzunehmen. Ich fürchte, mein Herr, Sie sind das Opfer. Hören Sie mich an, denn ich will Sie retten. Bemerken Sie dort jenes Fenster im Schlosse, welches dicht über der Mauer angebracht ist?“

„Ich sehe es.“

„Wohlan, wenn ich nicht für Sie herberufen bin, dann erscheint in Zeit von einer Stunde ein Licht an jenem Fenster; gilt meine Anwesenheit Ihnen, dann bleibt das Fenster dunkel, dann fliehen Sie.“

Er verließ den jungen Mann schnell, der sein Pferd eilig sattelte und erwartungsvoll nach dem bezeichneten Fenster blickte. Er harrte länger als eine volle Stunde; das Fenster blieb dunkel. Der Cavalier war mit dem Tode bedroht; man hatte ihn nur nach Paris locken wollen. Der Cardinal fühlte niemals Erbarmen für seine Feinde. Der Bedrohte warf sich auf sein Pferd und jagte flüchtend in die Nacht hinaus. Er entrann dem Verderben.

Von daher soll das Wirtshaus den Namen „Bon Secours“, das Schloß als Wohnsitz des Cardinals den Namen „Malmaison“ erhalten haben. Die Verbreiter dieser Sage vergaßen nur Eines: daß der gefürchtete Cardinal niemals in Malmaison gewohnt hat. Verlassen wir den Boden der Sage und des Ungewissen, so erscheint Anfang des dreizehnten Jahrhunderts die Abtei von St. Denis als Besitzerin des Ortes, welcher sich nach mancherlei Wechsel der Besitzer im Anfang des achtzehnten Jahrhunderts in den Händen der Frau von Harene befindet. Die schöne Zeit beginnt, denn diese liebenswürdige Dame versammelt eine auserlesene Gesellschaft um sich. Die Gemächer hallen von Gesang und Saitenspiel, geistvolle Reden schwirren in belebender Unterhaltung, Scherze und Lachen ertönen, und in den dunkeln Lauben dichtet Delille seine Idyllen, während Marmontel einen Theil seiner Memoiren in Malmaison niederschreibt.

Aber wenn das Auge hinausschaut aus den Fenstern des kleinen Schlosses, wenn der Blick über die lachenden Ebenen hinweg bis Paris schweift, dann sieht man die drohende Wolke hängen, tief – schauerlich und Blitze aussendend – die Revolution zieht herauf – die Fenster von Malmaison klirren unter dem Donner der Kanonen. Die Gesellschaft der Frau von Harene ist zum Theil verschwunden. André Chenier und Delille, Besucher des Hauses, standen sich feindlich entgegen – der Sturm treibt die Blüthen wirbelnd umher – und dennoch beherbergt Malmaison jetzt wieder eine gewählte Gesellschaft. Es scheint bereits eine Zufluchtsstätte geworden zu sein. In dem eleganten Salon finden wir: den Herzog von Penthièvres, die schöne unglückliche Lamballe, Florian, den Schriftsteller des Tell und der freien Schweiz. Einige Gäste aus Trianon flüchten oftmals nach Malmaison – die Trianons und Versailles sind bereits unheimlich, seitdem die Halleweiber im großen Marmorhofe ihre Bacchanalien gefeiert haben. Eigenthümer von Malmaison ist um diese Zeit die Familie Le Coulteux. Die Le Coulteux gehören den Geschlechtern an, in welchen Talent für Geschäft und Neigung für Kunst und Wissenschaft gleich heimisch sind. Sie besaßen außer Malmaison noch Auteuil und Luciennes bei Paris. Die Familie zerfiel in drei Linien: in die Canteleux, die Norayes und die Moleys. Die Coulteux du Moley besaßen Malmaison. Madame du Moley war eine der liebenswürdigsten Frauen ihrer Zeit und Gesellschaft. Crillon, Delille und der Spanier Olivarez sind die Zierden des Salons in Malmaison, aber schon wird der reizende Aufenthalt seinen Bewohnern gefährlich. Die Landleute in der Umgegend nehmen drohende Haltung an und sie erheben ihre Knittel gegen die Besitzer des Schlosses. Immer verheerender wälzt sich die Woge der Revolution heran, auf den Umsturz folgt die Schreckenszeit. Die Sündfluth bricht herein, und Derjenige, welcher allein im Stande war, die brausenden Wasser einzudämmen, Bonaparte, soll in dem kleinen Schlosse von Malmaison eine Stätte der Ruhe und Erholung finden.

Le Coulteux hatte aus dem allgemeinen Schiffbruche, der auch einen Theil seiner Güter verschlang, die kleine Domaine von Malmaison gerettet. Der Held seiner Zeit, der General Bonaparte, reichte einem Wesen die Hand, das bestimmt schien, ihn als sein guter Engel zu begleiten. Er heirathete im März 1796 Josephine Tascher de la Pagerie, die Wittwe Beauharnais’, eine Frau gleich hervorragend durch Eigenschaften des Geistes und des Herzens. Josephine hatte den Nimbus des Interessanten um sich verbreitet. Ihre seltsamen Schicksale, die Aufopferung und der Muth, welchen sie bei dem Verhängnisse, das Beauharnais auf’s Schaffot führte, an den Tag legte, die Gefahr, welche sie selbst bedrohte, und der sie nur durch die Katastrophe des neunten Thermidor entging, all diese Ereignisse umgaben Josephine mit einem hellen Glanze, der ihre Anmuth erhöhte. Nach der Verbindung mit Bonaparte, nach der Niederwerfung der Anarchie wollte Josephine die glänzenden Wohnungen zu Paris mit einem stillen Asyle vertauschen, in dessen Räumen sie ungestört den gesellschaftlichen, künstlerischen und wissenschaftlichen Genüssen sich hingeben konnte. Der Tochter des Südens, der Creolin waren der schattige Wald, die Stille und Behaglichkeit eines Wohnsitzes, der sie nach erregenden Scenen in seine Räume aufnehmen konnte, das Ziel aller Wünsche.

Bonaparte hatte seinen Siegeszug nach Aegypten unternommen, Josephine suchte währenddessen nach jenem Asyle. Sie fand es in Malmaison. Von dem Besitzer Le Coulteux erstand sie das kleine Schloß im Jahre 1798 für den Preis von hundertsechszigtausend Franken. Sie begann sofort mit den Verbesserungen und Verschönerungen. Als Bonaparte, in Frejus gelandet, nach Paris zurückkehrte, als die ersten Acte der Begrüßung vorüber waren, führte Josephine ihn nach dem neuerworbenen Malmaison. Hier sollte auch er ruhen von den Siegen und Erfolgen im Genusse eines heitern, ungestörten Familienglücks.– Bonaparte fühlte sich in der That hier glücklich in der Ruhe, in dem Glanze und dem Zauber, den seine Gemahlin um sich und Alles breitete. Er erfreute sich an den Verschönerungen, welche sie in Malmaison hervorgerufen hatte, er sah mit Wohlgefallen auf die von Blumen prangenden Beete, sie waren von Josephine gezogen, gehütet, die im Laufe der Zeit durch Vernachlässigung verwilderten Alleen, Hecken und Gebüsche hatten ein zierliches, wohlgefälliges Aussehen erhalten, über die gepflegten Wiesen rieselten kleine Bäche und aus den Becken warfen künstlich angelegte Wasserwerke ihre Strahlen. Mit diesen Verbesserungen der äußeren Anlagen gingen die der Gesellschaft Hand in Hand. Von Malmaison aus verbreitete sich ein gesellschaftlicher Ton, der vortheilhaft gegen den früheren abstechen mußte. Josephine hatte die besten Köpfe und die unterhaltendsten Gesellschafter, die graciösesten Frauen um sich versammelt. Während Lenoir und Berthold, Fontaine und Percier für die Ausschmückung des Schlosses sorgten und arbeiteten, verbrachten in den Salons Bernardin de Saint Pierre, Arnault, Ducis, Talma, Duval, Bouilly und viele Andere in Gesellschaft Josephinens und Bonaparte’s die genußreichsten Abende. Neben diesen Persönlichkeiten fanden sich die jungen Generale, die Begleiter Bonaparte’s auf seinen Zügen, hier in Malmaison zusammen, die glänzenden und lieblichen Erscheinungen der Fanny Beauharnais, d’Houdetot, der Damen Caffarelli, Damas, Andreossi, vollendeten den Kreis, den Gérard, Lesueur, Cherubini, Lebrun, Hoffmann, Despréaux, Isabey durch Wort und Bild verherrlichten. Der Glanzpunkt für Malmaison war gekommen.

Nach dem blutigen Tage von Marengo folgte eine Zeit der Ruhe. Gesellschaftliche Zusammenkünfte, Promenaden, Musikabende, dramatische Vorstellungen und Spiele im Freien wechselten ab. Aus dem Lärmen von Paris zog sich Bonaparte gern nach Malmaison zurück in Josephinens Nähe. Sie erschien ihm noch anziehender in dem weißen einfachen Gewande, als im Prunke der Gesellschaftsrobe; fern von dem Getümmel der Schlachten, von der Last der Arbeit auf kurze Zeit befreit, wandelte der gewaltige Mann durch die stillen Parkgänge von Malmaison. So zeigt ihn das berühmte Blatt Isabey’s. Der Blick ist freilich schon wieder ernst, die Stirne leicht gefaltet; es hat den Anschein, als sei Bonaparte der Ruhe bereits überdrüssig, er sinnt auf neue, erschütternde und gewaltige Dinge, nur zuweilen schwebt ein mattes Lächeln des Wohlgefallens um den scharfgezeichneten Mund, denn dort am Ende des Wiesenganges, wo er in das Gebüsch hineinmündet, gewahrt Bonaparte hellgekleidete weibliche Gestalten; sie scheinen über den Rasen zu schweben, anmuthig und leicht wandeln sie auf dem smaragdgrünen Teppich, um in dem dunklen Gehölz zu verschwinden. „Josephine hat es veranlaßt,“ sagt Bonaparte leis vor sich hin, er weiß, daß sie diese Ueberraschungen leitet. Sonderbare [135] Contraste! der Mann, dessen Augen an den Anblick riesiger, in Waffen starrender Colonnen gewöhnt sind, die auf sein Geheiß in die Schlacht stürzen, in Dampf und Feuer der Batterien verschwinden, dieser Mann liebt es, ganz in der Ferne, zwischen Laub und Gebüsch, auf Wiesen, die zarten Gestalten anmuthiger Frauen zu erblicken.

Der Abend vereinigt die Bewohner und Gäste von Malmaison in der Galerie. Die Wände schmücken herrliche Bilder, denn schon hat Josephine einen Schatz von künstlerischen Erzeugnissen aller Art aufgehäuft. Gemälde der italienischen, deutschen und niederländischen Schule – Werke von Ghirlandajo, Dürer, Teniers, Wouverman wechseln mit den antiken Büsten ab, welche dort auf dem Marmortische prangen. Etrurische und ägyptische Alterthümer fesseln die Blicke des Forschers und er betrachtet entzückt jenes Relief, „Die Musen um Apoll gruppirt“ darstellend, welches aus Neapel als Geschenk für Madame Bonaparte gesendet wurde. Während in dem reizend ausgestatteten Raume die lebhafteste und geistvollste, alle Tagesfragen in sich verflechtende Unterhaltung schwirrt, beleuchtet der sanfte Strahl des Mondes die um das Schloß sich hinziehenden, in tiefer Ruhe liegenden Gärten, die Schöpfungen Josephinens. Die Schweizerei, die Kioske, der „Tempel“ im dichten Gehölze, die Brücken von Baumstämmen und die Alleen mit ihrem dunklen, geheimnißvollen Schatten schwimmen im Glanze des Mondlichtes, die Quellen und Bäche, die Cascaden rauschen und plätschern, in der Stille dieser Mondnacht ruht Alles, nur die Nachtfalter schweben durch die Gebüsche, da tönt es melodisch aus dem Schlosse herüber, das silberhell im Lichte des Nachtgestirns sich erhebt, die Klänge einer meisterhaft gespielten Harfe wecken ein leises Echo dort im Gehölze der Brücke gegen Chaton. Josephine spielt die Harfe, Alles lauscht diesen Accorden. Bonaparte hat das Haupt in die Hand gestützt, er nickt leicht und wohlgefällig lächelnd seinen Beifall. Josephine aber benützt diese glücklichen Momente, um durch eine einschmeichelnde Bitte bei Bonaparte das Loos eines Gefangenen oder Verbannten zu mildern, um eine Gewalttat zu hindern. Und sie ist glücklich, oft genug diese Stimmung zu finden, denn der Bonaparte von Malmaison ist ein Anderer als der von Paris.

Das kleine Schloß ist das Trianon des Consulates geworden. Aber die gewaltige Zeit schreitet mit ehernem Tritte näher, die Stunden des Glücks, des stillen neidenswerthen, sind schon gezählt. An der blendenden Sonne des Kaiserthums schmilzt es „wie Wachs im Ofen zergeht“. In Malmaison ruht Josephine nach der Krönung, die sie zur Kaiserin erhob; das Diadem, welches Bonaparte ihr eigenhändig auf die Stirn drückte, preßt diese noch immer, die Schläfen pochen fieberhaft und die Ruhe, welche in Malmaison Josephine umfängt, vermag nicht, die Angst, die Sorge zu verscheuchen, die an dem Herzen der Kaiserin nagen. Diese Krönung, dieser Beginn des höchsten Glanzes, wird das Ende des irdischen Glückes sein. Alles fügt sich, wie Josephine geahnt. Sie kämpft gegen die Zumuthung, die Scheidung selbst zu beantragen; aber sie sieht, daß es vergebliches Mühen ist – Bonaparte, Napoleon der Erste, muß eine Fürstentochter zur Gattin nehmen, die Wittwe Beauharnais’ wird zurücktreten – aber mit ihrem Rücktritt wird der Stern des Gewaltigen erlöschen.

Napoleon scheint von diesem Gedanken selbst ergriffen; noch lächelt ihm Josephine unter Thränen zu, als das Te deum für den Wiener Frieden stattfindet. Zwölf Tage später erfolgte die Trennung der Ehe des Kaisers von der Kaiserin; Napoleon las die Erklärung mit bewegter Stimme, er stockte zwei Mal. Josephine blieb fest, ruhig und ergeben, sie verwandte keinen Blick von dem Kaiser, die Gewalt des Schmerzes war so ungeheuer, daß sie jeden Ausbruch einer Empfindung niederdrückte. Am Tage nach dieser Trennung fuhr Napoleon nach Trianon – Malmaison nahm Josephine auf, sie wandelte einsam durch die Räume, durch die Alleen, sie weinte nicht mehr, sie klagte nicht, aber in dem köstlich decorirten Schlafgemache, dessen Decke die Chiffre N und J in künstlicher Verschlingung zeigte, saß die Kaiserin vor einem kleinen Tische, dessen Kästchen ihre Papiere barg, Sie hielt ein vergilbtes Blatt in den Händen. Auf diesem Blatte stand die Prophezeiung einer Zigeunerin welche Josephinen bei ihrer Heirath mit Bonaparte zugekommen war. „Sie werden höher als eine Königin steigen – aber Sie werden im Spitale enden!“ lautete der unheilverkündende Spruch. Josephine betrachtete diese Schrift. Der erste Theil war eingetroffen – es fröstelte die Kaiserin, als sie des zweiten gedachte.

Das Elysée, dann Navarra, dann Aix, endlich die Ufer des Genfer Sees – das waren die Orte, wohin Josephine den Wanderstab setzte, als sie von Malmaison schied. Ihre Stelle nahm Marie Louise von Oesterreich ein; die entthronte Kaiserin verfolgte aufmerksam die Schicksale des Mannes, den sie so heiß geliebt, den sie noch liebte. Marie Louise hatte dem Befehle gehorcht, ihr Schicksal rief sie auf den Thron Frankreichs. Sie wußte sehr wohl, daß Josephinens Andenken im Herzen Napoleon’s nicht verlöscht werden konnte; die neue Kaiserin fürchtete stets die geschiedene Gattin und sie scheute sich, den Fuß über die Schwelle des öden Malmaison zu setzen. Die beispiellos glänzende Laufbahn des Kaisers beginnt ihre Richtung in die Tiefe zu nehmen. Josephine ist im Jahre 1811 nach Malmaison zurückgekehrt; die Zeit hat eine leichte Narbe über die klaffende Wunde gezogen. Die Achtung, die Neigung des Kaisers gehören noch immer der Verlassenen; sie ist die Erste, welche die Nachricht von der Geburt des Königs von Rom erhält; Beweise der stillen Liebe, der herzlichen Theilnahme werden ihr gegeben. Josephine ist nicht mehr unglücklich, sie feiert einen Triumph; sie verfolgt bangend und angsterfüllt die Ereignisse des Erdballs, welche Napoleon lenkt, wie bald werden sie ihn erdrücken, der Titan wird unter dem Felsen erstickt werden, den er gen Himmel schleudern will. Die Waffen der einst unterdrückten Nationen blitzen an den Grenzen Frankreichs, die begeisterten Schaaren der preußischen Krieger, ein gedrücktes, nun sich erhebendes rachedürstendes Volk, stürmen in das Herz Frankreichs hinein.

Im Kreise ihrer Kinder und Freunde lauschte Josephine entsetzt diesen Klängen, dem Donnern preußischer Geschütze und den Wirbeln der preußischen Trommeln, die in den Straßen von Paris verhallten. Als Marie Louise nach Wien zog, den gestürzten Imperator verlassend, da wallte es hoch auf in Josephinens Herzen, der unglückliche Napoleon war ihr wieder näher gerückt; sie verließ Malmaison, sie wollte den Gefallenen noch einmal sehen. Napoleon hatte bereits Fontainebleau verlassen. Er schiffte sich nach Elba ein; die Gunst, ihn zu begleiten, sollte Josephinen nicht zu Theil werden. Am Tage der Einschiffung war sie allein in Malmaison; als Napoleon das Schiff betrat, welches ihn von Frankreich entführte, rief er aus:

„Sie hatte Recht! Mein Unglück begann, als ich sie verließ.“

Josephine erfreute sich der regsten Theilnahme, der zartesten Aufmerksamkeit der alliirten Herrscher. Kaiser Alexander, der König von Preußen und seine Söhne erwiesen ihr jede Rücksicht – Josephine war mehr Fürstin, als sie seit ihrer Trennung von Napoleon jemals gewesen. Alexander bat um eine Zusammenkunft – Malmaison sah den Herrscher Rußlands in seinen Mauern. Er fand Josephine kränkelnd, in der Gesellschaft ihrer Tochter, der Königin Hortense, und des Prinzen Eugen. Der Kaiser kehrte entzückt von der Unterhaltung heim, Josephine hatte nur für Napoleon gesprochen – sie schien nach dieser Zusammenkunft wieder neues Leben gewonnen zu haben – aber das Geschick Napoleon’s war durch geheime Fäden zu eng mit dem ihrigen verknüpft, sie konnte den Sturz des Angebeteten nicht überleben. Nach dem Feste von St. Leu wollte der Kaiser Alexander die Gefeierte wieder besuchen; er fand sie sichtlich verändert, sie führte mühsam die Unterhaltung, der Kaiser schied besorgt von ihr. Josephine bereitete sich zum Tode. Ein schweres Halsübel machte reißende Fortschritte, die Brust arbeitete heftig, Gram und Sehnsucht nach ihm, den Meere von Josephinen trennten, vollendeten das Werk der Zerstörung dieses schönen und edlen Lebens.

Als Kaiser Alexander am 27. Mai zum dritten Mal in Malmaison anlangte, um Josephine zu begrüßen, sah er sie nicht mehr. Die Kaiserin schlummerte nach qualvoller Nacht. In den Morgenstunden des 29. Mai begann ihr Todeskampf „Bonaparte – Elba – Marie Louise“ – mit diesen Worten entfloh ihre Seele.

Drei Tage lang war der einbalsamirte Leichnam auf einem Paradebette im Vestibüle von Malmaison ausgestellt. Man hat die Menge der Herbeigekommenen, welche die Verstorbene noch einmal sehen wollten, auf zwanzigtausend geschätzt. Fast ebenso viele folgten dem Leichenzug, der Josephinens sterbliche Reste nach Rueil führte, hinweg aus Malmaison, aber nicht weit von diesem Orte, der die glückliche Josephine gesehen hatte und in dessen Bereich fast jeder Strauch, jeder Baum Erinnerungen an sie wachrief.

[136] Ein Jahr später! Wie ein Wetterstrahl fuhr der entthronte Kaiser auf’s Neue über das Meer. Noch einmal bebte Alles vor den kommenden Schrecknissen. An dem Thore Malmaisons hält ein Wagen. Napoleon steigt hastig aus – Denon, Molé und Labedoyère folgten ihm. Als der Kaiser das Vestibüle betritt, zuckt sein bleiches Antlitz heftig – er grüßt nur flüchtig die ihn empfangende Königin Hortense, dann eilt er in die Galerie. Seine Blicke schweifen umher, die Augen vermögen nicht lange auf einem Gegenstände zu ruhen, es ist als jage die Erinnerung seine Blicke, als dulde sie nicht, daß er bei Diesem oder Jenem verweile. Er eilt durch den Park, er besucht alle Plätze, alle Stätten des früheren Glückes. Er speist allein mit Hortense, dann wandelt er wieder durch die Zimmer und sein Blick ist ruhiger geworden, er haftet mit dem Ausdrucke unendlicher Zärtlichkeit auf all diesen so theuren Gegenständen. Jetzt steht er vor dem Sterbezimmer Josephinens, seine Hand ruht auf dem Drücker der Thür; Hortense will folgen, aber eine gebieterische Bewegung des Kaisers scheucht sie zurück. Er betritt allein das Zimmer und schließt die Thür hinter sich; eine Stunde lang verweilte er in dem Gemache – die Königin sah Thränen in seinen Augen, als er heraustrat.

Waterloo! In diesem Namen liegt die Geschichte des Sturzes eines Titanen. Gebeugt und geknickt verließ Napoleon Armee und Herrschaft. Sein Schicksal ist entschieden, doch ehe er die einsame Insel betritt, will er noch an dem ihm liebsten Orte weilen – Malmaisons Luft will er athmen – der Hauch Josephinens, der aus den Blumen und Bäumen, welche sie gezogen, zu quellen scheint, soll ihn noch einmal umfächeln. Fünf Tage blieb er in Malmaison – dann nahm er von Hortense – von Frankreich auf immer Abschied. An der rechten Schloßseite befindet sich ein kleiner Stein, der einen Adler und die Inschrift zeigt: Dernier Pas de Napoléon, partant; pour Rochefort le 29 Juin 1815. A quatre heures après-midi. (Letzter Schritt Napoleon’s bei seiner Abreise nach Rochefort, am 29. Juni 1815, Nachmittags vier Uhr.) Hier war es, wo der Gestürzte sich losriß von Malmaisons geliebter Erde. – 1826 kaufte der Schwede Hagermann das Schloß; 1842 Marie Christine von Spanien; 1861 Napoleon der Dritte, der heute auf Wilhelmshöhe über den Fall seines Hauses nachdenken kann – unterdessen zerstörten die Kugeln der Franzosen den Ort, an welchem der Gewaltigste ihrer Herrscher am glücklichsten war. Pauvre Maison! sollten sie das Schloß taufen; diese Mauern haben ein unverdientes Schicksal erlitten, sie hätten geweiht sein sollen durch Josephine!


Um Paris herum.
Von Friedrich Gerstäcker.
II.

Wie oft haben wir jetzt auf der Karte mit mißtrauischen Blicken die Forts St. Denis und Mont Valerien betrachtet, und dabei ziemlich sicher herausgefühlt, daß das wohl die beiden schwierigsten Aufgaben sein würden, diese größten Schutzwehren der Hauptstadt im Norden und Westen zu bewältigen, um dem übermüthigen Paris auch von diesen Seiten beizukommen. Das Alles liegt jetzt wie ein Traum hinter uns. Paris hat capitulirt, unsere Kanonen drohen von den Wällen ihrer eigenen Forts auf die gedemüthigte Stadt nieder, und frohe Friedenshoffnung kehrt in die Herzen Derer zurück die sich noch vor Kurzem als grimme Feinde gegenüberstanden.

Ich selber war gerade, und zwar am 26. Januar, in Margency, im Hauptquartier des Kronprinzen von Sachsen eingetroffen, und von Seiner königlichen Hoheit so gütig wie herzlich aufgenommen worden. Schon am Abend aber traf die Nachricht dort ein, daß, bis auf weitere Ordre, mit schwerem Geschütz nicht mehr geschossen werden solle, und es war da keinem Zweifel unterworfen, daß Friedensunterhandlungen im Werke sein müssen. Ohne diese Aussicht hätte Graf Bismarck sicher in keinen Waffenstillstand gewilligt. Die Bestätigung ließ auch nicht lange auf sich warten.

Am Achtundzwanzigsten Abends brachte ein Reiter, von den Vorposten aus, den „Petit Moniteur“ von Paris, und zwar schon die Nummer vom Neunundzwanzigsten, die gegen eine Hammelkeule eingetauscht worden, und sie enthielt – für die Pariser allerdings noch ein wenig verzuckert, die ersten Bedingungen der Capitulation mit der Hauptsache, daß sämmtliche Forts von unseren Truppen besetzt werden sollten.

Auf den nächsten Morgen zehn Uhr war die Uebergabe bestimmt, oder sollte wenigstens dahin aufgebrochen werden, und der kleine Zug, der Kronprinz mit seinem ganzen Stab und einer kleinen Escorte oder Ehrenwache von Garde du Corps, setzte sich, nicht eben in großer Eile, in Bewegung, denn derartige Sachen sind nun einmal in diesem Kriege nicht über’s Knie zu brechen. Der Unfall von Laon hat unsere Armee vorsichtig gemacht, und man fängt an, das Ehrenwort der französischen Officiere nicht mehr als genügende Garantie zu betrachten.

In einem kleinen Orte La Barre wurde Halt gemacht, dort fanden wir schon Infanterie und besonders Pionniere vor, und diese mußten jetzt vorausgehen, um die Festung selber genau zu untersuchen, die Minenräume aufzufinden und, soweit das in der kurzen Zeit überhaupt möglich war, sicher zu stellen, daß keine Hinterlist beabsichtigt werde.

Einer[WS 1] der für die Uebergabe zurückgelassenen Officiere, der herüberkam, bat, beiläufig gesagt, auch darum, daß man nicht mit „klingendem Spiel“ nach St. Denis „einziehen möge“, was ihm aber freilich rund abgeschlagen wurde. Die Pariser Herren haben es wahrlich nicht verdient, daß man die geringste Rücksicht auf ihre „Gefühle“ nimmt. Die Folge davon wäre gewesen, daß sie in die Welt hinausposaunt, die „Prussiens“ hätten selber nicht einmal an ihren Erfolg geglaubt und sich nur scheu in die Festung hineingeschlichen.

Während der Zeit, welche die Pionniere und verschiedene Ingenieure gebrauchten, die jetzt offene Festung zu untersuchen, schlenderte ich in dem kleinen Orte umher – aber es war ein trauriger Anblick, immer nur wieder und wieder diese von ihren Bewohnern verlassenen und dann zum großen Theil verwüsteten Ortschaften anzuschauen.

La Barre schien in der Zeit der Beschießung, als zu dicht unter den Kanonen der Forts gelegen, von keinem Theile, weder von Franzosen noch Deutschen besetzt gewesen, und deshalb vollständig ausgeräumt zu sein. Ich selber habe wenigstens, mit Ausnahme einiger Häuser, noch bisher keinen Platz so leer gefunden, als diesen kleinen Ort, welcher Gebäude aufwies, in denen sich weder Tisch, noch Stuhl, noch Bett, ja nicht einmal mehr Fenster und Thüren befanden, weil man eben Alles zu Feuerung verwandt hatte.

Nur in der letzten Zeit, als unsere Batterien und Vorposten von allen Seiten näher vorgeschoben und befestigt wurden, sind die deutschen Truppen hier eingerückt, und die Soldaten haben, gewissermaßen als ein Zeichen ihres Geschmacks, eine Gruppe von Figuren mitten auf dem dreieckigen Marktplatz aufgestellt, die wirklich Nichts zu wünschen übrig läßt. Den Mittelpunkt davon bildet ein Geschützstück eigener Art: die hintere Achse eines Wagens mit den beiden hohen Rädern, und über diese hin ein langes starkes Ofenrohr gelegt, so daß man es aus der Ferne recht gut dür einen Vierundzwanzigpfünder halten konnte. Dieser Achse zur Seite stand Eugenie selber – eine gar nicht unschöne Gypsbüste, aber als ganze Figur ausstaffirt und sehr anständig bekleidet. Das vorn sichtbare Hemd, das sie trug, war D. D. gezeichnet, nur die Crinoline etwas zu groß und der Ueberwurf defect. Sie hielt das Gestell eines Regenschirms im Arm, und außer einem großen Korbe mit leeren Flaschen und einem mit ähnlichen Dingen hochauf bedeckten Kinderwagen deutete auch eine Inschrift an, daß sie hier ein Marketendergeschäft besorge.

Der Kinderwagen war übrigens der allgemeinen Zerstörung, die ihn sonst ebenfalls mit ereilt hätte, durch den Scherz entgangen. Jetzt stand er dort unantastbar, und der glückliche Besitzer kann ihn, wenn die geflohenen Bewohner ihre verödete Heimath wieder aufsuchen, ungeschädigt in Besitz nehmen. Die Phantasie der Soldaten war aber damit noch nicht erschöpft gewesen, und zahlreiche Exemplare ähnlicher Individuen, von denen noch ausgestopfte Hosen als Beine und ebensolche Jacken herumlagen, gaben davon Zeugniß. Die letzten Regen schienen freilich der

[137]

Bei einer Feldschmiede des schlesischen Feldartillerie-Regiments Nr. 6 vor Paris.
Nach der Natur aufgenommen von Louis Braun.

[138] Ausstellung geschadet zu haben, und sie befand sich gegenwärtig in einem etwas aufgelösten Zustand.

Um St. Denis zu besetzen, waren sechs Bataillone Infanterie bestimmt und mehrere Feldbatterien rasselten jetzt die Straße hinab – nur als Sicherheitsmaßregel, um, wenn die Besatzung vielleicht noch Schwierigkeiten machen sollte, den gehörigen Nachdruck geben zu können.

Auf dem Platz stand noch ein Theil unserer Truppen, um den Befehl zum Abmarsch zu erwarten, als eine Anzahl Bauern in blauen Blousen – auch ein paar Frauen zwischen ihnen, hierher nach La Barre kamen, um – ihre Häuser wieder aufzusuchen. Und wie wurden die armen Teufel von den Soldaten noch ausgelacht, als sie bestürzt vor ihren leeren, im Inneren wenigstens vollständig verwüsteten Wohnungen stehen blieben! Allerlei schlechte Witze wurden gemacht – „Steht es noch? – na, Ihr könnt froh sein – und hübsch eingerichtet haben wir’s auch und das Holzwerk sauber ausgeräumt.“

Die Leute antworteten nicht – „c’est la guerre.“ seufzte der Eine und dann schritten sie schweigend die Straße hinunter – und die Frau weinte.

Alle diese Menschen leugnen jetzt freilich, daß sie den Krieg gewollt, sie erklären in dem „Ja“ des Plebiscit nur den Frieden verstanden zu haben, den ihnen der Kaiser versprochen, und bei Vielen mag es auch in der That der Fall gewesen sein. Im großen Ganzen hat aber doch das Volk dem Krieg gegen „Preußen“ zugejubelt, weil Keiner von ihnen auch nur an eine einzige Niederlage dachte und es ebenso wenig für möglich hielt, daß der Kriegsschauplatz nicht nach Deutschland geschoben, sondern in Frankreich selber seinen blutigen Boden finden sollte. Jetzt sind sie Alle niedlich gesinnt gewesen und das „à nous le Rhin“ will Keiner mitgerufen haben.

Um zwei Uhr endlich rückten wir von La Barre aus, um nach St. Denis einzuziehen. Es war noch keine Antwort zurückgekommen, daß sich Alles in Sicherheit befinde, aber der Kronprinz wollte auch nicht länger warten, denn der Abend brach sonst herein, ohne daß wir unseren abgegebenen Zweck erreicht hätten.

Das Ende von La Barre fanden wir, nach St. Denis zu, noch vollständig verbarricadirt und nur ein schmaler Raum war geöffnet worden, um eben die Geschütze durchzulassen. Der Humor der Soldaten war auch hier, wie an den meisten solchen Plätzen, thätig gewesen, denn oben auf den Barricaden und Brustwehren lagen nicht allein Ofenrohre als anscheinende Geschütze, sondern auch thönerne Drainirungsröhren hatten dem Zweck dienen müssen und gaben dann vielleicht den Plätzen von Weitem ein sehr gefährliches Aussehen.

Und dort lag St. Denis – gerade auf das kleine Außenfort Le Vert Galant hielten wir zu, ließen dieses aber, das wir schon von unseren Pionnieren besetzt fanden, rechts liegen und näherten uns dem eigentlichen Thor der Festung selber.

Der Leser darf sich nun aber die Uebergabe einer solchen Veste nicht etwa so feierlich denken, wie wir sie noch auf alten Bildern abconterfeit sehen. Da hält der siegreiche Feldherr, von all den Großen seines Heeres umgeben, auf ungeduldig stampfendem Pferd, und vor ihm, in ehrfurchtsvoller Stellung, auf rothem Sammetkissen den Schlüssel der Stadt tragend, steht der Bürgermeister in seiner Allongenperrücke, und hinter ihm die ängstlichen Rathsherren, die jetzt nur froh sind, daß sie die Sache überstanden haben.

Die Geschichte war hier bedeutend einfacher. In den Forts von Paris, die ihren Rückhalt an der Stadt selber haben, wurden keine Gefangene gemacht, denn die Soldaten hatten schon alle den Platz verlassen, ehe wir ihn nur betraten, und sich zurück auf Paris gezogen. Es wurde auch kein Schlüssel überreicht, denn das Thor stand offen. Die unser harrende Infanterie zog ein – das Musikcorps stellte sich unmittelbar am inneren Thore auf, und jetzt fand der Einzug unter der rauschenden Militairmusik statt.

Schon vorher hatten wir von dem kleinen Vorwerk Le Vert Galant aus einen Theil der Festungswerke umschritten, waren so zu dem eigentlichen Thor derselben gelangt und konnten dort unterwegs sehen, welche Vorbereitungen die Herren Franzosen getroffen hatten, um unsere Truppen bei einem Sturmangriff zu empfangen. Da standen nicht allein etwa neun Fuß hohe „spanische Reiter“ – ein sehr unangenehmes Ding, sie zu überklettern oder aus dem Weg zu schaffen, da sie aus quer durch einander gesteckten starken Hölzern bestehen und die Stürmenden jedenfalls unter dem heftigen und unmittelbar nahen Gewehrfeuer eine lange Weile aufhalten –, da war auch noch – eine lange Strecke vorher, ehe man den eigentlichen Graben erreichte – etwa anderthalb Fuß von der Erde, starker Draht gezogen, den man wirklich nur allein am hellen Tag passiren konnte. Und dann der tiefe Graben und hohe Wall, der noch nicht die geringste Bresche zeigte.

Es ist allerdings Thatsache, daß gerade in den letzten Nächten unsere Batterien von Rancy aus bis dicht vor La Barre sehr bedeutend – einige sogar nahe an zweitausend Schritt – vorgeschoben waren und die Stadt St. Denis jedenfalls in Grund und Boden zusammengeschossen hätten, wenn man ihnen längeren Spielraum gelassen, aber den Erdwällen der Festung hätten wir doch nur nach längerer Zeit einen ernstlichen Schaden zufügen können, und die einzelnen Kanonen zu demontiren, wäre ebenfalls nur sehr schwer gelungen. Und was für Menschenleben würde ein solcher Sturm – selbst im günstigsten Fall – gekostet haben, denn daß die Herren da drinnen außerdem nicht mit Minen und Landtorpedos gespart, läßt sich wohl denken und ist auch bestätigt worden. Was aber konnte sie denn sonst zur Uebergabe gezwungen haben? – etwa der Hunger?

Auch das schien nicht der Fall gewesen zu sein, denn als wir die Stadt, zu welcher unsere Pionniere durch die riesigen Barricaden, mit Erde gefüllte Weinfässer und Faschinenkörbe schon einen schmalen Weg gebahnt hatten, jetzt betraten, fanden wir die Bevölkerung nichts weniger als ausgehungert und mit bleichen Wangen uns erwartend. Nein, im Gegentheil sah ich hier in St. Denis eine Menge rothwangiger Gesichter, die wahrlich von keiner Hungersnoth Zeugniß gaben, und mehrere Soldaten bestätigten mir nachher, daß sie noch in verschiedenen Häusern vollkommen reichlich Brod und Wein gefunden hätten.

Ich bin deshalb fest überzeugt, daß nur das eigentliche Bombardement der Hauptstadt selber von der Südfront aus, das Tod und Vernichtung in das Herz der Stadt selber trug, den Ausschlag gegeben haben muß, und wäre davon abgesehen worden so lägen wir noch lange vor den starren Wällen und betrauerten manchen Todten mehr, als es jetzt der Fall ist.

Der Einmarsch verzögerte sich durch den engen und beschränkten Eingang natürlich sehr, und überall auf den Wällen wie auf den Barricaden drängte sich das Volk umher, um die gehaßten Prussiens doch auch einmal jetzt – ungefährdet von ihren Waffen – in der Nähe zu sehen. Wenn sich aber der französische Officier vorher einen Einmarsch mit klingendem Spiele aus dem Grunde hatte verbitten wollen, weil die Bewohner von St. Denis zu sehr betrübt seien, so mußte er sich gründlich geirrt haben, denn davon konnte ich selber keine Spur erkennen. Ich mischte mich nachher unter das Volk, um es näher zu beobachten; aber hier sowohl wie später in der Stadt sah ich nur fröhliche Gesichter und hörte nur lachende plaudernde Stimmen, aber keine Idee von Traurigkeit oder gar von verbissenem Grimm. Es mögen Einzelne gewesen sein, welche die Schmach dieses Einzugs nach den vorangegangenen prahlerischen Redensarten tiefer empfanden; aber diese bemühten sich dann nicht um das Schauspiel oder waren zu schwach vertreten, um sich rasch herausfinden zu lassen – ich bemerkte sie wenigstens nicht.

Wer sich aber eifrig dabei betheiligte, waren noch vollständig bewaffnete Mobilgardisten, denen es oblag, die Ruhe in der Stadt aufrecht zu erhalten. Ueberall waren sie, wo sich nur überhaupt Menschen zusammendrängten, und bewiesen dabei – ohne eigentlichen Grund, denn die Leute benahmen sich ruhig genug – eine nie geahnte Tapferkeit.

Jetzt endlich, als der Kronprinz mit seinem ganzen Stabe und der Escorte vorbeidefilirt war und den freien großen mit Bäumen bepflanzten Platz der inneren Stadt erreichte, hielt er und machte Front gegen die Straße, während nun ihrerseits die jetzige Besatzung oder wenigstens doch einige Bataillone derselben ihre Einzug mit der rauschenden Militärmusik und den preußischen Trommeln voran hielten.

Unterwegs dahin passirten wir eine wohl sehr interessante, aber doch nicht ganz angenehme Beschäftigung unserer Pionniere. Diese waren nämlich daran, unmittelbar an der linken Seite des Fahrwegs, gerade wo dieser mit dem Wege für die Fußgänger abschneidet, einen Leitungsdraht aufzuheben, der aller Wahrscheinlichkeit nach zu irgend einer jetzt harmlos gemachten, aber doch wohl noch [139] geladenen Mine führte. Ob aber das die einzige war, die in der Nachbarschaft lag, und nicht doch vielleicht irgend ein fanatischer Schwärmer getrieben werden konnte, einen solchen Streich auszuführen, wie jener Unterofficier in Laon? Aber wir zeigten ihnen wenigstens, daß wir uns nicht davor fürchteten, und unsere wackeren Truppen marschirten mit lustigem Spiele vorüber, bis unfern von dem Kronprinzen das Musikcorps wieder aufschwenkte und die Soldaten ebenfalls in Linie aufgestellt wurden.

Das nahm eine ziemliche Zeit, und ich hatte mich dem Volke zugesellt, das jetzt von allen Seiten herbeikam, sich unter die Soldaten drängte und – deutsch mit ihnen sprach.

Darüber war ich anfangs allerdings erstaunt, denn im Herzen von Frankreich hatte ich nicht geglaubt, so viele Elsasser zu finden. Diese scheinen aber, wie die Deutschen in allen fernen Welttheilen, als Arbeiter besonders sehr geschätzt zu sein, und Einzelne, die ich deshalb frug, versicherten mich, daß es hier in St. Denis viele große und bedeutende Fabriken gäbe – die Schornsteine sieht man allerorten emporragen – die weiter gar keine Arbeiter beschäftigten als nur eben Elsasser und Lothringer. Für die hier neu einquartierten Soldaten hat dies aber das sehr Angenehme, daß sie sich allerorten nun mit ihren Gastgebern leicht verständlich machen können.

St. Denis selber ist an manchen Stellen schon tüchtig durch unsere Granaten mitgenommen worden, dem Aergsten aber doch dadurch zur rechten Zeit entgangen, daß unsere neu vorgeschobenen Batterien noch nicht Gelegenheit bekamen, ihre furchtbaren Geschosse hier hereinzuwerfen. Die Leute mögen auch deshalb wohl so glücklich sein, daß das Bombardement jetzt plötzlich aufgehört hat, weil sonst jedenfalls ihre Fabriken zerstört und Tausende von ihnen auf lange Zeit brodlos geworden wären.

Und wie still rings umher die Welt lag – das furchtbare Donnern der Geschütze schwieg allerorten, denn auf diesen Tag war ja die Uebergabe sämmtlicher Forts rings um Paris bestimmt. „Gott sei Danke jetzt wird Friede!“ hörte ich viele Frauen sagen, die mit in den Reihen der Soldaten standen. „O, das war eine schreckliche Zeit!“ – und die Gesichter der Soldaten selber leuchteten dabei auf, denn sie dachten ihrer eigenen Weiber und Kinder – Gott sei Dank, jetzt wird Friede!


Blätter und Blüthen.

Die Feldschmiede. (Mit Abbildung). Wie drängen sich die Leute in Nancy oder Orleans oder sonstwo heran, wenn eine Batterie durch die Stadt marschirt, daß das Straßenpflaster dröhnt und die Fenster klirren und die Häuser leise erzittern! Heute weiß jedes Kind in Frankreich Wunderdinge von der deutschen Artillerie zu erzählen, und deren eherne Geschütze sind ebenso berühmt und gefürchtet geworden, wie die Lanzenspitzen der deutschen Ulanen. Da blickt denn mancher Blousenmann mit verbissenem Grimm auf die flotten Reiter vorn, auf die vorüberrollenden Geschütze und auf die diesen folgenden Munitions- und Vorrathswagen. Damit ist aber der Zug noch nicht geschlossen, denn, fast zu allerletzt, kommt ein Fahrzeug, welches in seinen zwei aneinandergehängten, einer vierundzwanzigpfündigen Geschützprotze und einem Munitionshinterwagen fast durchaus ähnlichen Theilen die allgemeine Neugierde umsomehr erregt, als fast Niemand seine Bestimmung kennt, und doch ist es nahezu das wichtigste Fahrzeug der Batterie: die Feldschmiede. Der Commandeur giebt auf die Dauer lieber ein Geschütz ab, als sie. Zwar hat die Feldschmiede keine Rolle in den Schlachten zu spielen, sie schleudert keine todbringenden Granaten in die Reihen des Gegners, aber sie sorgt, daß die Pferde auf dem harten Boden das Geschütz im Galopp an den Feind bringen, daß die Räder des Geschützes tüchtig mitlaufen können und daß das Gefecht selbst auch ausgefochten werden kann. Darum wird der Feldschmied von dem Commandeur der Batterie auch wie ein Kind behütet, und er allein hat während eines Marsches das Recht, die immer brennende Pfeife zwischen den Zähnen, von seiner Protze herunter mitleidig auf seine Cameraden sehen zu dürfen, die sich vor und neben ihm auf der staubigen und schmutzigen Landstraße abmühen, mit den rasselnden Geschützen Schritt zu halten. Wenn er nicht gerade ein losgegangenes Eisen festschlagen muß, steigt der Schmied während eines Marsches nicht von seiner Protze herunter, und fährt seine Batterie durch eine französische Stadt, so blickt der flotte, bärtige Geselle noch immer munter auf die rechts und links sich scheu herandrängenden Einwohner, für die sein müder und marschsatter Camerad schon längst kein Auge mehr hat.

Die Thätigkeit der Feldschmiede fällt, wie schon angedeutet, in eine Zeit, in welcher alle Andern ruhen, und es mag dem Schmiede wenig zum Troste gereichen, daß er sich erinnert, eben da geruht zu haben, wo die Andern wenigstens ihre Beine rührten; das dauerte aber oft lang, viele, viele Stunden lang.

Endlich ist es Abend geworden, endlich naht das Bivouac. Da steigt denn nun auch unser wackerer Schmied von seiner Protze; wenn aber der Bivouacplatz abgesteckt ist und die Pferde ausgeschirrt und angekoppelt sind, dann empfängt er die Schlüssel aus den Händen des Roßarztes und öffnet die Protze, um aus deren einem Seitenfach das Schurzfell zu holen, das sich da neben Schraubenschlüsseln, Streichstein, Schneidezeug, Kneifzangen und hundert andern Kleinigkeiten befindet. Das große Mittelfach der Protze liefert ihm die Steinkohlen, deren es zwei Scheffel bergen kann, und nun werden die auf den Tragbäumen des Hinterwagens rückwärts befindlichen Eisenplatten herausgezogen und damit der beste Herd von der Welt gebildet, der mit einem gleichfalls im Hinterwagenkasten befindlichen Blasebalg in Verbindung steht. Ambos und Klotz, die während des Marsches am Hinterwagen angebracht sind, werden nebenan aufgestellt, der Boden ringsum bedeckt sich mit Hämmern, Feuerzangen, Hufnägeln, die alle aus dem Protzkasten, und mit Feilen, Eisenbohrern, Schraubenziehern, Meißeln, Hufeisen, die alle aus dem Hinterwagenkasten genommen sind (es ist ein wahrhaft unerschöpflicher Vorrath von Instrumenten, der sich in diesen beiden Wagen befindet), und nun – das Feuer, vom Blasebalg angefacht, brennt schon lichterloh – kann die Arbeit beginnen.

„Und wenn Sie bis Morgen früh arbeiten, die Pferde müssen alle frische Eisen für die verlorenen aufhaben!“ Der Hauptmann hat gut reden; dort aber kommt ein Geschützführer um den andern, jeder mit und so viel Pferden, welche bei dem schlechten Wege das Eisen verloren haben; es beschlagen drei, vier Schmiede, aber noch lange ist kein Ende abzusehen. Es dunkelt und noch immerfort dröhnen die Hammerschläge durch das Bivouac und leuchtet die sprühende Gluth des Herdes. Der Schmied kennt jedes Pferd der Batterie – mit Entsetzen sieht er den alten Braunen kommen, der sich nicht beschlagen lassen will, den alten Fuchs, dem nur mit der größten Vorsicht Eisen aufzulegen sind, und dort den Rappen, auf dessen bröckeligem Huf kein Eisen haften will. Aber was hilft es? Fast erlahmt die Hand von dem langen Schwingen des Hammers und das müde Auge sehnt sich nach Schlaf – doch wehe dem Schmied, der das letzte Pferd nicht mit derselben Aufmerksamkeit beschlägt, wie das erste: morgen würde das Pferd lahmen, könnte stürzen, und das Geschütz könnte gerade dann in seinem stürmenden Anlauf aufgehalten sein, wenn sein Eintreffen am rechten Ort am raschesten und ersten nöthig wäre.

Der Schmied muß es selbst wünschen, daß seine Batterie zur rechten Zeit und am rechten Ort und ohne eigenen beträchtlichen Verlust in das Gefecht eingreifen kann; im entgegengesetzten Falle wird er wohl selbst mit eigener Person in das Bereich der feindlichen Granaten gezogen. Wie bekannt, theilt sich nämlich eine Batterie taktisch in drei Theile ein, welche von den sechs Geschützen, der ersten Wagenstaffel, die während des Gefechtes dicht bei den Geschützen bleibt, und der zweiten Wagenstaffel gebildet werden, die, möglichst gedeckt, tausend Schritte und noch weiter hinter der eigentlichen Batterie ihren Platz findet. Dieser zweiten Staffel gehört die Feldschmiede an, und man sollte darum glauben, ein Schmied sei sicher, weil er so weit vom Schuß ist. Damit ist es, wenigstens in diesem Feldzuge, Nichts, denn oft waren die Verluste der Batterien so umfassender Art, daß selbst die Schmiede und Schlosser als Ersatz in die Gefechtslinie rücken, daß selbst sie die lebensgefährliche Bedienung der Geschütze übernehmen mußten, und doch liegt gerade sie zu schonen im eigentlichsten Interesse eines jeden Commandeurs. Wenn diese letztere Soldatenpflicht für den Feldschmied aber auch nicht bestände, wenn er wirklich nur weit hinter der Fronte waltete und wenn ihm wirklich nichts Anderes obliegen würde, als im nächtlichen Bivouac am sprühenden Feuer zu stehen und auf dem klingenden Ambos das glühende Eisen zu schlagen – der Feldschmied mit seinen arbeitsharten Händen gehört auch zu Jenen, welche das Schlagen und Gewinnen einer Schlacht möglich machen, und darum gebührt auch ihm, trotz seines stillen, fast unbeachteten Schaffens, ein Theil der Ehren, mit welchen man jetzt die ganze Armee und vor Allem die Fürsten, Generäle und Officiere überhäuft. Gerade deshalb aber glaubte ich, Ihnen auch von dem Feldschmiede ein lobendes Wort schreiben zu müssen, das dieser so reich verdient – die Abbildung aber, die ich Ihnen dazu schicke, stellt die Feldschmiede einer Batterie des schlesischen Feldartillerie-Regiments Nr. 6 im Lager bei Villeneuf le roi vor Paris dar.


Aus dem Husarenleben. Wir erhalten zugleich mit den beiden Illustrationen, welche ihren Stoff aus den Begegnungen unserer Truppen vor Mezières mit den in dortiger Gegend sehr zahlreich gewesenen Franctireurs genommen haben und die wir heute unseren Lesern vorlegen, nachfolgende, Ende December geschriebene Zeilen:

„Wie gerne,“ schreibt uns H. Knackfuß, der Autor der beiden Bilder und selber ein wackerer Husar, „würde ich Ihnen häufiger Skizzen schicken, aber wie schwer arbeitet und zeichnet es sich in dem Kriegsgetümmel, zumal jetzt, da die Kälte eine so grimmige ist, daß Einem im Freien der Bleistift leicht genug aus der erstarrten Hand fallen kann, während die Quartiere dermaßen mit Infanterie überfüllt sind, daß sich kaum ein Plätzchen an einem Tisch finden läßt, um das Skizzenbuch darauf zu legen. So müssen Sie denn mit den Illustrationen vorlieb nehmen, wie ich sie eben in einer günstigen Minute rasch fertig bringe und wie ich sie diesmal unmittelbar nach unserem Streifzuge gegen die Franctireurs, aus welchem sie zwei Episoden schildern, auf das Papier geworfen habe.

Diese verwünschten Franctireurs fingen uns nämlich nachgerade an wirklich unbequem zu werden; sie molestirten uns auf allen Seiten und erschossen zuletzt meuchlings einen Husaren, der als Ordonnanz von einem Dorfe zum andern ritt, während sie am Tage darauf hinter einer Patrouille die Brücke zerstörten. Da galt es endlich die Hörner zu zeigen, und deshalb machten wir uns in einer der folgenden Nächte in Begleitung der Dreiundfünfziger und Siebenundsiebziger und einigen Batterien zu einem Rachezug auf. Mit Sonnenaufgang fielen vor uns, bei Harcy, die ersten Schüsse. Sogleich aber fuhr unsere Artillerie auf und bald hatten wir [140] die im offenen Felde fast immer feigen Franctireurs in ihre Wälder zurückgetrieben. Die Verfolgung einzelner Abtheilungen derselben führte uns aber nach Rimogue, wo es uns gelang, die Wachtstube der Franctireurs aufzustöbern und das ganze Nest auszuheben. Eine kleine Husarenpatrouille brachte die Leute nach rückwärts: es war eine saubere Schwefelbande – voran ein baumlanger, spindeldürrer Bursche mit einem martialischen Schnurrbart im hagern Spitzbubengesicht, neben ihm ein blutjunges Bürschchen, das seiner Mutter auch noch nicht lange davongelaufen sein konnte, dann der von der ganzen Gesellschaft allein wohlgenährte Maire in der unvermeidlichen Blouse, nach ihm sogar der Pfarrer des Ortes mit einer großen Brille im gelben Gesicht u. s. w. Die Weiber standen schreiend unter der Thür, als man das Gelichter, das in seiner Muthlosigkeit einen jämmerlichen Eindruck machte, von dannen führte. Dann setzten wir dem Haus, das zur Wachtstube gedient hatte, den rothen Hahn auf’s Dach und bald schlugen die Flammen lichterloh aus den Fenstern. Nachdem dies geschehen, patrouillirten wir noch ein Stück über Rimogue hinaus; als wir aber nach dem Orte zurück und an dem brennenden Hause wieder vorüber kamen, hatten sich andere Schufte, unsere Rückkunft abwartend, in dessen unterstem Stockwerk schon wieder eingerichtet und gaben nun, sobald sie unser ansichtig wurden, Feuer. Da war wenig zu machen. Die Straße war enge, von dem obern Stockwerk fiel das brennende Gebälk prasselnd auf das Pflaster, unten starrten uns die Gewehrläufe entgegen. Ein Kampf war unmöglich, es galt einen raschen Entschluß, so setzten wir denn unseren Pferden die Sporen ein und flogen wie ein Sturmwind am Hause vorbei und die Straße herunter. Der letzte von uns schwang Hurrah rufend sein Gewehr gegen die Franctireurs, deren Kugeln pfiffen uns denn auch links und rechts um die Ohren, eine sauste mir dicht am Leben vorbei, aber – merkwürdigerweise – keine traf und wir stießen unversehrt wieder zu unserer Abtheilung.“


Die „Prinzessin“ Editha, deren sich unsere Leser aus der Erzählung in Nr. 4 der Gartenlaube gewiß noch erinnern, ist vor einigen Wochen aus dem Hahnemann-Hospital in New-York, wo sie aus Barmherzigkeit aufgenommen war, nach dem Irrenhause gebracht worden. Es geschah dies in Folge der eidlich abgegebenen Erklärungen des Dr. Seeger, medicinischen Directors des Hospitals und des Dr. F. W. Hunt, weiland Professors der Medicin und Psychiatrie.

Am 1. December wurde sie angeblich an periodischer Maulsperre (Tetanus) leidend, im Hospital aufgenommen, aber bald entdeckten die Aerzte, daß diese Anfälle nur sehr geschickt geheuchelt waren. Nebenbei benahm sie sich außerordentlich störend und verletzte sehr häufig die Hausordnung. Eines Morgens fand Dr. Seeger ein bereits halb aufgerauchtes Paket Cigaretten auf ihrem Kissen. Sie hatte das Mitleid eines Besuchers zu erregen gewußt, und dieser hatte sie am 17. December Abends eingeschmuggelt. Auf einmal rannte sie aus der Frauenabtheilung fort und die Treppe hinauf nach der Männerabtheilung. Sie war noch nicht ganz oben, da kehrte sie wieder um, rannte ganz hinunter und hinaus in ein Nebengebäude, wo sie der Köchin zurief, es brenne in der Männerabtheilung. Die Köchin, eine Wärterin und der im Hospital wohnende Assistenzarzt eilten hinauf und fanden zwei Matratzen brennend, obwohl die Abtheilung zu der Zeit ganz ohne Bewohner war. Am nächsten Tage hielt Dr. Seeger im Beisein des Dr. Hunt eine große Untersuchung. Alle Patienten gaben unumwundene und offenbar richtige Aussagen ab, nur Editha nicht, die deshalb einem besonders scharfen Verhör unterzogen wurde. Sie wurde dabei sehr aufgeregt und fragte wiederholt in äußerst gereiztem Tone: „Denken Sie etwa, ich hätte das Feuer angelegt?“ Als sie in das Krankenzimmer zurückgeführt wurde, fing sie an, alle Patienten mit Schimpfworten zu überhäufen, und verfiel schließlich in Krämpfe, die jedoch den Charakter eines Tobsuchtsanfalles annahmen. Chloroform und Aether wurden angewandt, aber es erforderte die zweistündige Anstrengung von vier Männern, Professor Hunt, Dr. Seeger, Assistent Drumwell und Pfarrer Stratton, um sie zu bändigen und sie schließlich auf ein Brett zu binden, auf dem sie, mit einer Decke zugedeckt und wohlbewacht, liegen blieb.

Als Dr. Seeger früh am Morgen in’s Hospital kam, hatte sie inzwischen losgebunden werden müssen, aber das Toben und Wehren hatte auch von Neuem begonnen. Der Arzt drohte ihr mit Knebel und Zwangsjacke, worauf sie aufsprang, hinter den Eßtisch rannte, dort ein großes scharfes Aufschneidemesser ergriff und den Dr. Seeger und wer ihr sonst nahe kommen würde, zu tödten drohte. Der Arzt sprang auf sie zu, packte sie fest mit beiden Armen, wobei er mit genauer Noth einer Verwundung entging, bis es endlich mit großer Mühe und nicht ohne daß einer der Assistenten einen Stich unter dem Auge erhielt, gelang ihr das Messer zu entwinden und sie zu überwältigen. So lange sie noch im Hospital blieb, mußte sie sorgfältig überwacht werden und war eine beständige Quelle der Gefahr für die Mitpatienten und die Beamten. Gegenwärtig befindet sich die angebliche Tochter der Lola Montez, wie gesagt, im Irrenhause.



Für die Verwundeten und die Frauen und Kinder unserer unbemittelten Wehrleute

gingen wieder ein: Sammlung durch Lehrer Rich. Müller in Kertsch (Krim) 76 Rubel 25 Kop.; am Fuße des Schwarzfelds gesammelt 8 Thlr.; beim Stiftungsfeste des „Liederkranzes“ zu Tolenz 11 Thlr; C. Münch, ein deutscher Arbeiter in Genf 5 Thlr.; Leseverein „Eintracht“ in Hausberge 1 Thlr.; in froher Gesellschaft in Alt-Strelitz, von Apotheker Goeritz 4 Thlr. 1 Ngr.; für an A. Zschiesche in Leipzig gesandte entwerthete Briefmarken von Frau Auler in Dona Francisca (Brasilien) 15 Thlr.; ein Deutscher in Vevey 20 Francs; bei der Weihnachtsfeier in der Rigaer Turnhalle gesammelt 96 Thlr.; Carl v. Drausfeld 2 Thlr. 15 Ngr.; Ertrag eines Concerts des Gesangvereins „Orpheus“ in Raschau 10 Thlr. 2 Ngr 3 Pf.; gesammelt am Tage der Capitulation durch Th. Kleine in Horneburg 10 Thlr. 7½ Ngr.; Spielresultat am Sylvesterabend in Heimersheim 2 Thlr.; Collecte der fünf Kosmopoliten vom lustigen Abend des 7. Januar in Iwanow (Rußland) 50 Rubel; eine deutsche Frau in Odessa 4 Thlr.; gesammelt von G. J. in Bradford 13 Thlr. 18¼ Ngr.; gesammelt durch Clara Schulze am Capitulationstage im „Goldenen Kranz“ zu Marienberg 3 Thlr.; E. J. in Ohrdruff 2 Thlr. 8 Ngr.; M. Sch. in G. bei Roßwein 1 Thlr.; Erlös für mein erstes gedrucktes Gedicht 1 Thlr. 15 Ngr.; Bertha Bork in Assen 2 Thlr.; H. Th. in R. 15 Ngr.; N. N. in Parchim 1 Thlr.; Mexico-Wette 20 Ngr.; von Beamten der Zuckerfabrik Walentynow (Polen) 24 Thlr. 4 Ngr.; von der Karceria des 18. bis 22. Januar (1871) auf Schloß Erfurthstein in Jena 2 Thlr. 16 Ngr.; eine in Petersburg lebende Sachsin 15 Thlr.; vom Eisenbahnkegelclub zu Borna auf dem Jägerhaus bei Frohburg gesammelt 9 Thlr. 7½ Ngr.; G. Rwd. auf Freienfels 3 Thlr.; gesammelt von Lehrer Schmidt in Laimbach 17 Ngr.; Gärtnerbursche Fritz Wosubra in Blagoweschtschenk am Amur 5 Rubel; Bender in Neukirchen 1 Thlr.; Richard Haage in Petersburg 10 Rubel; D. in Riga, abgelehnte Zahlung 24 Ngr.; Köster in Petersburg 1 Thlr. 1½ Ngr.; M. St. in Hamburg 20 Thlr. (herzlichen Dank für liebenswürdigen Brief); gesammelt in einer frohen Gesellschaft bei E. F. am 10. Januar in Reval durch H. v. D. 15 Rubel; ein Deutscher in San Francisco 3 Dollars; Hofrath Georg v. Funk im Mohilewschen Gouvernement 20 Thlr.; Emma W. in Reval 3 Thlr.; Ergebniß einer Subscriptionssammlung der Seyffardt’schen Buchhandlung in Amsterdam 17 Thlr. 10 Ngr.; fünfter Monatsbeitrag von Al. Wiede 20 Thlr.; Reus in Dewsbury 1 Pfd. St.; L. O. H. in Altenburg 4 Thlr.; Bierscatgesellschaft in Neustadt (Chemnitz) 2 Thlr. 15 Ngr.; zwei- und dreiundzwanzigste Sammlung der Klinckhardt’schen Druckerei 7 Thlr. 28 Ngr.; vier und fünfundzwanzigste Sammlung des Personals von Schelter und Giesecke 34 Thlr 13 Ngr.; Arbeiter A. B. in B–w 10 Ngr. mit folgenden prächtigen Versen:

Ich steh’ im Joch von früh bis spät,
Bald hier bald da – wie’s g’rade geht;
Mein Weib ist brav, die Kinder prall,
Sie sind, Gottlob, mein Ein’ und All’,
Doch schmal die Kost, der Heerd kaum warm,
Oft denk’ ich: ach, wie bist du arm!

Dann fällt der Krieg mir ein, und dann
Auch Nachbars Fritz, der Landwehrmann:
Kein warmer Ofen Tag und Nacht,
Kein Kind, das ihm entgegenlacht,
Vielleicht er selbst schon stumm und bleich!
Da denk’ ich: o wie bist du reich!

Drum nimm von meinem armen Glück
Für Aerm’re dies Achtgroschenstück!
Ich denke: gäb’ vom Wochenlohn
Vom Arbeitsmann bis hoch zum Thron
Ein Jeder nur den sechsten Theil,
Dann würde manche Wunde heil!

Und damit der Wunsch des Dichters bald zur Wahrheit werde, legt die Redaction der Gartenlaube zur Gabe des armen Arbeiters gleich 100 Thlr. zu. Denn es warten noch viele Verwundete, Wittwen und Waisen auf die milde Hand des Gartenlaubenlesers, und deshalb bitten wir – angesichts des baldigen Friedens, der so viele Schmerzen heilen wird – nochmals für Alle, die der Krieg für immer unglücklich gemacht.

Aus Oesterreich gingen ferner ein: W. Bfd. in Prag 5 Thlr. (besten Gruß an alle Verwandte); Frau Hoffmann in Wien 5 Thlr.; zweite Sendung der Wiener Tischgesellschaft 50 Francs; F. Ondrack in Brünn 4 fl.; ein deutsches Mädchen in Troppau 1 Thlr. 10 Ngr.; Godwin und Amalie v. Lilienhoff-Adelstein 2 Ducaten; abermalige Sendung von J. Goetzger in Wien 10 fl.; die Schülerinnen des Pensionats in Ujholy (Ungarn) 6 fl.; Gawlitzka in Pest 2 fl.; drei Freundinnen aus Mährisch-Trübau 62 fl.; vom Tetschen-Bodenbacher Turnverein 39 fl.;

Es hatten drei Gesellen ein fein’ Collegium,
Es kreiste so fröhlich der Becher im trauten Kreise herum,

mit 15 fl. aus Wien; die Arbeiter der Maschinenfabrik von F. Wannieck in Brünn 40 fl. (für die Waisen in Deutschland und Frankreich); einige junge Deutsche auf der Wacht in der Adria 20 fl.; von einem ultramontanen Deutsch-Oesterreicher 1 Ducaten; M. Rahm in Mautern 12 fl.; von einer Wienerin in Brünn 4 fl.; Münzner in Oberleutersdorf 7 fl. 9 kr.; Ergebniß eines Concerts im fürstlich Clary’schen Gartensalon in Teplitz 242 fl.


Unsere Siebenbürger Landsleute sandten wiederum: die evangelisch-sächsischen Lehrer des Repser Kirchenbezirks 18 fl.; Ergebniß einer Sammlung in den Mädchenschulen und Knaben-Elementarclassen in Schäßburg 45 fl., und Beitrag der zehn Lehrer 10 fl., zus. 55 fl.; Sammlung durch den Ortspfarrer G. Müller im Dorfe Almen (300 Seelen, umgeben von Walachen und Zigeunern) 10 fl.; die evangelisch-sächsischen Bewohner von Deutsch-Takes im Repser Kirchenbezirk 10 fl.; Lotti Dietrich, Ertrag einer verloosten Handarbeit, 18 fl.; Sammlung der ersten Mädchenclasse in Mediasch 2 fl.; Sammlung der ersten Elementar-Mädchenschule in Reps 9 fl. und aus der Sparbüchse der F. W. und M. v. S. 3 fl. in Silber; von zehn Bürgern in Schäßburg, neuerdings gespendet, 23 fl.; Ergebniß eines von fünf jungen Mädchen in Hermannstadt veranstalteten Haustheaters 60 fl.; abermalige Sammlung in Hermannstadt 50 fl.; von sächsischen Bauern aus Wurmbach 17 fl. 39 kr.; von sächsischen Bauern aus Martinsdorf 35 fl.; aus den Sparbüchsen der Geschwister Johanne, Wilhelmine, Caroline, Swarz, Heinrich, Sophie, Rosa, Hedwig und Bertha 3 fl. 61 kr.; Landbauer Müller in Martinsdorf 5 fl. Zusammen 61 fl.
Ernst Keil.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Eienr