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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[659]

No. 42.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Jedem das Seine.
Von Ad. von Auer.
(Fortsetzung.)


Rose Fröhlich’s kleines Herz schlug schon zutrauensvoll dem guten Hasso entgegen, wie man an der Stellung des Kindes sehen konnte, das, mit beiden Händchen auf sein Knie gestützt, vor ihm stand und mit den weitaufgerissenen Augen ihm die Worte von den Lippen zu saugen schien.

Herr Fröhlich wurde nun aufgefordert, die Stimme der beiden ältesten Kinder zu prüfen. Er setzte sich an’s Piano, er ließ sie Scala singen, er nickte und rieb sich die Hände, als er damit fertig war.

„Nun“ fragte Tante Rosine ungeduldig.

„Es kann werden, es kann werden,“ sagte der Sänger, „aber erstens ist der junge Herr im Stimmwechsel begriffen und noch zu jung zu wirklichem regelrechtem Unterricht, und zweitens darf des Fräuleins Stimme auch noch nicht sehr angestrengt werden. Alles mit Maß, gnädige Frau.“

Rosine wandte sich ungeduldig ab.

„Hol’ Sie der ...!“ sagte sie zornig und kehrte ihm den Rücken. „Ihr dummen Kinder, konntet Ihr das nicht abmachen, ehe Ihr zu mir kamt?“ sagte sie zu den beiden Geschwistern, die, viel zu harmlos, um den Vorwurf für Ernst zu nehmen, ihn mit einem fröhlichen Lachen beantworteten. „Na, Gott sei Dank, Ihr seid nicht nervenschwach!“ sagte sie, „man kann Euch anschreien, ohne daß Ihr heult, gleichviel ob man Euch Unrecht thut oder nicht. Im Grunde könnt Ihr freilich nicht dafür, daß Ihr gerade in dem dummen Alter seid und mir meine Freude verderbt. Sage, Hasso,“ wandte sie sich plötzlich zu diesem, „auf die Universität kannst Du wohl noch nicht?“

„In vier Jahren hoffe ich so weit zu sein, Tante.“

„In vier Jahren, wenn Du die Stimme fest hast, nicht wahr? Dann gerade nicht!“ höhnte Rosine. „Das hätte mir gefehlt! Das Kneipenleben und Biertrinken, ich werde wohl zugeben, daß Du Dir die Stimme so verdirbst! Auf die Universität kommst Du nur während des Stimmwechsels, sonst gar nicht.“

Hasso’s ganzes Gesicht lachte und sie, die es liebte, daß man ihre Art und Weise mit gutem Humor aufnahm, fing an, mit größerem Wohlgefallen auf den Knaben zu blicken und ihr Mißtrauen einigermaßen zu vergessen.

„Soll ich denn Sänger werden?“ fragte er halb im Scherz, halb betroffen.

„Sänger in meiner Hauscapelle, sonst nicht, und danach muß sich das Uebrige richten.“

Diesem bizarren Wesen war nun die Erziehung der Kinder übergeben. Zwischen zwei einander schroff gegenüberstehenden Klippen, der Tante und Dore, hatten sie ihr Schifflein hindurchzuführen, zwischen Engel und Affe gleichsam ihr Menschenthum zu finden und zu behaupten, denn wie am ersten Abend, wurde das Eine immer zum Stichwort für das Andere; wenn die Tante Engel sagte, konnte man sicher sein, daß bei Dore der Affe folgte, und umgekehrt.

Die Sorge für ihre Erziehung ruhte auf Ursula’s jungen Schultern. Sie fuhr fort sie zu unterrichten. Sie hatte, so weit es für ihr Alter paßte, eine gediegene Bildung, und der ihrer Richtung natürliche Eifer, sich fortzubilden, wurde durch den Gedanken an die Anwendung der zu erwerbenden Kenntnisse nur erhöht.

Der Tante war das Alles ein Räthsel, auch begriff sie Ursula’s Geduld nicht, die nicht müde wurde, dem mangelnden Verständniß der Kleinen zu Hülfe zu kommen, ihr Nachdenken zu wecken und die wenig lebhaften Geister anzuregen.

Wenn die Tante einmal dazu kam, riß sie sich gewiß in den nächsten zehn Minuten die Haube vom Kopf oder stürzte mit einem polternden „Gott, was sind die Affen dumm!“ zum Zimmer hinaus. Sie verwünschte die Unterrichtsstunden. Sie war immer dafür. den Kleinen Ferien zu geben, aber mit Ursula war in der Beziehung nichts anzufangen, der ruhige, freundliche, aber feste Widerstand derselben in diesem Punkt nicht zu erschüttern. Sie hatte Vernunft und Recht für sich, das eben ärgerte die Tante, die auf Ursula’s Phlegma schalt und die Kinder, wenn sie ihrer habhaft werden konnte, nur um so mehr verzog und verwöhnte.

Der alte Sänger, der oben im Hause gewohnt, eine gerade so harmonische Natur als seine Kunst es war, starb. Nicht nur die Enkelin trauerte tief, auch Hasso und Ursula beklagten den Verlust des Lehrers und Freundes, die weichherzigen Zwillinge weinten strömende Thränen. Rosine schnitt curiose Gesichter und nahm es ihm halb und halb übel, daß er gestorben und der Unterricht dadurch unterbrochen war. Wer sollte nun ferner die Sonntagsconcerte leiten?

Es war Alles so schön im Gange. Ursula’s Stimme in vollem Flor, Hasso über die schlimmste Zeit der Schonung hinaus. Elly und Liddy freilich waren noch nicht mitzuzählen und auch Rose nicht, was den Gesang betraf, aber sie spielte für ihre Jahre ausgezeichnet und so war für Abwechselung im häuslichen Concert gesorgt.

Nun sollte sie fort. Der Großvater hatte es so bestimmt. [660] Den Willen der Todten muß man ehren. Wenigstens empfand das heranwachsende Mädchen es so, was auch ihre Neigung gegen des Großvaters Beschlüsse einzuwenden haben mochte. Sie hatte des Großvaters musikalisches Talent geerbt und sollte zu einer Tante in der Residenz, um nach deren Entscheidung und Rosens Befähigung zur Concert- oder Opernsängerin oder dramatischen Künstlerin ausgebildet zu werden. Madame Durando hielt eine Kunstschule, aus der schon manches vorzügliche Mitglied der Bühne hervorgegangen war.

Tante Rosine hatte immer gegen die Bühne geeifert, jetzt vollends wollte sie nichts davon wissen.

„Du wirst nicht auf die Bühne gehen, Du hast nicht die Allüren einer Theaterprinzessin,“ sagte sie ihr zum Abschied. "Concertsängerin meinetwegen, und Dein erstes Concert giebst Du bei mir, die Hand darauf.“

Rosens schöne Augen leuchteten hell auf, als sie einschlug. Frau von Fuchs, Hasso, die drei Schwestern, hatten sie auf die Post begleitet. Sie mußte allein reisen, ganz allein, die arme Waise. Frau von Fuchs empfahl sie dem Conducteur. Sie band sie ihm auf die Seele und unterstützte ihre Empfehlung mit einem gewichtigen, bei dergleichen Gelegenheiten meist sehr wirksamen Händedruck.

„Gott geleite Dich, mein Kind,“ sagte sie dann freundlich, „schade, daß man Dein hübsches Gesicht nun nicht mehr sehen soll.“

Der Postillon blies zum dritten Mal, zum letzten Mal fühlte Rose sich von den Armen ihrer Gespielinnen umschlungen und Hasso flüsterte ihr zu.

"Ich sehe Dich bald wieder, Rose, ich studire jedenfalls ein Jahr in B.“


Hasso hatte sein Abiturientenexamen bestanden. Er hatte seinen Weg durch die Schule in ruhiger sicherer Weise gemacht und schien alle Anlage zu haben, seinen Weg durch das Leben in derselben Art zurückzulegen. Er war mit seinen Wünschen und Absichten völlig im Reinen und legte dem Vormund, der zu diesem Zeitpunkt nach L. gekommen war, mit seinem Mündel und Neffen, wohl auch mit der gestrengen Pflegerin desselben Rücksprache über dessen ferneren Lebensweg zu halten, statt unreifer Projecte gleich einen festen Plan vor, der von der Energie seines Willens, von dem ernsten Vorsatz zeugte, sich das Leben, so weit es in menschlicher Macht lag, nach selbstständiger Auffassung zu gestalten.

„Auf die Universität gehe ich jedenfalls, wenn es Deine Billigung hat,“ erklärte er dem Vormund. „Die Tante ist dagegen. Es ist eine Grille von ihr. Wäre es ein begründeter Wille, würde ich mich fügen müssen.“

„Was nennst Du einen begründeten Willen?“ fragte der Major.

„Nun, wenn zum Beispiel die Tante arm wäre und meiner Hände Arbeit brauchte, oder allein und verlassen, aber,“ setzte er mit halbem Lächeln hinzu. „ich soll ihr nur vorsingen, weiter nichts.“

Der Major lachte hell auf.

"Die verschrobene alte Person,“ brummte er in den Bart, setzte aber dann mit einer Art von Ingrimm hinzu: "sie wird Dir die Mittel zum Studiren nicht geben und ich kann Dir darin nicht helfen, armer Junge. Ich habe nur meine Pension und zwei Kinder, und der Clemens, der Schlingel, verbraucht mehr für Glacehandschuhe, als ich zum Leben. Ich wollte, ich könnte Euch austauschen. Er wäre gerade gut dazu, um die reiche Tante herumzuscherwenzeln, und spielen - nun, das ist auch das Beste, was er kann. Selbst mich betölpelt er manchmal damit, obgleich ich alle seine Schliche kenne. Seine Mutter war eine Fuchs, und die sind Alle musikalisch oder doch Musikenthusiasten, wie meine werthgeschätzte Cousine hier auch. Junge, wenn Du der Clemens wärst, an einem Singeabend schmeicheltest Du ihr die Mittel zum Studiren ab. Du thust es aber nicht, nicht wahr?“

„Lieber nicht,“ sagte Hasso munter, „ich bin selber noch zu reich, ich habe ja die tausend Thaler mütterliches Erbtheil, wenn Du mit der Verwendung einverstanden bist. Ich lerne bei dem Oberamtmann Bütow in Lichtenfels die Wirthschaft. Ich habe es mit dem prächtigen alten Herrn schon besprochen.“

„Mein Junge, Du wirst aber mit nichts anfangen müssen, wenn Deine tausend Thaler fort sind,“ wendete der Major ein. „Die Tante kann sehr alt werden und es kann lange dauern, ehe Du Gülzenow erhältst.“

„Onkel, die Tante und Gülzenow wollen wir gar nicht in die Berechnung mit aufnehmen,“ unterbrach ihn Hasso, „rechnen will ich auf nichts als den lieben Gott und mich selbst, alles Uebrige kann mich im Stich lassen.“

„Wenn er anfängt, hat er meine tausend Thaler,“ mischte sich Ursula, die bis jetzt schweigend zugehört, mit schüchternem Ton in das Gespräch. "Von mir nimmt er sie, das weiß ich.“

„Ja, von Dir und Dich dazu,“ bekräftigte Hasso.

„Die tausend Thaler sind Deine Ausstattung, Kind, die rücke ich nicht heraus,“ versicherte der Major.

„Bis Hasso sie braucht, bin ich mündig,“ erklärte Ursula.

Der Major lachte.

„Das sind Kinderphantasieen,“ meinte er.

„Ich bin neunzehn Jahr alt, auch bin ich immer viel älter gewesen, als meine Jahre, das machte der frühe Tod der Mutter und die kleinen Geschwister,“ sagte sie einfach.

Der Major sah sie überrascht an. Er hatte sie wenig beachtet bis jetzt. Sie forderte weder durch ihr Aeußeres, noch durch ihr Wesen zur Beachtung auf, unschön und still und zurückhaltend, wie sie im Ganzen war. Die wenigen auspruchslosen Worte, die sie eben gesagt, warfen auf einmal Licht auf ihr Leben und Wirken und steckten es als selbstverständlich hin, daß sie nur da war der Geschwister wegen, daß, als die Mutter abgerufen wurde, sie, so gut sie es vermochte, die tiefe Lücke, die der Tod derselben riß, nach Kräften auszufüllen suchte.

"Hm, hm,“ brummte der Major. "Heirathen willst Du also nicht?“

Ursula lachte.

„Wer hat das gesagt? Aber es wird wohl von selbst so kommen,“ sagte sie.

Wieder sah sie der alte Herr wohlwollend an. Ihre Natürlichkeit geiel ihm, und daß sie nicht wie so manches Mädchen aus der Noth eine Tugend machte und das mit gleichgültiger Herabsetzung zurückwies, was noch mit keiner Versuchung an sie herangetreten war.

„Nun, in die Zukunft kann Niemand schauen,“ sagte er.

„Nein,“ entgegnete sie, „es lohnt auch nicht sie sich auszumalen, es kommt meist anders, aber wenn ich es manchmal thue“ – sie hielt einen Augenblick inne, dann setzte sie mit großer Herzlichkeit hinzu: „so fehlt keines der Geschwister aus dem Bilde.“

Dies Gespräch fand statt, als nach dem ersten Mittagbrod, das der Major im Hause der Tante eingenommen, diese ihr Mittagsschläfchen hielt. Jetzt hatte sie es beendet, der Kaffee wurde servirt, auf welchen gemüthlichen häuslichen Act sie sehr hielt, dann machte Ursula den gewohnten Nachmittagsspaziergang mit den jüngeren Schwestern, Hasso begleitete sie, und der Major und die alte Dame blieben allein. Der Major lenkte augenblicklich das Gespräch auf den Gegenstand, der ihn nach L. geführt, und befürwortete Hasso’s Wünsche bei der Tante.

„Ich halte es wohl für einen großen Unsinn, daß er Landwirth werden will,“ sagte sie, „es ist wenig dabei zu holen, aber des Menschen Wille ist sein Himmelreich, und wenn er wie ein Lastthier arbeiten will, um sein halbes Leben Inspector zu sein, meinetwegen. Mir ist’s recht, wenn er nach Lichtenfeld geht, das ist eine Stunde von hier, und da kann ich das Einzige, was ich von ihm will, haben, seinen Gesang.“

„Ist das wirklich das Einzige, Cousinchen?“ fragte der Major. „Ich dächte, Du könntest mehr, viel mehr haben. Wenn er ein tüchtiger Landwirth ist, machst Du ihn zum Verwalter in Gülzenow –“

„Hoho!“ rief die Tante aus, und die Stirnader schwoll ihr schon etwas an, „Hoho, Herr Vetter! Das nenne ich mit der Thür in’s Haus fallen. Also darauf läuft’s hinaus! Ich habe mir immer so etwas Aehnliches bei der Passion gedacht. Der Hasso und seine Busenfreundin, die Ursula, das sind so stille Wasser, und stille Wasser sind tief.“

„Jawohl, die beiden Kinder sind auch tief,“ ereiferte sich der Major.

„Voll tiefer Pläne,“ schaltete die Tante ein, „voll verrätherischer Pläne!“ –

„Das wäre noch kein tiefer, noch weniger ein verrätherischer Plan, wenn Hasso mit dem Gedanken an Gülzenow seinen Beruf gewählt hätte!“ fuhr der Major, noch seine aufwallende Heftigkeit bekämpfend, fort, „und was wäre natürlicher für Dich, verehrte [661] Cousine, als daß Du, nachdem er die nöthige Reife erlangt hat, den Nutzen zögest, der für Dich daraus erwachsen würde, daß Du ihm die Verwaltung Gülzenow’s übertrügest.“

„Wundervoll! Ich danke für den Verwalter,“ sagte Rosine unwillig. „Der jetzige, der Jahre der Erfahrung für sich hat, bringt in der Sandbüchse nichts zuwege und die Einkünfte decken kaum Zinsen und Wirthschaftskosten.“

„Liebe Cousine, warum entlastest Du das Gut nicht, warum zahlst Du nicht Capital ab und machst es frei? Vor allen Dingen, warum vertraust Du es nicht andern Händen an?“

„Das alte Lied!“ warf Rosine dazwischen.

„Der arme Junge würde es späterhin ein gut Theil leichter haben und die Mädchen hätten immer noch genug,“ sagte der Major, mit seinem ehrlichen Ungeschick nur das Wohl seiner Mündel im Auge und das Mißtrauen der Tante für eine Grille haltend, die man am besten ignorire.

Auf Rosinens Stirn bildeten sich rothe Flecken, das Herz schlug ihr heftig.

„Was habe ich mich doch dieses verdammten Eulennestes wegen schon ärgern müssen!“ brach sie los. „Habe ich’s denn etwa aus Eigennutz übernommen? Ich that es doch nur dem Vater zu Liebe, um es vor Subhastation zu bewahren. Ich zahlte von meinem mir durch die Tante zugefallenen Erbtheil die rückständigen Zinsen und die fällige Hypothek und übernahm es mit allen Schulden, nur um den alten Familienbesitz, an dem mein Vater hing und gewissermaßen ich auch, nicht in fremde Hände übergehen zu lassen. Was sollte ich anders thun?“

„Es konnte anders eingerichtet werden,“ versicherte der Major. „Wenn Du das Gut nicht kauftest, sondern Deines Vaters Gläubiger wurdest, so hatten die Kinder gleiches Anrecht wie Du, Hasso als männlicher Erbe vielleicht moralisch ein größeres. Ihr wart gemeinschaftliche Besitzer, Du hattest nicht allein über die Verwaltung zu entscheiden, die Kinder oder vielmehr deren Vormund sprach mit –

„Das wollte ich gerade nicht. Entweder, oder!“ erklärte die Tante. „Das hätte mir gefehlt, mich all den Quängeleien und Bevormundungen auszusetzen, die ein solches Verhältniß herbeigeführt haben würde.“ –

Der Major, ohne sich an den Einwand zu kehren, fuhr fort:

„Dein Capital stand sicher, das Gut ist schön, seine Einkünfte tragen mehr als die Zinsen der darauf stehenden Schulden und die Wirthschaftskosten. Dein Verwalter ist meiner Meinung nach ein Schuft, aber Du bist seine Herrin und ich kann mich nicht einmischen. Ich kenne den Kerl. Er hatte nichts an und auf dem Leib, als er hinkam, und soll sich jetzt Grundbesitz in Polen gekauft haben.“

„Das ist mir gerade lieb, ich will, daß meine Leute sich gut stehen“ fertigte Rosine den Major ab.

„Auf Kosten Deiner Bruderskinder, die ein thörichter, im Verzagen gefaßter Entschluß, den der Verstorbene bereut haben soll, ihres Erbes beraubte,“ entgegnete Brucken indignirt.

„Wo steht das geschrieben?“ fuhr sie auf.

„Hier,“ sagte er und schlug sich auf’s Herz. „Alles das, was ich Dir heut und vorher schon hundertmal auseinandergesetzt habe, natürlich vergebens, weil Du ein Weib bist und diejenigen am meisten auf ihr Herrscherrecht trotzen, die am wenigsten Fähigkeit haben, es vernünftig auszuüben –“

„Leo, Du bist ein Grobian,“ rief sie dazwischen.

Er fuhr ruhig fort, da anknüpfend, wo er stehen geblieben war „es vernünftig auszuüben, das Alles sagte ich Deinem Vater, als ich ihn das letzte Mal vor seinem Tode sah, und er versprach mir, mit Dir darüber zu sprechen –“

„Er hat es nicht gethan,“ unterbrach ihn Rosine.

„Schriftlich vielleicht,“ fuhr der Major fort.

„Ich habe seine Papiere durchgesehen und nichts gefunden,“ erklärte sie.

„Aber Andere willst Du nicht suchen lassen? Vier Augen sehen bester als zwei,“ sagte der Major.

„Nein!“ fuhr sie heftig auf, „ich lasse mir kein Mißtrauenszeugniß ausstellen.“

Der Major zuckte die Achseln.

„Sage was Du willst,“ fuhr sie fort, „all deine Annahmen von besserer Bewirthschaftung, von höherem Ertrag, von der Unredlichkeit des Verwalters, dem ich vertraue, weil ich ihn kenne, das Alles sind nur Hypothesen. Es ist Dir nur ärgerlich, daß ich das Gut habe, weil ich eine Frau bin und Ihr Männer es einmal nicht gelten lassen wollt, daß eine solche auch das Regiment führen oder gar als Haupt einer angesehenen Familie repräsentiren könne. ,Frau von Fuchs auf Gülzenow“, das mißfällt Dir, mir aber gefällt’s gerade und ich will’s bleiben, nicht einen Acker, nicht eine Wiese, nicht einen Stein trete ich von dem Schloß und Gebiet Gülzenow ab.“

„Gut, aber in’s Grab kannst Du Gülzenow doch nicht mitnehmen, und Deines Bruders Kinder sind Deine natürlichen Erben.“

„Natürliche Erben sind natürliche Feinde!“ schrie die Dame, ihre Stimme zu den höchsten Tönen erhebend, und die Haube hatte schon wieder eine bedenklich schiefe Richtung, „ich will nicht, daß auf meinen Tod gelauert wird. Er wird früh genug kommen, auch ohne daß die auf mein Eigenthum gierig gerichteten Augen ihn herbeiwünschen.“

„Weiß Gott, das thut Keiner,“ versicherte der Major begütigend. „Ich betrachte nur den Tod als etwas sehr Natürliches und irdisches Eigenthum als etwas sehr Unwesentliches nach dem Tode, deshalb scheute ich mich nicht, das Thema zu berühren, da es entscheidend für meiner Mündel Zukunft ist und bei Berathung derselben nicht außer Acht gelassen werden darf.“

„So abstrahire bei den Zukunftsplänen ganz von der Erbschaft,“ erklärte die Dame, „ich verpflichte mich zu nichts. Ich habe die Waisen aufgenommen und erzogen, weil ich Platz im Hause hatte und Einer doch für sie sorgen mußte außer dem Vormund, dessen Wirkungskreis durch seinen Namen deutlich genug bezeichnet wird. Es muß außer dem Vormund,“ setzte sie spöttisch hinzu. „immer noch Einer sein, der für den Mund, das heißt der dafür sorgt, daß etwas in den offenen Schnabel der Verwaisten hineinkommt. Dieser Fürmund , mein Herr Vormund und Vetter, bin ich gewesen. Es war viel Plage dabei, und ich habe wohl ein Recht, die einzige Freude, die ich davon habe, auch ein wenig bei den Zukunftsplänen in Betracht gezogen zu sehen. Das Leben ist ein jämmerliches Ding, Vetter, und Vergänglichkeit die Frucht desselben, eine vergiftete, todbringende Frucht. Die Schönheit verwelkt und die Fremde daran ist eine kurze. Ein Thor, wer die Zeit nicht nützt. Schönheit erfreut das Auge, Musik das Herz. Ich will von Beiden so viel haben. wie ich immer kann. Was hätte ich von Ursula und Hasso, wenn sie nicht sängen! Sie sind sonst Beide nicht nach meinem Geschmack, ich verstehe die stillen Wasser nicht, ich will Bewegung. Aber sie singen, und wenn sie singen, sind sie andere Menschen, die ich verstehe und die ich nicht missen möchte. Wenn ich Musik höre, sind alle Menschen gut. Im Augenblick, wo Einer singt oder spielt, wird er nicht daran denken, daß ich sterben werde und er mich beerben kann.

„Ich will, wenn’s nicht anders ist, meinetwegen die Musik, die sie mir vormachen, bezahlen, so hoch wie sie wollen, ich bin nicht geizig, und aus Geiz hänge ich nicht an meinem Eigenthum, nur weil’s mein ist und Keiner darein zu reden hat. Also Geld, so viel sie wollen, auch die Erlaubniß für Hasso, in Lichtenfels die Wirtschaft zu lernen, aber auf die Universität lasse ich ihn nicht.“

„Pardon, darüber habe ich zu entscheiden,“ schaltete der Major ein. Die Dame überschrie ihn:

„Soll er sich durch Kneipen und Biertrinken die Stimme verderben? Was braucht er zu studiren, wenn er Landwirt werden soll?“.

„Damit ihm allezeit der Weg zum Staatsdienst offen steht, wenn’s mit der Landwirtschaft nicht geht,“ fiel der Major ein. „Man kann ihn nicht wie einen reichen jungen Mann mit Berücksichtigung von Talenten und Liebhabereien erziehen, sondern wie Einen, dem man die Bahn des Erwerbs nach jeder Richtung hin öffnen muß.“

„Dann werde ich ihm Gülzenow verschreiben und er bleibe erklärte Rosine.

„Gülzenow mit all den Schulden, nachdem alle die Jahre hindurch versäumt sind, in denen sie hätten zum Theil wenigstens getilgt werden? Wie sollte er das Gut wohl annehmen ohne einen Groschen Capital! Wenn Du das Gut vermachst, mußt Du auch die Mittel dazu geben, es zu erhalten, sonst ist er von Hause aus bankerott auf demselben.“

[662] Rosine sah den Redenden starr an.

„Seht doch Einer den Schlaukopf!" sagte sie. und die rothen Flecken auf der Stirn traten wieder dunkler hervor. „Jetzt verstehe ich die Procedur. Läuft’s darauf hinaus? Erst das Gut, dann das Capital! Herr Vetter, wir haben uns verrathen, so theuer werde ich mir aber den Gesang nicht kaufen. Nein, das geschieht nicht, nun gerade nicht. Schicke Hasso zum Teufel auf die Universität, wenn Du willst. Meinetwegen!“

„Ich habe mit dem Herrn keine Bekanntschaft, dann müßtest Du die Vermittelung übernehmen,“ gab der Major die Unhöflichkeit zurück.

„Je früher er fortkommt, um so besser!“ rief die zornige Dame. „da hätte ich ja lieber mit offenen Wegelagerern zu thun!“

„Höre, Cousine,“ rief nun auch der Major mit erhobener Stimme, wahre deine Zunge. Rede über mich was du wills, mir wird’s nichts schaden. Ein Königlich Preußischer Officier ist allemal selbstverständlich ein Ehrenmann, aber der Junge hat noch kein Renommée, dem konntest Du es wegdisputiren. Mein Wort, das Wort eines preußischen Officiers, verstehe mich wohl, mein Wort darauf, daß er an deinen ganzen Plunder von Reichthum mit keiner Silbe denkt.

„Und er hat doch an dem Abend, als er ankam, dem Kutscher, der ihn herbrachte, versprochen, ihn einst auf Gülzenow in Dienst zu nehmen,“ unterbrach ihn die Dame, „mein Diener hat’s gehört –“

„Und rapportirt,“ fiel ihr nun seinerseits der Major in’s Wort. „Schöpfest du aus solchem Quell deine Menschenkenntnis, so mache ich dir mein Compliment. Da ist die Sache keines Wortes mehr werth. Mit Bedientenklatsch habe ich mich mein Lebtag nicht befaßt. Gott befohlen, Cousine.“

Die Grobheit schlug durch. Sie war wie ein Schuß in’s Schwarze. Auch ohne daß es Einer ausrief, hallte das „Getroffen“ wieder.

„Pfui, Leo!“ sagte Rosine. Der Ton klang ganz anders als vorher, betroffen blickte der Major auf. Das Wetter war vorüber, eine Kindheitserinnerung hatte es zerstreut. „Alter Brummbär, wirst Du fortlaufen wie in Gülzenow, wenn wir uns zankten?“ sagte sie.

Es liegt fast immer etwas in den Erinnerungen an die Kindheit, was den Augenblick hell überstrahlt, selbst ein damals ausgefochtener Streit übt die Wirkung. Ist er doch mit all’ seinem Zorne seiner Bitterkeit vorübergegangen und mochte man ihm doch Alles nachwerfen können, was dem Augenblick Unfrieden, Bitterkeit bringt.

Der gutmüthige alte Major erfaßte ihre beiden Hände.

„Was du für eine Hexe sein kannst, und warst doch solch’ grundgutes Mädchen. Rosine!“

„Ja das war vorher, ehe ich ihn kennen lernte, ehe er mich lehrte, daß nicht eine ehrliche Seele und ein aufrichtiges Streben nach dem Guten, ein warmes Herz und ein nicht gerade umnebelter Kopf, daß dies Alles nicht, aber daß das Geld ein häßliches Gesicht zuzudecken vermag,“ sagte Rosine mit bitterem Schmerz. „Wenn er mich so belügen konnte, so Komödie zu spielen vermochte, er, der doch Eins mit mir zu sein gelobte, wenn er mich verrieth, warum soll ich Andern glauben! Ich weiß es nie, bin ich es oder ist’s mein Geld, das mir Geltung verschafft.“

„Den Kindern gegenüber auch?“ fragte der Major vorwurfsvoll.

„Die Kinder werden große Leute und Einer lernt vom Andern unehrlich und habgierig sein. Ja, schüttle nur mit dem Kopf. Es ist doch so, und an dem ganzen Schwindel von Liebe und Glück, Vertrauen und Hoffnung wenig gelegen. Als Kind ist man glücklich, ist man gut, im Alter – Gott im Himmel, was wird man oft mit dem Alter! Man zankt sich so in’s Leben ein und wird immer schroffer und härter –“

„Wenn man sich gehen läßt,“ unterbrach er sie.

„Ja, Einer ist von Stroh und der Andere eben so, es ist Alles dasselbe. Wie ich jung war, hatte ich schwärmerische Gedanken von Menschenwerth und Vervollkommnung, die hat mir mein Herr Gemahl ausgetrieben, als er sich nicht für mein Herz, sondern für mein Geld hingab. Nun arbeite ich weiter nicht an mir, sondern bin so wie ich bin: böse, wenn ich mich ärgere, gut, wenn’s so paßt, vergnügt, wenn ich Anlaß dazu habe, und so weiter. So wird man, wenn man solche Erfahrungen gemacht hat wie ich.“

Der Major schüttelte noch heftiger den Kopfe, er schien das sichtlich nicht nöthig zu finden.

„Man hat doch sehr wenig, wenn man nur Geld hat, Leo“ fuhr sie fort. „Hätte ich keins, würde ich wissen, wer mich um meinetwillen liebt.“

„Rosine, glauben ist viel besser als wissen,“ sagte er und reichte ihr die Hand, in die sie kräftig einschlug.


Der Friede war wieder hergestellt, der Abend verfloß unter Musik und Gesprächen über die Kinderzeit; aber in der Nacht hatte Rosine einen heftigen Anfall von Herzkrampf. ein altes Uebel, das häufiger und heftiger jedesmal wiederkehrte und sie stets für längere Zeit mit Todesgedanken erfüllte und übellaunig machte. Es durfte dann Niemand bei ihr sein als Dore, ja, es sollte es Niemand wissen und wehe, wer eine Anspielung darauf machte und ihrem Unwohlsein einen andern Namen gab als den einer Migräne!

Der Major kehrte in die Residenz zurück. Der Herbst kam und Hasso ging zum ersten Semester nach Jena ab. Sein kleines Capital blieb unangegriffen. Die Tante litt es nicht, daß es berührt wurde, und er mußte seinen Stolz, seinen Hang zur Selbstständigkeit ihrem gerechten Anspruch an Dankbarkeit opfern. Sie setzte ihm eine Summe in Betrag seines Capitals aus; sie würde sie verdoppelt haben, hätte er sich nicht dagegen gewehrt.

Der Abwesende ist in den Augen launenhafter Menschen immer der Liebenswürdigste. Wie seufzte Tante Rosine nach Hasso! Alles Mißtrauen war für den Augenblick vergessen und gesellige Eigenschaften wurden mit ihm vermißt, die er nie besessen hatte.

Ursula entbehrte mehr. Ihr Herz vermißte ihn, nicht ihre Phantasie; die vielen einsamen Stunden, welche sich ihr nahten, verlebte sie zum Theil mit Dore, zum Theil in Gesellschaft ihrer Bücher, die ihre reiche innere Welt täglich mit neuen Schätzen des Wissens füllten und die ihr täglich treuere und liebere Freunde wurden. Zuletzt trat auch der Briefwechsel helfend ein und eröffnete dem ernsten Mädchen eine neue Quelle tief inneren Genusses. Wie schnell vergehen drei Jahre, wie viel erlebt man in ihnen und wie wenig ist davon zu erzählen! Man schaut in solch Jugendleben hinein wie in eine Laterna magica. Ein Bild nach dem andern zieht vorüber. Alles ringsum ist dunkel, nur der Punkt, aus dem die Gestalten erscheinen, hell. Sie kommen und gehen in rascher Folge, abgerissene Bilder und doch im innern Zusammenhang zu einander stehend.

Als Hasso zurückkam, begann eine glückliche Lebensperiode für Tante Rosine. Alle ihre Träume schienen sich zu erfüllen. Er hatte ein Jahr in der Residenz studirt und bei dem ersten Lehrer Unterricht genommen. Seine Stimme war weniger kraftvoll geworden, als sie zu werden versprochen, aber eine gute Schule und sein gereifter Geschmack verdeckte den Mangel. Auch den Zwillingen durfte nun mehr zugemuthet werden, und nicht nur ihr kleines Talent, nein, auch sie selbst entfalteten sich in reizender Weise.

Tante Rosine führte sie in die Welt ein. Die Welt, dies Meer voll Klippen, war ihnen nur ein Spiegel des eignen reinen Empfindens, und während Eine sich der Triumphe der Andern freute, vergaß es Jede, die eignen zu bemerken. Sie waren so hübsch damals, daß jedes Auge mit Vergnügen auf ihnen weilen mußte, und doch war ihre Unschuld ihre hauptsächlichste Schönheit. Ihr Lächeln strahlte Herzensgüte wider, ihr Blick kindliches Zutrauen, auf ihrer Stirn thronte die Freude an der Jugend, am Leben, an der Welt und dem Schöpfer, ja, und daß die Natur sich in einer so reizenden Schöpfung wiederholt, erhöhte den Zauber dieser lieblichen Erscheinungen.

Tante Rosine war in ihrem Element. Sie schaffte sich ein rosinfarbiges Sammtkleid und eine Haube mit Marabus an und begleitete ihre jungen und schönen Nichten auf Bälle und in Gesellschaften. Sie verwandte keinen Blick von den Tanzenden, sonnte sich in der Heiterkeit der jungen Mädchen und fuhr Jeden an, der anders als in den Tanzpausen sie anzureden wagte. Jetzt war die Lieblingschaft der Zwillinge entschieden. Die Tante vergötterte, die Welt verzog sie, sie blieben wie sie waren. Es schien nirgend in ihrem Gemüth der dunkle Punkt, dessen sich böse Dämonen bemächtigen.

[663] 

Ein Bild ohne Worte.
Originalzeichnung von Otto Günther in Weimar.

[664] Vielleicht war Rosine noch nie in ihrem Leben so glücklich gewesen als jetzt. Die Nichten hübsch und gefeiert, die Bedeutung ihrer eignen Person erhöht, Gülzenow im Augenblick in den Hintergrund getreten, die Woche ein Strom von Vergnügungen, am Sonntag die Familienconcerte im vollen Gange, von denen jedes fremde, jedes störende Element abgeschlossen war, ja während deren die Tante am liebsten die Straße gesperrt hätte, damit nur kein Wagengeräusch die Harmonie der Musik unterbreche.

Ein heitrer Geist schwebte über dem Hause, nirgends eine Veranlassung zu Herzkrampf, und selbst der Umstand, daß dieser ein paarmal ohne Veranlassung kam, brachte nur vorübergehende Todesgedanken. Es war zu diesen wie zu der dazu gehörigen üblen Laune nirgends rechte Zeit.

So stand es, als Clemens von Brücken aus jenem Ball zum erstenmal in den Gesichtskreis der Tante trat, zum erstenmal an dem Lebenshorizont der beiden jungen Mädchen erschien, ob als Nebelstreifen, als Stern, als Sturmeswolke, lag noch im Schooß der Zukunft verborgen.


Fortsetzung folgt.



Aus einer alten deutschen Stadt.

Um manche Stadt unseres Vaterlandes hat die Sage, die Dichtung und die Geschichte einen solchen Kranz von Poesie gelegt, daß der bloße Name derselben uns schon wunderbar berührt. Und nur mit andächtiger Stimmung sehen wir ihre Thürme, ihre Mauern, ihre Straßen an, wenn wir zum ersten Male dieselbe betreten. Noch fühle ich nach langen Jahren, wie das Herz mir höher schlug, als ich in meiner Studienzeit von der Musenstadt am Neckar aus zum ersten Male nach Weinsberg wanderte und im Geiste den komischen Weiberzug die Burg herabziehen sah und dann bei dem gemüthüberquellenden, damals schon halb erblindeten Justinus Kerner, dessen Lieder wir oft gesungen, vorsprach, um einen ganzen unvergeßlichen Tag in seinem gastlichen Hanse zuzubringen. Aehnliche Empfindung hatte ich, als der Straßburger Münster sich mir an fernen Horizonte zum ersten Male erhob, oder als in Worms alle Nibelungengestalten wir auftauchten und die Schatten einer dichterischen Vorzeit mir zwischen den Mauern und Häusern lebendig wurden.

Der Süden hat dieser dichtungumwobenen Städte vor Allem so viele, und sie gehören mit zur Poesie des grüneren Landes jenseit des Main. Die Städte des Nordens schmückt mehr die ehrenvolle Bürgerkrone. Eine würdevolle Prosa durchwirkt ihre Geschichte, die uns Achtung abzwingt vor den tapfern, frommen und gewerbthätigen Menschen, die sie gebaut und treulich in ihnen gewaltet seit Jahrhunderten. Die Gartenlaube hat manches Bild solcher altdeutschen Städte schon dargeboten und Achtung vor ihnen gelehrt. Es sind ehrwürdige Städte, die sie ab und zu geschildert. Aber es giebt auch solche, deren früherer Ruhm geknüpft ist nicht an Kirchen und Capellen, an Klöster und Burgen oder Belagerungen und Schlachten, sondern nur an die löblichst betriebene Bierindustrie, – in einer Zeit, wo noch kein Fabrikschlot rauchte und die Städte zu Fabrikstädten machte, wo aber durch den Dampf der Braupfanne vor Allem manche Stadt berühmt und unsterblich ward.

Der im Archivstaube wühlende Gelehrte constatirt es: eine der ältesten Bierstädte unseres Vaterlandes ist die Anhalt’sche Stadt Zerbst an der erlenumwachsenen Ruthe; selbst als Stadt an sich alt wie wenig andere. Die verfallenen Wartthürme, das uralte Festungsgemäuer, uralter Sagenreichthum, der die Stadt und die Gegend umkränzt, würden davon Zeugniß geben, wenn nicht die schriftlichen Urkunden selbst bis in’s zehnte Jahrhundert das Dasein der Stadt als Stadt documentirten. Was mag noch darüber hinaus liegen! Manches Stück deutscher Culturgeschichte ist aus den Archiven, Baudenkmalen und sagenhaften Traditionen herauszulesen. Manche Herrlichkeiten, zum Beispiel eine von Lucas Cranach gemalte mächtige Bibel, und manche Sonderbarkeiten früherer Zeit liegen durch Nachsicht der Mäuse und entomologischen Ungeziefers auf dem altseltsam gebauten Rathhause pietätvoll aufbewahrt. Alles das aber ruft uns unter dem aufwirbelnden Staube zu: „einstens gewesen!“

Nur das edle Getränk, welches Kranken und Gesunden nützt, das allbekannte Zerbster Bitterbier, läßt durch den Kranz noch fort und fort bestehender Einrichtungen die altersgraue bierwürzige Vergangenheit lebensfrisch in die neue Zeit hineinblicken und läßt den gewerblichen Stolz der Gegenwart anknüpfen an alte Triumphe deutscher Gewerbthätigkeit. Der Fremde, der die alte Stadt betritt, läßt sich behaglich von dem alten Ruhme dieses Bieres erzählen und lacht und freut sich über die alten hopfenumrankten Traditionen. Hier war einstens eine Entfaltung der Bierproduction, die in’s Großartige ging. Hier waren die bezüglichen Gerechtsamkeiten zwar auch eingezäunt durch alte Innungsverordnungen, und doch waren wieder in weitherzigster Weise alle Schleußen geöffnet, damit der alte Ruhm immer reicher werde und wachse. Hier war ein Verkehr, der früher schon aus den engen Mauern heraustrat und in Exportgeschäften in der weitesten Umgegend seine Verbindungen hatte, selbst über Deutschland hinaus. Im sechzehnten Jahrhundert war ihm schon selbst das Meer bis nach Amerika hin nicht zu breit. Hier webte und waltete zugleich ein im damaligen Sinne frommer Geist um die Braupfanne her, indem Alles als Segen von oben dankbar empfangen wurde.

Schon die verhältnißmäßig große Menge von Brauhäusern dürfte vergeblich anderswo zu suchen sein. Es giebt manche Städte, in denen fast ein Haus um das andere denselben Gewerbzweig vertritt. Zum Beispiel in dem Städtchen Pirmasenz in der Rheinpfalz sind fast Alles Schuhmacherhäuser, und bei einem abendlichen Gang durch die Straßen machen die Glaskugellämpchen, bei denen die ehrsamen Schuster arbeiten, einen wunderlichen Eindruck. Zerbst hat so seine Brauhäuser, – wenigstens noch immer dem Namen nach! Es machen dieselben mehr als die Hälfte der Häuser der Stadt aus. Viele derselben haben sogar eine doppelte Braugerechtigkei und somit auch doppelte Pflichten und Rechte. Das sind aber Brauhäuser! Mächtige Räume ziehen kellerartig kühl und dunkel in solidem Ausbau durch die Hintergebäude des Hauses hin, in denen einst das gewerbliche Leben pulsirte und ruhelos nervige Brauknechte thätig waren. Da wurde endlose Fülle des edlen Stoffes bereitet und der Weltruhm der Stadt mitgebraut. In Thätigkeit sind jetzt freilich nur noch etwa zwanzig Brauereien, die Brauräume aller der andern berechtigten Häuser sind öde und unheimlich stille. Schuttgeröll und Urväter-Hausgeräth liegt da aufgespeichert. Ist aber mit dem Geist der alten Zeit das Leben desselben auch dahin, – das Phlegma ist geblieben. Nämlich als ein sinnloses Phantom erbt das Braurecht von Besitzer auf Besitzer fort. Derselbe heißt ein Brauherr, wenn ihm auch nichts ferner sieht als das Handwerk mit seinem goldenen Boden. Rentiers, Lehrer, Kaufleute, Kreisgerichtsräthe, – alle sind Brauer im Besitze solcher Häuser und genießen als solche die von ehemals überkommenen Rechte dieses Standes, – in den sie thätig eintreten können, sobald es beliebt. Caricaturen von Rechten in ihrer alten Begründung unter der heutigen Sonne! Aber es sind lebendige Actenstücke für die Kenntniß der früheren Zeit.

Ja, damals war es nichts Geringes, ein Brauer in der alten reichsfreiherrlichen Stadt zu sein! Die alten Urkunden reden gar nicht von Brauern oder Brauereibesitzern, sondern nur von Brauherren, bürgerlichen Nobili, die nicht nur reich an Gut, sondern auch reich an bürgerlichen und kirchlichen Ehren waren. So hatte die Brauherrn-Innung ausschließlich das gewichtige Ehrenamt des Kirchenvorstandes, dasselbe war in manchen Familien erblich, vor Allem aber vererbten die löblichen Ahnen der heutigen Bierindustriellen ihren Stand von Geschlecht zu Geschlecht. Daneben aber bestand auch und besteht noch ein nicht unansehnliches Stipendium für studirende Brauerssöhne, und als ein solcher gilt in dem Sinne des Stipendiums der, dessen Vater als Brauhausbesitzer sich legitimiren kann. Das Recht hängt an dem Hausrechte. Der Sohn selbst eines wirklichen Brauers rechnet vergeblich auf jene stipendiale Unterstützung, wenn der Vater gestorben und das Haus verkauft ist.

Es waren jene Alten aber auch dem Herzen nach ehrenwerthe Männer. Manche milde Stiftung für Kirchen und Arme, für Lehrlinge, Wittwen und Waisen zeugt noch von dem gemeinsinnigen, [665] humanen Geiste der alten Zunft. Es zog durch ihre Lebensanschauung der Satz: „Lobe den Herrn, der deinen Stand sichtlich gesegnet!“ Besonders aber als ein Gottesdienst, mit dem sie den Herrn loben, galt es ihnen, den Armen und Mühseligen aus ihrer Fülle mitzutheilen. Manches Ehrendenkmal davon steht noch unangetastet in unsern Tagen und mag noch lange stehen. Noch jährlich wird so an die Armen der Stadt aus alten Vermächtnissen eine gewaltige Bierspende vertheilt. Die Armen und Lahmen und Blinden des Evangeliums ziehen dazu nach dem Rathhause. In dessen ehrwürdigen Räumen, wo sonst die Väter der Stadt nur zu ernsten Dingen sich versammeln, macht dann der Klang des Plätscherns und Gießens und der balsamische Gerstentrankgeruch sich geltend. Da freuen und stärken sich die einmal an dem goldbraunen Nektar, die sonst ihren Durst schon mit einem Schluck aus dem klaren Bache zu stillen wissen.

An Gemüth hat es eben dem Deutschen nie gefehlt, und es brauchte nur eine Saite desselben bei ihm angeschlagen zu werden, so gab es seinen vollen Ton. Darum sind sie vor Zeiten auch von ganzer Seele fromme Leute gewesen. Ja, die Innigkeit und Fülle ihres Gemüthes zeigte sich kaum irgendwo nachdrücklicher, als in der Hingabe desselben an die Mächte der Religion. Es ist da freilich viel Trübes mit untergeflossen. Die soliden Bürger haben ihrer Zeit in den confessionellen Fragen auch tüchtig mitgestritten und sich befehdet um einer Glaubensformel willen. Es war aber doch immer nur die wirkliche Frömmigkeit, die sie darin zu erweisen meinten. Der Geist der Frömmigkeit durchwebte am reinsten das häusliche Leben und das gewerbliche Thun. Vor Allem war es in Zerbst die weidliche Brauerzunft, welche, in solidem Besitz, auch den Gemüthsauslassungen ihr Theil gestattete.

Ehe die Braue begann, wurde Mann, Weib, Knecht, Magd und Kind um die Braupfanne versammelt und in andächtigem Kreise wurde, bis noch in die ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts, ein Lied gesungen und ein kurzes Gebet gesprochen, damit der Herr, von dem Alles im Himmel und auf Erden abhänge, den Segen nicht versage zu dem Werke, zu dem man sich anschicken wolle. Nun änderte sich die Scene. Nun rührten sich die Hände, die Arbeit begann. Bei dem damaligen rein empirischen Verfahren, wobei man selbst den Thermometer nicht benutzte, ist freilich manche Braue – man wußte nicht wie und warum – mißrathen. Die besten Wünsche beim Beginn des Werkes waren daher selbstverständlich. Doch aber waren die Leute für ihre Zeit Meister ihres Faches. Und wenn nun, wie meistens, Alles glücklich vollbracht war, das Bier des alten Ruhmes würdig gerathen, dann trat der Kreis wieder zusammen. Gebet und Gesang erklangen in den Räumen, wo vor ihnen das wohlgethane Werk seinen Meister lobte. Ein Dankgottesdienst schloß das Ganze.

Die Religion und das Leben, die Kirche und das Haus, das waren innig verbundene Begriffe jener Zeit. Und so wurde denn selbst die Kirche den Wünschen und Gebeten der alten Industriellen geöffnet. Daß es geschähe, haben sie sich angelegen sein lassen. So wurde von einem gottesfürchtigen Brauherrn schon etwa im vierzehnten Jahrhundert eine Summe niedergelegt, für deren Zinsen die Geistlichen der Stadt angehalten sein sollten, jährlich einmal zur Zeit der Hauptbräue einen öffentlichen Gottesdienst zu halten. Der Herr sollte, auch in seinem Hause angerufen, um so mehr die Arbeit des ehrsamen Standes segnen. Das Vermächtniß besteht noch und die Predigt besteht auch noch. Sie wird jedes Jahr an einem bestimmten Donnerstage gehalten. Die Zahl der wirklichen Brauer hat abgenommen und das Publicum ist daher klein bei dieser Predigt. Aber sie wird trotz alledem gehalten. Der charakteristische Zug darin ist freilich zumeist in allgemeiner Danksagung für alle gute und vollkommene Gabe untergegangen und die Brauerei wird nur erwähnt. Wenn diese specifische Standespredigt aber auch nur ehemals bestanden hätte, so wäre das schon Zeugniß genug für die hohe Wichtigkeit, welche die Industrie der alten Bierstadt hatte.

Einem durch seine Originalität weithin berühmten Geistlichen der Stadt zu Anfang dieses Jahrhunderts erschien bei seiner rationalistischen Denkungsweise diese Art von Predigt denn aber doch etwas seltsam. An einem Sonntagsnachmittage fügte er nach beendeter Predigt hinzu, er sei nächsten Donnerstag behindert, die übliche Braupredigt zu halten. „Ich will daher das Nöthige gleich jetzt sagen. Die Stadt ist durch ihr Bier zu etwas Großem berufen gewesen und sie hat nicht ihre Schuldigkeit gethan. Einstens ging unser Bier über die Grenzen Deutschlands hinaus. Es hat vormals selber die Linie passirt. Und jetzt! da geht es kaum mehr über die – Ruthe. Schämt Euch, geht nach Hause und bessert Euch!“

Diese Worte des alten Herrn deuten schon an, daß der blühendste Ruhm der Stadt weit vor diesem Jahrhunderte liegt. So deuten neben den schriftlichen Belegen, die dafür vorhanden sind, auch die alten Brauhäuser selbst durch ihre alterthümliche Bauart auf eine mittelalterliche Zeit zurück. Eine ganze Straße, der man ihr Alter als nicht von heute und gestern ansieht, heißt von Alters her die Broihahnsgasse; aber ihre Häuser sind gleich den allermeisten brauberechtigten seit undenklicher Zeit außer Betrieb. Manche alten aber floriren noch wie ehemals. So wurde im vorigen Jahre von fröhlicher Stammgesellschaft die zweihundertjährige Feier eines der renommirtesten Bierbrauhäuser unter Sang und Klang begangen, dessen über der holzschnörkelig verzierten runden Hausthür eingeschnitzter Ziffer 1668 auch die Giebelfront und die sonstigen Hausverzierungen entsprechen.

Ob aber das Bier der Stadt damals, als etwa dieses Haus gebaut wurde, noch ein ganz anderes Getränk war als das heutige? Die Stadttradition redet darüber selbst von einer guten alten Zeit. Proben von damals sind bei dem Durste der Menschen zu allen Zeiten freilich nicht mehr vorhanden, sie würden auch übel munden. Das „Beste“ damaliger Zeit würde aber, wie in allen Dingen, so auch beim Biere in der jetzigen Zeit, wo man auch in dieser edlen Kunst weit fortgeschritten ist, wohl nur noch „gut“ zu nennen sein. Damals überflügelte doch aber die Stadt durch ihre solide Brauweise, durch die Güte des Wassers, durch die eingehende Kenntniß dieses Gewerbes und durch Verfügung über mächtige kühle Kellerräume alle Nachbarstädte weit und breit. Selbst das Ausland fand etwas Absonderliches wie am Braunschweiger so am Zerbster Bier. Ja, die Stadttradition bringt selbst den Namen „Zerbst“ in sprachliche Verbindung mit dem lateinischen cerevisia. Die Deutung ist dabei eine doppelte. Entweder hätten die Römer die Stadt, welche von ihnen gegründet oder schon vorgefunden wäre, nach dem Biere benannt. Oder das Bier hätte seinen lateinischen Namen selbst von der Stadt an der Zere (welches der nachweisliche frühere Name für den Ruthefluß war, an dem die Stadt liegt), wo es zuerst oder doch am vorzüglichsten gebraut worden sei.

Wenn aber auch unsere Zeit Alles überall in ziemlich gleicher Güte finden läßt und fast jede Stadt vorzügliches Bier jetzt producirt – der alte Ruhm der Stadt ist doch noch nicht ganz untergegangen. In den meisten großen Städten Norddeutschlands sind noch Kneipen und Keller, die ziemlich ausschließlich Zerbster Bier ausschenken. Das Exportgeschäft ist noch immer äußerst bedeutend. Es ist das Bier eben ein nahrhaftes, unverfälschtes dunkeles Getränk von echtem Wohlgeschmacke, das mindestens so heilkräftig wirkt, als das viel annoncirte Hoff’sche Bier in Berlin. Und es gehört schon eine gewisse Blasirtheit dazu, an den altehrwürdigen Brauhauskneipen vorüberzugehen und an den bairischen Bieren der größeren Gasthäuser besseren Geschmack zu finden. Vor Allem aber zu Hause mit Weib und Kind trinkt der hohe und niedere Bürger nur sein Zerbster Bier, und der hinfälligste Reconvalescent erhält regelmäßig die ärztliche Vorschrift, nun an dem Gebräu der Vaterstadt sich zu kräftigen.

Neben dem Bitterbiere war vor Zeiten auch die Production des Süßbieres, Weißbieres und vor Allem des Broihahn nicht unbedeutend. Sie hat aber fast gänzlich aufgehört. Dafür hat die Stadt einen neuen Klang durch die Fabrikation des Porter und des Malzextract gewonnen, der in einigen Brauereien in bedeutender Menge hergestellt wird.

Mag aber der biergewerbliche Ruhm der Stadt mit der Zeit nach außen auch ganz verschwinden, für sie selber bleibt er unvergessen – verwachsen mit alten Einrichtungen und Sitten, die eben mit um ihrer Eigenartigkeit willen löblich bewahrt werden. Und der Glanz der Vergangenheit bleibt ersichtlich, so lange die alten Häuser selber noch stehen mit ihren mächtigen Kellerverließen, mit ihren saalartig weiten Braustubenräumen, welche alle Hintergebäude durchsetzen – unvergeßlich durch die altbehaglichen Bierstuben selber, in denen die Urväter saßen und in denen von Geschlecht zu Geschlecht der alten Zeit mit ihrem alten Ruhme gedacht wird. P. K.     



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Aus vollem Menschenherzen.

Wissenschaftliche Novellette von A. Bernstein.[1]

In seinem kühlen Gartensaale hatte der Herr Professor zur Feier des zweiundzwanzigsten Geburtstags seiner Tochter Amalie eine kleine Gesellschaft „junger Leute“ um sich versammelt, drei Freundinnen der Tochter, die Fräulein Anna, Florentine und Laura, vor denen drei junge und besonders begabte Privatdocenten der Universität mit dem Leuchtfeuer geistreicher Satire über Verirrungen der Wissenschaft und des Lebens brillirten.

Den üppigsten Uebermuth entfaltete der jüngste derselben, Dr. Schwarzkopf, ein Theologe von, wie er offenherzig gestand, nun einmal verfehlter Carrière, und dieser wollte er, wie er sagte, endlich dadurch „zeitgemäß“ aufhelfen, daß er sich zum Ankläger gegen den Zoologen der Gesellschaft aufwarf, weil dieser ein Vertheidiger der Affenabkunft des Menschengeschlechts sei.

Der Herr Professor, welcher aus dem orthodoxen Consistorium des Staats ausgetreten war, um seinem Rationalismus ohne tägliche Verbitterung der Seele von Amtswegen leben zu können, schien selbst einem Ketzergericht des Scherzes gern aus dem Wege zu gehen. Als er die Bereitwilligkeit der Damen sah, ein Collegium von Richterinnen zu bilden, schritt er freundlich nickend der offenen Thür zu, um sich im Garten zu ergehen.

Und das war gut, denn nur so konnte er den neuen Gast an der Gartenpforte gewahren, dem er mit einer so sichtlichen Freude entgegenging, daß sie auf zartere Beziehungen zwischen ihnen schließen ließ. Der festliche Anzug und die weiße Halsbinde des jungen Mannes, auf dessen ganzer Erscheinung das Auge des Professors mit so innigem Wohlgefallen ruhte, verrieth den Augenblick irgend einer Schicksalswendung, und wirklich erfuhr er sofort, daß er in seinem jungen Freunde einen neuen Collegen vor sich hatte, dem soeben in feierlicher Audienz die Professur der Physiologie zugesichert worden sei. Es muß ein sehr süßes Gefühl gewesen sein, welches dem Glücklichen den Wunsch eingab, daß für die fröhliche Gesellschaft des Gartensaals seine Ernennung zum Professor für den Augenblick noch ein Geheimniß bleiben möge. In der Erinnerung an ein ähnliches Empfinden, das er selbst vor vierundzwanzig Jahren in gleicher Situation durchlebte, vollkommen damit einverstanden, führte der Herr Professor den neuen Gast dem Gartenhause zu, längst schon beobachtet von Fräulein Amalie, welcher bei dem Anblick offenbar eine so liebe Vermuthung im Herzen aufstieg, daß die glühende Röthe der Wangen sie fast verrathen hätte.

Beim Eintritt in die Gesellschaft fanden sie dieselbe über den Eindruck und namentlich den eigentlichen Werth der wenn noch so geistreichen ketzergerichtlichen Anklage- und Vertheidigungsreden der Herren in einem Meinungszwiespalt, der auf den Herrn Professor einen um so besseren Eindruck zu machen schien, je würdiger dabei das Bildungsstreben der Freundinnen seiner Tochter hervortrat und je offener es sich aussprach.

„Die Herren Gelehrten“ – meinte nämlich Fräulein Florentine – und ihre Freundinnen zollten ihr vollen Beifall – „bieten uns wissenshungrigen Schülerinnen statt des barmherzigen Brodes ihres Wissens nur unbarmherzige Steine ihrer Spottsucht. Wie begünstigt dünken wir uns doch, Repräsentanten der Hochschule hier vor uns zu haben, um von Angesicht zu Angesicht ihre Weisheit vernehmen zu können! Wie setzen sie uns auch so gern in Staunen, wenn sie mit den fertigen Resultaten ihrer Forschungen vor uns hintreten und uns zur Bewunderung hinreißen, die wir leider gar nicht zu leicht zollen! Aber wohlerwogen verleiten sie uns doch am Ende nur zum blinden Glauben aller Resultate, so lange sie uns die Probleme verhüllen, aus welchen wir uns selber zu den Ergebnissen hindurcharbeiten könnten, deren sie sich rühmen. Die Herren der Schöpfung“ – schloß sie mit einem Blick auf den Physiker, der lebhaft ihren Worten lauschte – „die Herren der Schöpfung spielen vor uns gar zu gern die Schöpferrolle, wo wir ihre fertige Welt bewundern, um über die werdende recht lange im Dunkel zu bleiben.“

„So wollen Sie Probleme?“ fiel ihr der heiter blickende Physiker in’s Wort.

„O gewiß,“ riefen die Damen aus. – „Wie solltet wir dies nicht, da Sie uns doch Alle für problematische Naturen halten!“ setzte die jüngste der Damen, Fräulein Laura, hinzu, mit halbem Blick dem Dr. Schwarzkopf begegnend.

„Wohlan,“ sagte der Physiker nach einiger Zeit, „so nehmen Sie Platz, meine Damen, und ich will Ihnen ein Problem entwickeln, an dessen Verwirklichung Sie mitarbeiten sollen, ein Problem, das eine Errungenschaft der Zukunft zu werden bestimmt ist.“

Die Gruppen der aufgelösten Gesellschaft ordneten sich gar bald im Halbkreis. Der alte Professor nahm zur Seite Florentinens Platz, der er seinen Dank aussprach für den Ernst, welchen sie in die Unterhaltung bringe. Fräulein Anna ließ sich dem neuen Gast gegenüber nieder, der offenbar zerstreut den Blick umher schweifen ließ, vielleicht um ihn nicht allzu auffallend auf Fräulein Amalie ruhen zu lassen, die seit seinem Eintritt in den Gartensaal befangener als je schien. Der Zoologe rückte seinen Sessel an die Seite der Fräulein Amalie, um über sie hinweg einen gelegentlichen Blick mit Fräulein Anna wechseln zu können. Fräulein Laura endlich schob ihren Sessel weit ab von dem des Herrn Dr. Schwarzkopf, um – wie sie sagte – das gewiß tief philosophische Problem in ungestörter Beschaulichkeit aufnehmen zu können, während der Dr. Schwarzkopf ausrief, er sei auf Alles gefaßt, nur auf kein Perpetuum mobile, das er wegen der Ruhelosigkeit, als die unglücklichste Erfindung der Welt betrachten würde.

Der Physiker, den Halbkreis vor sich, lehnte sich mit einer Professor-Miene im Lehnsessel zurück und begann nach einer Pause seinen Vortrag wie folgt:

„Sie wissen, daß man elektrisches Licht erzeugen kann. Nach den wohlbewährten Theorien der neueren Physik, welche die Lehre aufstellt, daß jede Kraft der Natur durch geeignete Vorrichtungen in eine andere übergeführt werden kann, ist dies in der That nichts anderes, als ein Ueberführen der elektrischen Schwingungen in Schwingungen des Lichtes. Es ist dies nicht eine neu erzeugte, sondern blos eine verwandelte Kraft.

Nicht minder ist es Ihnen bekannt, daß man auf einem Umweg auch aus Licht elektrische Ströme gewinnen kann. Das Licht erzeugt chemische Wirkungen, was wir in der Photographie alltäglich sehen. Chemische Erscheinungen gehen aber immer mit elektrischen Hand in Hand. Lichtschwingungen, chemische und elektrische Schwingungen sind nur verschiedene Aeußerungen einer und derselben Kraft.

In neuester Zeit ist man dem Problem näher gekommen, der Versuch ist gelungen, durch Licht direct elektrische Ströme erzeugen zu lassen. Licht in Elektricität zu verwandeln, wird bald ebenso leicht sein, wie man jetzt Elektricität in Licht verwandelt.

Dürfen wir diesen Fortschritt als bereits errungen ansehen, so liegt ein weiterer Schritt sehr nahe. Licht, das wissen Sie, besteht aus einzelnen Farben, oder richtiger ausgedrückt, jede Farbe ist Licht von eigenthümlicher Schwingung. Können wir aus Licht Elektricität erzeugen, so wird es nicht schwierig sein, auch aus jeder Farbe Elektricität hervorzurufen

Angenommen das Problem sei gelöst – und das kann nicht fehlen, wenn Sie, meine Damen, mit Ihrem feinen Farbensinn nur das Problem ernstlich lösen wollen – so sind wir einer weitern Erfindung nahe, die hoffentlich Ihr Interesse in Anspruch nehmen darf.

Gegenwärtig telegraphiren wir vermittels des elektrischen Stromes, das heißt wir erzeugen auf dem einen Ende der Leitung einen elektrischen Strom, der sich auf dem andern Ende des Drahtes zu erkennen giebt.

Kommen wir aber mit Ihrer thätigen Nachhülfe so weit, [667] aus Farbe Elektricität zu erzeugen, so können wir auf dem einen Ende der Leitung die rothe Farbe auf den Draht einwirken lassen, und es wird sich bis zum andern Ende ein Strom fortpflanzen, der sich dort, in geeigneter Vorrichtung, wieder als rothes Licht sichtbar macht. Ein Gleiches gilt von allen anderen Farben des Lichtes, die auf unser Auge wirken. Legen wir viel Drähte neben einander, so werden gleichzeitig viele Farben auf der einen Station sichtbar, die man in der andern auf die Leitungen hat einwirken lassen. Nun aber besteht unser Sehen in der Nähe doch auch nur in dem Farbenbilde, das die Netzhaut unseres Auges empfängt. Vermittels der Farbe-Elektricität wird man dann eben so gut auch in der großen Ferne sehen können, was an einem Ende der Leitung in Farben sichtbar ist, Will man nun die Sehnsucht nach dem Anblick einer Freundin in weiter Ferne stillen, so hat sie nichts weiter nöthig, als sich auf die Farbe-Telegraphiestation zu begeben, dort sich vor den eingerichteten Apparat hinzustellen, der das Antlitz in all’ den Farben wie in den Bewegungen der Mienen aufnimmt und auf die Leitungen überträgt. Durch diese Leitungen wandern all’ die Farbenströme in die Ferne und werden daselbst wiederum durch Apparate zu sichtbaren Farben verwandelt. Da erblickt denn der Freund die Freundin in lichter sichtbarer Gestalt und liest in den Mienen mit eigenen Augen den besten Commentar zu den sonst sehr trocknen Worten, welche die bisherige Telegraphie uns zuzutragen pflegte, Verbreitet sich diese Fern-Malerei im Privatgebrauch, so dürfen wir sicher sein, daß in den Zimmern aller Liebenden sich gar bald solch’ eine Vorrichtung finden wird, um in jedem Moment einen Blick in ein liebes Antlitz gewähren und die Sehnsucht der Liebe stillen zu können.“

Der Vortragende verbeugte sich mit einem Blick auf Fräulein Florentine, deren kleine Malerei er wegen des feinen Farbensinnes gar oft bewunderte, und lehnte sich im Sessel zurück, zum Zeichen, daß sein Problem nun faßlich genug dargelegt sei.

Für den ersten Moment herrschte eine Stille im Saale, die es zweifelhaft ließ, ob man den Vortrag als Ernst oder als Scherz hingenommen. Bald aber erscholl das Bravo der Herren und der Dank der Damen so bunt und heiter durcheinander, daß man wohl sah, es gelte hier nicht das Problem zu prüfen, sondern nur den Eindruck des Vortrages kund zu geben. Daß dieser ein beifälliger war, ließ sich nicht verkennen, aber ein allgemeiner schien er keineswegs zu sein. Dr. Schwarzkopf war offenbar unzufrieden, obwohl er ein Lächeln über die kühnen Combinationen des Vortrages nicht ganz unterdrücken konnte. Fräulein Florentine aber bekannte sich zur vollen Opposition.

„O,“ rief sie aus, „das ist eine schlechte, sehr schlechte Erfindung, die, wie alle physikalischen Künste, die letzten Spuren der Poesie aus der Welt vertilgt. Ist es Ihnen nicht genug, durch Gas alle Geister, durch Dampfwagen alle Wanderfreuden über Berg und Thal verdrängt zu haben, daß man noch die ‚Sehnsucht‘ bannen will, die stets so herrliche Gedichte ‚an die Ferne‘ hervorgerufen? Gewiß, Herr Doctor,“ rief sie dem Theologen zu, „haben Sie uns ein besseres Problem zu lehren; so etwas von einem tief philosophischen Problem, wonach sich unsere junge Freundin, wie Sie gehört haben, außerordentlich sehnt.“

Da im Fluß der Discussion, die sich nun für und wider diese Erfindung erhob, die Aufforderung Florentinens an den Dr. Schwarzkopf in Vergessenheit zu gerathen drohte, nahm dieser, aufgeregt durch Fräulein Laura’s hartnäckige Begeisterung für die „Fern-Malerei“, in der ersten Pause des Gesprächs die Gelegenheit wahr, die Lösung des „Problems der Probleme“, wie er sagte, den Damen deutlich machen zu wollen. Freilich liege dies nicht auf dem Gebiete der Physik, die jede höhere Idee durch irgend ein experimentelles Kunststück taschenspielerartig verflache und trotz ihrer gepriesenen Allwissenheit mit Kräften hantire, deren Urgrund den Meistern selber ein verschlossenes Geheimniß bleibe. Anderer, ganz anderer Art sei das höhere Problem, ja das höchste der Probleme, das er zu entwickeln bereit sei, wenn die Gesellschaft ihm nicht blos das Ohr leihen, sondern ihn auch mit jener philosophischen Ruhe begleiten wolle, welche die Vorbedingung des Erforschens der höheren Metaphysik, der geweihte Vorhof zum Tempel des Urbegriffs des Geistes sei.

Die glänzende Aussicht und der versteckte Sarkasmus dieser Verheißung war zu verlockend, um wirkungslos im Herzen der jungen Damen zu verhallen, die gar zu gerne Zeugen des Uebermuthes des Sprechenden waren, um hinterher mit ihm wegen seiner ganz „unerträglichen Unzartheit, die Herz und Geist beleidige“, schmollen zu können. Auch die Herren wußten das Geistessprühen des Mannes von der „verunglückten Carrière“, wie er sich als Theologe zu nennen beliebte, zu schätzen, der hinter dem Schein der Frivolität einen tüchtigen Charakter und eine warme Wahrheitsliebe verbarg. Man gab seinem Wunsch um so lieber nach, als er ein Recht darauf behauptete, gehört zu werden. „Habe ich mich doch heute, um Ihrem Uebermuth zu fröhnen, zur verhaßten Rolle des Anklägers in unserem Ketzergericht hergeben müssen, wie soll ich da nicht wünschen, im besseren Lichte des wohlwollenden Lehrers der höchsten Geisteswissenschaft zu erscheinen!“

Nachdem er, auf einen drohenden Wink des freundlichen Hauswirths, treuherzig die Versicherung gab, den Boden des positiven Glaubens so wenig verlassen zu wollen, daß selbst das gesammte Consistorium nichts Verfängliches in seinen Lehren auskundschaften würde, und nachdem er sich ganz besonders von den Damen das Versprechen geben ließ, die philosophische Ruhe wahren zu wollen, die nicht im Vorurtheil des Scheines, sondern nach dem wohlerwogenen Urtheil der Wahrheit richte, begann er den Sitz vor dem Halbkreis einnehmend, wie folgt:

„Wenn jede Wissenschaft ihren Jüngern die Aufgabe stellt, sich des bereits Erforschten zu bemächtigen, um das noch Unerforschte zu enthüllen, so bekundet es die Erhabenheit der Wissenschaft, die sich Philosophie nennt, daß sie nichts Erforschtes darbietet, sondern ihren Jüngern die höhere Aufgabe stellt, erst zu ermitteln, ob in ihr etwas zu erforschen vorhanden sei. Die Jünger aller niedrigern Wissenschaften stehen vor ihrer Gebieterin, wie Joseph vor Pharao, der den Traum erzählte und nur die Deutung wissen wollte. Die Jünger der Philosophie dagegen stehen vor ihrer erhabenen Herrscherin, wie Daniel vor Nebukadnezar, der selber den Traum nicht wußte, welchen er gedeutet haben wollte.“

„O Himmel,“ unterbrach ihn Fräulein Laura, „da stehen wir wieder vor der verfehlten Carrière der Theologie!

„Mein Fräulein,“ entgegnete der Redner in verweisendem Tone, „Sie haben mir feierlichst philosophische Ruhe gelobt, die nicht nach dem Scheine richtet. Sie werden sich überzeugen, wie sehr Sie irren. Ich habe nur des Gleichnisses halber dieser zwei biblischen Philosophen erwähnt, die redlicher als weltliche, in der Rolle der Traumdeuter offen auftreten. Sie sollen gar bald gewahren, daß ich Sie auf das Gebiet des allerclassischsten Alterthums hinüberleiten werde, wo bekanntlich die höhere Philosophie ihren Grund hat!“

„Ich bekenne meine Sünde,“ erwiderte die Verbrecherin. „Ich werde dem weisen Daniel in schweigender Bewunderung folgen.“

„Das Erhabene der Philosophie.“ fuhr der Redner mit philosophischer Ruhe fort, „befindet sich eben in der Thatsache, daß ihre Jünger noch immer über ihren Anfang sinnen. Nichts oder Alles! ist ihr Wahlspruch. Wer des Anfangs sich bemächtigt, hat das Ende des Wissens auch in Händen. Darum hat sie jeder ihrer Jünger entweder ganz oder gar nicht begriffen. Ganz, nach seinem, gar nicht, nach jedem anderen System. Den Anfang des Geistes am richtigen Faden erfassen, heißt, des Problems der Probleme ganz sich bemächtigen. Diesen Faden des Anfangs Ihnen in die Hand zu geben und zwar ohne speculative Entwickelung, sondern in der faßlichen Form einer interessanten Geschichte zu geben, das soll die Aufgabe meines Vortrages sein.“

Nach einem bescheidenen Aufblick auf seine gesammte Zuhörerschaft fuhr der Redner fort:

„Es ist Ihnen wohlbekannt, daß im classischen Griechenland ein Bildhauer Namens Pygmalion existirte, der so weise war, sich in ein Werk seiner Hände, eine Statue, zu verlieben, die er aus Stein gemeißelt; eine Weisheit, die auch heutigen Tages nicht ohne Beispiel in der Künstlerwelt sein soll. Nicht minder ist Ihnen bekannt, daß der Verliebte so lange und eigensinnig anbetend zu Füßen seines Meisterwerkes lag, bis sich Zeus, der Allvater, seiner erbarmte und dem Stein Leben einhauchte, worauf der Glückliche dankesvoll sofort ein eheliches Bündniß mit seinem Kunstwerk einging. Bis hierher führt uns die verbürgte Erzählung der Geschichte. Das Weitere gehört der Tradition an, von welcher ich Ihnen die nähere Kunde darlegen muß. Daß die Flitterwochen [668] im höchsten Rausche des Glücks verflossen, ist leicht begreiflich. Aber nicht minder sicher ist die Nachricht, daß nach Ablauf derselben der glückliche Pygmalion die Entdeckung machte, daß seinem Weibe Eines fehlte. Zeus hatte ihr Leben, aber keinen Geist eingehaucht, und eine Frau ohne Geist, – das werden Sie zugeben – mag in manchen Fällen sehr interessant sein, im ehelichen Leben schien sie selbst dem Künstler unerträglich. Er las ihr Gedichte vor, sie begriff sie nicht. Er führte sie in’s Theater, sie verstand es nicht. Er gab ihr Zeitungen sie las sie nicht. Er abonnirte für sie in der Leihbibliothek und gab ihr die anregendsten Räubergeschichten in die Hand, es unterhielt sie nicht. Er griff zum letzten Hülfsmittel. er ließ Nachbarinnen kommen, die ihr die neuesten Neuigkeiten von Athens schönem und häßlichem Geschlechte erzählten, es zündete nicht. Da faßte den Unglücklichen die wildeste Verzweiflung. Er eilte in Trauer in den Tempel des Zeus. Er stürzte vor ihm nieder und lag da im peinlicheren Schmerze des Ehemanns, wie ehedem an beglückenden Schmerze des Verliebten.

,O Vater der Götter und der Menschen, des Himmels und der Erde‘, rief er aus, ‚habe Erbarmen mit meinem Unglück! Du hast mir ein schönes Weib gegeben und ihr Leben eingehaucht aber Du hast ihr keinen Geist gegeben; ich bin elend!‘

Da schüttelte Zeus das Haupt und sprach in tiefem Ernst: ‚Mein Sohn, Du bist ein Thor! Ein Weib mit Geist! glaubst Du, daß Du Dich glücklicher fühlen wirst?!‘

,O Vater des Alls,‘ rief der Unglückliche, ,es ist nicht zum Aushalten! Gieb ihr, wenn Du Mitleid mit meinem Elend hast, nur Einen, Einen Urgedanken, an den ich, fortbildend, weitere Gedanken anknüpfen kann!‘

‚Thor, sprach Zeus ernst, ,Geist habe ich selber nie gehabt! Ob es Urgedanken giebt, an welche Du die andern anknüpfen kannst, das weiß ich wirklich nicht. Aber einen Rath kann ich Dir erteilen. Dort hinter dem Parnaß, wo die Dichter hausen, ist eine Höhle, woselbst die Philosophen wohnen. Findest Du dort nicht den Urgedanken, so ist Dir nicht zu helfen.‘

Der Arme erhob sich neubelebt in Hoffnung. ,Habe Dank, o Zeus; rief er und stürzte davon, die Philosophen-Höhle auszusuchen.

Er eilte durch den Parnassus von allen Dichtern angehalten, die ihm ansahen, daß er ein herrliches Thema ihrer Kunst sein müsse. Er stand Keinem Rede, wie sie ihn auch in Versen und in Prosa zu weilen baten. Er stürmte davon zum alleruntersten Ende, wo die Recensenten hausen, die mit unbarmherzigem Eifer ihn zu fassen suchten. Er durchbrach das wildeste ordnungsloseste Gestrüppe zwischen dem Gebiete der Poesie und dem der Philosophie, wo Drachen und Unthiere in meilenweiter schauerlicher Oede hausen. Da lag sie endlich vor ihm, die Höhle, die er suchte. An ihrem Eingang traf er einen Mann, der halb über, halb unter der Erde ihn mit hellem Lachen empfing. Er nannte sich ungefragt ,Demokritos‘ und wies ihm lachend und immerfort lachend den Weg hinunter, nachdem er erfahren, daß der arme Sterbliche Urgedanken suche, um sich ein Weib mit Geist zu verschaffen.

Es war ein eigenes Dämmerlicht, das in der Höhle herrschte. Es schien den Köpfen ihrer Bewohner zu entstrahlen, von denen jeder einzelne dahin schritt, nur mit sich selber sprechend, als ob Niemand außer ihm noch existire. Lange irrte er umher, um nur Einen aufzufinden, der nicht tief mit sich selbst beschäftigt schien. Viele schienen ihm selige Geister zu sein, die einst aus Erden gewandelt; Andere wieder solche, die erst noch in spätern Zeiten auf Erden zu wandeln bestimmt sind und hier ihre künftigen Rollen memoriren. Als er aber am Ende angekommen war, ohne daß Einer seiner achtete, da übermannte ihn sein Unglück und laut hinschallend, vom Echo hundertfach wiederholt, ertönte sein Schmerzensruf. ,Meine Herren, ich suche den Urgedanken!‘ –

Kaum war das letzte Echo seines Rufes verhallt,als von allen Seiten her die Seligen und Ungeborenen in weiter Runde sich um ihn sammelten. Pygmalion, im Kreise solcher Zuhörerschaft, schilderte in fliegender Rede seine schreckliche Lage; aber seine Brust athmete in froher Hoffnung auf, als er wahrnahm, daß er nicht blos eine teilnehmende , sondern auch eine eifrige Zuhörerschaft habe, die ihm von allen Seiten Beifall nickte, weil er den Urgedanken suche.

Da winkte ihm ein kleiner schmächtiger Mann von merkwürdig scharfem Blick mit ernster Miene zu und sagte ihm Folgendes:

,Ich heiße Pythagoras. Das wird genügen, Dich zu überzeugen, daß Du an der rechten Quelle bist. Wärest Du nicht verheiratet und gar darauf versessen, ein Weib mit Geist haben zu wollen, so würde ich sagen, daß Du blos ein Jahrzehnt hier bei mir bleiben sollst, um vom Urgrund der Dinge bis zur Unendlichkeit hin auf Alles erfassen zu können. Da Du aber nicht Zeit hast, so will ich Dir das Problem der Probleme in aller Kürze sagen, das Du eigentlich falsch den Urgedanken nennst, und von diesem Urgrund aus wirst Du im Stande sein, Dein Weib zu einem Wesen unseres Gleichen zu machen.‘

Den Dank in den Mienen des Pygmalion lesend, ging der große Philosoph sofort auf die Darlegung des Urgrundes ein.

,Das Erhaltende der Dinge,‘ sagte er, ,ist die Harmonie; denn wäre keine Harmonie der Dinge vorhanden, so würden sie einander zerstören. Das begreifst Du als Künstler doch!‘

,Nun, ja!‘ sagte Pygmalion.

,Gut!‘ fuhr Pythagoras fort. ‚Die Harmonie aber hat – das siehst Du im Versmaß der Dichtkunst, wie in den Tönen der Musik – die Zahl zu ihrer Grundlage. Hieraus folgt mit Evidenz , daß das wahre Wesen aller Dinge in den Zahlen enthalten ist. Das ist Dir doch klar?‘

‚Ja wohl!‘ versetzte Pygmalion sehr erfreut über die leicht faßlichen Lehren.

‚Nun denn,‘ deducirte Pythagoras weiter, ,so lerne die Zahlen in ihrer geheimsten Natur verstehen, so wirst Du den Urgrund aller Dinge in solcher Einfachheit vor Dir haben, daß Du Alles auf’s Leichteste auch Deinem Weibe wirst beibringen können.‘

‚Vortrefflich!‘ rief der glückliche Schüler aus.

Der Lehrer fuhr fort, ,Gewiß wirst Du, wie Viele außer mir, meinen, daß Eins die erste Zahl sei?‘

Der Schüler nickte bejahend; aber der Lehrer fuhr fort: ,Das ist der Hauptirrthum. Die Eins ist keine Zahl. Wenn es nur ein Ding in der Welt gäbe, würdest Du es eben so wenig zählen, so wenig Du ein einziges Geldstück zählst, das Du in der Tasche hast.‘ ,Sehr richtig,‘ fiel Pygmalion ein, ‚daran habe ich noch nie gedacht.‘

,Gut, gut! – wir gehen weiter. Ist Zwei die erste Zahl?‘ ‚So soll ich meinen!‘

‚Nimmermehr!‘ fiel ihm Pythagoras in's Wort. ,Die Zwei ist keine Einheit, aber auch keine Mehrheit, wenn die Eins nicht existirt. Was aber keine Einheit und keine Mehrheit ist, das kann unmöglich eine Zahl sein. Das begreifst Du wohl?‘

,Nun ja,‘ sagte Pygmalion, ,ich kann mir's denken.‘ ,Da bist Du denn so weit, einzusehen, daß die Drei die erste Zahl ist, und darum ist sie auch die heilige Zahl, welche die Nichtzahlen Eins und Zwei in sich schließt. Fassest Du hierzu noch die Vier, so hast Du vollends die allerheiligste der Zahlen gefaßt; denn eins und zwei und drei und vier ist – überzeuge Dich selber – die Zehn. Die zehn Zahlen aber sind die Unendlichkeit, da die unendlichste der Zahlen, welche Du zählen willst, doch nur aus den Reihen der Zahlen bis zur Zehn combinirt ist?‘ –

Da Pygmalion keines Wortes mächtig schien, so fuhr Pythagoras fort. ,Run geh' getrost heim. Ueberdenke fort .und fort, wie „die Zahl das Wesen aller Dinge ist,“ und wie einfach Du aus der Nichtzahl in die Allzahl vom Ursprung bis zur Unendlichkeit gelangst.‘

Pythagoras verließ den erstaunten Schüler und ging in seinen eigenen Gedanken vertieft weiter. Schon wollte Pygmalion den Heimweg antreten, als ein Mann mit breiter Brust und kolossaler Stirn vor ihm stand, den er sofort als Plato erkannte.

,Mein Sohn,‘ redete ihn dieser an, ‚der Dich so eben verließ, ist mein Lehrer; aber offen gesagt, er hat Dich auf einen Irrweg geleitet. Der Urgrund der Dinge, den Du suchst, ist nicht die Zahl, wie er meint. Die Ideen sind es, die den Dingen voraugehen und in ihnen zur Erscheinung kommen, wie Du selber die Ideen des Standbildes früher hattest, ehe Du aus dem Steine, aus der Materie, Dein Weib herausgemeißelt. Willst Du Dein Weib mit denkendem Geist erleuchten, so mache ihr nur klar, wie [669] sie selber nichts als eine Idee ist, verwirklicht in der Materie. Auf diesem Urgrund des Denkens wirst Du sie leicht dahin bringen, die schaffenden Ideen alle zu fassen, die in der Welt der Materie zu wahrnehmbaren Erscheinungen werden.‘

Plato ging davon. Pygmalion, betroffen über diese neue Lehre, stand einen Augenblick still, als unvermuthet Aristoteles ihm nahte und Folgendes zu ihm sprach:

,Ich kann Dich nicht in den Irrthümern des Mannes, der Dir eben seine Lehre vorgetragen, von dannen lassen. Der große Mann – er ist mein Lehrer – ist auf halbem Wege stehen geblieben. Ihm sind die schaffenden Ideen ein Erstes, und die Materie, in welcher sie zur Erscheinung kommen, ein Zweites. Allein, wenn dem so wäre, so müßte er auch die Frage lösen: wie denn die Idee in die Materie hineinkommt? eine Frage, der er stets ausgewichen, weil sein System ein irriges ist. Darum merke auf, was ich Dir sage: Idee und Materie sind Eins und die Identität ist der Urgedanke, den Du suchst!‘

Mit diesen Worten verließ Aristoteles den verdutzten Pygmalion und ein Schwarm von ungeborenen Philosophen, die sich Neu-Platoniker und Aristoteliker nannten, stürmten auf ihn ein, um ihm, in unendlichen Variationen, das bereits Gehörte mit stets neuen Worten zu sagen, bis endlich, nachdem der ungeheure Schwarm sich gleichfalls verzogen, wieder ein Einzelner der Ungeborenen ihm nahte und ihm folgende Lehre gab.:

‚Die Alten, mein Freund, und ihr sinnloser Troß‘ – er wies auf Alle die hin, welche vor ihm den Kopf des Armen ganz irre gemacht hatten – ,sie können Dir nicht geben, was Du suchst. Sie haben über den Ursprung der Dinge philosophirt, ohne ihn zu finden, denn sie gingen über den Kern dessen, was eigentlich Philosophie ist, gedankenlos hinweg. Sie erkannten nicht, daß wir vor Allem uns erst vergewissern müssen, daß wir sind. Dies ist der Urgedanke! Er lautet, merke Dir’s: „Ich denke, folglich bin ich!“ –

Kaum hatte ihn der neue Lehrer verlassen, als ein anderer an ihn herantrat und, mit verächtlicher Miene auf den Vorgänger weisend, Folgendes sagte:

‚Der Thor führt sich und alle seine Schüler in die Irre. Sein vorgeblicher Urgedanke ist schon darum kein Urgedanke, weil er aus zwei Sätzen besteht; und mehr noch, die beiden Sätze enthalten einen Fehlschluß. Denn, gieb Acht: wenn er im ersten Satze sagt, ,ich denke,‘ so setzt er sein ,Ich‘ schon voraus; wenn er nun im zweiten Satz hinzufügt, ‚folglich bin ich,‘ so beweist er Etwas, was er bereits im ersten Satz als bewiesen angenommen! Der Urgedanke, mein Freund, kann nur der einfachste der Gedanken sein. Er besteht nur aus dem Einen Satze, den ich entdeckt habe. Dieser heißt, merke Dir’s: „Ich bin ich!“

Kaum hatte sich dieser Philosoph entfernt, als ein neuer auf ihn zuschritt, der sich mit folgenden Worten ankündigte:

,Mein Freund, ich bin der erste und bin der letzte Philosoph. Weil aber der erste ein relativer Begriff, der noch Nachfolger, und ebenso der letzte relativ ist, indem er Vorgänger voraussetzt, so wirst Du begreifen, daß ich nicht der erste und nicht der letzte, sondern der absolute Philosoph bin. Wenn Du mich nicht verstehst, so wirst Du mich am besten von all meinen Schülern verstanden haben.‘

Nach dieser Einleitung seiner Persönlichkeit fuhr der absolute Philosoph wie folgt fort:

,Der Thor, der Dir eben gesagt hat, „Ich bin ich“ sei ein Urgedanke, hat Dich aus einen Irrweg geführt. Denn so viel wirst Du noch von der Schule her wissen, daß ‚bin‘ ein Zeitwort ist, abgeleitet von ‚Sein‘. Ein abgeleiteter Gedanke kann aber unmöglich ein Urgedanke sein! – Willst Du die Gedanken von dem wahren Urbeginn ihrer Entwicklung fassen, so mußt Du vom ,absoluten Sein‘ beginnen, das heißt: von dem reinen völlig gegenstandlosen Sein, das dasselbe ist wie das Nichtsein. Nur aus diesem Wege wirst Du aus dem Nichts das All begreifen lernen.

Der arme Pygmalion war von all’ dem so bestürzt, daß er nur den einen Urgedanken fassen konnte, so schnell wie möglich wieder aus der Höhle hinaus zu kommen; darum war er unendlich froh, als der erste und letzte Philosoph, der ihm heimlich vertraute, daß er dereinst auf Erden unter dem Namen Hegel erscheinen werde, nunmehr ihn unter den Arm faßte und ihm sagte.: ‚Komm, ich will nicht, daß Dich die kleinen Geister weiter geniren sollen, die nach mir noch existiren werden, blos weil die Universitäten noch dotirte Lehrstühle haben, die sie doch irgend wie besetzen müssen. Darum will ich Dich hinaus begleiten, wo Du nur noch den Demokritos findest, dessen Lachen Dir schon anzeigen wird, daß Du Dich mit ihm nicht weiter einzulassen brauchst.‘

Der arme Pygmalion nahm mit Freuden die Begleitung an. Als er das Lachen des Demokrit und einen Strahl des Tageslichts wahrnahm, empfahl er sich mit einer tiefen Verbeugung von seinem Begleiter, der ihm wohlwollend zuwinkte, und eilte wirbelnden Kopfes auf den Ausgang zu, um mit einer unendlich jammervollen Miene sich dort niederzulassen und von all dem Erlebten einen Augenblick auszuruhen.

Demokritos sah ihn an und lachte und lachte. Und er lachte so lange und so herzlich, daß auch Pygmalion zu lachen anfing, worüber Demokritos erst recht lachen mußte.

Und lachend sagte er zu ihm: ‚Armer Junge, ich habe Alles gehört, was Du willst und was Dir da unten gesagt worden ist; denn die Atome, die ich entdeckt habe, tragen mir im Schall alles zu, was da gesprochen wird. Wenn Du verstehst, daß im Lachen die Lebensweisheit liegt, so werde ich Dir aus aller Noth helfen.‘“

(Schluß folgt.)




Vor den Ruinen eines Kunsttempels.

Vor achtundzwanzig Jahren war es, Montags am zwölften April. Der Tag war trübe und jähe Windstöße fegten naßkalt über den Strom, dennoch befand sich die gesammte Residenz in Bewegung, ein gewisser Freudenrausch hatte sich mehr oder minder aller Schichten der menschlichen Gesellschaft bemächtigt, und schon vom Morgen an deutete das Treiben auf Straßen und Plätzen die Gruppen, die überall in eifrigen Gesprächen zusammenstanden, und die Gesichter der Vorübergehenden darauf hin, daß etwas Ungewöhnliches, ein Begebniß seltenster Art in Aussicht stand.

Und es war auch der Fall, ein seit Jahren mit Spannung und Sehnsucht erwarteter Tag, er war nun gekommen; heute Abend sollte der grandiose neue Musentempel, das Werk des genialen deutschen Meisters, der schau- und hörlustigen Menge zum ersten Mal seine reichgeschmückten weiten Hallen erschließen – mit Einem Wort, das nach Gottfried Semper’s Entwürfen erbaute neue Dresdener Hoftheater, zu welchem man vor nahezu drei Jahren, am 1. Mai 1838, den Grundstein gelegt hatte, heute Abend sollte es mit einer Galavorstellung feierlich eröffnet werden.

Wohl die meisten unserer Leser kennen den schönen Renaissancehalbrundbau, wie er sich mit seinen künstlerisch vollendeten Friesen und Statuen von Rietschel und Hähnel, seinen beiden Frontons und Vorhallen unweit der „Großen Brücke“ und der Brühl’schen Terrasse, nahe dem Schloß und der katholischen Kirche, gegenüber dem Museum und „Helbigs“, auf jenem gewissermaßen weltberühmten Platz, wo sich ein guter Theil des Dresdener Fremdenverkehrs zu concentriren pflegt, als eines der würdigsten Denkmale neuer deutscher Kunst erhob – sie werden daher ermessen können, mit welcher fieberhaften Aufregung Jung und Alt, Hoch und Niedrig dem Beginn der siebenten Abendstunde entgegenharrte. Seit langer Zeit schon hatte ja die Pflege der Kunst den Dresdenern das mangelnde Volks- und öffentliche Leben ersetzen müssen, wie sie das zum Theil noch heute thun muß, und speciell die Bühne sich eines Cultus zu erfreuen gehabt, für den selbst Kreise Theilnahme zeigten, welche anderwärts in der Regel sich außerhalb solcher Interessen bewegen.

Der Theaterzettel des Eröffnungsabends liegt vor mir: man hatte Deutschlands größten Dichter gewählt, die neuen weltbedeutenden Bretter einzuweihen , man gab Torquato Tasso, und classisch wie das Stück selbst war in ihrer Weise auch die Besetzung [670] der einzelnen Rollen. Emil Devrient, damals noch im Vollbesitze seiner unvergleichlichen Mittel, seines ganzen lyrischen Schmelzes, gab den Tasso und wußte über Erscheinung und Action jene poetische Weihe zu breiten, wie sie die Gestalt des Tasso erheischt; von allen Schanspielern unserer Tage wohl derjenige, welcher mit dem leiblichen und geistigen Rüstzeuge zu dieser Rolle von der Natur am reichsten ausgestattet war. Caroline Bauer, in jenen Tagen hochgefeiert, später freilich von ihrer Nachfolgerin Marie Meyer-Bürk überholt, spielte die Prinzessin; Franzisca Berg, nachmals eine unserer vorzüglichsten und vielseitigsten Charakterdarstellerinnen geworden und noch immer zu den ersten Notabilitäten des Dresdener Hoftheaters gehörend, die Sanvitale; Friedrich Porth endlich, auch noch Einer der lebenden Koryphäen unserer Bühne, war mit seinem ernst durchdachten, beständigen und gemessenen Spiel ganz der Mann für den auf festem Grunde ruhenden, sich selbst beschränkenden, welt- und lebensklugen Antonio.

Im alten unscheinbaren Hause hatte man sich mit den Decorationen sehr bescheiden beholfen, der Luxus, den man davon heute im neuen erblickte, war für Dresden etwas Unerhörtes; Desplechin’s Plafond mit seinen Bildnissen von Schiller, Goethe, Mozart und Beethoven, Julius Hübner’s im vollen Zauber ihrer Farbenfrische leuchtende Vordergardine, und der Kronleuchter mit dem milden Silberschein seiner zweihundert Lampen überbot Alles, was die kühnste Phantasie sich in dieser Beziehung vorgestellt haben mochte. – All diese Pracht ist nun dahin! Die Nachricht davon hat längst die ganze cultivirte Welt durchlaufen, und wir können unsere Leser nur zu der entsetzlichen Katastrophe zurück und vor die Ruinen des unvergleichlichen Kunsttempels führen.

Es war nahe der Mittagsstunde des 21. September, als die rasch sich folgenden Pulse der Sturmglocke, welche hier in großväterlicher Sitte noch ihre Stimme erheben darf, von einer inmitten der Stadt ausgebrochenen Feuersbrunst Kunde gaben. Merkwürdiger Weise schien sich in meinem Vorstadtviertel kein Mensch um den Brand zu kümmern. Von Rauch oder Gluthschein war hier keine Spur zu erschauen, keiner der mir Begegnenden konnte mir sagen, wo es brenne, und ich hatte schon eine ziemliche Weile herumgefragt, bis mir Jemand im Vorübereilen zurief: „Wissen Sie es denn noch nicht? Das Theater steht in Flammen und ist unrettbar verloren!“

Die Mittheilung klang mir mehr als fabelhaft; in so rapider Geschwindigkeit sollte ein Kolossalbau wie unser Schauspielhaus, der überdies fast hart an der Elbe lag und, wie sich alle Welt tröstete, durch bequeme Vorrichtungen sofort unter Wasser zu setzen war, zerstört werden können, nein, das war unmöglich! Dennoch wandte ich mich natürlich hastigen Schrittes dem bezeichneten Orte zu. Noch war es nicht halb ein Uhr, als ich den Theaterplatz erreichte, und – die Schreckensbotschaft war nur allzu wahr gewesen, bereits war der Dachstuhl des Gebäudes bis aus wenige Reste gegen Westen hin vernichtet! Von keiner Schranke mehr gehemmt, schlug die Flamme in den sommerlich blauen Himmel hinauf, züngelte aus den Fenstern des oberen Stockes heraus, leckte an den Firsten des nördlichen Frontons, schmolz das Kupfer, mit welchem die Dachung gesäumt war, daß ein eigenthümlich greller blaugrüner Dampf sich mitten durch den ungeheuren gelblich-grauen Qualmschwall deutlich verfolgen ließ, und umspielte die Standbilder in den Nischen, bis auf Augenblicke die Rauchsäule die Oberhand gewann, haushoch emporsteigend und Feuer und Flammen, Haus und Menschen in dem dicken brenzlichen Gebrodel unterzugehen schienen. Das Innere des Gebäudes selbst war von oben bis unten dem Untergang verfallen, ein grausenvoll schönes Gluthenchaos, aus welchem, wie aus einem Kunstfeuerwerke, abwechselnd bald dieser, bald jener Theil in hellerer Lohe hervortrat.

Kopf an Kopf stand die Menge auf dem weiten Platze, auf der Freitreppe der Brühl’schen Terrasse, auf der Elbbrücke, auf den Zwingerwällen, überall, wo sich nur eine Ansicht des Zerstörungswerkes gewinnen ließ – aber still, ernst, schweigend, und auf Allen lastete der Schmerz über das große Trauerspiel, das sich unabwendbar vor ihren Augen begab. Die Löschversuche waren – die Tageblätter haben ausführlich darüber berichtet – von der kläglichsten Art und in der kurzen Frist einer Stunde hatte das große Feuergrab Alles verschlungen, was jahrelanger Kunstfleiß aufgebaut und gesammelt hatte: Gallerien und Bogen, Foyers und Corridore, Statuen und Bilder, Costüme und Decorationen. Durch welchen sträflichen Leichtsinn bei der Anfertigung von Gummischläuchen eine so ungeheure Katastrophe sich ereignen konnte, ist zur Genüge bekannt, und ich will die Leser der Gartenlaube nicht noch einmal mit den einstimmig laut gewordenen Anklagen gegen diejenigen Personen behelligen, welche für ein so schmerzliches Ereigniß dem Lande gegenüber verantwortlich gemacht werden müssen. –

„Unsere Schiller und Goethe sind doch unvergänglich!“ rief mir ein schlichter Mann aus dem Volke zu, als ich, unter competentester Führung, mich zu einem Gange durch die mittlerweile durch eine große Plankeneinfassung dem allgemeinen Zutritt verschlossenen Trümmer anschickte. Und, wahrhaftig, da standen sie, rechts und links vor dem Hauptportale des Hauses, unverletzt, die Rietschel’schen Statuen unserer beiden Dichterheroen, und ebenso unverletzt über ihnen die kleineren Standbilder Mozart’s und Gluck’s, wie überhaupt diese, die östliche Seite des Gebäudes, der eigentliche Halbrundbau, von den Flammen am wenigsten gelitten hat. Auch Rietschel’s schöner Fries im Nordfronton, der Furienzug aus den Eumeniden des Aeschylos, ein Relies von außerordentlichem Leben, ist noch ziemlich vollständig erhalten, und fröhlich girrend, als seien sie nie aus ihrem häuslichen Behagen aufgescheucht worden, flatterten die Tauben nach wie vor um die verschiedenen Figuren der Gruppe.

Ganz unbarmherzig aber hat die „losgelassene Feuersmacht“ weiter rechts herum an der westlichen Façade gehaust; hier grinst uns vollständiger Ruin entgegen, schwarze, gluthverzehrte, zerfallende Steinmassen. Die obere Etage fehlt gänzlich mit Ausnahme von zwei sich thurmartig erhebenden Mauerresten, und in den dachlosen Bau schauen „des Himmels Wolken hoch hinein“. Durch die „öden Höhlen“ der Bogenfenster blickt man durch und durch über Bühne und Zuschauerraum hinweg bis zum Eingangsoval hinüber und bis auf die jenseit des Platzes stehenden Schloßbaulichkeiten hinaus, und mitten in einem jener Bogen kommt der Schloßthurm als seltsamer Abschluß des Bildes zum Vorschein. Hähnel’s Bacchusrelief, welches diese Rückseite des Theaters schmückte, die, beiläufig, früher noch für den Anbau eines großen Concertsaales in Aussicht genommen war, existirt nur noch in der Erinnerung; er selbst ist den Flammen bis auf die letzten Steinbrocken zum Opfer gefallen. Klagend gleichsam, vereinsamt und verwaist, blickt Karl Maria von Weber von seinem Granitpostament herab in die grauenvolle Zerstörung, welche ihm unmittelbar gegenüber gerade die gewaltigsten Dimensionen angenommen hat; die geweihte Stätte, wo seine urdeutschen herzinnigen Weisen so oft die Hörer entzückt, wo die erste Opernvorstellung, am zweiten Eröffnungsfestabend, seine Enryanthe gewesen, sie liegt hier in Schutt und Asche, und wahrscheinlich ersteht auf ihrer Stelle keine neue!

Einen traurigen Anblick gewährt auch die dem Museum zugekehrte Fronte des Hauses. Rietschel’s anderer Fries, die Musik und ihre Wirkung auf das Gemüth des Menschen versinnlichend, ist zwar nicht spurlos von der Erde vertilgt, wie der Hähnel’sche, aber halbverwüstet, verräuchert und verrußt, macht er einen um so wehmütigeren Eindruck, obschon auch zwischen seinen verstümmelten und zerstückten Gestalten die alte Taubenschaar ihr anheimelndes Wesen treibt. Die meisten größeren und kleinen Statuen in den Nischen der Außenwände sind zum Glück ziemlich unversehrt geblieben, dasselbe gilt von dem untern Stockwerk des Gebändes, in so weit nur die Umfassungsmauern in Betracht kommen.

„Von woher ist der Eingang wohl am gefahrlosesten?“ frug mein Geleiter, als wir innerhalb der weiten Plankenumzäunung standen, welche zur Aufnahme des Getrümmers bestimmt ist, mit dessen Abräumung in den nächsten Tagen begonnen werden soll. Denn zwar lag fast eine Woche zwischen dem Unglückstage und heute, noch immer jedoch glimmte und glühte es drinnen auf der Brandstätte, ja oft genug loderte es hell auf, so daß die Feuerwehr fortwährend noch die Spritzen handhaben mußte.

„Hier, meine Herren,“ antwortete der Inspector der eben activen Löschmannschaft, nachdem wir in den um das Erdgeschoß laufenden Corridor getreten waren, der wenigstens dem oberflächlichen Blicke noch so ziemlich in seiner alten Gestalt erscheint, und deutete mit der Hand auf einen rauchenden Berg schwarzen Steingeröll – ein Anblick wie etwa um den Kraterrand eines Vulcans.

[671]

Der Brand des Hoftheaters in Dresden.
Nach der Natur aufgenommen.

[672] „Das ist der Aufgang zum vierten Range gewesen, freilich sieht man jetzt nichts mehr davon,“ erläuterte mein fachkundiger Führer, während wir unter drohendster Gefahr für unsere Stiefelsohlen auf dem rollenden und nachgebenden Gebröckel Fuß zu fassen suchten

Aber wie soll ich beschreiben, was ich von der Höhe unsers Schutthügels aus vor meinen Augen sah? Der Eindruck läßt sich nur in die kurzen Worte fassen: ringsum nichts als ein wüstes Gewirr von verkohltem Gebälk, von Steinen und Trümmern, hier steil aufsteigend, dort tief abfallend wie Berg und Thal, aus welchem rechts und links noch Rauchwolken aufwirbelten oder Flammen aufzischten, wenn der Wasserstrahl des Spritzenschlauches in die Gluth traf, und jetzt da, dann dort neue Mauernschichten sich loslösten, um in dem allgemeinen Chaos zu versinken. Daß der Bau einst in Bühne, in Schnürböden und Versenkungsräume, in Logen und Galerien, in Foyers und Garderobezimmer, in Büffetsaal und so manche andere Localität eingetheilt gewesen war, davon ließen sich blos noch schwache Umrisse erkennen.

„Die Bogen dort in der Mauer uns zur Rechten sind Alles, was von der königlichen Loge und den hinter ihr liegenden Salons noch übrig ist,“ sagte mein Begleiter. „Oben auf derselben Seite ist das Unheil geboren worden; an der Wand hier hat der Unglückliche sich herabgeflüchtet und Alles in Brand gesteckt, woran er, selbst brennend, auf seinem Wege vorübergekommen ist. Gegenüber auf der andern Seite, im Erdgeschosse, sehen Sie in den Mauertrümmern noch einige Vorsprünge und Unterschiede; sie bezeichnen die Stelle, wo sich sonst die Garderoben der Schauspieler befunden haben, und geben Ihnen durch ihre noch sichtbaren Grenzlinien eine Vorstellung, wie gar dürftig und winzig alle diese Räumlichkeiten in dem stattlichen Hause hergerichtet gewesen sind. Hatte man doch das Ankleidezimmer für das weibliche Chorpersonal, so wie gewisse höchst notwendige Localitäten für die oberen Galerien bei der Anlage völlig vergessen und sie nachher an- und einflicken müssen, wie es eben gehen wollte.“

Es waren dies nicht die einzigen Mängel und Mißstände gewesen, welche sich bei der inneren Einrichtung des Gebäudes herausstellten; vielmehr zeigten sich nach und nach vielerlei Unzuträglichkeiten, wie ich schon oben vorübergehend bemerkt; so zum Beispiel die Enge sämmtlicher Corridore. Desgleichen sollen die Hähne der Wasserleitung, auf welche letztere man für die Eventualität eines Brandes doch ein so felsenfestes Vertrauen gesetzt hatte, derart angebracht gewesen sein, daß sie so gut wie unzugänglich wurden, wie denn auch das Gerücht behauptet, – das jetzt in übergroßer Geschäftigkeit tagtäglich eine Fülle von Wahrheit und Dichtung zu Tage fördert – sie seien völlig eingerostet und folglich unbrauchbar gewesen. Endlich haben – und hierauf machte mich mein Cicerone ausdrücklich aufmerksam – viele Zwischenwände und Decken anstatt aus festem Gemäuer lediglich aus Holzwerk bestanden.

Dicht unter meinen Füßen entdeckte ich, zum Theil in dem Geröll vergraben, eine eigenthümlich geformte schwarze Masse; was aus dem Getrümmer und der Asche emporragte, sah mir wie ein großer eiserner Ring aus.

„Was mag das da gewesen sein?“ frug ich.

„Dies hat man bei seinen Lebzeiten immer ganz besonders bewundert,“ lautete die Antwort, „und es war auch buchstäblich der Glanz unsers Schauspielhauses – der Kronleuchter, jetzt nichts mehr als ein Stück nutzlosen alten Eisens. Es hat einst Tausende von Thalern gekostet, und was von ihm geblieben, ist keinen Groschen mehr werth. Unter der Asche dort liegen auch die Ueberreste unserer in ihrer Art einzig gewesenen Rüstkammer, merkwürdige alte Waffen und Requisitstücke, die kostbarsten, die wohl je ein Theater besessen hat.“

Mitten in der allgemeinen Verheerung fielen mir einzelne noch gänzlich unversehrte Mauern auf, so unter Anderem verschiedene Kaminführungen, denen man kann eine Beschädigung anmerkte, und ich sprach mein Erstaunen über den merkwürdigen Umstand aus.

„Allerdings erscheint das merkwürdig,“ entgegnete mein Gewährsmann, „allein wir haben da einen neuen und schlagenden Beweis von der geringen Haltbarkeit unsers Sandsteines; alle Sandsteinmauern des Hauses sind vernichtet, zerglüht, zerbröckelt, mit Einem Worte, total werthlos geworden; was Sie hier an Mauerwerk erhalten sehen, ist Backsteinbau, dieser leistet den Flammen einen weit energischern Widerstand als der Sandstein. Die aus diesem letztern errichteten Mauern sind vollständig verloren, mit Ausnahme der äußeren Umfassungsmauern, welche bei einem Neubau allenfalls noch benützt werden könnten.“

Gewiß ist der Verlust ein ungeheurer, wenn man ihn aber, wie dies in der ersten Bestürzung geschehen ist, ohne Weiteres auf die runde Ziffer von einer Million Thaler veranschlagt, so kann dies selbstverständlich nicht das Ergebniß einer auf bestimmten Anhaltspunkten beruhenden Schätzung ausdrücken, sondern soll überhaupt nur die materielle Größe des Unglücks bezeichnen. Getrennt vom Schauspielhause, in ziemlicher Entfernung von demselben, stehen die zur Unterkunft von Decorationen und Coulissen, Garderobe, Meublement und sonstigen Requisiten eigens errichtetet massiven Baulichkeiten, und so ist, wie dies die öffentlichen Blätter bereits berichtet, der bei Weitem größere Theil dieser Besitzthümer, von denen der Inhalt der Theatergarderobe allein einen Werth von über zweimalhunderttausend Thalern repräsentirt, erhalten geblieben. Das Nämliche gilt von der werthvollen Bibliothek, den Partituren und Singstimmen, welche gleicherweise in abgesonderten Localitäten aufbewahrt werden. Im Schauspielhause selbst, und zwar in dem sogenannten Concertsaale, befanden sich nur diejenigen Decorationsstücke, die, so zu sagen, stereotyp auf dem Tapete waren. Es war dies freilich keine kleine Anzahl, und unter vielen andern gehörten dazu die von französischen Künstlern für das neue Haus gemalten farbenreichen Decorationen, der viel bewunderte Tassogarten und der ursprünglich für den Sommernachtstraum bestimmte, doch auch für Verdi’s Troubadour benützte Waldbogen, ebenfalls eine besondere Lieblingsdecoration des Publicums. Von alledem hat nichts gerettet werden können, wie überhaupt das vor den Flammen Geborgene – mit Ausnahme der auf nahezu zehntausend Thaler taxirten musikalischen Instrumente des Orchesters, deren Erhaltung man ausschließlich der Aufopferung einer alten Theaterdienerin und ihres Sohnes zu verdanken hat – im Verhältniß zu dem Zerstörten kaum in Betracht kommt. Namentlich bleibt die Vernichtung sämmtlicher Noten des Chores zu beklagen, und Jahre dürften darüber hingehen, ehe es möglich wird, diese Einbuße auch nur zum Theile wieder zu ersetzen. Einzig und allein die vortreffliche Schulung der Sänger und Sängerinnen, die, so behauptet man, im Stande sind, ihre Partien, in den häufiger gegebenen Opern wenigstens, ohne Noten aus dem Gedächtniß vorzutragen, mindert den Verlust in Etwas.

Schwerer als dies Alles aber fällt der Untergang jener schon erwähnten sogenannten Rüstkammer in’s Gewicht. Ist es auch nicht ganz richtig, wenn man diesen Verlust als Gegenstände von historischer Bedeutung umfassend und somit geradezu als unersetzlich angiebt – denn historisch in dem Sinne, als von geschichtlich hervorragenden Persönlichkeiten oder Localitäten herrührend, war die Mehrzahl dieser Dinge nicht –: so bleibt der pecuniäre Werth derselben immerhin ein sehr beträchtlicher, da er auf mindestens achtzehntausend Thaler zu veranschlagen ist. Die Dresdener Theaterrüstkammer nahm hinsichtlich der Solidität ihres Inhalts in Deutschland wohl den ersten Rang ein und umfaßte eine Menge interessanter und kostbarer Requisiten; zum Beispiel die Hellebarden der unter August dem Starken errichtetet glänzenden polnischen Nobelgarde; eine Anzahl alter Radschloßgewehre mit elegant ausgelegten Schäften, mit denen vordem die Garde des Kurfürsten Johann Georg’s des Zweiten bewaffnet gewesen war; eine Reihe der schönsten reich mit Bronze verzierten Stahl- und Neusilberrüstungen, allerdings von moderner Arbeit, indeß nach den besten alten Modellen gefertigt; viele Garnituren von sogenannten Topfhelmen oder Sturmhauben byzantinischer Art, gleichfalls echten Mustern auf das Sorgsamste nachgebildet; Schwertkuppeln aller Formen und Zeitalter. Was auf den meisten anderen, selbst großen Theatern aus Pappe im Verein mit Silber- und Goldpapier hergestellt zu werden pflegt, in Dresden wurde es aus Metall geschmiedet und gegossen. So waren die Schilder der Amazonen in Meyerbeer’s Afrikanerin sammt und sonders aus blankem Stahl gearbeitet, desgleichen trugen die an ersten Acte derselben Oper antretenden Trabanten des portugiesischen Hofes durchweg Armschienen, Brust- und Rückenharnische und Pickelhauben aus Weißblech. Außerordentlich reich war die Sammlung an griechischen Harnischen und Helmen, alle nach den trefflichsten antiken Vorbildern copirt und im Laufe der Zeit mit vieler Mühe zusammengebracht. Ferner gab es Hunderte der künstlerisch vollendetsten [673] Hüft- oder Jagdhörner aus Messing mit schönen Schmucksteinornamenten, die den seltensten und geschichtlich merkwürdigsten Exemplaren des historischen Museums bis in die kleinste Einzelheit getreu nachgeformt waren. Auch die Collection der prachtvollsten Fahnen, unter denen zumal die ganz neuerdings erst mit großen Kosten hergestellten Innungsfahnen aus Richard Wagner’s Meistersingern zu nennen sind, dürfte als höchst ansehnlich gelten. Alle diese Schätze, – so kann man sie mit Fug und Recht bezeichnen – haben nun die unerbittlichen Flammen verschlungen, oder doch im günstigsten Falle schwer beschädigt; dicht aneinander gepreßt und übereinander geschichtet standen, hingen und lagen sie im engsten Locale zusammen, unmittelbar neben dem mit Coulissen und Decorationstücken vollgepfropften Concertsaale, so daß an eine Rettung des Besitzes nicht gedacht werden konnte.

Der Verlust des Theatermeublements – darunter die theuersten Geräthe aller Stylarten, von der griechischen bis zur allermodernsten – der Vasen, Gefäße, Trinkgeschirre und der übrigen in diese Kategorie schlagenden Requisiten mag sich auf mindestens zwölftausend Thaler belaufen, und in den verbrannten – Perrücken ist das ganz erkleckliche Capital von etwa zweitausendfünfhundert Thalern zu Grunde gegangen. Wie mancher Monat wird verstreichen müssen, ehe Schneider, Klempner, Gürtler, Stahl- und Lederarbeiter, Schreiner und Haarkräusler und noch andere Handwerker und Künstler, die, wie ich mich selbst überzeugte, bereits die Hand ans Werk legen, nur das Nothdürftigste dieser Coulissenerfordernisse wieder angefertigt haben! Um eine Sammlung aber von nur annähernder Vollständigkeit zu besitzen, wird es der jahrelangen Thätigkeit und Umsicht des kenntnißreichen Theaterbeamten bedürfen, dessen Freundlichkeit ich diese Details verdanke.

Wohl jedes einzelne Bühnenmitglied ist von dem Unglück materiell mit betroffen worden, indessen sind diese Verluste im Allgemeinen nicht sehr erheblicher Natur, und was die Dresdener Localpresse in den ersten Tagen nach dem Brande darüber mitgetheilt, hat sich inzwischen als ziemlich übertrieben herausgestellt – es müßte denn der Verlust einiger Theaterperrücken, welchen ein bekannter Charakterdarsteller zu beklagen haben soll, für eine ihn schwer heimsuchende Calamität gelten. –

Möge recht bald neues Leben aus den Ruinen blühen! Wer theilte ihn nicht, diesen augenblicklichen Hauptwunsch der reizenden Elbresidenz, wo jetzt jeder Tag neue Projecte gebiert, wie und wo der dramatischen Kunst das geeignetste Interimszelt aufzuschlagen ist? Wo aber auch nach Jahren einst der feste neue Musentempel stehen möge: die Stätte, auf welcher die unvergeßliche, die große Wilhelmine Schröder viele Jahre lang ihre eigentliche Kunstheimath fand, zu der sie nach ihren Siegesläufen durch Europa wieder und immer wieder mit alter Lust zurückkehrte, wo sie jedem Ton und jedem Blick ihr reiches Herz geschenkt, wo sie die unvergänglichen Gestalten ihres Fidelio und Romeo, ihrer Agathe und Euryanthe, ihrer Donna Anna und Norma geschaffen; die Stätte, auf welcher Emil Devrient durch seinen Posa, seinen Tasso, seinen Hamlet entzückt und begeistert; wo Joseph Tichatschek sich den unbestrittenen Ruhm als erster deutscher Heldentenor ersungen hat; die eine Marie Beyer-Bürk, einen Bogumil Dawison, eine Franziska Berg, einen Eduard Winger, einen Friedrich Porth, einen Anton Mitterwurzer und noch viele, viele andere Namen vom hellsten Klange zu den Ihrigen zählen durfte – die Stätte lebt „eingeweiht für alle Zeiten“ ewig fort in der Erinnerung der Menschen.




Blätter und Blüthen.

Noch einmal der heilige Herr. Nicht wenige unserer Leser werden sich der interessanten Mittheilungen erinnern, welche die Gartenlaube im Jahre 1865 über die geheimnißvolle Person des sogenannten „Polenfürsten“ Frank, dieses angebetete Haupt einer jüdisch-christlichen Schwärmer-Secte gebracht, der in den Jahren 1788–91 mit fast königlichem Aufwande und einem Gefolge von vielen Hunderten in Offenbach gelebt und dort sein Grab gefunden hat. Das Dunkel, welches die jedenfalls imposante Erscheinung Frank’s und die Lehren, Zwecke und Gebräuche jener von ihm zwar nicht gestifteten, aber unstreitig beherrschten und an seine Person gefesselten Secte der Sabbathianer umgab, ist bis heut noch nicht gelichtet worden. Obwohl der Artikel der Gartenlaube neue Forschungen über den merkwürdigen und für die Culturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts höchst bezeichnenden Vorgang angeregt und eine ganze Broschüren-Literatur hervorgerufen hat, weiß man doch noch immer nicht, ob Frank ein ehrlicher Schwärmer oder ein Betrüger oder Beides zugleich gewesen, ob der Ursprung der ungeheuren Geldmittel, über die er bis zu seinem Ende verfügt, nur in den unablässig ihm zufließenden Steuern und Spenden seines schweigsamen, in Polen, Ungarn, Böhmen und Mähren nach Tausenden zählenden Anhanges oder in der Scandalchronik eines europäischen Hofes zu suchen ist. Eines schließt übrigens das Andere nicht aus.[2]

Nach der Ansicht des Dr. Graez, des neuesten scharfsinnigen Geschichtsschreibers der Juden, der erst kürzlich eine gelehrte Abhandlung über den Gegenstand veröffentlicht hat, unterläge es keinem Zweifel, daß der sogenannte „heilige Herr“ nur ein heuchlerischer Schwindler war, der das in den jüdischen Gemeinden vorhandene Gift des kabbalistisch-mystischen Aberglaubens zu seinem Vortheile und zur Befriedigung seiner Herrschsucht und Sinnenlust auszubeuten wußte. Gegen diese Auffassung aber tritt neuerdings Herr Schenck-Rinck in Frankfurt mit einem Broschürchen auf, dessen Einwendungen sich auf persönliche Erinnerungen oder Familientraditionen stützen. Herr Schenck-Rinck scheint das Geheimniß des „Baron von Frank“ und seines fürstlichen Luxus allein in dem noch unaufgeklärten Zusammenhange desselben mit Geheimnissen des russischen Hofes suchen, dagegen aber Frank’s Stellung als Haupt einer jüdischen Secte, ja sogar seine und seines Gefolges jüdische Abstammung in Frage stellen zu wollen. Diese letzteren Zweifel sind offenbar unbegründet, es widersprechen ihnen u. A. schon die Traditionen, welche noch vor dreißig Jahren in den jüdischen Gemeinden lebten. Die deutsche Judenheit war im Ganzen, trotz ihrer Gedrücktheit, von jener abenteuerlichen Mißgeburt des Erlösungsbedürfnisses nur wenig berührt, aber man wußte auch in unsern Gegenden davon, und der Schreiber dieser Zeilen hat selbst in seiner Jugend betagte Israeliten von dem einstmaligen Treiben dieses Frank und der ihm anhängenden Sabbathianer (eigentlich Schabatianer oder kurz Schabsi’s) als von einer auf orientalisch-slavischem Boden erzeugten scandalösen Ausartung innerhalb der jüdischen Welt erzählen hören.

Daß diese Frankisten oder ehemaligen Sabbathianer nicht blos theilweise äußerlich zum Christenthum übergegangen, sondern hie und da ungetauft in den jüdischen Gemeinden lebten, stand gleichfalls außer Zweifel, ja es wurde sogar diese und jene hervorragende Familie bezeichnet, auf welcher der Verdacht dieses heimlichen Zusammenhanges ruhete. Wie es damit gegenwärtig in außerdeutschen Ländern steht, können wir nicht sagen. Daß die Sache aber eine wirkliche Erscheinung und kein Märchen gewesen und daß ihre Erforschung für manche heut noch lebende Zeitgenossen ein sehr nahe liegendes Interesse haben mag, ist uns erst kürzlich aus einem dem Redacteur der Gartenlaube zugegangenen Briefe ersichtlich geworden, dessen mehrseitig überaus interessanten Inhalt wir der Öffentlichkeit nicht vorenthalten wollen. Der Brief ist aus Glasgow 24. Februar d. J. datirt und lautet:

„Nach vieljähriger Abwesenheit aus Europa bin ich vor kurzem hier eingetroffen und habe, um mich einigermaßen wieder in deutschen Verhältnissen zu orientiren, einige Jahrgänge Ihrer Gartenlaube durchblättert. Ich finde darin unter Anderem in den Jahrgängen 1865 und 1867 einige Aufsätze, welche den ‚heiligen Herrn‘ oder ‚die Bewegung der Frankisten‘ zum Vorwurf haben. Ich erachte es als eine Pflicht im Dienste der historischen Wissenschaft, auf diejenigen lebendigen Quellen hinzuweisen, die möglicherweise über die Frage Aufschluß geben könnten.

Ich selbst stamme aus einer in Mähren seßhaften Judenfamilie, die zur Zeit des Uebertrittes Frank’s gleichfalls theilweise zum Katholicismus übertrat. Mein Vater war damals noch ein junger Bursche, heirathete dann später eine Fleischerstochter aus einer slavisch-katholischen Familie, die ihm zu Zeiten seine jüdische Abkunft hart entgelten ließ. Ich selbst wurde, natürlich als kleines Kind, wenige Tage nach meiner Geburt getauft und principiell von Allem fern gehalten, was mit Juden zusammenhing. Meine Mutter erzog mich geradezu zur Judenfresserei. Natürlich that ich mit, wo auf Juden losgegangen wurde, bis ich eines Tages merkte, wie jedes Lästerwort meinen armen Vater schmerzte. Dieses edle blasse Duldergesicht zuckte schmerzlich und – schwieg. Ich hing, im Gegensatz zu anderen Kindern, mehr am sanfteren Vater als an der heftigen Mutter, und als ich unsere Dorfschule verließ und auf’s Gymnasium in Olmütz geschickt wurde, merkten meine Mitbuben, daß meine Züge das Gepräge orientalischer Abkunft trugen, und plötzlich verbreitete sich durch einen Judenknaben, der aus demselben Ghetto kam, aus welchem mein Vater abstammte, und der also meinen Namen vom Hörensagen kannte, das Gerücht, ich sei ein ‚Jud‘.

Ich hatte keine Ahnung davon, was an der Sache Wahres sei, und hieb anfänglich um mich; als jedoch am nächsten Samstag mein Vater nach Olmütz zu Markte kam, erzählte ich ihm weinend, welche grundlose Unbill mir widerfahren. Mein Vater seufzte tief und erzählte mir, daß [674] mein Großvater allerdings ein ‚Schöps‘ (Schabsi oder Schabbathianer) gewesen und daß wir wirklich von Juden stammen.

Erst wollt’ ich das durchaus nicht anerkennen und fiel in meine alte Judenfresserei zurück; allein das half nichts; ich wurde wie früher geneckt und fand es am gerathensten, mitzulachen und mich selbst einen Juden zu nennen. Das half! Als ich nun in den Ferien nach Hause kam, drangsalte ich meinen Vater, so oft ich mit ihm allein war, mir von den ‚Schöpsen‘ zu erzählen. Allein mein Vater wich aus, bat mich, der Mutter nichts davon zu sagen, daß ich meine Abstammung kenne, vertröstete mich, bis ich größer sein werde, dann wolle er mir Alles erzählen etc.

Es war zur Zeit der Kartoffelernte im Herbst, als ich einst nach Hause kam; meine Mutter war mit Knechten und Mägden auf dem Felde, und mein Vater befand sich allein in der an unsere Branntweinschenke grenzenden Stube. In diesem Zimmer hatte mein Vater ein Schränkchen, das nie geöffnet wurde, zu dem nur er den Schlüssel hatte, den er, trotz mannigfacher Neckereien meiner Mutter, niemals hergab. Die Thüren dieses Schränkchens waren mit einem in Nußbaumholz roh geschnitzten Kreuze versehen, das jedoch, ähnlich wie das russische Kreuz, unten einen diagonalen Querbalken hatte. Oft sah ich meinen Vater vor diesem Kreuze andächtig beten. Als ich jedoch damals unversehens in die Stube trat, fand ich das Schränkchen offen, meinen Vater platt auf dem Boden liegend und weinend.

Erschrocken trat ich hinzu, in der Meinung, er sei krank. Er winkte mir, ihn nicht zu stören, und ich wartete ängstlich schweigend, bis er geendet. Dann rief er mich zu sich, beschwor mich, zu schweigen, zog eine pergamentene Gesetzesrolle hervor, die mit hebräischen Charakteren beschrieben war, und erklärte mir, diese ‚Thorah‘ enthalte in der eigenthümlichen Gruppirung des hebräischen Bibeltextes die Mysterien seines Glaubens, der nur äußerlich der Katholicismus sein müsse, der jedoch noch immer der des ‚heiligen Herrn‘ sei. Ich solle Hebräisch lernen und er wolle mich dann in Alles einweihen. Ich ging wenige Tage darauf nach Olmütz zurück, suchte dort einen Theologen aus unserem Dorfe auf und bat ihn, mich Hebräisch zu lehren. Er lachte darüber, lehrte mich die Buchstaben kennen, und das ist so ziemlich alles, was ich von jener Sprache kennen gelernt.

Zur Zeit der Kirchweih aber brannte mein Elternhaus ab, mein Vater erkrankte vor Schreck und starb, ohne mich in die Mysterien seines Glaubens eingeweiht zu haben, ein Glück für mich, denn ich bin dadurch einer Schwärmerei und Phantastik fern gehalten worden, die jedenfalls nicht ohne Anziehungskraft gewesen ist und die ich vielleicht später nur mit Mühe abgeschüttelt hätte. Ein gewisses Interesse aber habe ich, gewiß mit vielen Anderen, denen es an ähnlichen Jugend- und Familienerinnerungen nicht fehlen wird, für jene geheimnißvolle Bewegung immer behalten und weise Sie auf Folgendes hin. Von einstmaligen Frankisten stammen zum Beispiel ab: der gegenwärtig hochstehende Dr. B…r, der Olmützer Advocat Dr. M…h, der Warschauer Advocat D…k Z…i, die Familie P…s-P……m in Prag, W…e in Prag u. v. A. Sollte nicht Einer oder der Andere im Interesse der geschichtlichen Forschung Näheres mitzutheilen wissen?

Lieb wird mir’s sein, wenn Sie meinen Namen und meine Veranlassung noch nicht nennen. Ich habe seit dreiundzwanzig Jahren mit meinen österreichischen Beziehungen vollends gebrochen, und nur einen Freund und Landsmann im fernen Lande unter gegenseitiger Wahrung unseres Incognito gehabt: Charles Sealsfield!“




Schauerliche Nachtruhe. Von einem schlesischen Beamten erhalten wir folgende Mittheilung: „Im Jahre 1864 machte ich den Feldzug gegen Dänemark als Unterofficier mit. Bald nach Erstürmung der Düppeler Schanzen erhielt mein Regiment den Befehl, nach Jütland zu marschiren, wo wir nach vielem Hin- und Herwandern in der Gegend von Aarhuus Cantonnements bezogen. Ich selbst kam mit etwa acht Mann zu einem Bauern und erhielt, wie dies meistens der Fall war, den Aufenthalt für mich und meine Leute in einer Scheuer angewiesen. An dem nämlichen Tage aber feierte einer unserer Cameraden seinen Geburtstag und war galant genug, mich und Andere zu sich in sein Quartier einzuladen, um dort bei einem Spiel und einem Gläschen Schnaps – weiter gab es Nichts – den festlichen Tag zu begehen. Aber die Stunden verschwanden, aus einem Gläschen wurden mehrere und es war schon ziemlich nach Mitternacht, als ich, leider nichts weniger als nüchtern, mich auf den Weg machte, in mein Quartier zu kommen. Nach kurzer Zeit erreichte ich das Gehöfte und fand dort Alles in tiefem Schlummer. In der Meinung, ich sei in der Scheuer, wo ich am Tage selbst mein Lager in einem leerstehenden Futterkasten in Mitte meiner Soldaten bereitet hatte, tappe ich in der Finsterniß herum und greife nach meinem Futterkasten, finde aber darin zum größten Erstaunen Jemanden, der meine Abwesenheit benützt haben mochte, sich statt des Lagers auf nackter Erde eine bequemere Ruhestatt auszuwählen.

Im Gefühle meines Rechts rief ich nach dem frechen Eindringling, erhielt aber keine Antwort; ich schüttelte und rüttelte an ihm – Alles vergebens; endlich, da ich in Folge des genossenen Getränkes, das meine Sinne stark getrübt haben mußte, den in mir aufsteigenden Zorn nicht mehr zu bewältigen wußte, packte ich den Kerl, den ich für einen meiner Leute hielt, und expedirte ihn ohne Weiteres zum Kasten hinaus. Kaum vernahm ich mehr seinen dumpfen Fall und legte mich schlafen. Am nächsten Morgen sind meine Leute natürlich äußerst verwundert, mich nicht in der Scheune zu sehen; sie durchsuchen Alles und treten auch in einen an die Scheune stoßenden Schuppen. Dort allerdings finden sie mich, noch schlafend – aber in einem Sarge und auf dem Boden die Leiche eines alten Mütterchens von einigen siebenzig Jahren. Die gute Frau war, wie wir später erfuhren, den Tag vorher gestorben, und weil die Einquartierung den Raum so beschränkte, hatte man die Leiche hierher gebracht. Schneller, als ich in den Sarg gekommen, war ich aus demselben; meine Leute aber hoben das Mütterchen mit aller Sorgfalt vom Boden und legten es wieder auf das traurige Lager, auf dem ich übrigens besser geschlafen hatte, als vor- oder nachher manchmal im bequemen Bett. Dann eilten wir aus dem Schuppen, nicht ohne uns Stillschweigen angelobt zu haben – denn wir wollten den Leuten im Hause kein Aergerniß geben.“ B. B.     




Erklärung des Kaisers Norton des Ersten. Unser Mitarbeiter Th. Kirchhoff in San Francisco schreibt uns unterm 14. Septbr. von dort: „Unser durch die Gartenlaube (Nr. 32) weltberühmt gewordener Kaiser Norton der Erste erschien am letzten Sonnabend in Parade-Uniform in der hiesigen deutschen Buchhandlung von H. Mendheim u. Comp. und ließ sich meine auf ihn Bezug nehmende Skizze, von der er gehört haben mußte, zeigen und in’s Englische übersetzen. Norton bemerkte, daß es ihn sehr freue, daß man auch in Europa seine kaiserliche Stellung in hervorragenden Journalen bespreche. Der Verfasser des Artikels hätte sich aber einer Ungenauigkeit schuldig gemacht, die er nicht umhin könne, scharf zu tadeln. Sein Titel sei nämlich nicht blos ‚Kaiser der Vereinigten Staaten‘, sondern: ‚Norton der Erste, der Kaiser von den Vereinigten Staaten und Protector von Mexico‘. Er verlange, daß die Gartenlaube diesen Irrthum berichtige. – Da wir nicht beurtheilen können, welche staatliche Verwickelungen sich möglicherweise aus der Nichterfüllung dieser Bitte herausstellen, so kommen wir ehrerbietigst diesem Wunsche Sr. Majestät hiermit nach.

Heute Mittag donnerten zu Ehren des hundertjährigen Geburtstags Humboldt’s Einhundert Kanonenschüsse vom Telegraphenhügel und heute Abend findet ein Banket in der Turnhalle statt. Am nächsten Sonntag wird großer Umzug aller deutschen Vereine mit einer Humboldtbüste durch die Hauptstraßen der Stadt sein und am selbigen Abende zum Schluß der Feier ein Volksfest im City-Garden stattfinden. Die beiden hier erscheinenden täglichen deutschen Zeitungen, ‚California Demokrat‘ und ‚San Francisco Abendpost‘, haben uns heute mit einem Abdruck des schönen Festgedichts von Emil Rittershaus zur Humboldtsfeier in Amerika überrascht. 0Ihr Th. K.“     


Für die Hinterbliebenen der verunglückten Bergleute des Plauenschen Grundes

gingen wieder ein: X. in Belew (Rußland) 5 Thlr. 5 Pf. (6 Rubel); aus Woronesch 4 Thlr. 5 Ngr. 5 Pf. (5 Rubel); M. C. in Wien 2 Thlr. 23 Ngr. 5 Pf. (5 fl. ö. W.); Michael Schuller, evangel. Pfarrer in Arkeden in Siebenbrg. 2 Thlr. 22 Ngr. 5 Pf. (2 Sp.-Thlr.); E. K. in Oberstdorf 2 Thlr.; ein Leser der Gartenlaube in Ingolstadt 1 Thlr.; August H. 1 Thlr.; F. W. durch Wagner’sche Buchh. in Freiburg i. B. 10 Thlr.; C. K. in Berlin 1 Thlr.; A. M. u. L. M 1 Thlr. 15 Ngr.; C. L. Langensalza 1 Thlr.; H. Nelsen in Jerome, Westchester County 25 Thlr.; J. H. 1 Thlr. 15 Ngr.; eine fröhliche Gesellschaft Rendsburger Freihandschützen 9 Thlr. 1 Ngr.; O. D. Bern 27 Ngr. 5 Pf. (3 Fr. 80 C. in Briefmarken); Wittwe G. in Breslau 5 Thlr.; F. in A. 2 Thlr.; C. S. von Leuwen in Woerden 1 Thlr.; J. Priester in Memel 10 Thlr.; beim Erntefest in der Kirchfahrt Osse 4 Thlr. 25 Ngr. 4 Pf.; Ertrag eines Concerts des „Cäcilien-Vereins“ und Vereins „Frohsinn“ in Ludwigshafen 85 Thlr. 21 Ngr. 5 Pf.; Ertrag eines Concerts der Liedertafel in Prettin a. E. 21 Thlr.; Sammlung unter den Mitgliedern des Oedenburger Turn-Feuerwehr-Vereins und Eisenstädter Gesangvereins „Frohsinn“ 11 Thlr.; F. W. F. in Hildesheim 2 Thlr.; Ertrag eines Concerts des Gesangvereins „Concordia“ in Friesack 25 Thlr.; Böhm in Oberlangenstadt 1 Thlr.; von einigen Herren im „Goethezimmer“ in Auerbachs Keller in Leipzig 1 Thlr. 14 Ngr. 4 Pf.; G. S. in Freiburg i. B. durch Buchhdlr. Schmidt 17 Ngr.; Nettoertrag einer theatralischen Vorstellung des geselligen Vereins in Treuenbrietzen 30 Thlr.; N. N. in Neustrelitz 5 Thlr.; Ertrag einer Privatvorstellung in Schwerin 5 Thlr. 10 Ngr.; O. in Hüsten 1 Thlr.; Sammlung in Schmiedeberg i. Schl. durch die Stadt-Haupt-Casse 15 Thlr. 4 Ngr.; Gäste des Hotel de France in Baden durch Emil Siefert 5 Thlr.; fünf Freunde im Alster-Pavillon in Hamburg 5 Thlr.; bei einer Kindtaufe unter unbemittelten, aber willigen Gebern gesammelt 25 Ngr.; A. Simon, Cantor in Rogasen 2 Thlr.; Ertrag eines Vortrags durch B. O. in Gumbinnen 13 Thlr.; Bertha N. in O. 2 Thlr.; Samuel Hartmann in London 3 Thlr.; Fr. G. in Greifswald 1 Thlr.; E. P. in Bitterfeld 1 Thlr.; Kegelclub mit der rothen und weißen Bowle in Neudamm 5 Thlr. 3 Ngr.; Gesangverein in Wüstegiersdorf 6 Thlr.; M. in Hagenow 1 Thlr.; Ertrag einer von jungen Damen veranstalteten Lotterie in Bartenstein 42 Thlr.; gesammelt bei der Fahnenweihe des Männergesangvereins in Bartenstein 5 Thlr. 1 Ngr. 6 Pf.; Nettoertrag einer musik. Abendunterhaltung in Idstein 16 Thlr.; Casino-Gesellschaft und D. u. S. in Winkel im Rheingau 10 Thlr.; Ertrag eines Dilettanten-Concerts in Standenbühl 18 Thlr.; Angestellte u. Arbeiter der Baumwoll-Spinnerei in Holbermoor 70 Thlr.; A. in Rauscha 3 Thlr.; Fräul. E. M. 10 Thlr.; Roscher, Hiese u. Partsch 3 Thlr.; Ertrag eines Concerts des Lilienthaler Gesangvereins 18 Thlr. 23 Ngr. 5 Pf.; in der Schule zu Corbach gesammelt 4 Thlr. 24 Ngr.; C. Schinzel 3 Thlr.; M. Schumacher in Schwarzenfels 1 Thlr.; ein Abonnent in Bregenz 2 Thlr. (Summa sämmtlicher Eingänge: 4309 Thlr. 27 Ngr. 7 Pf.) Die Redaction. 

Inhalt: Jedem das Seine. Von Ad. von Auer. (Fortsetzung.) – Ein Bild ohne Worte. Illustration. – Aus einer alten deutschen Stadt. – Aus vollem Menschenheren. Wissenschaftliche Novellette von A. Bernstein. – Vor den Ruinen eines Kunsttempels. Mit Abbildung. – Blätter und Blüthen: Noch einmal der heilige Herr. – Schauerliche Nachtruhe. – Erklärung des Kaisers Norton des Ersten. – Quittung über neue Eingänge für die Hinterbliebenen der verunglückten Bergleute des Plauenschen Grundes.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wir erlauben uns die Leser der Gartenlaube auf obige wissenschaftliche Novellette des geistreichen Verfassers der bekannten Leitartikel der Berliner Volkszeitung noch besonders aufmerksam zu machen. freilich ist es keine oberflächliche, dafür aber eine blendend-witzige und geistig anregende Lectüre. Um sie unsern Lesern in zwei Nummern vollständig zu liefern, haben wir mit Genehmigung des Herrn Verfassers die Einleitung um einige Sätze gekürzt und zusammengezogen.      D. Red.
  2. Ganz neuerdings ist sogar in einem aus Moskau uns zugegangenen Briefe die seltsame Vermuthung ausgesprochen worden, daß Frank vielleicht mit jener im Januar dieses Jahres in Rußland entdeckten, ihre Mitglieder bekanntlich verstümmelnden Secte der Scopzen zusammengehangen habe, die ihre Begründung bis in die Zeit des Kaisers Peter des Dritten zurückführt, ihr Thun und Treiben gleichfalls in tiefes Geheimniß hüllt, aber notorisch über große Reichthümer verfügte. Wir erwähnen dies, weil es beweist, wie vielseitig die Mysterien des Offenbacher Hofhalts noch immer die Aufmerksamkeit beschäftigen. Der Annahme selber widersprechen alle Thatsachen, vor Allem der Umstand, daß Frank und seine Anhänger zahlreiche Nachkommenschaft besaßen.