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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[465]

No. 30.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Verlassen und Verloren.
Historische Erzählung aus dem Spessart.
Von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


„Doch, doch,“ fiel Benedicte ein, „ich habe dies Schicksal, wenn nicht verdient, doch mir selbst zugezogen; ich bin schuldig, ja, ich bin es; und wäre ich es auch nicht – würde ich daran denken dürfen, ein andres Leben, würde ich Sie hineinziehen dürfen in das Unglück einer solchen Lage, wie die meine?“

„Ob Sie das dürfen … mein Gott, was fragen Sie … da, wo ich ja will, nichts anderes will, wo es mir wie eine Seligkeit erscheint, mich Ihretwegen in jedes Unglück, in jeden verzweifelten Kampf, in jeden Abgrund zu stürzen!“

„O wie thöricht Sie reden! Ich soll zugeben, daß Sie sich in Kämpfe und Abgründe stürzen! Würden Sie denn dulden, daß ich so etwas thäte, daß ich so mich in’s Verderben stürzte, wenn Sie der Unglückliche, Verbannte wären, wenn auf Ihnen der Verdacht eines Verbrechens ruhte, wenn Sie sich verbergen müßten, wie ich es muß? Würden Sie denn um ein Herz werben, würden Sie zugeben, daß ein andres, ein harmloses und zu allen Ansprüchen auf Glück berechtigtes Wesen käme und sein Schicksal an das Ihre kettete, und sich mit Ihnen in einen ‚Abgrund‘ stürzte? Nie, niemals würden Sie es!“

Wilderich verstummte bei diesen Worten Benedictens; er sah betroffen und verwirrt zu Boden.

„Ich höre aus dem Allen nur heraus,“ sagte er dann, langsam sein verstörtes Gesicht wieder zu ihr erhebend, „wie edel und groß Sie denken; wie furchtbar groß also auch das Unrecht sein muß, welches man an Ihnen begangen hat; und wie erbärmlich ich sein müßte, wie gründlich verächtlich, wenn ich, weil irgend ein abscheulicher Verdacht auf Ihnen lastet, je von Ihnen ablassen könnte …“

„O genug, genug,“ unterbrach ihn Benedicte fast heftig, „Sie sind ein Mann, und über Alles muß Ihnen die Ehre stehen. Ich habe genug gesagt, um Sie fühlen zu lassen, daß es wider Ihre Ehre wäre, je wieder so zu mir zu sprechen!“

„Gerechter Himmel!“ lachte Wilderich gezwungen auf – „wenn man Sie so reden hört, sollte man denken, Sie hätten einen Hochverrath oder einen Mord –“

„Einen Mord?“ sagte sie flüchtig zu ihm aufsehend … „wenn es nun so etwas wäre, dessen man mich beschuldigen kann …“

„Unmöglich – unmöglich!“ rief Wilderich.

„Das Einzige, was unmöglich,“ versetzte sie nach Athem ringend, „das ist, daß wir uns je wiedersehen! Gehen Sie mit Gott, Gott schütze und beschirme Sie!“

Dabei reichte sie ihm ihre Rechte, entzog sie ihm wieder, als er kaum die Fingerspitzen berührt, und wandte sich, um wankenden Schrittes davon zu eilen.

„Räthselhaftes Geschöpf!“ murmelte Wilderich in tiefer Bestürzung ihr nachblickend – „Dich nicht wiedersehen? Lieber den Tag, die Sonne nie wieder sehen, als darauf verzichten, Dich wieder zu sehen und Klarheit zu erhalten über diese entsetzlichen Worte … diese Worte von Verbrechen … von Niewiedersehen … über diesen ganzen teuflischen Waffensegen für Jemand, der in einen grimmen Kampf gehen will, in die blutige Todesgefahr!“

Er stand noch eine Weile wie erstarrt, wie in sich verloren – dann rief er, heftig seine Büchse auf den Boden stoßend:

„Fort damit, fort, fort mit all’ diesen Gedanken! Ein Mann hält seine Hoffnungen, seine Entschlüsse fest bis zum Aeußersten – und nun auf und dem Kommenden entgegen!“

Er wandte sich, um fort zu eilen, als er plötzlich dem Herrn Schösser, der während des Gesprächs unbemerkt an ihn herangetreten sein mußte, in sein graugelbes Gesicht blickte.

„Na,“ sagte der Ritterschaftliche ironisch – „haben ja einen sehr eifrigen Discours mit der Demoiselle gehalten … der Herr Revierförster kennen wohl die Demoiselle schon länger?“ …

„Nein!“ versetzte Wilderich, „ich sah sie früher nie.“

„So, so! Wär’ mir sonst lieb gewesen etwas über sie zu erfahren. … Die Frau Aebtissin von Oberzell sind in ihrem gnädigen Anschreiben an mich ein wenig kurz über dieselbe. Da sich die Schwesterschaft aus dem Kloster flüchte von wegen der dräuenden Kriegsgefahren, und die Demoiselle Benedicte, die bishero als Novize im Kloster aufgenommen gewesen, ohne Verwandte oder andre Zuflucht, dahin sie sich wenden könne, sei, so ergehe der ehrwürdigen Frau geziementliches Ansuchen an mich, besagte junge Dame mit allen derselben als einer wohlconditionirten Person schuldigen Rücksichten auf Haus Goschenwald aufzunehmen. Das ist Alles … nicht einmal den Namen der Demoiselle Benedicte thut sie mir vermelden … und wenn es eine wohlconditionirte junge Person, weshalb geruht die Hochwürdige nicht, sie unter ihre eigene Obhut und Schutz mit sich nach Würzburg zu nehmen, wohin die meisten der frommen Jungfern sich begeben, wie ich von der Demoiselle höre …“

„Sie wird ihre Gründe dazu haben, mein Herr Schösser,“ versetzte Wilderich aufhorchend, … „wer ist diese hochwürdige Mutter Aebtissin?“

[466] „Die Frau Apollonia Gronauer, eine Frankfurter Geschlechterin; dero Herr Bruder ist Reichshofrath in Wien und mein hochansehnlicher Gönner und Lehnsherr in Goschenwald.“

„Alsdann,“ fiel Wilderich ein, „bin ich überzeugt, daß Eure Gestrengen Alles thun werden, was die ehrwürdige Mutter von Ihnen für die junge Dame erwartet … und unter dem, was sie erwartet, möchte auch gehören, daß die Demoiselle nicht mit neugierigen und lästigen Forschungen nach ihrer Herkunft und ihren Verhältnissen belästigt und geplagt werde … weshalb es auch wohl für uns Beide am angemessensten ist, dieser Unterhaltung über das junge Mädchen ein Ende zu machen. Uebrigens werden der Herr Schösser, wie ich besorge, demnächst eine lästigere Einquartierung bekommen, als ein junges Klosterfräulein ist, und ich ersuche Sie, Ihre Gedanken vor der Hand darauf zu wenden. Es ist möglich, daß ich mit einer kleinen Truppe zurückkehre, die Ihnen als Schutzwache für Ihr Haus von Nutzen werden dürfte.“

„Eine Truppe – eine Schutzwache?“ fiel der Schösser erschrocken ein.

„Ja, alter Herr, die Freude, einmal wieder Pulver zu riechen, dürfte Ihnen blühen, bevor die Zeit, seit Sie mit Ihrem wackern Contingent zum letzten Male in’s Feld rückten, um vierundzwanzig Stunden länger ist –“

„Oho, glauben Sie denn wirklich mir altem erfahrenem Manne aufbinden zu können, daß die Franzosen geschlagen würden, und daß Ihr Förster und Holzknechte und was Ihr an Gesindel zusammengetrieben habt …“

Wilderich lachte kurz und trocken auf.

„Gestrenger Herr,“ sagte er, „ich habe nicht Zeit, darüber mit Euch zu streiten. Sorgt nur für Unterkunft und Lebensmittel in Eurem Castell hier, und verpflegt mir meine Leute, haltet die fremde Dame, die Eurer Obhut anbefohlen, wohl im Auge, und – das Uebrige wird Euch die Zeit lehren!“

Damit ging er davon. Die kurze Unterhaltung mit dem gestrengen Herrn hatte ihm genügt, um ihm Zuversicht und innere Ruhe zu geben, und die beste Bestätigung dessen, was ihm sein innerstes Seelenbedürfniß, an Benedicte zu glauben, zugerufen.

Wenn eine so vornehme, so hochstehende Dame, wie die ehrwürdige Aebtissin von Oberzell, das junge Mädchen so warm empfahl, wenn sie sie im Hause ihres eigenen Bruders unterbrachte – konnte dann ein Makel, eine Schuld, ein Verbrechen auf diesem selben jungen Mädchen haften?

Es war undenkbar, es war unmöglich!




5.

Der Schösser stapfte unterdessen unwirsch davon, er ging Frau Afra berichten, daß dieser heillose Mensch, der Förster Buchrodt, ihm angekündigt habe, Haus Goschenwald werde eine Einquartierung erhalten, als er plötzlich stehen blieb und wie schreckergriffen beide Hände von sich streckte.

„Alle Teufel!“ sagte er.

Frau Afra, an der andern Seite des Hofes auf einem umgestülpten Eimer sitzend, um zu warten, bis es dem Gestrengen gefalle zum Essen zu kommen, stieß einen leisen Schrei aus … die Mägde um sie herum riefen auseinanderfahrend: „Da hören Sie’s selber!“

Frau Afra hörte es selber und der gestrenge Herr hörte es auch. Er hörte Kanonenschüsse – unverkennbare Geschützesschläge … eins, zwei, drei – ein halbes Dutzend rasch aufeinander folgend – dann eine Pause – dann auf’s Neue!

Alle Kriegserfahrung des Ritterschaftlichen half da nichts – es war Kanonendonner – in der Ferne mußte ein Gefecht stattfinden, und daß es stattfand, bewies, daß die Franzosen geschlagen seien, daß sie auf ihrer Rückzugslinie durch den Spessart angegriffen wurden.

Und so war es in der That. Die Führer des Aufstandes hatten ihre Leute so lange vom Angriff zurückgehalten, als es möglich war. Ein zu früher Ausbruch der Erhebung hätte die Feinde gewarnt. Sie hätten andere Wege eingeschlagen, wenn sie zu früh erfahren, wie gefährlich und verhängnißvoll ihnen die Waldpässe des Spessart werden sollten.

Denn die Schlacht bei Würzburg war geschlagen, ein zweiter entschiedener Sieg der Kaiserlichen. Die Sambre- und Maas-Armee war halb aufgelöst; in bunt und wild gemischten Massen fluthete sie in die Defiléen hinein, in denen sie keine Gefahr ahnte; hatte sie doch bei ihrem Vorrücken die Entwaffnung des Landes vorgenommen, hatte doch Jourdan’s Proclamation Todesstrafe auf den Besitz von Waffen gesetzt.[1]

Und trotz dieser Drohungen stand das Land jetzt in Waffen, wenn diese Waffen auch freilich gar oft nur die Sense oder die Pike war, in die jede Heugabel, jede Stange sich rasch umwandelt, wenn der Haß eines durch Mißhandlung empörten Volkes losbricht, oder das Holzfällerbeil, das ein etwas längerer Stiel zur besten Hellebarde und so gefährlich wie die schneidigste Streitaxt macht. Und der Feind war ja geworfen – er mochte jetzt mit Todtschießen, Niederbrennen drohen – Jedermanns Hand, jede nervige Faust in den Bergen war wider ihn und jede krampfte sich um ein rächendes Eisen.

Die Schlacht bei Würzburg hatte am 3. September stattgefunden. Die Truppen der Republik, geführt von ihren besten Generalen, dem kühnen, glänzenden und so früh gefallenen Championnet, Bernadotte, Lefèbvre, Grenier, Ney, hatten sich tapfer geschlagen. Der mörderische Kampf hatte lange hin und her gewogt von sieben Uhr an, dem Augenblick, wo der dichte Nebel des Herbstmorgens gefallen, bis um drei Uhr Nachmittags, wo ein von Wartensleben ausgeführtes Cavallerie-Manöver den Ausschlag zu geben begonnen. Vierundzwanzig Schwadronen Harnischreiter hatte er vorgeführt; sie marschirten im verdoppelten Feuer der französischen Artillerie in größter Ruhe auf; vierzehn Schwadronen leichter Reiterei wurden auf ihren rechten Flügel en échelon gesetzt und im Verein mit acht frischen Grenadierbataillonen, die sich an ihren linken Flügel schlossen, führten sie den entscheidenden Schlag.

Jourdan befahl gegen vier Uhr den Rückzug. Die französische Armee vollzog diesen auf zwei Straßen. Ihr Gros bewegte sich nordwärts über Hammelburg, Brückenau, Schlüchtern, um die Lahn zu erreichen. Ein andrer Theil des geschlagenen Heeres warf sich westwärts und folgte der Straße nach Frankfurt durch den Spessart, um sich auf die letztere Stadt zurückzuziehen und dann mit dem Blokade-Corps von Mainz zu vereinigen, das etwa zwölftausend Mann stark unter Marceau’s Befehlen stand.

Die Heerstraße von Würzburg nach Frankfurt lief damals in nordwestlicher Richtung über Heidenfeld, wo sie den Main überschritt, durch stille und wenig bevölkerte Waldthäler nach Aschaffenburg.

Eine zweite Straße folgte von Würzburg bis Gemünden und Lohr dem Lauf des Maines, um von Lohr stark westlich auf Aschaffenburg zuzulaufen. Es ist die Linie, welche jetzt, nur ein wenig mehr nördlich gelegt, die Eisenbahn verfolgt.

Der Erzherzog Karl detaschirte einige Corps zur Verfolgung der nordwärts abziehenden Feinde, die Hauptmasse seiner Truppen dirigirte er westwärts, dem untern Main zu, um die Besatzung von Mainz an sich zu ziehen und sich dann südwärts auf Moreau zu werfen. Die Infanterie sollte über Lengfurt und Heidenfeld und Rohrbrunn der Hauptstraße folgen, die Cavallerie über Bischofsheim und Miltenberg rücken, beide nachdem sie am 4. bei Würzburg gerastet.

Die Verfolgung während dieses Rasttages hatten aber die insurgirten Bauern übernommen. Einzelne Angriffe des empörten Landvolks hatten die republikanische Armee bereits auf der ganzen Rückzugslinie von Amberg her beunruhigt; schlimmer war es geworden am Abend und in der Nacht nach der Schlacht vom 3. September, auf dem Wege bis zum Mainübergange bei Heidenfeld; als die Franzosen im ersten Morgengrauen des 4. den Spessart betraten, fanden sie eine kleine Vendée. Hier wurde der Marsch ein fortwährendes Kämpfen. Die Bauern griffen an zahlreichen Stellen zugleich die wie eine lange Schlange viele Stunden weit sich hinziehenden Schaaren an. Von den Bergseiten herab, hinter Eichen- und Buchenstämmen her knatterte das Feuer in die Bataillone und löste die letzte Ordnung, die sie zusammengehalten, auf; gegen die verwirrten Massen gingen ganze Haufen Bauern mit geschwungenen Piken und Aexten vor; vor dem wuchtigen Angriff [467] mit dem Bajonnet, vor dem Rottenfeuer flohen sie zurück, die schützenden Waldhöhen hinan, um bald darauf dasselbe Spiel von Neuem zu beginnen, bis die Kampflust zur wilden Wuth wurde, bis selbst die Kartätschladungen, womit der Feind sie begrüßte, ihre Schrecken für sie verloren und sie nur für wenige Augenblicke auseinander gesprengt in ihre verdeckten Stellungen trieb.

An einzelnen Stellen war die Lage des geschlagenen Heeres verzweiflungsvoll: während es sonst im Weiterziehen kämpfte und sich seiner Haut wehrte, und rechts und links mit zahlreichen Todten seinen Weg bezeichnete und nur immer chaotischer durcheinanderwogte, staute sich an diesen einzelnen Stellen die Fluth der Zurückziehenden vor einem Hindernisse auf, das, wie ein Deich in einem Strome die Gewässer, ihre Massen aufhielt und sie dichter und dichter zusammen und wirbelnd durcheinander drängen ließ. Wo die Heerstraße durch einen engeren Thalpaß zog, waren aus gefällten Baumstämmen hohe und furchtbare Verhaue aufgeschichtet, hinter denen her die Büchsen- und Flintenkugeln in die aufgelösten Bataillone schlugen; sie mußten erst genommen, erstürmt, durch Artillerie mit Vollkugeln zusammengeschossen werden, bevor es möglich war, vorwärts und aus diesen höllischen Defiléen herauszukommen.

Einer der schlimmsten Pässe lag hinter dem Dorfe Bischbrunn, zwei enge kleine Seitenthäler mündeten hier von beiden Seiten auf die Heerstraße, und diese Seitenthäler waren für die Kämpfenden wie gemacht, sich verdeckt in ihnen aufzustellen, aus ihnen hervorzubrechen und sich in sie hinein und an den Bergwänden aufwärts zu flüchten, wenn eine geschlossene Truppe im Sturmschritt gegen sie anrückte. Der Weißkopf, der Waldmeister, den wir von Wilderich nennen hörten, befehligte hier etwa zwei- bis dreihundert wohlbewaffnete Bauern. Sie waren eben auseinander gesprengt worden und sammelten sich wieder um eine jener Rieseneichen, die heute noch der Stolz des Spessarts sind; sie stand etwa in Mannshöhe über der Sohle des Seitenthals, und der Waldmeister saß unter ihr, damit beschäftigt, einen neuen Stein auf seine Büchse zu schrauben.

„Bin gleich fertig, Ihr Mannen,“ sagte er zu den schwer athmenden und keuchend herankommenden Leuten, „stellt einen Posten vorn auf die Bergegge, der uns wahrschaut, wenn ein neuer Trupp kommt … so lang wollen wir uns ein wenig Ruhe gönnen – Du, Natz, Du machst mir auch nicht mehr weis, daß Du kein Wilderer bist, hab’s wohl gesehen, wie Du immer auf’s Blatt trafst … wie viel Stück Wild hast mir aus dem Revier fortgeschossen, Du?“

„Ach, Waldmeister,“ antwortete ein blasser, blonder, junger Bursche im Kittel, „denkt Ihr denn heut’ noch daran? Ich mein’, die Herren machen uns nun für das, was wir heut’ ausrichten, all’ zu Waldmeistern und geben’s Wild frei.“

Die Männer umher lachten.

„Wär’ schon recht,“ rief ein kleiner Mann mit einer Hasenscharte, der sich eben müde in’s Moos niedersetzte, und die alte Doppelflinte aufrecht zwischen den Beinen hielt, „wär’ schon recht, Natz … aber daraus wird nichts, kannst mir’s glauben. Das Wild, als da sind die Sauen, die Spießer, die Böck’ und die Rehgaisen, das ist Eine Sorte, die den Bauer ruiniren … und die andre Sorten, das sind die Herren, die Schösser, die Schloßherren, die Cavaliere, denen’s Wild gehört … hätte der Bauer nun Permiß, daß er sich die eine Sorte mit dem Blasrohr vom Leibe halten dürft’, ’s könnt’ gar leichtlich sein, daß er’s auch mit der andern versuchte … und drum – na, alleweil kannst Dir’s schon selbst ausrechnen.“

„Ich geb' aber nachher meine Flinte doch nicht wieder heraus!“ rief der Natz trotzig, „will sehen, wer kommt, und sie mir abholt!“

„Na, na, na,“ fiel hier ein starker, untersetzter Mann mit einem runden, rothen, aber stark von Blatternarben zerfetzten Gesichte ein, aus dem kleine verschmitzte Augen hervorblinzelten, „Ihr seid ja ein verwegener Bursch, Natz. So zu reden, wo der Herr Waldmeister dabei ist! Solchen Leuten wie Euch hätt’ man das Blasrohr gar nicht in die Hände geben sollen. Es ist ohnehin ein Jammer, daß man das Franzosenvolk damit so drangsaliren muß. Man meint, die Eingeweide müßt’s Einem im Leibe herumdrehen, wenn man’s ansieht! In meinem Ort’ daheim stift’ ich ’ne Seelmesse für die armen Seelen, für all’ die armen Teufel, die heut’ dran glauben müssen.“ …

„Was schwätzt der da – den jammert’s?!“ rief hier ein Dritter aus.

„Na, gewiß jammert’s mich … und jeden friedliebenden, rechtschaffenen Christenmenschen muß es jammern,“ fuhr der Blatternarbige, mit dem Aermel den Schweiß von der Stirn wischend, fort, „daß er so hinter ihnen drein laufen muß und all’ die Hundsmüh’ und Sekatur mit ihnen hat! Wenn das so fortgeht, so weiß ich nicht, wie ich’s noch lang vermachen soll … schon fünf Tage lang bin ich dabei, und ’s graust mich …“

„Fünf Tage lang bist dabei?“ fragte hier der Waldmeister. … „Ja, Du bist ja ein Fremder … woher kommst denn, und weshalb bist denn dabei?“

„Woher ich komme?“ sagte der Mann, sich mit dem Rücken an den Stamm einer Buche lehnend und seinen dreieckigen Hut in den Nacken schiebend … „ich komm’ von Teining, da bin ich daheim …“

„So weit her?“

„Just von da her, wo der Franzose Kehrt gemacht hat … ich bin halt hinter ihm drein marschirt … ganz still und zumeist bei der Nacht … hinter dem Nachtrab drein … hab’ dabei manchen halbtodten Marodeur oder zum Krüppel geschossenen armen Lumpen angetroffen … im Straßengraben und in den Scheuern und Barmen am Wege …“

„Und hast ihnen wohl geholfen und sie getränkt und verbunden wie der barmherzige Samariter?“ rief hier einer der Männer, die einen Kreis um den Fremden geschlossen hatten.

„Ja,“ sagte der Blatternarbige lakonisch; „ich hab’ ihnen geholfen … wenn sie nicht schon genug hatten!“

„Aber wenn Du gar so ein mitleidiges Herz hast,“ fragte der Waldmeister, „weshalb kommst denn hierher zu uns?“

„Na,“ sagte der Mann aus Teining, den dreieckigen Hut wieder über die Stirn ziehend und mit den kleinen stechenden Augen zwinkernd, „ich muß noch ein wenig so mitmachen, ich habe meine Zahl nicht voll!“

„Deine Zahl? Was ist Deine Zahl?“

„Ich muß ihrer siebenzig haben … für jeden zehn … das habe ich gelobt bei der Mutter Gottes von Oetting … sieben Ochsen haben sie mir verbrannt – lebendig im Stadel – das arme unschuldige Vieh – und fett dabei, schwer fett – hab’ eine Brauerei in Teining … der Gaishofstoffel nennen’s mich da … und das Mensch, die Stallmagd, ist auch hin worden bei der Gelegenheit. Da hab’ ich ein Gelübd’ gethan zur Mutter Gottes von Altötting – für jeden Ochsen zehn … zehn, die dran glauben müssen!“

Die Bauern lachten auf.

„Bist ein Kerl, ein wüßter,“ sagte der Waldmeister; „der richtige Franzosenjäger! … Na, komm’ nur mit – und vorwärts, Ihr Leute, ich seh’ den Jörg von der Bergegge herlaufen und winken – richtig, man hört’s schon stoßen und rumpeln – das müssen Kanonen sein – haltet nur brav auf die Pferde, Leute, nur immer auf die Pferde.“ …

Die ganze Schaar eilte zu Hauf und unter dem Laubdach der Bäume der Bergegge, welche die Straße beherrschte, zu. Der „Franzosenjäger“ ihnen nach; es wurde jetzt erst sichtbar, daß er hinkte, daß eins seiner Beine kürzer als das andere, aber seine Bewegungen waren trotz seiner Stärke auffallend behende – auch war er bald an der Spitze der Schaar, trotzdem daß er, wie er sagte, so viele Tage hindurch schon dem abziehenden Heere gefolgt war wie ein böser Wolf dem Leichengeruch.

Eine andere, für das rückziehende Heer verhängnißvolle Stelle lag weiter westwärts, da, wo der Verhau, von dem wir Wilderich reden hörten, angebracht worden – ein Verhau, zehnmal erstürmt und auseinander geschleudert, und dann jedesmal hurtig wieder hergestellt, sobald den Vertheidigern desselben die Muße dazu geblieben. Darüber war es Nachmittag geworden; eben hatte sich wieder ein hitziges Gefecht zwischen einer Infanterie-Colonne und den den Verhau vertheidigenden Bauern und Forstleuten entsponnen, als sich ihm eine Schwadron französischer Chasseurs näherte, die, wie von den Folgen der allgemeinen Auflösung unberührt, sich in straffer Ordnung zusammenhielt. In ihrer Mitte ritt ein General, über dessen dunkle, schweiß- und staubbedeckte Züge der Zorn der Niederlage und die Empörung über diese wilden Angriffe verachteten Landvolks einen erschreckenden Ausdruck von Grimm und Wildheit gelegt hatten. Er mochte [468] kaum vierzig Jahre zählen, aber sein Gesicht war stark durchfurcht, die schmalen, blitzenden Augen lagen tief eingesunken und das glatt und schlicht an seinen Schläfen anliegende lange schwarze Haar ließ dies ursprüglich edel geschnittene Gesicht noch schmaler, gelber und magerer erscheinen.

In seinem Gefolge ritten ein paar Officiere und – überraschender Anblick in dieser wilden Kampfscene – zwei Frauen.

Mit der Truppe, welche ihn umgab, war er rasch herangetrabt. Die vordersten seiner Reiter sorgten dafür, daß das marschirende Kriegsvolk ihm Platz machte.

Aber wenn er bisher von den einzelnen Kampfscenen, durch die er gekommen, sich nicht aufhalten lassen, so war es hier ein Anderes. Die Straße war gründlich versperrt, und für die nächste Zeit schienen die Vertheidiger des Verhaues durchaus nicht geneigt, den Kugeln, die hageldicht in ihre aufgeschichteten Baumstämme schlugen, weichen zu wollen; zwischen den Ritzen und Zwischenräumen dieser Baumstämme durch, über den Rand der Barricade zischte Kugel auf Kugel zurück, die wohlgezielt jedesmal ihren Mann trafen. Dazu schmetterten die Hörner ihre Signale, wirbelten die Trommeln und schrieen und tobten die Officiere, und über dem ganzen wüsten Schauspiel schwankten und wogten die Wolken von Pulverdampf.

Der General nahm den hohen Hut mit dem dreifarbigen Federbusche, der seine Würde bezeichnete, ab, wischte sich mit seinem Tuch die Stirn und sagte zu seiner Begleiterin gewendet, zu der großen blassen, mit entsetzten Blicken in das Getümmel schauenden Frau:

„Wir sind da in des Teufels Küche gerathen! Hier hilft kein frisches Vorwärts und kein unbekümmertes Weiterreiten trotz aller Rauferei zu unserer Rechten und Linken mehr! Verflucht, daß auch keine Artillerie zur Hand ist! Soll ich hier warten, bis man uns Platz geschafft hat? Habe ich Zeit zu warten? Verdammte Lage …“

„Sollte denn gar kein Weg in der Nähe sein, der rechts oder links abführte …“ fiel die Frau mit bleicher Lippe ein.

„Ich habe vorhin zur rechten Hand eine Schlucht bemerkt,“ sagte ein kleines und wie es schien vor Furcht zitterndes weibliches Wesen, das hinter der Dame ängstlich mit beiden Händen sich auf ihrem Pferde festhielt – es war gut, daß einer der Chasseurs dicht neben ihr das Pferd am Zügel führte, sie selbst würde schwerlich damit fertig geworden sein, das durch den Kampf und den Lärm aufgeregte Thier zu führen und zu halten.

„Wo ist diese Schlucht?“ fragte der General.

„Hinter uns, einige hundert Schritte zurück – ein Weg führt hinein!“ antwortete einer der Officiere, den die Binde als seinen Adjutanten bezeichnete.

„Wohl denn, so retten wir uns in die Schlucht, bringen wir Sie da in Sicherheit!“ sagte der General zu der Dame gewendet und warf sein Pferd herum.

Das ganze Geschwader machte Kehrt, schaffte sich Bahn wie früher durch die nachdringenden Massen und schwenkte nach wenigen Minuten links in die Schlucht hinein, in welcher es zu der Mühle und Wilderich’s Forsthaus hinaufging.

„Wird denn dieser Weg nicht irgendwo hinführen, von wo aus man diese Barricade umgehen und so weiter kommen könnte?“ rief hier der General aus – „Dubois, geben Sie doch die Karte her!“

Der Adjutant zog eine Karte aus seiner Sattelholfter hervor und reichte sie dem Vorgesetzten.

Der General schlug sie auseinander und suchte im langsamen Weiterreiten sich darauf zu orientiren.

„Dies hier muß die Schlucht, in der wir uns befinden, sein – der Weg läuft auf einen Hof Goschen … Goschenwald … aus und schwenkt dann links … links zwischen Bergen durch … ah, vortrefflich, er schlängelt sich mit der Heerstraße parallel, um sie eine oder zwei Stunden weiter westlich wieder zu erreichen … eine dünne Linie – ein Fußpfad am Ende nur, aber enfin, es ist doch ein Weg – es muß da auch durchzukommen sein; eh bien, wagen wir’s, vorwärts, vorwärts!“

Er reichte die Karte dem Adjutanten zurück. Dabei streifte sein Blick das Antlitz der Dame, deren Augen gespannt auf ihn gerichtet waren.

„Arme Marcelline,“ rief er dabei – „aber ich kann Sie dem nicht aussetzen … Sie können nicht mehr! Zum Teufel, wer hätte auch gedacht, daß wir in eine solche Cochonnerie gerathen würden! – Es wird Zeit, daß Sie Ruhe finden, meine Theure, daß Sie einige Stunden der Erholung bekommen.“

„Freilich, es ist schrecklich, dies Alles!“ versetzte die Frau mit einem von der Aufregung, worin sie sich befand, gedämpften und heiser gewordenen Organ – „es ist gar zu schrecklich –“

„Sie sollen in diesem Goschenwald, oder wie es heißt, die Nacht bleiben,“ fiel der General ein.

„Bleiben, zurückbleiben ohne Sie, Duvignot, in diesem Getümmel … was muthen Sie mir zu?!“

„Beruhigen Sie sich, Marcelline – wir werden ja sehen, wie dies Goschenwald aussieht; verspricht es Ihnen nur irgendwie eine Stelle, wo Sie die Nacht hindurch ruhig Ihr Haupt hinlegen können, so werden Sie da bleiben, ich lasse Ihnen den größten Theil meiner Escorte zum Schutze – mit dem andern eile ich durch die Berge weiter – ich darf nicht rasten, Jourdan zählt darauf, daß ich noch in dieser Nacht in Frankfurt ankomme – ich muß es wenigstens morgen vor Sonnenaufgang erreichen. Gesetzt auch, wir fänden die besten Wege, wie würden Sie einen solchen Ritt aushalten können?“

„O mein Gott, wär’ ich doch nie mit Ihnen gegangen – wär’ ich nie aus Würzburg gewichen …“

„Gewiß, gewiß,“ fiel der General Duvignot ein, „es wäre besser gewesen … aber wer zum Teufel konnte erwarten, auf solche Hindernisse hier zu stoßen? Als mir Jourdan den Befehl gab, mich eiligst nach Frankfurt zu begeben, um dort das Commando zu übernehmen – was schien da einfacher und selbstverständlicher, als daß Sie sich mir und meiner Escorte anschlössen, um aus dem Chaos in Würzburg heimzukommen nach Frankfurt, das man uns hoffentlich sobald nicht entreißen wird!“

„Wie war es möglich, daß man im Hauptquartiere so gar nichts von dem, was sich in diesen Bergen vorbereitete, ahnte?“

„Mein Gott, wie war es möglich! Wir sind in Feindesland! Unsere Spione waren Esel – oder haben uns betrogen! Auch haben wir verdammt wenig daran gedacht, daß wir geschlagen werden könnten, und uns wenig gekümmert um das, was hinter uns vorging – die Augen auf den Feind gerichtet, der vor uns stand!“

„Ihr habt Euren Feind verachtet!“

„Wir hatten ihn so oft geschlagen!“

„Nicht immer …“

„Ah bah, fast immer. Und wenn Bonaparte, dieser junge Teufel, ihn von Süden, Moreau, dieser alte Löwe, ihn von Westen, und wir, die wir uns alle für wahre Teufel hielten, und in Jourdan einen alten Löwen an der Spitze hatten, ihn von Norden packten – wie konnten wir etwas anderes erwarten, als ihm über den Leib zu marschiren bis nach Wien!“

(Fortsetzung folgt.)




Erklärung des Zündnadelgewehrs.
Von Prof. W. Camphausen.

Bei meiner ersten Morgenpromenade durch die Umgebungen Flensburgs im denkwürdigen Aprilmond des Jahres 1864 sah ich vor der Thür eines Kruges am Norderthor eine höchst charakteristische Gruppe, der die beistehende Illustration ihr Entstehen verdankt.

Unter den dort ein- und auseilenden bestaubten und sonnengebräunten Kriegsleuten, von denen zahlreiche Trupps als Ersatzmannschaften hinaus unter die Donner vor Düppel zu ziehen bestimmt waren, war ein kleiner kurzbeiniger fünfunddreißiger Füsilier, die auf irgend einem Hühnerhof aufgelesene Pfauenfeder stolz an den Helm gesteckt, eben dabei, mit dem echten redefixen Pathos des „richtigen Berliner Jungen“ einigen Oesterreichern sein niefehlendes ferntreffendes unübertreffliches Zündnadelgewehr zu produciren: ein paar rasche Griffe, ein Klaps „un fertig, det

[469] is det Janze, zehn Mal Feuer mit Zielen uf de Minute, pah!“ Es war köstlich, zu beobachten, mit welch verschiedener Auffassung die umstehenden Kaiserlichen seinem Vortrage folgten; hier der auf seine Bärenkraft im einzig anständigen Bajonnetkampf vertrauende Gratzer Sergeant vom Regiment Belgien mit verächtlichem Gleichmuth; ihm secundirend der Oberjäger vom achtzehnten Bataillon: „Loß ihm nur gehn mit seinem Krikelkrakel; gegen unsern Stutzen kommt er halt doch nimmer auf!“ Daneben wieder die braunen Söhne der Ungar-Pußta von Coronini-Infanterie, denen das Ding doch wohl schon etwas einleuchtender schien, etc.

Vortrag über das Zündnadelgewehr.
Nach der Natur aufgenommen von Prof. W. Camphausen.

Wenige Stunden darauf zeigte ich, auf Befragen, ob ich schon etwas für mein Skizzenbuch gefunden, unserm Kronprinzen zu dessen großem Ergötzen die mit einigen flüchtigen Strichen hingeworfene Gruppe, die denn nun auch wenigstens den Vorzug hat, daß sie nicht erfunden, vielmehr ohne alle Zuthaten der Wirklichkeit entnommen ist.

Damals ahnte freilich Keiner von uns, daß, wie der Feldzug gegen Dänemark nur das Vorspiel zu dem gewaltigen Drama des Jahres 1866 war, auch diese kleine Episode, die die erste Bekanntschaft Oesterreichs mit der preußischen Zündnadel so launig charakterisirte, so bedeutsam in Bezug auf den größeren Maßstab der nahenden Zukunft werden sollte. Ein wie viel überzeugenderes argumentum ad hominem für die furchtbare Waffe haben die ungläubigen, braven, aber schlechtberathenen Völker des sieg- und ehrenreichen Oesterreichs auf den blutgetränkten böhmischen Feldern an sich selbst erfahren müssen![2]



[470]
Die romantische Zeit des deutschen Pionierthums.

Im Jahre des deutschen Kriegs, in welchem das Schicksal des Vaterlandes den Strom der Auswanderung so zum Anschwellen gebracht hatte, daß das nordamerikanische Einwanderungs-Bülletin mit Zahlen wie: „Zehntausend in einer Woche, Viertausend an einem Tage, Tausend mit einem Schiff, Hundertundfünfzigtausend zur Uebersiedelung angemeldet!“ triumphirte, theilten wir unseren Lesern die Lebensbilder einiger der hervorragendsten „Pioniere des Deutschthums im fernen Westen“ mit. Die geschilderten Männer waren von früheren Erschütterungen Deutschlands über den Ocean geschleudert worden; die zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre mit ihren Demagogen-, Burschenschafter- und Volksvertreter-Verfolgungen sammelten dort viele ihrer Opfer, und man sah sie, je ein Menschenalter später, theils durch Kampf und Glück erhoben, theils in Elend versunken und verkommen. Der deutsche Pioniergeist selbst hat aber gewaltige Fortschritte gemacht, im Bürgerkrieg bestand er die Feuertaufe, und jetzt steht er so heimathfest auf dem neuen Boden, daß er schon seine eigene Geschichte der Erforschung und Aufbewahrung für werth hält.

Diese Aufgabe stellen sich soeben deutsche Pionier-Vereine. Der von Cincinnati in Ohio hat sogar eine besondre Monatsschrift begründet, welche den Titel „Der deutsche Pionier“ führt und so Treffliches leistet, daß wir unsere Leser mit dieser neuen deutschen Culturpflanze über’m Ocean näher bekannt machen müssen.

Vor Allem müssen wir freudig verkünden, daß die deutsche Lyrik drüben einen frischen, sie neubelebenden Boden gefunden hat. Davon zeugt ein „den deutschen Pionieren Cincinnati’s“ geweidetes Lied von Kara Giorg, dessen Eingang lautet:

Die Ihr gekämpft, die Ihr gerungen
Mit offnem Kopf und rauher Hand,
Bis Ihr Euch eine Bahn erzwungen
Als Siedler in dem neuen Land!

Die Ihr den Hinterwald betratet,
Als kaum ein Pfad das Ziel gezeigt,
Um Milch und Brod den Farmer batet,
Das er für Euern Dank gereicht;

Ihr drücktet auf des Landes Sitte
Auch Euern Geistes eine Spur,
Und Jeder war aus Eurer Mitte
Ein Pionier auch der Cultur!

Den breitesten Raum der geschichtlichen Darstellungen nimmt die Vergangenheit Cincinnati’s ein, das uns auch in einer lithographirten Abbildung in dem Zustande gezeigt wird, in welchem man es 1802 zur „Town“ (Stadt) erhob. Es ist ein fast rührender Anblick, diese bescheidene Kindheit einer Stadt, welche nach vierzig Jahren als „Königin des Westens“ den sechsten Rang von allen Städten der Union behauptete und jetzt als eine der größten, schönsten und wichtigsten der Erde anerkannt ist. Aus noch lange nicht hundert meist hölzernen Häusern, einer hölzernen Kirche und einem hölzernen Fort (Washington) bestand damals die ganze „Town“, und die lieblichen Laubwaldhügel blickten auf die weite leere Ebene herab, auf welcher nun „die grüne Stadt des Westens“ – wie sie republikanischer genannt wird – ihre riesenhafte Thätigkeit und ihre Pracht entfaltet.

Und daß gerades diese Stätte der Schauplatz so außerordentlichen Gedeihens ward, daran ist nur die Liebe schuld! So wirft selbst Über diese Speculations-Residenz der westlichen Contobücher die Romantik ihren Schleier von veilchenblauer Seide. Das ging so zu.

Der gesammte Landstrich zwischen den beiden Miami-Flüssen und dem Ohio-Strom, jetzt Hamilton-County mit der Hauptstadt Cincinnati, war bis 1788 das Besitzthum eines gewissen John Cleves Symmes, der schon nach damaliger Landessitte seines Zeichens nach einander Lehrer, Landvermesser, Soldat, Advocat, Politiker und Oberrichter in New-Jersey gewesen war. Derselbe theilte dieses Gebiet von der Größe des Königreichs Würtemberg sammt beiden ehemaligen Hohenzollern zum Verkaufe in Sektionen, gab den Acker für etwa anderthalb Gulden rheinisch (25¾ Silbergroschen) und zog so die ersten Ansiedler nach dem „neuen Ankaufe“, wie man das Land anfangs nannte.

Drei Männer, Matthias Denman, ein Oberst Robert Patterson und ein Schulmeister aus der Wildniß Kentuckys, John Filson, wurden die Herren vom jetzigen Gebiete der Stadt Cincinnati und die Gründer derselben. Der Schulmeister erhielt den Auftrag für den Namen der neuen Stadt zu sorgen, während der Oberst mit Hülfe eines Landmessers Hudlow die Straßen und Plätze absteckte. Das war keine Kleinigkeit, denn den ganzen Raum bedeckten die schönsten Urwaldungen von Buchen, Sykomoren, Eichen und Ulmen. Man klärte also vor der Hand nur die nöthigen Straßen, legte diese somit im Wald aus und bezeichnete die zukünftigen Eckhäuser durch drei Kerben an den dortstehenden Bäumen. Die ersten Blockhütten standen am jetzigen Landungsplatz, und sie waren es, die zunächst der Schulmeister mit dem neuen Stadt-Namen beehrte. Weil der gegenüber mündende Fluß Licking, die Mündung auf lateinisch os, „gegenüber“ auf griechisch anti und die Stadt auf französisch ville heißt, so nannte er die neue Gründung Losantiville, und wirklich hielt sich dieser Name fast ein ganzes Jahr.

Nur die junge Stadt selbst wollte nicht gedeihen. Bei den ernsten Gefahren, welche durch die Indianer jeder neuen Ansiedelung drohten, wurde für sie ein Fort mit einer Besatzung zur Lebensfrage. Nun hatte aber Symmes es so zu wenden gewußt, daß die Truppenabtheilung, welche der General Harmar in Marietta zum Schutz der neuen Niederlassung abgesandt, an ihr vorbeifuhr, zu North Bend landete und alle neuen Ankömmlinge dorthin zog. Losantiville stand verödet. – Da geschah es, daß der Officier, welcher die dortigen Truppen befehligte, auf einem Streifzug in der Nachbarschaft von North Bend ein weibliches Wesen sah, dessen Augen für ihn die Kraft jener Feuersäule äußerten, welcher die Kinder Israel durch die Wüste folgen mußten. Die bezaubernde Erscheinung war aber eine verheirathete Frau und der Gatte derselben ein vorsichtiger Mann, welcher den bedrohten Frieden seines Hauses dadurch zu wahren suchte, daß er nach Losantiville übersiedelte. Von diesem Augenblick an stand in dem Officier die Ueberzeugung fest, daß „die Bend“ sich für einen militärischen Posten durchaus nicht eigene; trotz aller Bitten des Oberrichters Symmes brachen die Truppen ebenfalls nach Losantiville auf, dort wurde sofort das Fort Washington gebaut, welches gegen Ende December 1789 General Harmar selbst mit dreihundert Mann besetzte, und wenige Tage später kam auch der Gouverneur Arthur St. Clair an, um den neuen „Bezirk“ (County) zu organisiren. Ihm zu Ehren, weil er zu jenen Officieren der Befreiungskriege gehörte, welche, dem Römer Cincinnatus gleich, nach vollendetem Kampf für Freiheit und Vaterland an ihren Heerd zurückzukehren bereit waren und dazu sich zu der Gesellschaft des Cincinnatusordens verbunden hatten, erhielt, die Stadt den Namen Cincinnati.

Wenn wir nun auch nicht wissen, was aus der Herzensflamme des verliebten Kriegers geworden, so steht doch das Eine fest, daß die glückliche Königin des Westens dieser Liebe ihr Leben verdankt.

Nicht weniger denkwürdig und für die haß- und neidschielenden Augen der Know-Nothings (derjenigen Eingeborenen, Natives, welche von den fremden Einwanderern nichts wissen wollen) nur allzuromantisch erscheint die Thatsache, daß der erste Mayor von Cincinnati ein Deutscher war. David Ziegler hieß der tapfere Heidelberger, welchen die Lust am Waffenhandwerk erst unter die Fahnen der russischen Katharina in die Krim, die erste Nachricht vom Ausbruch des Freiheitskampfes in Nordamerika aber über den Ocean getrieben. Bekanntlich eilte damals in das Lager des großen Washington auch einer der begabtesten Stabsofficiere des alten Fritz, sein ehemaliger Flügeladjutant Friedrich Wilhelm von Steuben, der durch sein „System der Kriegsdisciplin“ auch als Militärschriftsteller glänzt. Diesem schloß Ziegler sich am engsten an, er ward der vortrefflichste Exercirmeister nach der Steuben’schen Schule, hielt auf strenge Mannszucht und wurde deshalb viel als Recrutirungsofficier verwendet. Aber auch im Felde bewies er seine Tüchtigkeit. Ihm allein verdankte das große Muskingumland die Rettung vor den Verheerungszügen der Indianer, auf den Commandanten von Fort Harmar blickte die gesammte Bevölkerung als auf ihren zuverlässigsten Beschützer, und unter diesen Blicken waren auch die eines reizenden Fräuleins, Lucy Anna Sheffield, die allein den deutschen Helden besiegte. Mitten im Waffenlärm führte er seine Schöne zum Traualtar, aber kurz war die Hochzeitsfreude. Um dieselbe Zeit hatte St. Clair [471] im Kampf gegen die Indianer eine so schreckliche Niederlage erlitten, daß von seinen vierzehnhundert Mann und achtzig Officieren neunhundertfünfundfünfzig todt oder verwundet lagen und ganz Hamilton-County der Rache der Rothhäute offen stand. Da war wieder der deutsche David Ziegler der Retter; als Commandant des Forts Washington stellte abermals er allein Muth und Vertrauen in der Bürgerschaft Cincinnatis wieder her.

Desto unwürdiger betrugen sich die einheimischen Officiere. Der Natives-Neid, unter welchem vom ersten Befreiungskriege an bis zum letzten Bürgerkriege stets die durch ihre Kriegstüchtigkeit am meisten hervorragenden Deutschen auch am meisten zu leiden hatten, arbeitete mit geheimen und gemeinen Verleumdungen gegen Ziegler so lange, bis diesen das häßliche Treiben anekelte und er nicht bloß sein Commando von Fort Washington freiwillig niederlegte, sondern ganz aus der Armee austrat.

Gerade diese Mißhandlung ihres Lieblings bestimmte aber die dankbaren Männer von Cincinnati, sobald 1802 ihre Ansiedelung zur „Town“ erhoben war, David Ziegler zu ihrem ersten Mayor oder Präsidenten zu wählen. So steht an der Spitze der Geschichte von Cincinnati und wenn alle Natives sich darüber auf den Kopf stellen und in den Gräbern umdrehen – unverlöschbar ein Deutscher.

Als Bürger betrieb Ziegler eine Specereihandlung: der alte Haudegen sollte Düten abwiegen und „Geld machen“! Das Eine gefiel ihm so wenig wie das Andere, und nach wenigen Jahren gab er Beides auf. Seine öffentliche Anzeige darüber kennzeichnet trefflich den Mann; sie lautete:

„David Ziegler zeigt hiermit an, daß er seinen Vorrath von Waaren verkaufen und seinen Laden an einen tüchtigen Kerl vermiethen will, der dann so viel Geld machen kann wie möglich. Der hauptsächlichste Grund, warum ich mein Geschäft aufgebe, liegt in der Seltenheit des Geldes und der Verschämtheit, welche die Leute gegen das Bezahlen ihrer Schulden hegen. Denen, die mich nicht heimsuchten, um Waaren auf Pump zu nehmen, sage ich meinen Dank; den Delinquenten in meinem Schuldbuch wird der Squire bald seine Complimente abstatten.“

Später bekleidete Ziegler das städtische Amt eines Hafen-Collectors von Cincinnati und das Staatsamt eines General-Adjutanten der Miliz von Ohio, und als er in diesen Würden 1811, dreiundsechszig Jahre alt, starb, war sein Leichenbegängniß ein so großartiges, wie es der Mann verdiente, welcher zwölf Jahre lang auf manchem Schlachtfeld gekämpft und sein Blut für die Sache der Freiheit vergossen hatte.

Der originellsten deutschen Erscheinung, und einer schauerlich romantischen, begegnen wir in Ludwig Wetzel, dem „Indianerjäger“. In jener Zeit des erbittertsten Kampfes zwischen Ansiedlern und Röthhäuten konnte wohl ein Mensch zu dem Entschluß kommen, die Vertilgung von so viel Indianern, als ihm möglich, zu seinem furchtbaren Lebensberuf zu machen. So begann denn seine „Jagd auf Indianer“, die ihn in kurzer Zeit zum Abgott der Ansiedler erhob und zum Teufel der Rothhäute. Fortwährend in Wald und Feld und Gefahr lebend, würde er nicht bloß von seinem hie und da auch ihn hetzenden Jagdwild, sondern selbst von der Regierung als Feind behandelt, weil er in seinem Jagdeifer sich um keinen Friedensvertrag kümmerte, den diese mit den Indianern abgeschlossen hatte. Als General Harmar nach Fort Washington kam, war sein erster Erlaß eine Proclamation mit obligatem Steckbrief, welche eine ansehnliche Belohnung für die Einlieferung des Indianerjägers versprach. Kurz vorher aus Fort Harmar entsprungen, wurde er auf einer nahen Insel des Muskingum wieder erwischt und nun in ein finstres Loch an Ketten gelegt. Endlich gestattete ihm der General, auf sein dringendes Bitten, einen Spaziergang unter Bedeckung am Ufer des Flusses. Kaum im Freien, geberdete sich Wetzel wie ein wildes Füllen, das aus dem Stall gebrochen ist. Erst lief er einige Schritte weit, als wolle er entfliehen, kehrte jedoch schnell zur Wache zurück. Nachdem er dies mehrmals wiederholt und jedesmal eine größere Strecke zurückgelegt hatte, kehrte er nicht wieder, sondern verschwand im Dickicht des nahen Waldes, ehe die Mannschaft mit ihrem Staunen fertig war.

Wiederum eingefangen, saß er in Fort Washington, als eben die Kunde von der Erstürmung der Bastille in Paris bis in diese Urwälder drang. Sofort erkannten es die Ansiedler für ihre Pflicht, ein ähnliches Beispiel zu statuiren: von allen Seiten zogen sie heran, um zur Befreiung ihres Ludwig Wetzel Fort Washington zu stürmen. Der Schrecken wirkte; um Blutvergießen zu vermeiden, setzte man ihn gegen Bürgschaft in Freiheit.

Wetzel zog nun, um aus dem Bereich des ihm verhaßten Generals Harmar zu kommen, nach dem spanischen Gebiete und machte sich auch in Natchez durch den Schrecken, welchen er den Indianern einflößte, bald zum Liebling aller Ansiedler. Da fiel er scheußlicher Tücke zum Opfer. Er, der weder lesen noch schreiben konnte und auf das Geld keinen Werth legte, wurde der Falschmünzerei angeklagt, zu lebenslänglicher Haft verurtheilt und in einen feuchten Kerker in New-Orleans geworfen. Erst nach fünfthalb Jahren gelang seine Befreiung mit Einverständniß des Königl. Gouverneurs und durch folgende List. Wetzel mußte plötzlich erkranken und sterben. Sein Körper wurde in einen Sarg gelegt und seinen Freunden zur Beerdigung übergeben, die ihn feierlich in einer offenen Gruft bestatteten. Am Abend sprang Wetzel aus dem Sarg in die Gruft und aus dieser in die Freiheit. Er lebte nun in Louisiana, bis dies von der Union in Besitz genommen wurde; dann zog nach Texas, wo er – von der langen schweren Haft denn doch gebrochen – bald darauf starb. An den Ufern des Brazos in der Wildniß des rauschenden Waldes ruht die Asche des kühnen deutschen Indianerjägers.

Ueberrascht hat mich „Der deutsche Pionier“ durch die Ueberschrift: „Sagen-Geschichte einer deutschen Auswanderungs-Gesellschaft.“ Was schildert er darin? Die Auswanderungen der dreißiger Jahre, als „der Duden (ein in Missouri lebender Amerikaner) den Leuten die Köpfe verrückte“ durch die Jagd-Romantik, mit welcher er den Westen Nordamerikas ausschmückte. Damals sah man viele Auswanderer in nagelneuem Jägercostüm und mit der Doppelbüchse auf der Schulter zu Schiffe steigen, als sollte die hohe Jagd drüben gleich an der Küste losgehen. Gleich darauf erließ der Hofgerichts-Advocat und Rechtsanwalt Paul Follenius zu Gießen seinen berühmten Aufruf zur Gründung einer neuen deutschen Heimath in Amerika, in Folge dessen schon 1834 die ersten Schiffe mit organisirten Auswanderungsgesellschaften von Bremen ausliefen. Wir kommen auf diesen interessanten Gegenstand wohl später einmal zurück. Jene ersten Schiffe wecken aber persönliche Erinnerungen in mir, die mit jenem Pionierleben drüben eng zusammenhängen.

Also „Sagen-Geschichte“ ist bereits die Auswanderung der dreißiger Jahre! Und wahrlich, mir schwebt das Alles vor, wie eine Sage, die aber tief im Herzen sitzt. Zu jenen Auswanderern von 1834 gehörte auch ein starker Zug aus Coburg; selbst eine Anzahl Gymnasiasten hatten sich ihm angeschlossen. Unter letztern waren einige meiner liebsten Freunde. Es stand fest, daß ich nachkommen solle, sobald ich die Ueberfahrtskosten erschwungen hätte. Schon im nächsten Winter erhielt ich als Student in Jena die briefliche Nachricht, daß die Eltern meines Freundes K. aus C. auf dessen Bitten neben ihrer Farm für mich elf Acker Land gekauft und auf meinen Namen hätten eintragen lassen. Elf Acker Land und lauter Urwald! Das Gefühl dieses Besitzes war zu prächtig. Ich hatte just keinen Stecken Holz, um den Ofen meines Stübchens zu erwärmen, aber drüben ragten meine Bäume zu Hunderten im Urwald empor! Ein toller Trost – und doch erwärmte er das glückliche Studentenblut. – Aus Ueberfahrtskosten und Auswanderung ward jedoch nichts, – ich „blieb im Lande und nährte mich redlich.“ Von den ausgewanderten Gymnasiasten lebt nur noch einer.

Daß ich meine elf Acker Urwald im Stiche ließ, bringt mich nun um die Ehre, Mitglied des deutschen Pioniervereins von Cincinnati zu werden, denn der betreffende Constitutionsparagraph läßt nur „eingewanderte Deutsche, welche fünfundzwanzig Jahre in Cincinnati oder Umgegend gewohnt“, zu. Das aber konnte man mir nicht verwehren, zur Feier jener seligen Sagenzeit meiner Jugend und als ehemaliger Urwaldbesitzer das Jahresfest des Vereins am 26. Mai 1869 im Geiste recht freudig mit zu begehen!

Friedr. Hofmann.



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Der erste Freiwillige

Wer erinnert sich nicht noch der großen Festtage von 1863, an denen in Leipzig, dem Orte der Völkerschlacht, die Selbstherrlichkeit deutscher Nation, die Selbstherrlichkeit, welche uns von den Banden fremden Jochs befreit hat und uns die große entscheidende Stellung in der Reihe der Völker wiedergeben wird, gefeiert und dort auf der Anhöhe bei Stötteritz der Grundstein zum Nationaldenkmal (?) gelegt wurde? Es galt „dem Erwachen des deutschen Volkes in seinem nationalen Bewußtsein und Allen denen, welche dafür gekämpft, gelitten und geblutet haben, es galt „dem treuen Ausharren in der begonnenen Arbeit für die großen Endziele deutscher Nation“, es galt „dem endlichen Siege des deutschen Volks im Ringen nach nationaler Macht und Größe, Einheit und Freiheit des heißgeliebten deutschen Vaterlandes.“

In diesem Sinne erfolgte unter begeistertem Jubel die Grundsteinlegung und in diesem Sinne that nach dem Bürgermeister Dr. Koch, dem greisen General v. Pfuel und einem österreichischen Officier ein bejahrter, schlichter Mann mit freundlich-ernstem Blick den weihenden Hammerschlag. Wer war der ältliche Herr, dem man dies Ehrenamt übertragen hatte, der überall, in allen Kreisen, wohin er sich nur wandte, der Gegenstand freudigster Begrüßungen, jubelnder Zurufe wurde? Von Munde zu Munde ging es, und Presse und Telegraph trugen es hinaus über Berg und Thal bis an das Meer und über das Meer: es war der erste Freiwillige vom Jahre 1813!

Nur fünf Jahre sind seitdem verflossen, und der gefeierte alte Herr ist nicht mehr und sollte nimmer das Denkmal schauen, zu dem er den Grundstein mitgelegt. Am Osterfest haben sie ihn selbst in die kühle Gruft gelegt. Am deutschen Volk ist es aber, seiner dankend und ehrend zu gedenken.

Am 16. April 1793 wurde dem Auditeur im Regiment des Kronprinzen, nachherigen Königs Friedrich Wilhelm des Dritten, Heidemann in Potsdam ein Knabe geboren, der nach seinem königlichen Pathen die Vornamen Friedrich Wilhelm erhielt. Der Vater zog nach Königsberg in Preußen, um eine Professur zu bekleiden und später als Oberbürgermeister an die Spitze der städtischen Verwaltung zu treten. Der Sohn folgte ihm dahin und studirte dort vom April 1810 an Rechts- und Cameralwissenschaft. Von seinem Vater, dem deutschen Patrioten, in Begeisterung für alles Große und Edle und vor Allem für des Vaterlandes Ehre und Freiheit erzogen, sehnte Friedrich Wilhelm Heidemann in jugendlicher, feuriger Ungeduld den Tag herbei, wo es gelingen sollte, die schmähliche Gewaltherrschaft der Franzosen und ihres Kaisers endlich zu brechen. Noch schien die Möglichkeit dazu fern zu liegen, allmächtig gebot der Mann von Corsica, Deutschland war zerrissen, Preußen insbesondere gedemüthigt, und unabsehbare Heeresmassen wälzten sich nach Rußland, um die Weltherrschaft Bonaparte’s zu vervollständigen. Da kam von fern her die kaum glaubliche Kunde von dem Brande Moskau’s, von dem Rückzug der großen Armee, von den entsetzlichen Leiden derselben auf den Eisfeldern Rußlands.

Der Weg von Moskau nach der deutschen Grenze wurde zur gräßlichsten Leichenstraße und der General v. York schloß gegen die fliehenden, verhaßten Unterdrücker des Vaterlandes in der Poszerunschen Mühle bei Tauroggen mit General v. Diebitsch jene Convention ab, welche das Signal zum Volkskriege gegen Napoleon werden sollte.

Nach den geheimen Mitteilungen, welche er schon bei Beginn des französisch-russischen Krieges von Hardenberg aus dem Cabinet erhalten hatte, mußte er sich in Uebereinstimmung mit den Intentionen der preußischen Regierung glauben, und in dieser Ueberzeugung, wie aus hochherziger deutscher Gesinnung, ging er, im Verein mit Freiherrn v. Stein, der die Versammlung der National-Repräsentanten in Königsberg berief, auf der betretenen patriotischen Bahn weiter. Er hatte sich in König Friedrich Wilhelm geirrt. Der „loyale, gute und honette Mann“, wie Napoleon ihn nennt; – der Monarch, der um Alles in der Welt nicht „genirt“, nicht „turbirt“ sein wollte, dem jede „Scene“ peinlich war und der sich in freies, öffentliches Volksleben nimmer zu finden wußte, – er hatte auch jetzt noch nicht die Entschlossenheit, die geheimen Wünsche und Pläne seines Cabinets zur Ausführung zu bringen und für das Vaterland gegen die französische Despotie einzutreten.

In Rücksicht auf den Alliirten Napoleon erklärte er den General v. York wegen der abgeschlossenen Convention seines Commando’s verlustig, sandte Natzmer ab, auf ihn zu fahnden, und forderte ihn zur Verantwortung vor einem Kriegsgericht auf. Mag es Schein, mag es Ernst gewesen sein, – erfolglos blieb es, der Rubikon war überschrittet, der Würfel gefallen. Als General-Gouverneur von Ost- und Westpreußen, als Stellvertreter des Königs und in dessen Namen, wenn auch ganz auf eigene Faust, stellte sich York an die Spitze der auf Stein’s Anforderung nach Königsberg berufenen landständischen Versammlung als der „Repräsentanten der Nation“ und bot allgemeine Volksbewaffnung auf. Gedrängt von dem dadurch erwachten Volksgeist und in Besorgniß für seine eigene Sicherheit ging der König am 22. Januar 1813 nach Breslau und ließ auf Andringen Scharnhorst’s es geschehen, daß von dort und in seinem Namen eine von Hardenberg unterschriebene Proklamation die streitbare Mannschaft des Reichs zur Bildung von Abteilungen freiwilliger Jäger zu Fuß und zu Pferde zum Kampf für das Vaterland aufrief. Er that es nur mit Widerstreben, und ohne den Feind zu nennen, gegen welchen das Volk in die Waffen gerufen wurde, ja, er beeilte sich, durch eine andere, vom 9. Februar datirte und von ihm selbst unterzeichnete Verordnung einen Dämpfer aufzusetzen. Wie der Regent Graf Golz in Berlin, blieb in Breslau der König mit Staatskanzler Hardenberg noch immer Bundesgenosse und Freund der Franzosen und ließ wegen des York’schen Abfalls die demüthigsten Entschuldigungen nach Paris übermitteln. Erst nachdem am 6. Februar die Russen in Warschau eingezogen waren und am 13. Februar Winzingerode die Sachsen bei Kalisch geschlagen hatte, kam Ende Februar auf Stein’s Antrieb das Schutz- und Trutzbündnis zwischen Rußland und Preußen zu Stande, und erst nachdem am 5. März Fürst Repnin an der Spitze seiner Truppen unter dem Jubel des Volkes in Berlin eingezogen war, erging endlich Mitte März die förmliche Kriegserklärung an Frankreich.

So lange hatte sich aber die Regierung in Königsberg, die Regierung York’s und Stein’s, nicht geduldet. Lange schon unzufrieden mit der unentschlossenen, zögernden Politik des Königs, begeistert für die große Sache der Freiheit und des Vaterlandes, riefen sie und die versammelten Stände das Volk zu den Waffen, um König und Vaterland von dem französischen Joch zu befreien. Es wurde die Landwehr errichtet und auf Wunsch von York, obgleich der König damals noch das York’sche Corps von der Berechtigung zur Annahme von Freiwilligen ausschloß, erklärten sich die Stände bereit, außer der Landwehr noch ein National-Reiterregiment von Freiwillige zu bilden. Gemäß diesem Beschluß der Stände vom 7. Februar erließ York am 8. Februar die öffentliche Aufforderung zum Eintritt und weckte die allgemeinste Begeisterung.

Alles dies vollzog sich in Königsberg, unter den Augen des Bürgermeisters Heidemann und seines jugendlichen und jugendlich begeisterten Sohnes. Sie lebten alle jene historisch bedeutsamen Momente mit, in welchen die langgehegten Hoffnungen der Patrioten zur Wirklichkeit, zu energischer That wurden. An der Seite York’s, Dohna’s, Schön’s etc. widmete der Vater als Oberbürgermeister von Königsberg in edlem Eifer der Stiftung der Landwehr die rastlosesten Anstrengungen, die wichtigsten schriftlichen Arbeiten in dieser großen Sache gingen aus seiner Feder hervor, das Königsbergs Landwehrbataillon, das als das erste durch das Grimmaische Thor in Leipzig eindringende Truppencorps sich unsterblichen Ruhm erwarb, war von ihm geschahen, und im Sitzungssaal des Rathhauses zu Königsberg schaut noch jetzt von der Wand das Bild des Oberbürgermeisters Heidemann in der Uniform der Landwehr, mit dem Kreuz auf der Landwehrmütze, herab.

Und sein Sohn war es, der sofort nach der obenerwähnten öffentlichen Aufforderung an einem der Tage vom 9.–12. Februar als der erste deutsche Freiwillige in das ostpreußische National-Cavallerie-Regiment, das erste errichtete Regiment Freiwilliger, eintrat. Der Major von der Cavallerie, Graf Lehndorff, der auf York’s Wunsch die Organisation dieses Corps übernommen und eine öffentliche Aufforderung, diesem Regiment beizutreten erlassen hatte, veröffentlichte in der „Königsberger Hartung’schen Zeitung“, Nr. 24 vom Februar 1813. „Seit der Publikation im vorigen Stück der Königsberger [473] Zeitung, das National-Cavallerie-Regiment betreffend, Sind dem Regiment zu Königsberg an Freiwilligen beritten und völlig equipirt und armirt beigetreten: 1) Studiosus Heidemann, Sohn des Oberbürgermeisters; 2) Studiosus v. Knobloch; 3) Handlungsdiener Mecklenburg; 4) Referendarius Graf v. Kalnein; 5) Studiosus v. Buddenbrock,“ woran sich noch eine längere Liste von Freiwilligen schließt.

Mit Stolz und Wehmuth ließ der Oberbürgermeister seinen Sohn in das Feld ziehen, – ahnte er, daß es ein Abschied auf ewig war? Im Mai 1813 rückte das ostpreußische National-Cavallerie-Regiment aus Königsberg aus, mit ihm in Jugendmuth und vaterländischer Begeisterung Friedrich Wilhelm Heidemann. Als zwanzigjähriger Jüngling verließ er Vaterhaus und zweite Vaterstadt, um sie nie wiederzusehen. Das durch sich selbst entstandene, den Fahnen des York’schen Corps folgende Regiment war vom König noch nicht bestätigt. In mühseligen Märschen, wie sie bei der heutigen Kriegführung kaum mehr möglich, erreichte es Breslau und wurde dem König während des Waffenstillstandes vorgestellt. Er musterte die Uniformen, ließ sich einen Tschako reichen und las darauf verwundert. „Mit Gott für’s Vaterland!“ „An den König gar nicht gedacht,“ bemerkte er ärgerlich in seiner kurzen Weise. Daß sofort der König zwischen Gott und Vaterland gesetzt wurde, bedarf wohl kaum der Erwähnung.

In der Schlacht an der Katzbach, als er ein feindliches Geschütz eroberte, erhielt Heidemann einen Schuß in das Bein und einen Hieb in den Kopf. Man schlug ihn zum eisernen Kreuz vor, aber er sollte mit einem Andern darum loosen was er ebenso edelmüthig als stolz ablehnte. Nach einigen Wochen waren seine Wunden soweit wieder geheilt, daß er an der Leipziger Schlacht teilnehmen konnte. Bisher Zugführer, nun aber in Anerkennung seiner Tüchtigkeit und Tapferkeit zum Officier ernannt, kämpfte Heidemann an der Spitze seiner Schaar den blutigen Tag von Möckern (16. October). Neben ihm fiel sein Rittmeister Keudell und rief ihm noch ein Lebewohl zu. Doch auch ihn selbst sollte schon nach wenigen Minuten das Loos ereilen. Ein Bajottnetstich traf seine rechte Hand, eine Kugel seine Brust: sie würde ihm den Arm mitgenommen haben, wenn er ihn nicht mit dem Säbel über dem Kopfe gehabt hätte. Rücklings auf sein Pferd sinkend und mit diesem stürzend, blieb er, der Schwerverwundete, bis zum Morgen liegen, wo er beim Räumen des Schlachtfeldes aufgefunden, für todt unter dem Pferde hervorgezogen und von dem Schlachtfelde getragen wurde. Fast leblos wurde er nach Halle gebracht, fand dort im Hause des Professors Niemeyer die liebevollste Pflege und erholte sich allmählich von den schweren Strapatzen und Wunden. Um den Genesenden zu zerstreuen, brachte man ihm Lectüre. Mit Interesse sah er die langentbehrten Zeitungen durch und stieß – wer könnte seinen Schrecken schildern? – auf die Anzeige vom Tode seines Vaters! –

Notdürftig geheilt, begab er sich im November desselben Jahres nach Berlin und ward, da sich sein Regiment inzwischen aufgelöst hatte, als Adjutant in der Kurmärkischen Landwehr-Reserve-Cavallerie angestellt. In einem der ersten Monate vom Jahr 1814 verließ er Berlin, um ein Commando nach dem Rhein zu führen, aber auf dem Marsche erkrankte er von Neuem an den nur scheinbar geheilten Wunden und mußte in Weimar zurückbleiben. Als Siegesnachricht auf Siegesnachricht und endlich die Kunde von der Einnahme von Paris einlief, ließ der junge tapfere Invalid sich nirgend sehen. Der Friede wie seine Invalidität ließen ihn dem Soldatenstand Valet sagen. Hätte er seinen Wünschen folgen können, so würde er gern seine akademischen Studien wieder aufgenommen haben, doch das erlaubten ihm seine Verhältnisse nicht. So war es ein glücklicher Zufall, der ihn aus dieser traurigem Lage rettete. Der Weimarische Hof hatte dem jungen Officier in Rücksicht seiner Verdienste und seines Mißgeschicks warme Theilnahme erwiesen, für seine Pflege bei dem Leibarzt Geheimen Hofrath Huschke gesorgt und die Brustwunde durch dem Geheimen Hofrath Stark in Jena operiren lassen.

Nach Weimar kam Friedrich Wilhelm der Dritte und sah dem jungen Invaliden, indem die Großherzogin Louise ihm denselben vorstellte und empfahl. Der König, der sich ohnehin bei Nennung des Namens seines Potsdamer Pathenamtes erinnerte, sicherte ihm für sein tapferes Verhalten eine Civilanstellung zu. Bald nachher wurde denn auch Heidemann Hülfsarbeiter am Berliner Generalpostamt, dann Administrator, endlich Postmeister in Weißensee. Nachdem er vierzig Jahre diesem Berufe treu gelebt und sich überdies durch literarische Arbeiten hervorgethan hatte, zog er nach seiner Pensionirung wieder nach dem ihm lieb gewordenen Weimar und füllte seine Zeit mit verdienstlichen schriftstellerischen Studien aus. So floß dem treuherzigem biedern Alten, der von der Gattin liebevoll gepflegt, von Allen geschätzt und geehrt wurde, der Abend des Lebens friedlich dahin.

Zwei Freudentage erhebendster Art sollten ihm noch beschieden sein. Zunächst die Feier der Leipziger Schlacht, deren wir im Eingang dieses Artikels gedachten, und zu der nur auf dringende Bitten seiner Freunde der bescheidene, schlichte Jubilar sich einfand. Die Anerkennung und Liebe, die ihm dort von allen, allen Seiten so herzlich und warm zu Theil wurde, ward ihm zur edelsten, reinsten Freude und Genugtuung. Und als am 4. Februar 1866 in engem, trautem Kreise von Verwandten und Freunden sein goldenes Ehejubiläum festlich begangen wurde, gingen ihm wieder von nah und fern die rührendsten Beweise liebevoller Verehrung zu. Eine von alten preußischen Officieren ihm überreichte Dose trug sinnig das eiserne Kreuz, welches er in den todesmuthigen Kämpfen an der Katzbach und bei Möckern sich verdient, aber nicht erhalten hatte. Durch eine Staffette im Costüm der Zeit vor fünfzig Jahren überschickten ihm Königsberger Freunde in Anerkennung seiner Verdienste die Ernennung zum General- Postmeister und Telegraphen-Director des einigen Deutschlands, mit der Instruction: „Sie haben neue Posten und Bahnen zu schaffen, zu schnellerer Beförderung echter Liebe und goldener Treue, haben ein Telegraphennetz zu ziehen, auf dem ein Funke von Herz zu Herzen die Begeisterung und Selbstverleugnung Ihrer großen Zeit trägt. Bis zur Vollendung dieses Werks und Sie an Ihren Posten gebunden und haben auf keine Stunde Urlaub zu rechnen.“

Seine in Königsberg lebenden Kampfgenossen aus den Jahren 1813-15 schickten ihm aus der Heimath, „in welcher sich der Name Heidemann einen so herrlichen patriotischen Klang gegründet“, die herzlichsten Glückwünsche zu dem Jubel- und Ehrentage, indem sie es aussprachen, wie sie „in ihm nicht nur den Lands- und Ehrenmann zu achtem, sondern als ersten freiwilligen Jäger in unserm teurem Vaterlande gleichsam den Vorkämpfer für Preußens und Deutschlands Befreiung von einem schmachvollem Drucke und unseliger Knechtschaft zu schätzen haben.“ Wohl rann beim Gedanken an die Heimath und die Jugend- und Kriegscameraden manche Thräne über die Wange des gefeierten Alten, wohl hätte er beide so gern noch einmal gesehen! Erst in diesen Tagen fand sich unter seinen Papieren ein Blatt, auf welchem er sein Heimweh poetisch ausgeströmt hat; er schließt mit den rührenden Worten.

In der Schlachten Gewühl fehlt’ es an keinem der Unsern,
     Doch zu der Heimath Gefild kehrten nicht alle zurück.
Ihr, die zur Heimathflur, der lieblichen, wieder gelanget,
     Bringt meinen Gruß dem Gefild, wo wir als Knaben gespielt.

Ein Wiedersehen seines Königsberg sollte ihm aber leider nicht beschieden sein. Die alten Wundem brachen wieder auf und nach langen, schmerzlichsten Leiden entschlief er am Ostersonntage dieses Jahres, am 28. März.

Es war der März, der Jahrestag der Einnahme von Paris, als sich ein langer ernster Zug auf dem Weimar’schen Friedhofe dahin bewegte; in der Mitte ein mit Blumen bedeckter Sarg und zwischen den Blumen ein Säbel und eine Patronentasche. Freundlich begrüßte goldener Sonnenschein die Waffen, wie er sie einst beim Ausritt aus Königsberg und auf dem blutigen Leipziger Schlachtfeld begrüßt hatte. Auf dem Friedhof, auf welchem auch der deutsche, tapfere Karl August ruht, wurde Heidemann mit militärischem Ehren bestattet, und ihm zur Seite ein Plätzchen vorbehalten für die treue Genossin seines Lebens, für die würdige Greisin , die durch den Tod ihres Gatten in tiefste Trauer versetzt ist.

Auf Königsbergs Friedhof ruht der Vater, und das ihm zu Ehren errichtete Grabdenkmal trägt die ruhmvolle Inschrift: „Den Anstrengungen bei der Stiftung der Landwehr erliegend, starb er für König und Vaterland.“ Fern von ihm, in Weimar, ruht der Sohn, der heldenmütige Jüngling von 1813. Einen Ehrenkranz auf sein Grab! Mag es dem deutschen Vaterland an todesmutigen, opferbereiten Jünglingen wie Heidemann nimmer fehlen, mag er der deutschen Jugend allezeit ein Vorbild patriotischer Gesinnung und männlichem Muthes sein!

R. K.
[474]

Im Opiumhause.

Die Uhr schlug halb elf Uhr Nachts – es war weit draußen im Osten Londons, auf einer entlegenen Polizeistation.

„Es wird Zeit,“ sagte der Constabler, den ich mir zur Begleitung auf meiner Entdeckungsreise in ein von dem Fremden nur selten betretenes und, wie ich hörte, nicht recht geheueres Quartier des modernen Städtewunders erbeten hatte. „Lassen Sie uns jetzt gehen, wir werden die Gesellschaft gerade in vollem Flore antreffen.“

Wir brachen auf. Unser Weg führte durch eine Reihe enger, schmutziger, finsterer Gäßchen, wie sie gleich abschreckend und gaunerhaft nur in London gefunden werden, bis wir einen womöglich noch schwärzeren und unheimlicheren Hof erreichten, den sogenannten New-Court. Dieser New-Court bildet den Mittelpunkt einer wunderlichen Colonie, welche zum größten Theil aus Orientalen der verschiedenstem Nationalitäten besteht, Lascaren, Bengalesen, Hindus, zumeist aber Chinesen, gemischt mit dem widerwärtigsten und gefährlichsten englischen und irischen Pöbel, der sich denken läßt oder den sich vielmehr Niemand gehörig denken kann, wer dergleichen Menschenhefe nicht in London selbst gesehen und kennen gelernt hat. Für dies gesammte Völkerconglomerat, dessen äußere Verschiedenheit indeß ein gemeinschaftlicher Zug ausgleicht, der Schmutz, ist New-Court das A und O seines Dichtens und Trachtens, der Inbegriff der höchsten Wonne, das jeden Abend sehnsüchtig erstrebte Paradies, mit Einem Worte, der Himmel auf Erden, denn hier hält Ya-hi, ein alter Chinese, welcher schon seit vielen Jahren in London lebt, ein Opiumhaus. Indier und Türken, Griechen und Chinesen, Matrosen und Vagabunden, Bettler und Diebe, Männer und Weiber, sie Alle verkehren in New-Court auf dem Fuße völliger Gleichheit und rauchen sich nach und nach in süße Träume und selbstvergessende Stupidität hinein.

Ohne Weiteres fanden wir Einlaß in den Divan. Ya-hi selbst erschien mir von patriarchalischem Alter, obschon er seit langer Zeit nie mehr nüchtern wird, vom frühen Morgen bis zum späten Abend von der Dämmerung des Opiumrausches umfangen. Dieser Zustand fortwährenden Halbschlummers aber hindert ihn nicht an der Verrichtung seiner Geschäfte und Wirthspflichten; er singt, erzählt Geschichten und Anekdoten, trinkt, kocht und zankt, ganz wie es eben der Moment erfordert. Ein eigentümlicher trockener brenzlicher Geruch erfüllte das Gemach, wenn die abscheuliche Spelunke einen solchen Namen verdient, ein Geruch, welcher mir die Augenlider krampf- und schmerzhaft zusammenzog, der mir die Schläfe klopfen machte, als sei ein schwerer Anfall von Migräne im Anzug, und einen unwiderstehlichen Hustenreiz erzeugte, als kitzele mich eine Feder in der Kehle. Er kommt vom Opiumdunst, mit welchem der Raum erfüllt ist. Opium sind die kleinen Rauchkräusel über unseren Köpfen, Opium ist die Luft, die wir einathmen, mit Opium getränkt sind die Kleiderfetzen, welche an einer durch das Zimmer gezogenen Leine hängen, durch und durch mit Opium gesättigt, die zerrissenen Gardinen des ekelhaften Bettes. Das hohle Leichengesicht Ya-hi’s; der wildfunkelnde Blick des jungen Lascaren, der uns die Thür geöffnet hat. die alberne schafartige Kinnbackenbewegung der auf dem Fußboden kauernden Chinesen. das zusammenhangslose Geschwätz des auf dem Bette hockenden Indiers; die heftigen Gesticulationen des Mulatten, welcher am Kamin mit einem gleich aufgeregten Manilesen plaudert; das halbidiotische Geschnatter der hinter Ya-hi zusammengedrängten Neger – dies Alles sind Wirkungen einer und derselben Ursache.

Uns zu Ehren hatte der alte Chinese, der die Gesellschaft durch Gesichterschneiden und allerhand andere Possen unterhielt, eine dünne Kerze angezündet, allein es währte einige Zeit, ehe sich unsere Augen so weit an den beißenden Qualm gewöhnt hatten, um die Einzelheiten des tristen Schauplatzes, auf dem wir uns befanden, genauer unterscheiden zu können. Eine breite französische Bettstelle nahm wenigstens zwei Drittel des Raumes ein, und auf ihr lag ein halbes Dutzend dunkelgefärbter Männer der Quere nach ausgestreckt um ein japanisches Theebrett mit der Opiumlampe herum. Wohin wir uns auch wenden, überall sehen und berühren wir Opiumraucher. Die Stube ist eine einzige große Opiumpfeife, und ihre Atmosphäre allein versetzt schon in Betäubung. Aus allen Winkeln lauern schwarze Gesichter, das ganze Gemach gleicht einem Ameisenhaufen und voller Staunen frug ich unsern indischen Geleiter, wer diese seltsamen Kunden Ya-hi’s sind, wo sie wohnen, was sie treiben und vor Allem, wo sie die Mittel hernehmen, um dem kostbaren Luxus des Opiumrauchens fröhnen zu können.

Da springt ein Kerl, der meine Frage gehört, jählings von dem Bett auf und schnattert mit einer Zungenfertigkeit, welche nach der todtenähnlichen Erstarrung, in der er noch vor wenigen Secunden gekauert hatte, wahrhaft wunderbar ist, eine Menge Details heraus über ihn selbst und seine Cameraden, seine Vergangenheit und seine Zukunft und über die Roth, von welcher er augenblicklich heimgesucht sei.

„Sie sehen, Sir,“ schreit er in gebrochenem Englisch, „viel, verdammt viel Opium das da, reicht zwei Minuten, blos zwei Minuten, nicht länger. Kostet vier Pence, verflucht theuer, aber verflucht gut. Können kein Opium kriegen zu Hause (im Asyle für asiatische Matrosen), so kommen wir zu Ya-hi, um einen kleinen Trunk zu thun, dann gehen wir wieder nach Hause und schlafen ihn aus, Sir. Sie verstehen, Sir, für vier Pence können wir nur zwei Minuten rauchen, doch das ist besser als drei, vier, fünf Gläser Rum; Sie trinken gern Rum, nicht wahr? Wir Bengalen ziehen das Opium vor, wissen Sie; versuchen Sie’s einmal, ’s ist verteufelt gut.“

Der Mensch war übriges ziemlich gut gekleidet; er hatte ein reines Hemd an und trug eine massive schwere Uhrkette. Er war ein Matrose, allein seit fünf Monaten ohne Schiff. Eben hatte er wieder eine Stelle gefunden, um nächsten Montag in See zu gehen; er zeigte mir die auf vier Pfund lautende Anweisung. des Rheders, der ihn geheuert, beklagte sich aber bitterlich, daß man ihm das Papier im Asyle nicht wechseln und auch seine Sachen nicht herausgeben wolle. Wie er seinem Zorne gegen die „verteufelte Hundegesellschaft“ Luft machte und seine Opiumpfeife schwang, als sei sie ein Schlachtschwert, sah er ziemlich gefährlich aus, so daß der alte Ya-hi, der, mit dem Rücken auf die Diele gestreckt, die Augen halbgeschlossen und den Mund weit offen hat, ihm mit lallender Stimme Ruhe gebietet. Wir konnten das inarticulirte Geschrei nicht verstehen, mit dem der Bengale erwiderte, Mutter Abdallah indessen, welche mittlerweile aus einem anstoßenden Zimmer eingetreten ist, dient uns als freundliche Dolmetscherin.

Mutter Abdallah ist eine geborene Londonerin, hat aber durch langes Zusammenleben mit Orientalen deren Sprachen und Dialekte verstehen und radebrechen gelernt und überhaupt morgenländische Sitten und Gewohnheiten angenommen. Sie ist eine bläßliche, runzelige Dame von etwa vierzig Jahren, die in der Nachbarstube ebenfalls Opium zubereitet und verkauft und jetzt gekommen ist, uns die Honneurs der Versammlung zu machen, was sie mit ziemlichem Geschick und Anstand thut. Sie gesteht uns, daß sie selbst auch Opium raucht, nur so der Gesellschaft halber oder wenn sie ein Bekannter dazu auffordert“, sagt sie, und behauptet, daß nichts in der Welt der Gesundheit zuträglicher sei, als das Opium.

„Sehen Sie sich, meine Herren,“ fuhr sie fort, „den Hof da an und denken Sie, wie im letzten Jahr das Fieber drin gehaust hat. Aber wer hatte es? Blos die, welche kein Opium rauchten; von den Rauchern hatte es auch nicht ein einziger, das wissen Sie ja, Herr Brown,“ – damit wandte sie sich an meinen ihr, wie es schien, wohlbekannten Begleiter von der Polizei – „sonst aber Jedermann. Betrachten Sie auch den alten Mann dort, der ist älter als achtzig Jahre und raucht sein Opium den ganzen Tag, und geht selten einmal zu Bett, wahrhaftig nicht, und erzählt die ganze Nacht hindurch seine Schnurren und Geschichten und ist wunderbar frisch und gesund. Nein, meine Herren, einen frischeren, schmuckeren alten Mann als Herrn Ya-hi giebt’s im ganzen Viertel nicht, und wenn Sie nun sähen, wie früh er aus dem Zeuge ist und das Haus wascht und fegt und scheuert und sich die Kleider ausbessert, damit er immer hübsch anständig erscheint, wenn seine Kunden kommen, – es würde Ihnen ordentlich wohl im Herzen thun. Und Alles macht er selbst; er kauft sich sein Bischen Fisch und Reis und kocht’s so, wie seine Leute es gerne essen. Nicht wahr, Tschin-tschin?“

[475] Tschin-tschin ist ein Chinese, dem ich schon manches Mal im Westende begegnet war. Er verkauft dort für irgend einen frommen Verein Tractätchen und Liederbücher und zählt zu den stereotypen Straßenfiguren. Ya-hi ist sein Herbergsvater, bei dem er für einen Schilling täglich Wohnung und Kost erhält. Uebrigens scheint er nicht sehr mittheilsamer Natur zu sein, denn ein grinsendes Lächeln ist Alles, womit er Mutter Abdallah’s Aufruf beantwortet.

„Der alte Mann,“ erzählt uns diese redselige Dame weiter, „wohnt nun hier schon seine zwanzig Jahre und sieht heute noch genau so aus wie damals, als er hier einzog. Und was er heute thut, das hat er die ganze Zeit daher gethan und hat immer ein paar Landsleute zu Kostgängern gehabt. Er versteht das Opium herzustellen, ganz wie sie’s haben wollen, und ich hab’s erst von ihm gelernt, bilde mir aber nicht ein, es schon so gut zu verstehen, wie er. Aus ganz London kommen sie herbei, um bei Ya-hi Opium zu rauchen; manche sind Straßenkehrer, Andere sind in Theeläden angestellt, der macht den Höker, jener bettelt, Alle aber hungern sie lieber, als daß sie das Opium entbehren, und wissen, daß sie nirgends so gutes Opium erhalten, wie beim alten Ya-hi. Nicht, daß seine Qualität eine bessere wäre, nein, meine Heeren, darin liegt’s nicht, wohl aber in der Zubereitung,, und die hält er geheim für sich. Der Becher da, mit dem Licht in der Mitte, enthält das Opium, das dicke Zeug, sehen Sie, gleicht fast dem Theriak. Sie nehmen’s dann mit einer Nadel heraus, rollen’s zu einer kleinen Kugel, so groß wie eine Perle, zusammen und rauchen es, bis nichts mehr davon übrig ist. Erzähle einmal den Herren, Jack, wie viel Du täglich rauchst. Sie nennen ihn, müssen Sie wissen, Tschau-tschi John Potter, weil er getauft ist; aber’s ist nicht ganz richtig mit ihm da oben im Kopf, und seine eigenen Landsleute verstehen ihn manchmal nicht.“

Tschau-tschi ist zuthunlicher Art; er legt mir seine beiden Hände auf das Knie und biegt sein gräulich lachendes schwarzes Gesicht dicht an meine Nase, daß mir förmlich unheimlich zu Muthe wird. „Tschau-tschi raucht so viel wie er kriegt,“ versichert er feierlich, „manchmal Tag und Nacht hindurch, wenn das Christenvolk gut ist mit dem armen Tschau-tschi.“

Nachdem Ya-hi uns mit einem stillen Nicken bewillkommnet hatte, richtete er auch nicht den Kopf wieder in die Höhe von seinem Lager. Auf dem Bett zusammengekrümmt, nur in Hemd und Hosen, die unbeschuhten Füße untergeschlagen, sah er wie ein seltsam aufgezäumter Vogel aus und kehrte sich nur dann und wann mit einer halben Wendung dem neben ihm stehenden Lichte zu, sobald er sich eine neue Pfeife anbrannte. Außer, wenn man uns Antwort gab auf diese oder jene Frage, war es allmählich todtenstill im Gemach geworden. Ab und zu versuchte zwar Tschau-tschi eine originelle Bemerkung, allein in der Regel hatte Niemand Acht darauf, – Alles war vom Opiumrausche bestrickt, und dieser pflegt nicht laut und lärmend, nicht streit- und zanksüchtig zu sein, sondern intensiv, betäubend und absorbirend zu wirken.

Seit dem hier geschilderten Abend bin ich nach und nach noch vier Male bei Ya-hi gewesen und immer habe ich seine Ruhe und Ordnung rühmen hören, immer ihn aber auch in dem gleichen somnambulen Zustande und sein Etablissement vom nämlichen Opiumqualm und Opiumdunst erfüllt gefunden. Seine eingesunkenen Augen, die hohlen Wangen, die pergamentartige, leichenhafte Haut, seine Todtenblässe lassen ihn wie eine häßliche, längst vergessene Mumie erscheinen, während seine Regungslosigkeit und die erhabene Gleichgültigkeit, mit der er weiter schmaucht, mag um ihn sein, wer da will, au einen Automaten erinnern. Wie er seinen kleinen Haushalt versorgen, wie er sich gegen Betrug und Uebervortheilung schützen, wie er seine Einnahmen und Ausgaben regeln kann, welche Macht er über seine Kunden und deren Opiumverbrauch besitzt, – das sind Geheimnisse, die ich nicht zu ergründen vermochte. Und doch stimmen Frau Abdallah, unser Begleiter von der Polizei, der indische Matrose, der Lascare, welcher uns einließ, darin überein, daß Ya-hi ein vortrefflicher Haushalter, ein geriebener Kaufmann und, nach seinem Schlage, ein respektabler Wirth ist. Den ganzen Tag auf dem Rücken liegen und mit geschlossenen Augen Opium rauchen, nach Mitternacht aber und bis zum lichten Tage Anekdoten und phantastische Lieder vortragen, wie sie das krankhaft aufgeregte Gehirn gebiert, darauf auf den Markt gehen und Fische und Reis kaufen – wahrhaftig, für einen Achtziger ist das kein kleines Stück Arbeit! Ya-hi scheint das Alles nicht anzufechten, denn er sieht noch genau so aus, wie da ich ihn zum ersten Male besuchte. Alle anderen Opiumraucher seines Locals dagegen sind junge Männer, wenn gleich das Laster, welchem sie fröhnen, ihren Gesichtern längst jede Spur von Jugendfrische genommen hat.

Aber sie sind glücklich, selig in den Stunden, die sie bei Ya-hi verleben. Die entzückendsten Visionen gaukeln ihnen vor den Augen, man erkennt das aus dem wonnigen Lächeln, welches von Zeit zu Zeit um ihre schlaffen Züge spielt. Die Träume, die süßen und feierlichen Weisen, die glanzvollen Feste, die wunderbaren Geschichten und Dramen, die beseligenden Liebesabenteuer, die stattlichen Versammlungen, die üppigen Gelage, wie sie mit den bläulichen Rauchwirbeln dieses elenden Loches aufsteigen, – wer wäre im Stande, das Alles in Worte zu fassen? Bände auf Bände würden dazu nicht hinreichen. Freilich, wer einmal in die Fesseln des Opiums gerathen, der ist für das Leben und seine Thätigkeit unrettbar verloren, er ist ein unheilbarer Kranker, welcher in ein frühes Grab taumelt, denn Ya-hi’s Beispiel bildet nicht die Regel, sondern eine merkwürdige, seltene Ausnahme. Der Opiumraucher gleicht jenem Träumer in einer von Bulwer’s schönsten Novellen; der Tag gilt ihm nichts, nur die Nacht, und er wähnt sich im Himmel, wenn er die paar Pence, und wären sie vielleicht erst auf der Straße erbettelt, besitzt, mit denen er im berauschenden Lethestrome versinken kann. Wenn berühmte englische Dichter und Denker, wie Coleridge und De Quincey, vergeblich gekämpft haben, sich von dem Opiumdämon zu befreien, der sie besessen hatte, – wie kann man alsdann sich noch verwundern, wenn Ya-hi und seine armen Chinesen, Malaien und Neger, deren Existenz sich ja blos zwischen einem sehr wirklichen Elend und einer geträumten Glückseligkeit theilt, den Bann nicht abzuschütteln vermögen, der sie gefeit, hat? Leider hat nur ihr Beispiel auch die niederen Classen Englands und Schottlands angesteckt; unter Frauen wie Männern scheint hier der Opiumgenuß immer weiter um sich zu greifen. In den Droguerieläden Edinburgh’s kann man jeden Nachmittag eine Reihe eigenthümlicher kleiner Päckchen bereit gelegt sehen; es sind dies Opiumportionen, die sich Arbeiter und Arbeiterin holen, wenn sie Abends nach vollbrachtem Tagewerk nach Hause gehen. So scheint das schreiende Unrecht, dessen sich England schuldig machte, als es mit den Waffen in der Hand China sein ostindisches Opium aufzwang, am eigenen Heerde seine gerechte, doch furchtbare Buße zu finden!




Die deutschen Bauernburgen in Siebenbürgen.

Ein deutsch-demokratisches Volksbild.

Wenn man aus der walachischen Tiefebene nordwärts aufsteigend die Kette der transsylvanischen Alpen bei Kronstadt durchwandert, so kommt man in das sogenannte Burzenland, einen Theil von demjenigen Gebietscomplex Siebenbürgens, den man den „Königsboden“ oder das „Sachsenland“ nennt. Diese Landschaft, theils aus Ebene, theils aus Gebirge bestehend und einen Flächenraum von etwa zweiunddreißig Geviertmeilen umfassend, bildet einen der schönsten Districte von Siebenbürgen und zeichnet sich zugleich vor vielen anderen Theilen dieses Landes durch die jahrhundertalte Cultur seiner Bewohner aus. Wie ein wohlgepflegter, reizender Garten öffnet sich das weite, ringsum von einem Gürtel prächtig geformter Gebirge und Berge umrahmte Thalbecken, dessen Anblick den Beschauer namentlich dann überrascht, wenn er aus den eintönigen, culturarmen Flächen der benachbarten „wilden Walachei“ herübergestiegen ist. Vor Allem fallen ihm die dem Blicke ringsum begegnenden Ortschaften auf – nicht Städte – denn weit und breit im ganzen Gebiet giebt es nur die einzige zwischen Bergen versteckte Stadt Kronstadt – sondern Dörfer, und zwar Dörfer, welche von einem Völkchen deutschen Stammes, einem Theile der siebenbürgischen Sachsen, [476] bewohnt werden. Stattlich und fast durchaus bedeutenden Umfanges liegen sie da, diese Ortschaften, Stein und Ziegel sind ihre Merkmale, die sie vom magyarischen Holzbau und von der walachischen Lehmhütte unterscheiden, während zugleich eine streng beobachtete Regelmäßigkeit in der Anordnung der saubern Gassen und der schmucken Wohnhäuser sie vor jenen vortheilhaft kennzeichnet. Das bedeutsamste Wahrzeichen des sächsischen Dorfes aber bildet die Burg, die sich entweder als sogenanntes „Kirchencastell“ inmitten desselben befindet, oder als Burg im eigentlichsten Sinne, die Giebel und Gassen der Ortschaft hoch überragend, seitwärts von Berg und Fels herniederschaut.

Diese Bauernschlösser, die im Burzenlande keinen einzigen und in den übrigen Bezirken des Sachsenlandes nur den wenigsten Dörfern gänzlich fehlen, bilden eine in ihrer Art einzige und auf ganz eigenthümliche Verhältnisse und Zustände zurückweisende Erscheinung, wie sie demjenigen, der sich für Volks- und Culturgeschichte

Honigberger Castell.
Nach der Natur aufgenommen.

interessirt, nicht so leicht sonstirgend begegnen dürfte und von der wir den Lesern der Gartenlaube im Nachfolgenden Einiges zur Anschauung vorführen wollen. Wir wollen zunächst bei den Castellen verweilen und dann in die Höhe zu den Burgen hinaufsteigen.

Die Ersteren liegen, wie schon oben bemerkt, regelmäßig auf einem freien Raume in der Mitte des Dorfes und bilden sozusagen den festen Kern, um welchen die übrigen Bestandtheile desselben sich lagern. Sie bestehen der Hauptsache nach aus einem bald einfachen, bald doppelten Mauerringe, welcher in regelmäßigen Abständen von vorspringenden Thürmen flankirt wird. Im Innern des Ringes befindet sich die Kirche, deren meist sehr massiver und starker Thurm entweder ein mit dieser verbundenes Ganzes bildet, oder, von ihr getrennt, ebenfalls in den Gürtel der Vertheidigungsmauern miteinbezogen ist. Thürme und Mauern sind mit zahlreichen Schießscharten und Wurflöchern, versehen, oft von Zinnen gekrönt, und das Ganze umfaßt ein mehr oder weniger breiter, ausgemauerter Graben. – Treten wir in das Innere des Burgringes ein, so zeigen sich uns zwar keine gothischen Erker und Bogenfenster, keine Eingänge zu geheimnißvollen Verließen und verödeten Prachtgemächern schauen uns an, um uns mit dem Zauberreiz alter Ritterromantik zu umspinnen; aber dafür überkommt uns eine gar eigene, wohlthuende Befriedigung. Was wir – etwa die Schweiz und das alte Ditmarsen ausgenommen – in den Culturländern des mittelalterlichen Europa vergebens suchen, das weht uns hier aus diesen Burgringen in einem wenig gekannten Winkel der Karpathen entgegen – der Geist eines freien, selbstständigen und, wenn wir wollen, heldenhaften Bauernthums. Aus diesen Mauern redet die alte, musterhafte, durch und durch demokratische Verfassung des siebenbürgischen deutschen Volksstammes, aus ihnen reden seine Schicksale, spricht seine Geschichte. Hier standen sie noch vor kaum zwei Jahrhunderten, die wackern sächsischen Bauersmänner, Weib und Kind vor dem Grimme wild andringender Horden beschirmend, oder ihr kostbarstes Gut, ihre bürgerliche Freiheit, gegen den Uebermuth eigener Landesherren vertheidigend, während draußen der Feind ihre Saaten verwüstete und ihre Höfe und Wohnhäuser vor ihren Augen in Asche sanken. … Diese Betrachtungen und Bilder sind es, die sich dem Beschauer beim Eintritt in die Castelle aufdrängen.

Wenn wir durch das dunkle, niedrige Thorgewökbe an dessen Eingang wir zwischen dicken Mauerbögen über uns noch die verrosteten Eisenspitzen des Fallgitters erblicken, in’s Innere der Feste gelangt sind, so stellt sich uns dasselbe als ein einfacher, ringförmig umlaufender Hofraum dar, dessen inneren Umkreis die Kirchenwände begrenzen, während die äußere Umrandung durch das hohe Umfassungsgemäuer gebildet wird. An dem letzteren bemerken wir eine Menge dicht aneinander gedrängter, bisweilen in mehreren Stockwerken übereinander hinlaufender Kammern, Anbaue, welche voreinst in den Zeiten der Noth beim Hineinflüchten der Dorfbewohnerschaft den Familien zum Aufenthalte dienten, jetzt aber die harmlose Bestimmung haben, die Fruchtvorräthe der Bauern in ihrem feuersicheren Verschlüsse aufzubewahren. Auch das Rathhaus der Gemeinde befindet sich fast jedesmal innerhalb des Schloßringes. Steigen wir in einen der Thürme hinauf, so gelangen wir aus demselben in die innere Umfassungsmauer, – ich sage in die Mauer, denn diese ist so [477] massiv, daß in ihrem Innern ein ordentlicher Umlaufsgang Platz gefunden hat. In diesem Ganggewölbe, das kaum soviel Raum gewährt, daß je ein Mann vor einer der Schießscharten sein Gewehr laden und auslegen kann, und welches sein spärliches Dämmerlicht nur durch die letztere erhält, können wir von Thurm zu Thurm fortschreitend den ganzen Burgring umwandeln. Ein solches Kirchencastell war das zu Wolkendorf, von dem die Geschichte Folgendes erzählt: Als um das Jahr 1611 der Landesfürst Gabriel Báthori der sächsischen Nation ihre Verfassung zu rauben gedachte, erhob sich der Burzenländer Gau gegen ihn in Waffen. Der Tyrann rückte, nachdem er bereits Hermannstadt durch List eingenommen, mit Heeresmacht in’s Burzenland. Seinem Grimme zum ersten Opfer fiel der Ort Wolkendorf. Das Dorf ging in Flammen auf; aber drinnen im Castell stand die Einwohnerschaft und wehrte sich hartnäckig. Trotzdem wurde das Schloß erobert bis auf den festen Hauptthurm, in welchem sich die Vertheidiger

Burg Rosenau.
Nach der Natur aufgenommen.

zuletzt zusammendrängten. Der Fürst bot ihnen Gnade an; allein sie ergaben sich nicht. Da ließ Báthori Holz- und Strohmassen an den Thurm anhäufen und anzünden – und gegen dreihundert Menschen Männer, Weiber und Kinder starben im glühenden Thurm eines gräßlichen Heldentodes.

Noch vor wenigen Jahrzehnten befanden sich in den Vertheidigungsgängen mancher Burgen die rohen, plumpen Hakenbüchsen, welche den Bauern statt der mangelnden Geschütze dienten. Das achtundvierziger Jahr hat die schwerfälligen Kriegswerkzeuge aus den Castellen, wo sie noch vorhanden waren, heruntergeholt und sie zu kleinen Kanonen umgewandelt.

Dieses ist der Typus der Kirchencastelle, von denen wir eins der besterhaltenen und auch historisch interessantesten dem Leser in der Abbildung vorführen. Ungleich bedeutender, sowohl an Umfang als in Bezug auf die Mannigfaltigkeit der Formen und der Gestaltung, sind die eigentlichen Burgen, deren es übrigens im Burzenlande nur zwei wirklich von Banernhänden erbaute giebt, nämlich die Marienburg und die Rosenauer Burg.[3] Die erstere, ursprünglich von den Brüdern des deutschen Ritterordens angelegt und dann später von den Bewohnern des gleichnamigen Marktfleckens verändert und umgebaut, zeigt gegenwärtig nur noch geringe Ueberreste; die letztere, ebenfalls vom Zahn der Zeit bereits stark mitgenommen, bietet gleichwohl – abgesehen von dem prachtvollen Ueberblick, dessen man von ihr aus über die nahen, formenherrlichen Hochgebirge genießt – immer noch ein recht interessantes und malerisches Bild. Hart über der Marktgemeinde Rosenau, auf sechshundert Fuß hohem, steilem Felsberge gelegen, präsentirt sie sich schon aus der Ferne als ein stattliches Schloß und macht, namentlich von der Westseite gesehen, mit ihrem zerrissenen, thürmereichen, mit dem schroffen, zackigen Felsgestein scheinbar in Eins verwachsenen Gemäuer eine romantische Wirkung. Im Innern bemerkt man außer den Trümmern anderer Gebäude die Reste einer Capelle. Eine besondere Merkwürdigkeit bildet ein neunzig Klafter tiefer, außerordentlich schön in Fels gearbeiteter Brunnen, der noch im vorigen Jahrhundert das köstlichste Trinkwasser lieferte, gegenwärtig aber in Folge der vielen von den Besuchern nach und nach hinabgeworfenen Steine seine Labe zu spenden aufgehört hat. Die Burg hat noch bis heute ihren „Burghüter“ – gegenwärtig ein alter Bauer nebst Ehehälfte – zu dessen Obliegenheiten unter Anderem ein allabendlicher Paukenanschlag nebst dem Absingen eines geistlichen Liedes gehört, und es macht eine gar nicht üble Wirkung, wenn nach dem Verklingen der Abendglocke in der Gemeinde unten der dumpfe Schall aus der Höhe ertönt und die zitternden Stimmen des alten Paares weithin über den stillen Marktflecken hallen.

[478] Die Marienburg ist, ebenfalls durch Kämpfe gegen jenen Báthori, ein Denkmal herrlicher Bauernsiege über Fürstenübermuth; zwei Mal wurde sein Kriegsvolk, und beide Male mit Spott und Hohn, vor den Mauern dieser Burg heimgeschickt.

Außer den beiden genannten giebt es in den übrigen Theilen des Sachsenlandes noch zahlreiche von Bauernhänden erbaute Burgen, unter denen wir nur die Kaisder, die Michelsberger und die auf röthlich-braunem Porphyrkegel außerordentlich maurisch gelegene Repser Burg hervorheben. Sie sind alle, nachdem am Ende des siebenzehnten Jahrhunderts das Land unter österreichische Oberhoheit überging, in der langen Friedenszeit des vorigen Jahrhunderts mehr oder weniger zerfallen und scheinen nur noch da zu sein, um die schönen Gelände an der Aluta und an den Kokeln mit dem Reiz ihrer Ruinen zu schmücken, und das Andenken seiner drangvollen, aber glorreichen Vergangenheit im Volke wach zu erhalten. Denn was ihnen ihren besondern Werth verleiht, das ist ihre volksgeschichtliche Bedeutung. Die Burgen sind keine Wohnstätten stolzer Adelsherrschaft gewesen, erbaut zur Verherrlichung selbsteigner Macht und zur Unterdrückung und Niederhaltung untergebener Elemente, nein, sie sind Schöpfungen goldener Volksfreiheit, echte, wirkliche Bauerburgen, hervorgegangen aus dem Geist eines freibürtigen, selbstbewußten Bauernstandes. Und darin liegt eben das Fesselnde, das Wohlthuende der ganzen Erscheinung. Zu einer Zeit, wo der Bewohner des platten Landes noch fast, im ganzen übrigen Europa in den Banden des Frohndienstes und der Leibeigenschaft schmachtete, blühte hier am Fuße der Südostkarpathen bereits ein entwickeltes Bürger- und Bauernthum, das in Bezug auf Freiheit der Institutionen und bürgerliche Selbstherrlichkeit fast ohne Gleichen dastand und den freien schweizer Landgemeinden sich ebenbürtig an die Seite stellen durfte. Auf der Grundlage großer politischer Selbstständigkeit, die ihnen von ungarischen Königen zuerkannt worden war, hatte sich unter den im zwölften Jahrhundert aus den Gegenden des Niederrheins eingewanderten siebenbürger Sachsen schon im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert die glücklichste demokratische Verfassung ausgebaut, welcher dieses Völkchen, rings umgeben von fremdartigen, zum Theil barbarischen Elementen, nicht nur seine bürgerliche Autonomie, sondern auch die Erhaltung seiner deutschen Nationalität, seiner deutschen Cultur und Gesittung zu verdanken gehabt hat. Vollkommene bürgerliche Gleichgestelltheit vom Oberhaupte der Nation an bis herunter zum letzten Bauersmanne war eines der Grundgesetze jener Verfassung; – es gab keinen Adel unter den Sachsen und es durfte Keinen geben, ja dem benachbartem magyarischen Edelmann war es nicht einmal gestattet, ein Haus oder sonstiges Grundeigenthum in der sächsischen Stadt, im sächsischen Dorfe durch Kauf zu erwerben. Jeder Gau bildete in der Gliederung des Ganzen eine Republik für sich, jedes Dorf, obschon dem Gesammtverbande als untergeordnetes Glied eingefügt, ein lebendiges, freies Gemeinwesen, das in’s Getriebe des nationalen Gesammtlebens thätig mit eingriff, aber in Bezug auf seine speciellen Angelegenheiten frei und selbstständig war.

Dieser Geist, der Geist eines freien, starken Bürger- und Bauernthums ist es, der uns aus den geschilderten altersgrauen Castellen und Burgen anspricht und sie bedeutsam macht. Denn sie waren nicht nur als Schutzwehren gegen äußere Feinde, gegen die häufigen Einfälle der Türken, Tataren und der walachischen Woywoden errichtet, sondern sie mußten, wie schon oben angedeutet, auch häufig genug als Bollwerke gegen von innen kommende Angriffe dienen, hinter welchen die braven Männer ihren Drängern Trotz boten und ihre Freiheit behaupteten.
B. Sylvanus.




Reichsgräfin Gisela.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.) .

Gisela folgte dem Fürsten mit schwankenden Schritten in den Salon.

„Sie wünschten mich unter vier Augen zu sprechen, nicht wahr, Gräfin?“ fragte er, indem er dem Portugiesen einen Wink gab, in das anstoßende Zimmer zu treten.

„Nein, nein!“ rief Gisela in ausbrechender Heftigkeit und streckte dem Hinausgehenden zurückhaltend die Hände nach. „Auch er soll hören, wie schuldig ich bin – er soll sehen, wie ich büße!“

Der Portugiese blieb an der Thür stehen, während das junge Mädchen schweigend die Hand auf das Herz preßte – sie rang sichtlich nach Athem und Fassung.

„Ich habe heute Abend verrathen, daß ich um des Verbrechen meiner Großmutter wußte,“ sagte sie mit erstickter Stimme und niedergeschlagenen Augen. „Ich habe es gewagt, mit dem Bewußtsein der Schuld in Euer Durchlaucht Gesicht zu sehen, und habe den Muth gefunden, mit Ihnen über harmlose Dinge zu plaudern, während ich doch nichts Anderes hätte sagen dürfen, als: ,Sie sind grausam hintergangen worden!' … Ich weiß, daß der Hehler so strafbar ist, wie der Dieb, aber, Durchlaucht,“ rief sie, den in Thränen schwimmenden Blick zu ihm ausschlagend, indem sie bittend die Hände über der Brust faltete, „lassen Sie wenigstens Eines für mich sprechen – ich bin immer ein verlassenes, liebearmes, verwaistes Geschöpf gewesen, das bei allem Reichthum nichts besessen hat, als das Bild, das Andenken der Großmutter!“

„Armes Kind, mit Ihnen gehe ich nicht in’s Gericht,“ sagte der Fürst bewegt. „Aber wer hat es über’s Herz bringen können, Ihre junge Seele durch die Mitwissenschaft zu belasten? Sie können doch unmöglich als Kind –“

„Ich weiß um das Geheimniß erst seit wenigen Stunden,“ unterbrach ihn Gisela. „Der Minister“ – es war unmöglich, dem Verabscheuten noch einmal den Vaternamen zu geben – „hat mir kurz vor Beginn des Festes den Vorfall mitgetheilt. … Warum er mich zur Mitwisserin machte, sah ich nicht ein – jetzt weiß ich den Grund – aber Euer Durchlaucht werden mir erlauben, darüber zu schweigen. … Ich glaubte, den Namen Völdern retten zu müssen, und wenn ich auch den Ausweg, den Baron Fleury mir vorschlug, entschieden zurückwies, so hielt ich doch wenigstens einen Theil seines Gedankens fest: ich wollte mich für meine Lebenszeit nach Greinsfeld zurückziehen, die Einkünfte der erschlichenen Güter jährlich an die Armen des Landes theilen und schließlich das fürstliche Haus zu meinem Erben ernennen.“

Bei den letzten Worten stand sie plötzlich von Purpur übergossen da – ihr Blick hatte zum ersten Mal, seit sie im Zimmer war, den des Portugiesen getroffen, der unverwandt auf ihr ruhte. Sie wurde sich in diesem Augenblick unter Schrecken und Beschämung wieder bewußt, daß der Gedanke, ihm anzugehören, vor kaum einer Stunde alle diese schönen Vorsätze aus ihrer Seele spurlos weggewischt hatte.

Dem Fürsten war ihr tiefes Erröthen entgangen. Er hatte während der Mittheilung der jungen Dame mit auf dem Rücken verschränkten Händen rastlos den Salon durchmessen.

„Baron Fleury wollte Sie zur Nonne machen, nicht wahr, Gräfin?“ fragte er stehenbleibend.

Gisela schwieg verlegen.

„Der grausame Egoist!“ murmelte er zwischen den Zähnen. Er legte die schmale, fieberheiße Hand auf den tiefgesenkten Scheitel des jungen Mädchens.

„Nein, nein – Sie sollen nicht lebendig in Greinsfeld begraben werden,“ sagte er gütig. „Armes, armes Kind, Sie waren in schlimmen Händen! … Nun weiß ich auch, weshalb Sie um jeden Preis krank sein sollten und mußten. Sie sind von lauter verrätherischen Seelen umgeben gewesen – man hat Sie geistig und körperlich zu morden gesucht. … Nun sollen Sie aber wissen, was es heißt, jung und gesund zu sein – Sie sollen die Welt, die schöne Welt kennen lernen!“

Er ergriff ihre Hand und führte sie nach der Thür.

„Für heute kehren Sie nach Ihrem Greinsfeld zurück – denn hier ist Ihres Bleibens nicht –“

Gisela blieb zögernd an der Schwelle stehen.

„Durchlaucht,“ sagte sie rasch entschlossen, „ich bin nicht allein hierhergekommen, um ein Bekenntniß abzulegen –“

[479] „Nun?“

„Das fürstliche Haus hat so schwere Verluste durch den Raub erlitten, es sind ihm so viele Einkünfte verloren gegangen, – ich bin die einzige Erbin der Gräfin Völdern; es ist meine heilige Pflicht, nach Kräften auszulöschen, was sie Schlimmes gethan hat – nehmen Sie Alles, was sie mir hinterlassen –“

„O meine liebe, kleine Gräfin,“ unterbrach sie der Fürst lächelnd, „glauben Die im Ernst, ich könnte Sie brandschatzen und Sie, das arme, schuldlose Geschöpfchen, für das Vergehen Ihrer Großmutter büßen lassen? … Hören Sie, Mein Herr?“ wandte er sich schwer betonend und mit großer Genugthuung an den Portugiesen. „Sie haben mir mittels Ihrer Enthüllungen eine tiefe Wunde geschlagen – Sie haben die Axt an die Wurzeln des Adels gelegt – aber der liebliche Mädchenmund hier versöhnt wieder – er hat den Adel in meinen Augen gerettet!“

„Der Gedanke, den die Gräfin eben ausgesprochen, liegt allerdings nahe“ – entgegnete der Angeredete ruhig – „auch Herr von Eschebach hat ihn gehabt. Er hat als Ersatz für die Revenuen, die durch den von ihm unterstützten Betrug dem Fürstenhause während vieler Jahre entzogen worden sind, Euer Durchlaucht ein Capital von viermalhunderttausend Thalern vermacht.“

Der Fürst fuhr überrascht empor.

„Ah – war er in der That ein solcher Crösus?“ Er durchmaß das Zimmer einige Mal mit raschen Schritten, ohne ein Wort zu sprechen.

„Ich kenne Ihre Lebensgeschichte nicht, mein Herr,“ sagte er, vor dem Portugiesen stehen bleibend. „Aber einige Ihrer Andeutungen, dem Baron Fleury gegenüber, ließen mich an einen erschütternden Vorfall denken – Ihr Bruder ist ertrunken und Sie haben infolge dessen Deutschland verlassen?“

„Ja, Durchlaucht.“ – Wie schmerzlich grollend klangen diese Töne!

„Sie trafen Herrn von Eschebach zufällig auf Ihren Streifereien durch die Welt?“

„Nein. Er war mit meinen Eltern befreundet gewesen; er hat mich und meinen Bruder direct aufgefordert, nach Brasilien zu kommen – ich verließ Deutschland, um seinem Rufe zu folgen.“

„Ah, dann sind Sie gewissermaßen sein Adoptivsohn, sein Erbe?“

„Er hat allerdings geglaubt, er müsse mir für ein wenig Liebe und Pflege, die er von mir empfangen, mit seinen Reichthümern dankbar sein. … Aber mir hat gegraut vor dem Mann und seinen Schätzen, als er mir auf seinem Todtenbette jene Geständnisse machte. Ich kann es ihm noch nicht verzeihen, daß er bis an seinen Tod schweigen konnte, daß er in seinem ehemaligen Vaterlande viel Schlimmes hat geschehen lassen, während es eines Wortes von ihm bedurfte, um den zu stürzen, der es verübte. Er war feig gewesen und hatte den Makel auf seinem Namen gefürchtet. … Ich habe das Erbtheil öffentlichen wohlthätigen Anstalten zugewiesen. … Das Glück hat meine Privatunternehmungen begünstigt – ich stehe auf eigenen Füßen!“

„Kehren Sie nach Brasilien zurück?“ Der Fürst sagte das mit einem eigenthümlich lauernden Blick, indem er dem Portugiesen näher trat.

„Nein – ich wünsche, mich in meiner Heimath nützlich machen zu können. … Durchlaucht, ich gebe, mich der beglückenden Hoffnung hin, daß mit dem Moment, wo jener Elende über die Schwelle dort auf Nimmerwiederkehr geschritten ist, ein neuer Lebensodem durch das Land gehen wird –“

Serenissimus’ Gesicht verfinsterte sich auffallend. Er senkte den Kopf und sah unter dem tief zusammengezogenen Brauen hervor mit erstem scharf messenden Blick zu dem gewaltigen Mann auf.

„Ja, er ist ein Elender, eine durch und durch verdorbene Seele,“ sagte er langsam und jedes Wort markirend. „Aber das müssen Sie mir nicht vergessen, mein Herr – er war ein ausgezeichneter Staatsmann!“

„Wie, Durchlaucht, dieser Mann, der mit eisernem Griff jedwede, auch die harmloseste Bestrebung nach einem höheren Aufflug im Volke niedergehalten hat? … Der Mann, der Während seiner langen. Wirksamkeit nicht einen Finger mochte, der Noth im Lande abzuhelfen? der im Gegentheil der Industrie, den Einzelnbestrebungen tüchtiger Köpfe stets einen Hemmschuh angelegt hat, wo er irgend konnte, aus Besorgniß, das Volk könne mit gefülltem Magen so übermüthig werden, auch einmal einen Blick in die politische Küche des Staatslenkers weisen zu wollen? … Der Mann, der die hierarchischen Gelüste zuletzt auch auf sein Regierungsprogramm geschrieben hat, weil seine Weltweisheit der gewaltigen Strömung gegenüber doch nicht mehr ausreichte? … Er, der nicht einen Funken Religion in der Brust trägt, er hat sie an seinen Herrscherstab geknebelt, – mächtig unterstützt von einer wühlenden, herrschsüchtigen Kaste, die den Vorzug der öffentlichen Rede besitzt, hat er die Hohe, die Milde, die ein Quell des Lichtes, des Trostes, der Erquickung für die Menschenseele sein soll, zur eisernen Jungfrau gemacht, die Jeden, der ihr naht, in ihren Armen unbarmherzig erstickt und erdrückt! … Gehen Euer Durchlaucht durch das Land –“

„Still, still!“ unterbrach ihn der Fürst mit einer abwehrenden Handbewegung – sein Antlitz war kalt und starr geworden, als sei es plötzlich zu Eis gefroren. „Wir leben weder im Orient, noch in jener Märchenzeit, wo die Großveziere durch die Straßen wandelten, um das Urtheil ihres Volkes zu hören…. Es wird jetzt so viel durcheinander gewünscht, phantasirt und gefaselt, daß sich nur über dem Chaos zu halten vermag, wer unbeirrt, fest, unverrückbar auf seinem Standpunkt beharrt. … Ich kenne Ihre schwärmerischen Ansichten bereits – Ihr Etablissement da drüben trägt sie an der Stirn – ich zürne Ihnen darum nicht, aber sie können niemals die meinigen sein. … Sie hassen den Adel – aber ich werde ihn halten und stützen bis zum letzten Athemzug. … Ja, ich würde nicht anstehen, dem Princip die schwersten Opfer zu bringen. … Ich verhehle mir nicht, daß die heutigen Ereignisse, wenn sie ruchbar werden, viel böses Blut machen müssen – und um deswillen berühren sie mich doppelt schmerzlich. … Jenen Ehrlosen muß ich selbstverständlich fallen lassen … wenn man aber seiner Entlassung andere Motive unterlegen, mit einem Wort, wenn man die Sache in ihrer schlimmsten Beleuchtung jetzt noch unterdrücken könnte – ich wäre sehr gern bereit, das Ganze – die Persönlichkeit des Baron Fleury natürlich ausgeschlossen – als nicht geschehen zu betrachten. … Ich ließe Sie, beste Gräfin, am liebsten im Besitz der fraglichen Güter –“

„Durchlaucht!“ rief das junge Mädchen, als traue es seinen Ohren nicht. „O,“ fügte sie mit schmerzlich flickender Stimme hinzu, „das ist eine zu harte Strafe für meine Mitwissenschaft des Verbrechens! … Ich verwahre mich für alle Zeiten gegen die Zurücknahme!“ protestirte sie feierlich.

„Nun, nun, mein Kind – nehmen Sie das nicht zu tragisch!“ rief der Fürst verlegen. „Es war wirklich nicht so ernst gemeint. … Jetzt gehen Sie aber. In der Kürze werde ich nach Greinsfeld kommen und Rücksprache mit Ihnen nehmen – Sie sollen künftig unter dem Schutz der Fürstin an meinem Hofe leben.“

Gisela schrak zusammen, und abermals ergossen sich die Blutwellen über ihr Gesicht. Aber sie hob die Wimpern und sah dem Fürsten mit ihren braunen Augen fest an.

„Euer Durchlaucht überhäufen mich mit Güte,“ versetzte sie. „Ich erkenne diese Auszeichnung doppelt dankbar an, als die Familie Völdern sie wahrlich nicht verdient hat. … Allein ich darf die Ehre, am Hofe zu A. zu leben, nicht annehmen, weil mir bereits mein Lebensweg klar und bestimmt vorgezeichnet ist.“

Der Fürst trat erstaunt zurück. „Und darf man nicht wissen? “ fragte er.

Die junge Dame schüttelte unter einem abermaligen Erglühen heftig den Kopf sie – machte eine unwillkürliche, rasche Bewegung nach der Thür, als wolle sie das Weite suchen.

Serenissimus schwieg und reichte ihr zum Abschied die Hand.

„Aus den Augen verlieren werde ich Sie doch nicht, Gräfin Sturm,“ sagte er nach einer kleinen, verlegenen Pause. „Und wenn Sie einen Wunsch haben, den zu erfüllen mir möglich ist, so vertrauen Sie mir ihn an, nicht wahr?“

Gisela verbeugte sich tief und trat über die Schwelle. Die Thür fiel hinter ihr in’s Schloß – die ehemalige kleine Beherrscherin dieser Räume hatte den Salon mit den violetten Plüschvorhängen und das verführerische, unselige Seezimmer zum letzten Mal gesehen.

Sie eilte wie gejagt durch den Corridor. Unten am Fuß der Treppe stand händeringend Frau von Herbeck.

„Um Gotteswillen, liebe Gräfin, wo stecken Sie?“ rief sie in tiefgeärgertem [480] Ton. „Es ist doch zu rücksichtslos von Ihnen, mich Nachts so mutterseelenallein in dem ungeheuerlichen Saal sitzen zu lassen!“

„Ich war bei Seiner Durchlaucht,“ entgegnete Gisela kurz, indem sie rasch an der kleinen, fetten Frau vorüberschritt und nach dem Saal zurückkehrte. Drin, an dem mächtigen Eichentisch, auf welchem die Lampe brannte, blieb sie stehen. Sie stützte die Hand auf die Tischplatte und stand plötzlich vor der grollenden Gouvernante als die Herrin, die einer Untergebenen eine Eröffnung zu machen hat.

„Ich bitte Sie, Frau von Herbeck, den Wagen zu bestellen und nach Greinsfeld zurückzufahren,“ sagte sie ruhig, aber in gebietendem Ton.

„Nun, und Sie?“ fragte die Gouvernante, die nicht wußte, wie ihr geschah.

„Ich werde Sie nicht begleiten.“

„Wie, Sie bleiben im weißen Schlosse zurück? Ohne mich?“ Sie betonte tiefbeleidigt das letzte Wort in einer aufsteigenden Frage-Scala, die endlos schien.

„Ich bleibe nicht in Arnsberg. … In Zeit von wenigen Stunden haben sich die Verhältnisse in diesem Hause und ihre Beziehungen zu mir so total verändert, daß meines Bleibens hier nicht mehr sein kann.“

„Barmherziger Himmel, was ist denn geschehen?“ rief die kleine, fette Frau zurücktaumelnd.

„Ich kann Ihnen das hier unmöglich auseinandersetzen, Frau von Herbeck – mir brennt der Boden unter den Füßen. … Fahren Sie so bald wie möglich nach Greinsfeld. … Die Erörterungen, die zwischen uns noch stattfinden müssen, werde ich auf schriftlichem Wege abmachen.“

Frau von Herbeck fuhr mit beiden Händen nach ihrem spitzenumhüllten Kopf.

„Herr meines Lebens, bin ich denn wahnsinnig, oder höre ich verkehrt?“ schrie sie auf.

„Sie hören ganz richtig – wir müssen uns trennen.“

„Wie – Sie wollen mich fortschicken? – Sie? … O, da sind denn doch noch ganz andere Leute da, die zu entscheiden, und ein Wörtchen in der Sache zu reden haben, Leute, die es zu würdigen wissen, was ich geleistet. … Gott sei Dank, so bin ich doch nicht in Ihre Hände gegeben und von Ihren Capricen abhängig – in dem Maße steht Ihnen noch lange, lange nicht die Macht zu, mich entlassen zu können. … Ich halte es in der That unter meiner Würde, darüber auch nur noch ein Wort zu verlieren. … Ich werde sofort, wie man sagt, vor die rechte Schmiede gehen und mir bei Seiner Excellenz Satisfaction für Ihr ungebührliches Benehmen ausbitten.“

„Baron Fleury hat keine Gewalt mehr über mich – ich bin frei und kann gehen, wohin ich will,“ sagte Gisela fest und energisch. „Frau von Herbeck, Sie thun wohl, wenn Sie sich nicht auf Ihre Beziehungen zu Seiner Excellenz berufen. … Ich will Sie nicht auf’s Gewissen fragen, weshalb Sie mir so hartnäckig eine längsterloschene Krankheit octroyiren wollten – ich will nicht fragen, weshalb auch Sie Alles aufgeboten haben, mich von dem Verkehr mit der Welt abzuschneiden – Sie waren die intime Freundin eines gewissenlosen Arztes und mit ihm ein nur zu williges Werkzeug meines Stiefvaters!“

Die Gouvernante sank wie zerschmettert in einem Lehnstuhl zusammen.

„Das will ich Ihnen verzeihen,“ fuhr Gisela fort. „Niemals aber kann ich Entschuldigung dafür finden, daß Ihr ganzes Bestreben darauf gerichtet gewesen ist, mich zu einer herzlosen Maschine zu erziehen! … Sie haben mich um Jugendjahre, um gute Thaten, um die erhabensten Lebensfreuden betrogen, indem Sie mein Herz in den Eispanzer der Convenienz, des Geburtshochmuthes schnürten! … Wie durften Sie es wagen, Gott und sein Wort stündlich im Munde zu führen, während Sie einem Ihnen anvertrauten Gottesgeschöpf die edlen Triebe in der Seele zertraten und es so lange hinderten, in Wirklichkeit nach den höchsten Geboten zu leben und zu wirken?“

Sie wandte sich ab und schritt nach der Thür zu. Noch einmal streifte ihr Blick grüßend rings über die dunklen Wände, die sie so sehr geliebt hatte, dann ging sie hinaus in den Corridor.

„Gräfin,“ schrie Frau von Herbeck auf, „wohin gehen Sie?“

Das junge Mädchen winkte Schweigen gebietend und abweisend nach der Gouvernante zurück und stieg die Treppe hinab.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

Fünfzig Bühnenjahre. Eine Periode des Braunschweiger Theaters, an welche die alten und ältesten Theaterfreunde immer noch mit Entzücken zurückdenken, und die auch in der Geschichte des deutschen Schauspiels eine ehrenvolle Stelle einnimmt, ist die des „Nationaltheaters“, welches im Jahre 1818 durch den Zusammentritt angesehener Kunstfreunde gegründet wurde und aus dem dann acht Jahre später das herzogliche Hoftheater hervorging. – Aehnlich wie einst in Mannheim unter Dalberg, in Hamburg unter Schröder und in Weimar unter Goethe, sammelte sich in Braunschweig unter August Klingemann’s Direction eine Schaar junger, talentvoller Künstler, die in einem mustergültigen Zusammenwirken Vortreffliches leisteten. Wir nennen hier nur die Namen: Meck, Leo, Gaßmann, Marr, Günther, Bachmann, Kiel, – dann die Damen: Klingemann, Wilhelmine Fischer, Kiel u. a. m., Namen guten Klanges, die den nachwachsenden Kunstjüngern als Muster vorgeleuchtet haben. Der Ruf, welchen sich das Nationaltheater rasch erwarb, vor Allem aber die Persönlichkeit seines artistischen Leiters, dem, wie er sich als dramatischer Dichter einen Namen gemacht hat, auch das Verdienst gebührt, Goethe’s Faust zuerst in Scene gesetzt zu haben, führte eine große Zahl von Schülern nach Braunschweig, deren sich der Director mit Wärme annahm, sobald er Talent und Eifer bei ihnen wahrnahm.

So kam im Sommer 1819 auch ein junger, schöner Mann zu Klingemann mit der Bitte, ihm ein erstes Debut in Braunschweig zu gestatten. Er war ein „Berliner Kind“ und, obgleich eben erst zwanzig Jahr alt, hatte er schon den Feldzug nach Frankreich mitgemacht und bei Belle-Alliance für Deutschlands Befreiung gefochten. Er brachte ein Empfehlungsschreiben von Meister Ludwig Devrient mit, und letzterem besonders hatte er es zu danken, daß ihm der erste theatralische Versuch zugesagt wurde. Am 28. Juli gab man Schiller’s „Wilhelm Tell“. – Der Zettel für diese Aufführung liegt uns im Original vor, er enthält unter dem Personenverzeichniß eine von Klingemann verfaßte Mittheilung, welche so lautet:

„Herr Devrient, Neffe des berühmten Schauspielers gleichen Namens, wird hier seine theatralische Laufbahn eröffnen, und sich in der Rolle des Ulrich von Rudenz versuchen. Seine Neigung und sein sichtbares Talent für die Bühne werden ihm die gütige Nachsicht des geehrten Publicums zusichern.“

Der mit diesen Worten bei den Braunschweigern eingeführte Debutant war der jetzige Königliche Hofschauspieler Karl Devrient, der drei Monate später als sein jüngerer Bruder Eduard die Bühne betrat und somit am 28. Juli dieses Jahres sein fünfzigjähriges Künstlerjubiläum feiert. – Fünfzig Jahre! – ein langer Zeitabschnitt, in welchem auch auf dem Gebiete der Kunst große Wandelungen vorgegangen sind. – Vor uns steht jetzt der Altmeister Karl Devrient, eine Zierde des deutschen Theaters, ein Künstler, welcher den Empfehlungen seines großen Oheims und Klingemann’s Ehre gemacht hat. Von denen, die ihn einst als jugendlichen Rudenz sahen, werden nur wenige übrig sein. Von dem zahlreichen Personale, das in der Aufführung des „Tell“ am 28. Juli 1819 mitwirkte, sind nur noch zwei am Leben: Frau Kiel, eine hochbetagte Greisin, welche damals Tell’s Gattin spielte, und deren Tochter, Frau Francisca Cornet, die als Fränzchen Kiel in der Rolle von Tell’s Knaben auftrat; beide, Mutter und Tochter, sind nach einer ehrenvollen Künstlerlaufbahn wieder nach Braunschweig zurückgekehrt, während der Jubilar seit fast dreißig Jahren, und zwar jetzt im Fache älterer Charakterrollen, wie Lear, Philipp der Zweite, Nathan, Shylok, Falstaff etc., Mitglied des Königlichen Hoftheaters in Hannover ist.




Die Livingstons, Abkommen eines mecklenburgischen Adelsgeschlechts. Jeder Gebildete kennt die berühmten englischen Afrika-Reisenden David und Charles Livingston. Dem Geschichtskundigen und Nationalökonomen sind die amerikanischen Staatsmänner Robert und Eduard Livingston nicht minder bekannt, die nachweislich aus dem alten schottischen Geschlecht dieses Namens stammen, von dem ein Zweig im siebenzehnten Jahrhundert auswanderte und sich am Hudson ansiedelte. Das gesammte Geschlecht der Livingston stammt nun aber aus obotritischem Adelsblut. Eginhard, der bekannte Geheimschreiber und Historiograph Karl’s des Großen, Gemahl seiner Tochter Emma, erzählt nämlich in seiner „Vita Caroli magni“ und nach Eginhard Albertus Krantz (1482 Rector der Universität Rostock) in: „Vandalia“ (Frankfurt 1575), daß unter den Obotriten und Mecklenburgern, die der Kaiser nach England, Frankreich und Italien entsendete, auch ein vornehmer Kriegsoberster, des Namens Linstow, gewesen sei, der sich mit seiner Legion habe nach England begeben müssen. Dieser Kriegsoberste Kaiser Karl’s, der obotritische Edle Linstow, nun ist der Stammvater des Geschlechts Livingston, das noch heute in England und Schottland zu den ältesten Adelsfamilien zählt und mit dem in Mecklenburg zur Stunde noch blühenden Adelsgeschlecht Linstow (das Stammgut Linstow liegt im ritterschaftlichen Amte Lübz in Mecklenburg-Schwerin) das gleiche Wappen führt.

Ein Livingston, der unter der Regierung Ferdinand’s des Dritten englischer Gesandter am Kaiserhofe zu Wien war, kam expreß nach Mecklenburg, die Linstows aufzusuchen und als seine Blutsfreunde zu begrüßen, indem er bei dieser Gelegenheit ausdrücklich erklärte, und zwar nach einer vorliegenden handschriftlichen Nachricht aus jener Zeit, daß alle Livingstons, die englischen sowohl wie die schottischen, jenen obotritischen Edlen, Linstow, Kriegsobersten Kaiser Karl’s des Großen, als ihren Ahnherrn erkennten und ihren Stammbaum diplomatisch nachweisbar auf diesen zurückzuführen vermöchten. Die schottischen Livingstons sollen ihrer Titel verlustig geworden sein wegen ihrer Anhänglichkeit an die Stuarts, doch existirte noch zu Anfang dieses Jahrhunderts ein Livingston als Carl von Newburgh, Lord von Kenmare.

C. Sp.




Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. In seiner Proclamation vom 11. Messidor im vierten Jahre der französischen Republik hieß es: „Die Bewohner der Dörfer, Flecken, Städte, welche sich bewaffnet vereinigen würden, werden mit Gewalt zur Niederlegung ihrer Waffen gezwungen, sodann erschossen und ihre Häuser verbrannt werden. Jeder Bewohner, welcher im Lande gefunden wird und ohne Erlaubniß eines Generals oder Oberofficiers Waffen trägt, soll arretirt, verurtheilt und auf der Stelle erschossen werden.“
  2. Wir müssen der obigen Mittheilung eine Bemerkung anfügen. Unsere Artikel und Bilder über den jüngsten und hoffentlich letzten „deutschen“ Krieg sollen nichts weniger als eine Verherrlichung des Krieges an sich und der siegenden Macht sein. Allerdings haben wir Autoren und Künstlern das Recht ihrer Auffassung der Sache nicht verkümmert, und so mag hie und da ein „glorreich“ oder „ruhmwürdig“ für irgend eine That mit unterlaufen sein, aber sicherlich nicht gegen die Wahrheit. In dieser Beziehung hat die Gartenlaube sich ihre Objectivität bewahrt: es kann ihr nur darum zu thun sein, der gegenwärtigen Generation ein getreues Bild der nun einmal nicht wegzustreichenden, in unser innerstes Volks- und Staatsleben tief eingreifenden Ereignisse und dadurch dem zukünftigen Geschichtsschreiber eine verläßliche, redliche Quelle für dieselben zu überliefern.
    Die Redaction.     
  3. Es dürfte vielleicht nur wenigen Lesern der Gartenlaube bekannt sein, daß der Orden der deutschen Ritter, bevor er sich im heutigen Preußen festsetzte, dreizehn Jahre lang (von 1211 bis 1225) in dem ihm vom ungarischen König Andreas dem Zweiten vergabten, damals noch wüsten Burzenlande verweilte. Die Ritter legten hier sechs, zum Theil in einigen Ueberresten noch vorhandene Burgen an, unter denen die Marienburg der Hauptsitz des Ordens war. Sie hatten in dem kurzen Zeitraum auch bereits einen bedeutenden Landstrich der Walachei erobert, wurden aber, da sie den eingegangenen Vertrag nicht hielten, von König Andreas zur Räumung des Landes gezwungen. Die heutigen sächsischen Bewohner des Burzenlandes sind die Nachkommen der deutschen Colonisten, welche die Ritter in’s Ländchen zogen.