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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 12.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Reichsgräfin Gisela.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)
12.

Am anderen Tage waren die Jalousieen vor den Fenstern der Gemächer, welche die Baronin Fleury bewohnte, festgeschlossen – die Dame litt an heftigen Nervenkopfschmerzen in Folge der gestrigen Fahrt und Sonnenhitze. Sie ließ Niemand vor sich; in den naheliegenden Corridors herrschte Todtenstille, und daß nichts, nicht einmal das leise Geräusch einer knarrenden Sohle die Leidende störe, dafür sorgte schon der Minister, der, wie man sich erzählte, seine schöne Gemahlin noch ebenso abgöttisch liebte wie am Hochzeitstage.

In dem gegenüberliegenden Schloßflügel, der die Fremdenzimmer enthielt, ging es um so geräuschvoller zu. Am frühen Morgen schon kamen Handwerker aus A. in Begleitung eines großen Möbelwagens. Die seit Prinz Heinrich’s Zeiten nicht erneuerten und deshalb sehr verblaßten seidenen Bett- und Fenstergardinen wurden abgenommen – man riß die veralteten Tapeten von den Wänden, um sie neu, und zwar in sehr kostbarer Weise zu ersetzen, vertauschte die unmodernen Krystallkronleuchter mit Bronzelüstren und schaffte die, wenn auch immer noch werthvollen, aber doch altmodisch gewordenen Möbel in entlegene Räume.

Seine Excellenz leitete dies Alles selbst mit peinlicher Sorgfalt und Genauigkeit – es handelte sich aber auch um nichts Geringeres als einen fürstlichen Besuch. … In dem prachtvollen, von königsblauem Seidenstoff umrauschten Bett sollte der Landesherr schlafen, die aus Paris mitgebrachten herrlichen Spiegel sollten sein fürstliches Antlitz widerstrahlen und die Statuetten und Gemälde, die halb ausgepackt umherstanden, seine verwöhnten Augen ergötzen.

Dem Fürsten waren auf seiner jüngsten Reise zufällig einige das Regiment seines Ministers in sehr greller Weise beleuchtende Zeitungen in die Hand gefallen – er war tiefempört gewesen über diese „Schmähartikel“ und das „Lügengewebe“, und um seinem so gehässig angegriffenen Liebling eine eclatante Genugthuung vor aller Welt zu geben, hatte er sich als Gast auf dem Landsitz des Ministers angemeldet.

Das war eine Auszeichnung, deren sich auch nicht eine adelige Familie des Kindes rühmen konnte – es mußte mithin Alles geschehen, um durch möglichste Glanzentfaltung der seltenen Gnadenbezeigung würdig zu werden … wie leicht wurde das Seiner Excellenz – er brauchte ja nur in seinen französischen Säckel zu greifen! … Uebrigens schüttelten die Schloßleute die Köpfe – er hatte bei seiner Ankunft außergewöhnlich heiter ausgesehen, und nun war er über Nacht mürrisch und über alle Begriffe übellaunig geworden – ein sorgfältiger Beobachter hätte sogar einen neuen Zug in dem sonst so streng beherrschten Gesicht finden können: den der geheimen Sorge. … Mit der jungen Gräfin und Frau von Herbeck war er nur beim Diner zusammengekommen, und er, der sich sonst bei seinen Besuchen auf Greinsfeld und Arnsberg in Sorgfalt und Aufmerksamkeiten für sein kranke Stieftöchterchen förmlich erschöpfte, er hatte ihr zerstreut und einsilbig gegenüber gesessen, während Frau von Herbeck an sich selbst die traurige Erfahrung machen mußte, daß die beißende Satire Seiner Excellenz während des letzten Pariser Aufenthaltes bedeutend an Schärfe gewonnen hatte.

So war der erste Tag verstrichen. Nun lag ein prachtvoller Morgenhimmel über dem Thüringer Wald. Das junge Sonnengold und der leise vorüberziehende, frische Morgenwind sogen die letzten Thaureste von den Baumwipfeln; unten aber, im Waldesdunkel, auf den Erdbeerblättern und Farnkräutern rollten noch die hellen Thränentropfen der Nacht und klammerten sich an die kleinen Moose, um nicht in die schwarze, durstige Erde zu versinken.

Das weiße Schloß lag glitzernd inmitten seiner Springbrunnen, Bosquets und Alleen. Es hatte seine sämmtlichen Jalousieen aufgeschlagen – auch die vor den Fenstern der Baronin. Die Dame war vollkommen erholt und erfrischt aufgestanden und hatte befohlen, daß im Walde gefrühstückt werden solle. Nun wandelte sie allein durch den Schloßgarten; ihr Gemahl war im Fremdenflügel beschäftigt und wollte nachkommen, und Frau von Herbeck saß noch bei der Toilette, ohne sie aber sollte die junge Gräfin nach dem vorgestern ganz besonders aufgefrischten Princip das Schloß nicht verlassen.

Die schöne Frau hatte eine Morgentoilette gemacht, die im Boulogner Hölzchen weit eher am Platze gewesen sein würde, als hier unter den ehrlichen deutschen Eichen und Buchen, zwischen deren einsamen Stämmen höchstens die verdutzten Augen eines beerensuchenden Kindes erschienen. … Die Dame sah aus wie eine sechszehnjährige Schäferin à la Watteau in dem hochgeschürzten Rock aus milchweißem, weich niederfallendem Stoff, den ein himbeerfarbener Streifen umsäumte. Tief in die Stirn gedrückt, lag ein helles Strohhütchen auf dem blauschwarzen Haar, das nicht, wie ehemals, in prachtvollen Ringeln auf die Brust fiel – Pariser Zofenhände hatten diese wuchtigen Strähne am Hinterkopf [178] zu jenem abscheulichen Monstrum aufgenestelt, das die Welt „Chignon“ nennt. … Trotz dieser entstellenden Haartracht war es doch ein verführerisch schönes Weib, das leichten Fußes durch die thaufrischen Gebüsche schritt.

Der Platz im Walde, wo gefrühstückt werden sollte, lag nicht weit vom See – ein schmaler Durchhau umfaßte ein Stück - seines Spiegels und ließ es hinüberleuchten auf die engbegrenzte, von Buchen beschattete Waldwiese. Diese kleine Oase hatte Prinz Heinrich sehr geliebt zierlich gemeißelte steinerne Tische und Bänke standen umher, und unter dem Lieblingsbaum des fürstlichen Herrn, einer prachtvollen Rothbuche, erhob sich auf einem Sockel von Sandstein seine lebensgroße, in Erz gegossene Büste. … Auch hier lief die Grenze des Zweiflingen’schen Forstes ziemlich nahe vorüber – einzelne eingestreute Weißbirken blinkten fernher durch das Unterholz und bezeichneten gleichsam die Scheidelinie, und bei stillem Wetter drang das Dohlengeschrei von den Thürmen des Waldhauses, herüber.

Die Baronin Fleury beschleunigte ihre Schritte, als sie in den Wald eintrat. Ihr schönes Gesicht zeigte nichts von jenem stillbehaglichen Genuß, den ein Spaziergang im morgenfrischen Wald gewährt – es lag vielmehr ein Ausdruck von Spannung und Neugier in den schwarzen Augen. … Sie umschritt den See und betrat den Holzweg, an dessen Mündung die junge Gräfin vorgestern den Kahn angelegt hatte, während die Kinder sangen. Durch das Gebüsch schimmerte unfern das weiße Tuch, welches die Lakaien über den Frühstückstisch gebreitet hatten, aber die Dame huschte mit einem scheuen Blick nach den hantirenden Domestiken weiter auf dem Weg, der direct in das alte Zweiflingen’sche Revier lief. … Bis zu einer gewissen Stelle, die gleichsam den Knotenpunkt zweier sich abzweigender Pfade bildete, war sie auch früher gar manches Mal gewandelt, weiter aber nicht – diese schmalen Schlangenlinien mündeten ja in der Nähe des Waldhauses. Die hochgestiegene letzte Zweiflingen gestattete weder ihrem Gedächtniß, noch ihrer Umgebung, sie je an die Zeit des Mangels und der Erniedrigung zu erinnern, und aus dem Grunde hatte sie nie wieder die Schwelle des alten Jagdhauses betreten.

Heute aber wurde der Rubicon überschritten. Die Vögel, die im Dickicht brüteten, schwirrten aufgescheucht in die Baumkronen und schrieen mit vorgestreckten Hälsen auf die Frauengestalt nieder, die geschmeidig zwischen den feuchten Zweigen hineilte, ohne daß ein Thautropfen ihr helles Gewand benetzte. … Die Weißbirken lagen längst hinter ihr, und nun wurde allmählich der Weg breiter, die Bäume traten auseinander, und hinter dem Gebüsch, das schleierartig zerstoß, erschien das graue Gemäuer des Waldhauses.

Die Baronin trat hinter einen Strauch, bog die Zweige auseinander und sah hinüber – sie hatte die Façade vor sich.

In A. war dies alte Schlößchen mit seinem neuen fremdartigen Bewohner das Tagesgespräch. Man erzählte sich Wunderdinge von den fabelhaften Reichthümern des Portugiesen… : Dieser Herr von Oliveira – die Deutschen können sich nun einmal keinen hervorragenden Menschen ohne das „von“ oder einen Titel denken – hatte ja das schönste Haus in A. für eine Unsumme gemiethet; man wußte ganz genau, daß er den Winter in der Residenz zubringen und sich bei Hofe vorstellen lassen wolle, und wer so bevorzugt gewesen war, ihn einmal von fern zu sehen, der schwur, daß er dem schönsten Cavalier, den das Fürstenthum je gesehen, dem verstorbenen Major von Zweiflingen an Ritterlichkeit und aristokratischer Würde in der äußeren Erscheinung völlig gleichzustellen sei – das Waldhaus aber sollte er in einen wahren Feensitz umgewandelt haben.

Das konnte die schöne Lauscherin nun zwar nicht finden, allein ein originelles Gepräge hatte der alte Bau jedenfalls erhalten.

Der schmale Wiesenfleck, der sich ehemals vor seiner Fronte hinstreckte, beschrieb jetzt einen weiten Bogen, er war mit Kies bestreut, nur in seiner Mitte dehnte sich ein geschorenes Rasenrund. Früher hatte hier ein Brunnen primitivster Art gestanden, ein Steintrog, in welchen das perlende, frische Quellwasser aus hölzerner Röhre floß – jetzt lag auf der Grasfläche ein kolossales Granitbecken, aus dessen Mitte ein mächtiger Wasserstrahl hoch in die Lüfte stieg. Diese unmittelbar aus dem Herzen des Waldes emporschießende krystallhelle Säule mit ihrem buntfarbigen Aufsprühen, Rauschen und Plätschern inmitten der vielhundertjährigen Eichenwipfel hauchte einen wahren Märchenzauber in das Stück Waldeinsamkeit. … Der unwillkürliche Gedanke an Verzauberung wurde befestigt durch das undurchdringliche Gespinnst der Aristolochia, deren dünne, grüne, in’s Unendliche wachsende Arme sich fast dämonisch gewaltsam des grauen Gemäuers bemächtigten – da standen die zwei in’s Horn stoßenden Edelknaben zu beiden Seiten der Treppe, wie die im hundertjährigen Schlaf erstarrten Gestalten des Märchens; die grünen Schlangen umstrickten die schlanken Glieder und ließen ihre riesigen Blätter von den steinernen Schultern flattern. Bis hinauf über die Thurmzinnen krochen sie, um muthwillig in das uralte Dohlengeniste zu gucken, und streckten sich von dort aus - begehrlich nach den Eichenwipfeln – es sah aus, als sollten allmählich Wald und Haus und der springende Wasserstrahl in eine grüne Dämmerung zusammengesponnen worden.

Die Fenster jedoch hatten sich der gefährlichen Umarmung entzogen – der neue Besitzer schien Luft und Licht zu lieben. Statt der erblindeten in Blei gefaßten, runden Glastafeln umschloß der steinerne Fensterrahmen jetzt ungeheure Spiegelscheiben; durch sie fiel das Licht von zwei Seiten in die Halle, deren beide sich gegenüberliegende Thüren weit zurückgeschlagen waren.

Der schönen Frau kam auch nicht das leiseste Gefühl der Wehmuth, als ihre Blicke über die mit Holztapeten bekleideten Wände hinglitten, die Jahrhunderte hindurch die Ahnenbilder der Zweiflingen auf ihrer Fläche getragen hatte sie doch mit froher Hast die Erlaubnis zum Verkauf des „alten Nestes“ gegeben, und der Erlös das ganze Erbtheil der letzten Zweiflingen – war gerade hinreichend gewesen, zwei brillante Pariser Hoftoiletten zu bezahlen.

Auf den Steinfließen der Halle lagen Tiger- und Bärenfelle; schwere, ziemlich derb gearbeitete Stühle und Tische von Eichenholz standen gruppenweise in der Mitte und in den vier Ecken, und am Plafond hing ein prachtvoller, aus Waffen zusammengesetzter Kronleuchter. Verweichlicht schien der neue Bewohner nicht zu sein; da sah man weder Polster, noch Vorhänge, und auch nicht eine Spur jener zierlichen Nippes und Gerätschaften ohne Zweck, mit denen sich die Elegants unserer Tage umgeben – wohl aber bezeugten die am Boden liegenden Thierfelle und eine auserlesene Waffensammlung an der südlichen Wand, daß der Mann es liebe, seine Kraft im Kampfe mit den grimmigsten Feinden des Menschen zu erproben.

Auf der Terrasse stand ein gedeckter Tisch, und das sämmtliche auf demselben befindliche Trinkgeräth bestand aus gediegenem Silber, das erkannte das geübte und verwöhnte Auge der vornehmen Dame sofort. Der Herr des Hauses hatte ohne Zweifel hier gefrühstückt, in diesem Augenblick jedoch stand sein Stuhl leer, und diese Abwesenheit nutzte ein Papagei weidlich aus, indem er das liegengebliebene Weißbrod auf dem Tische umherzerrte. Nach jedem Bissen, der ihm vortrefflich zu schmecken schien, schrie er aus Leibeskräften: „Rache ist süß!“ lief auch wohl bis an den Rand des Tisches, so weit seine Kette reichte, und belferte nach einem der steinernen Edelknaben, auf dessen Schulter ein allerliebstes Löwenäffchen kauerte – es saß bewegungslos und starrte melancholisch in den deutschen Wald hinein.

Plötzlich fuhr die lauschende Dame auf, und ein finsterer, gehässiger Zug entstellte die feinen Lippen – wie kam der widerwärtige Mensch hierher? … Mußten denn das Waldhaus und diese verhaßte Erscheinung immer und ewig mit einander verknüpft sein? …

Es war der alte Sievert, der aus der Halle trat. Auch ihn hatte die Baronin nicht wiedergesehen. … Das war noch dasselbe dunkle Gesicht mit den harten, grobzugehauenen Zügen, welches einst so frech gewesen, der unwiderstehlichen Jutta von Zweiflingen stets und immer eine unerbittliche Strenge entgegenzuhalten – aber gealtert hatte der Mann nicht, und jetzt, wo ein Sonnenstrahl über seinen Kopf hinlief, sah man die helle, frische Röthe einer gekräftigten Gesundheit auf seinen Wangen leuchten.

Er schalt den Papagei und klopfte ihn mit einem silbernen Löffel auf den Rücken, worauf sich das Thier schreiend aus dem Staube machte und schleunigst auf seinen Ring zurückkletterte. Der alte Soldat räumte das Geschirr zusammen, nahm einige auf den Stühlen umherliegende aufgeschlagene Bücher, um sie sorgfältig auf dem Tische zu ordnen, rückte einen Cigarrenkasten [179] daneben und trat dann, die Platte mit dem Silber auf dem Arm, in die Halle zurück.

Dieser Anblick genügte, um der schönen Frau sofort eine Fluch verhaßter Erinnerungen aufzudrängen. … Der schreckliche Mensch dort hatte sie einst gezwungen, hie und da den schwarzen Kochtopf in die Hand zu nehmen, in die Hand, die jetzt den Ehering des mächtigsten Mannes im Lande trug – der Gedanke, daß diese weißen Finger ein Verbrechen begangen, hätte die Dame nicht mehr aufregen können, als die Erinnerung an die schändenden Rußflecken. … Ferner hatte sie recht gut gewußt, daß der alte Soldat zu Ende des Quartals stets den Unterhalt für sie und ihre Mutter aus seiner Tasche bestritten – die Baronin Fleury, Excellenz, hatte somit Bettelbrod gegessen – und dort in dem Thurmzimmer war die alte, blinde, eigensinnige Frau gestorben mit den furchtbarsten Anklagen auf den Lippen gegen den, dessen stolzen Namen die Tochter jetzt führte – auf jener Terrasse aber hatte einst in einer lauen Sommernacht ein Mann gestanden, der hohe, schöne Mann mit dem prächtigen, blonden Vollbart, dem schweigsamen Mund und melancholischen Gesicht, und an seine Brust hatte sich ein junges Mädchen geschmiegt, auf seinen ungestümen Herzschlag lauschend – über die Waldwipfel aber war der Mond gekommen, groß und voll, und das junge Mädchen hatte geschworen, geschworen – die Frau hinter dem Strauch fuhr in die Höhe wie von Furien aufgejagt – fort, fort! … welcher dämonisch heimtückische Zug hatte sie hierhergeführt! …

Ihr verfinstertes Gesicht war todtenbleich geworden, aber nicht unter den Schmerzen fruchtloser Reue – das war Grimm, unauslöschlicher Haß, mit welchem die schwarzen Augen noch einmal zurückblickten nach dem unseligen Hause, das die letzte Zweiflingen so „entwürdigt, kindisch und thöricht“ gesehen hatte – und doch haftete ihr flüchtiger Fuß plötzlich wieder am Boden, denn aus der Halle trat in diesem Augenblick auch eine Männergestalt.

Unser Pygmäengeschlecht steht heutigen Tages voll ungläubiger Verwunderung in den alten Rüstkammern und sinnt, was das wohl für Gestalten gewesen, die einst unter dieser Wehr- und Waffenlast sich so gewandt und unbeschwert bewegt hatten, als schritten sie leichtbeschuht über die Fließen des Banketsaales – dort stand eine solche Reckenerscheinung – dieses schöne braune Gesicht würde sicher unter dem wuchtigsten Helm trotzig gelächelt haben, und die mächtige, kraftvolle Gestalt mit der breiten Brust und dem stolzgetragenen Haupte, die nach Frau von Herbeck’s Aussage „wie ein Gott“ zu Pferde sitzen sollte, hätte wohl auch im klirrenden Eisenpanzer die südliche Geschmeidigkeit der Bewegungen nicht verleugnet.

Heute konnte die Baronin den Fremden mit mehr Ruhe und Muße beobachten; ein breitrandiger Pflanzerhut hatte vorgestern sein Gesicht halb beschattet; nun sah sie tiefgebräunte Züge mit der tadellosen Linie des Römerprofils – kein Bart verdeckte die klassische Rundung des Kinnes und der Wangen. Die braune Haut verdankte er offenbar mehr der Einwirkung des tropischen Himmels und seinen muthmaßlichen Strapazen und Streifzügen unter demselben, als seiner südlichen Abkunft – denn die Stirn, die der Hut beschützt hatte, war bleich wie Alabaster, aber, seltsam – sie leuchtete förmlich, und doch gab gerade sie dem jungen Gesicht – der Mann mochte vielleicht dreißig Jahre zählen – den Ausdruck eines gereisten, finsteren Ernstes, ja, die zwei einschneidenden Furchen zwischen den stark entwickelten Brauen trugen entschieden das Gepräge des tiefsten Mißtrauens, einer förmlichen feindseligen Protestation gegenüber dem gesammten Menschengeschlecht.

Mit einer eigenthümlich sanften Bewegung, die an dieser hünenhaften Erscheinung doppelt auffiel, streckte der Portugiese seinen linken Arm aus – das Aeffchen sprang hinüber und legte die kleinen Arme mit der Zärtlichkeit eines Kindes um den Hals seines Herrn – der lauschenden Dame kam plötzlich die rätselhafte Empfindung, als müsse sie das unschöne Thier von ihm wegschleudern … hatte dieser heiß und jäh aufsteigende Gedanke die Eigenschaft eines fortspringenden elektrischen Funkens? … der Portugiese schüttelte in diesem Augenblick das kleine Geschöpfchen ziemlich unsanft ab, trat an die erste Treppenstufe und sah gespannt und aufmerksam nach der Richtung, wo die Baronin stand sie erkannte jedoch sofort, daß der Blick nicht ihr galt.

Schon einmal war der Neufoundländer, der vorgestern dem Töchterchen des Neuenfelder Pfarrers das Leben gerettet, an ihrem Versteck vorübergekommen – das Thier war rasch, mit keuchendem Athem gelaufen, hatte, als werde es gejagt, den ganzen Kiesplatz durchmessen und war dann hinter dem Waldhause verschwunden – jetzt kam es wieder.

„Hero, hierher!“ rief sein Herr hinüber.

Der Hund lief weiter, als habe er auch nicht einen Laut gehört; er beschrieb in seinem Lauf abermals den weiten Bogen um das Haus.

Der Mann dort war jedenfalls furchtbar jähzornig und heftig – seine braunen Wangen waren bleich geworden vor Grimm – er sprang die Stufen herab und erwartete das lautkeuchende Thier, das eben in gestrecktem Lauf wieder hinter dem Haus vorkam – ein erneuter, drohender Zuruf blieb ebenso erfolglos, wie der erste.

Mit zwei Sätzen sprang der Portugiese auf die Terrasse zurück, verschwand im Hause und kam sofort mit einem Terzerol in der Hand wieder heraus.

Das widerspenstige Thier schien zu ahnen, daß ihm eine Gefahr drohe – dahin rasend, so daß sein Leib fast die Erde berührte, verließ es den Kiesplatz und bog in einen der Waldwege ein, die nach dem See führten – sein Herr, der es noch im Verschwinden sah, sprang ihm nach.

Nun floh aber auch die entsetzte Frau. … Sie lief auf dem Wege zurück, den sie gekommen – den Sonnenschirm fortwerfend, hielt sie beide Hände auf die Ohren, um den Schuß aus der Waffe des erzürnten Mannes nicht zu hören. …

Der Weg, den der Hund eingeschlagen, beschrieb weit mehr Schlangenwindungen, als der, auf welchem die Baronin flüchtete, und doch, als sie athemlos die Waldwiese erreichte, umkreiste das Thier dieselbe bereits ebenso, wie den Kiesplatz – wohl streckte es die Zunge lechzend aus dem Rachen, allein die flüchtigen Füße zeigten keine Spur von Ermattung, es sah aus, als werde es von einer unsichtbaren Macht vorwärts geschleudert.

Die Lakaien hatten sich schützend vor den vollständig arrangirten Frühstückstisch gestellt, der jeden Augenblick in Gefahr war, umgerissen zu werden – aber keiner von ihnen wagte, sich an dem riesigen Thier zu vergreifen, oder es fortzuscheuchen.

Fast mit der Baronin zugleich, nur von einer anderen Seite, trat der Portugiese aus dem Walde, und in demselben Augenblick kam auch Gisela in Frau von Herbeck’s Begleitung vom See her – die schöne Frau stürzte auf die beiden Damen zu.

„Er ist ein Wütherich! … Er will den Hund erschießen, weil er ihm nicht gehorcht!“ flüsterte sie mit vibrirender Stimme und deutete nach dem Mann, der mit heftig arbeitender Brust und bleichem Gesicht dort stand – trotz der sichtlichen, tiefen, inneren Erregung hob er doch mit einer ruhigen, beherrschten Bewegung den Arm –

„O mein Herr, der Hund hat einem Kinde das Leben gerettet!“ rief Gisela – sie flog über die Wiese und warf sich zwischen den eben heranrasenden Hund und seinen tieferbitterten Herrn – sie fühlte sich plötzlich von einem Arm umfaßt und hinweggerissen, zugleich krachte ein Schuß, und das prächtige Thier brach dicht vor ihren Füßen zusammen. … Das junge Mädchen, das nie auch nur die leiseste Berührung einer anderen Hand duldete und infolge dieser seltsamen Scheu selbst Lena’s Dienstleistungen consequent zurückwies – es wurde jäh an ein heftig klopfendes Herz gepreßt, sie fühlte den Athem eines Menschen über ihre Stirn hinstreichen – entsetzt schlug sie die Augen auf – sie sah in das tief herabgebeugte Gesicht des Portugiesen, dessen dunkle Augen mit einem räthselhaften Ausdruck auf ihr ruhten. … Die gräfliche Waise hatte in ihrem Leben unzählige Mal die Besorgniß um ihren leidenden Zustand aussprechen hören – immer dieselben Phrasen, die ihr gesundes Gefühl abstießen und sie schließlich zu einem fast rauhen Widerspruch herausforderten – ein Blick voll wirklicher zärtlicher Angst läßt sich nicht heucheln, ihn hatte sie nie kennen gelernt, und deshalb begegneten ihre Augen verständnißlos denen des Portugiesen. …

Dagegen begriff sie sofort, daß er sie nur hinweg gerissen hatte, weil sie ihm im Wege gewesen, und daß Frau von Herbeck’s Ausspruch: „er suche etwas darin, sie zu beleidigen“, begründet sei – denn er zog urplötzlich seinen Arm an sich und trat jäh zurück, als habe er den kalten Leib einer Schlange berührt.

Dies Alles hatte sich in wenige Augenblicke zusammengedrängt. Der Portugiese warf das Terzerol von sich und bog [180] sich über den Hund, der, unmittelbar in’s Herz geschossen, ohne Laut verendete. … Wie tief gruben sich in dem Moment die verhängnißvollen Linien in die weiße Stirn des Mannes, aber im Verein mit den fest aufeinander gepreßten Lippen machten sie nur den Eindruck eines finsteren Schmerzes.

Er sah nicht auf, als auch jetzt die Baronin und Frau von Herbeck herübereilten.

„Aber, theuerste Gräfin, wie unvorsichtig! Welchen Schrecken haben Sie uns gemacht! – mir zittern alle Glieder vor Alteration!“ rief die Gouvernante mit fliegendem Athem und breitete die Arme aus, als wolle sie das auffallend bleich gewordene junge Mädchen schützend an ihre Brust ziehen – ein finsterer Blick aus den braunen Augen machte jedoch die gehobenen Arme sofort sinken. Ihr emphatischer Ausruf war verunglückt – es schien sich Niemand dafür zu interessiren, daß sie sich alterirt hatte. Sie trat dicht an den Hund heran.

„Armes Thier – daß es hat sterben müssen!“ sagte sie mitleidig – aber diese Frau verstand sich meisterhaft auf die Modulation ihrer Stimme – der Vorwurf in diesen Tönen klang förmlich beleidigend.

Der Portugiese richtete sich empor und sah auf die Gouvernante nieder – sie meinte, unter diesem Blick versteinern zu müssen.

„Glauben Sie denn, meine Dame, ich habe das Thier zu meinem Vergnügen niedergeschossen?“ fragte er mit einem seltsamen Gemisch von Zürnen, Sarkasmus und Schmerz – der Mann sprach ein schönes, reines Deutsch.

Er streckte einem der herzugetretenen Lakaien, welcher sich niederbog, um das Fell des Thieres zu streicheln, abwehrend die Hand entgegen.

„Seien Sie vorsichtig – der Hund war toll!“ warnte er.

Jetzt schnellte Frau von Herbeck mit einem lauten Aufschrei zurück – ihr Fuß hatte fast die Schnauze des todten Thieres berührt. Die Baronin dagegen trat furchtlos näher – sie hatte sich bis dahin mehr seitwärts gehalten.

„Dann haben wir ja alle Ursache, Ihnen für die Errettung aus großer Gefahr zu danken, mein Herr!“ sagte sie – nur dieser Frauenmund konnte so hinreißend und zugleich so vornehm unnahbar lächeln – „Ich wohl ganz speciell,“ fuhr sie fort; „denn ich promenirte eben noch mutterseelenallein im Walde.“ .

Es war nur eine ganz banale Phrase, die diese rothen Lippen aussprachen, und doch schien sie den Eindruck eines tiefsinnigen, schwer zu begreifenden Orakels zu machen – denn der Fremde stand, Auge in Auge, wortlos vor der schönen Frau. Sie kannte genau den Zauber ihrer blendenden Erscheinung, ihrer bestrickenden Stimme, allein diese blitzähnliche Wirkung war ihr neu. … Der Mann rang offenbar mit sich selbst, um den Eindruck zu bekämpfen – vergebens, nicht einmal eine linkische Verbeugung brachte die so elegante, ritterlich gewandte Gestalt fertig.

Die Baronin lächelte und wandte sich ab – ihre Augen fielen auf die junge Gräfin, die mit fest aufeinander gepreßten Lippen diese seltsame Bewegung beobachtete.

„Kind, wie siehst Du aus?“ rief sie erschrocken – ihre Besorgniß ließ sie offenbar Alles um sich her vergessen – „Jetzt werde ich auch wie Frau von Herbeck schelten müssen! … Es war unverantwortlich von Dir, hierher zu laufen, wo Dir der Schuß und der schreckliche Anblick die Nerven erschüttern mußten! … Wie magst Du nur daran denken, jemals gesund zu werden, bei der Nonchalance, mit der Du Dein Leiden behandelst?“

Dieses Alles sollte der Ausdruck zärtlicher Sorge sein, und doch – wie unpassend klangen die Vorwürfe, welche ebenso gut an ein zehnjähriges Kind gerichtet sein konnten, dem Mädchen gegenüber, das so jungfräulich und so stolz dort stand! … Ueber ein heißes Erröthen, das jäh über ihr weißes Gesicht bis an das mattblinkende Haar hinauflief, hatte sie keine Macht, wohl aber über ihre Lippen, die nicht ein Wort erwiderten. Sie hatte eine eigentümliche Art zu schweigen – das war weder das Verstummen blöder Verlegenheit, noch eines trotzigen Verstocktseins – so mild und ausdrucksvoll schweigt die geistige Ueberlegenheit, die jedes unnütze Wort geflissentlich vermeidet.

Frau von Herbeck nannte das „den gräflich Völdern’schen Dickkopf in ausgeprägtester Form“, eine Auffassung, die sie auch jetzt veranschaulichte durch maliciös zugespitzte Lippen und ein mißbilligendes Kopfschütteln.

Niemand beobachtete den raschen Blick, den der Fremde bei dem besorgten Ausruf der Baronin auf Gisela warf – wer ihn aber gesehen hätte, wie er unter den tiefgefalteten Brauen hervor die hohe, unnahbar stolze Mädchenerscheinung streifte, der würde für jenes junge Wesen gezittert haben, das unbewußt der Gegenstand einer wahrhaft fanatischen Erbitterung war. …

Der Portugiese trat geräuschlos in das Gebüsch zurück und war verschwunden, als die Damen sich wieder nach ihm umwandten.

(Fortsetzung folgt.)


Ein Tag in Düsseldorf.
Von Ferd. Heyl.


Es ist eine erfreuliche Thatsache, daß an den Ufern des „deutschen Stromes“ die bildenden Künste neuerdings eine Pflegstätte gefunden, welche neues Leben, neue Anschauungen in Kreise verpflanzt, die sich bisher in Sachen der Malerei und Sculptur allzu ablehnend verhielten. Am Niederrhein zumal, wenn auch abgeschieden von den idyllischen Schönheiten des vielbereisten Stromes, hat sich eine Pflanzstätte der edlen Malerkunst aufgethan, welche in vollster Wahrheit auf den Namen einer „deutschen Kunstschule“ Anspruch machen darf. Das freundliche Düsseldorf verbreitet in neuerer Zeit seinen Namen durch alle Welt, und mehr als sein Handel, mehr als seine Beziehungen zur rheinischen Schifffahrt, mehr als seine Fabrikate, Düsseldorfer Senfe und Düsseldorfer Punschextracte, mehr als seine Walzwerke und Maschinenfabriken trägt seinen Ruf über Länder und Meere seine Malerakademie, wenn auch die Hauptpfeiler der dortigen Kunstgenossenschaft nicht alle in bestimmter Beziehung zu der Düsseldorfer Kunstanstalt selbst stehen.

Die Gartenlaube gestattet uns wohl, eine Anzahl derjenigen Künstler hier zu registriren, welche den Ruf der Düsseldorfer Schule der Nachwelt bewahren werden. Gehören doch die meisten derselben noch heute dem Leben an, und bildet doch die Gartenlaube eine Chronik unserer Tage auch für spätere Zeiten. Da wären denn zu nennen: E. Sohn, Bendemann, Köhler, Schirmer, E. F. Lessing, Th. Hildebrandt, Rudolph Jordan, Richter, Emanuel Leutze, die beiden Achenbach, Alfred Rethel, E. Deger, Ittenbach, Carl und Andreas Müller, A. Tidemand, Hans Gude, A. Schrödter, E. Hübner, Christian Böttcher, Wilhelm Camphausen, Leu, Scheuren, Preyer, Hasenclever, Becker, Dielmann (jetzt in Frankfurt), Meyer von Bremen (jetzt in Berlin), Eduard Gesellschap, Theodor Mintrop, A. Weber, (die beiden Heß sind zwar geborene Düsseldorfer, zählen aber eigentlich zur Münchener Schule); sodann Wilhelm Sohn, J. Röting, Benjamin Vautier, Hiddemann, Litschauer, Sell, Hoff, Baur, Beckmann, von Gebhard, Carl Lasch, Kindler, Salentin, Bosch, Kessler, Alex. Michaelis, Ad. Schmitz, von Beckerath, Siegert, Deiker, Kröner, Schütz und noch viele Andere, welche sämmtlich aufzuführen unser Raum nicht gestattet. Bei einer so großen Anzahl tüchtiger Künstler scheint der Ruf Düsseldorfs als Malerschule für alle Zeiten verbürgt.

Auch unter dem jüngeren Nachwuchs wären gar manche Talente der besonderen Erwähnung werth; wir haben in unserer Zusammenstellung derselben so wenig gedacht, wie des gegenwärtig ebenfalls nach Düsseldorf übergesiedelten Ludwig Knaus, des Schöpfers der „Taufe“, der „goldnen Hochzeit“ und vieler anderer Meisterwerke, dessen Wesen und Kunstschöpfungen ihn der Düsseldorfer Schule, der deutschen Malerei so innig zugesellen, wie irgend einen der Genannten. Ihm gelte für heute unser „Tag in Düsseldorf“, indem wir uns vorbehalten, der Gartenlaube gelegentlich weitere Portraits aus der „Düsseldorfer Kunstgenossenschaft“ zu liefern.

Ein trüber Tag war es, der uns zu dem raschen Entschluß

[181]

Ludwig Knaus.

bestimmte das bei Regenwetter ziemlich unleidliche Köln zu verlassen, um den befreundeten Künstler in seinem neuen Heimwesen in Düsseldorf aufzusuchen. Unfreundlich sind die Landesstrecken zwischen Köln und der Malerstadt. Kohlenlager und Fabrikwesen kennzeichnen die dem rheinischen Auge allzu flach scheinende Strecke zwischen beiden Orten, die Wupper trägt zur malerischen Staffage der Landschaft nicht bei, und aus diesem Grunde erfreut sich Düsseldorf wohl leider seltener des Besuches der Rheinreisenden, allerdings zum Schaden der letzteren. Freundlich aber ist der Eindruck Düsseldorfs selbst. Bietet auch die Rheinseite der Stadt kein überraschendes Bild, so zeigt doch Düsseldorf inmitten seiner Straßen und Plätze ein so malerisches Aeußere, daß es den Ruf einer hellen und offenen Stadt vollständig verdient, ja, wir begreifen recht wohl, daß einzelne Partien des sogenannten Hofgartens auch dem Auge des Landschafters von Profession eine künstlerische Augenweide bieten.

In der Nähe der Stadt, bei dem durch Heinrich Jacobi, durch Sophie La Roche und Goethe bekannten Pempelfort, hat sich Knaus seinen neuen, nun wohl bleibenden Heerd gegründet. Insgemein ist es das Loos des Künstlers, unter Mühen und Entbehrungen und häufig dem ungünstigen Schicksal trotzend, seinen Weg zurücklegen zu müssen, mit Anstrengung alles Fleißes zu streben nach einem Heim. Unserem Künstler hat sich’s aufgethan, mit allen Reizen der gemüthvollen Häuslichkeit. Ehe wir ihn in seinem Atelier selbst aufsuchen, dürfen wir aber wohl einen Blick auf Knaus’ Leben werfen.

Ludwig Knaus ist am 5. October 1829 in Wiesbaden geboren, wo sein Vater, den er in seinen „Puffspielern“ verewigt hat, ein optisches Geschäft betrieb. In der Schule seiner Vaterstadt zeigte sich bereits das erwachende Talent des Knaben. Heute, nachdem der Ruf des Künstlers ein so begründeter ist, erhalten die Zeichnungen seiner Kinderjahre einen gewissen Werth für seine Lebensgeschichte, und die Stammbuchblätter der Schulgenossen unseres Knaus zeigen schon in jener Zeit selbstcomponirte Entwürfe, deren Motive dem jugendlichen Talente ebenso große Ehre machen, wie ihre geschickte Ausführung in Farben. Nicht geringen Kummer verursachte die leidenschaftliche Vorliebe für die edle Zeichen- und Malerkunst dem Knaben schon in seinen frühesten Jahren. Es verging kein Abend, an dem er nicht mit heißen Kämpfen sich seinen Platz am elterlichen Tisch erobern mußte, wenn die mütterliche Fürsorge und der väterliche Wille den emsigen Zeichner zu nächtlichen Ruhe verweisen wollten. Aber mit eiserner Consequenz, welche seine Bestrebungen auch später kennzeichnet, wußte er sich sein Plätzchen zu sichern, bis ihm vor Erschöpfung Augen und Hand den Dienst versagten.

[182] Den ersten geregelten Unterricht im Zeichnen und Malen empfing Knaus in Wiesbaden durch den Zeichenlehrer Albrecht, später durch den vormals Nassauischen Hofmaler Professor Jacoby. Knaus’ eigentliche Schule aber war das Leben, seine Vorbilder waren ihm überall gegeben, seine Empfänglichkeit für Alles, was an seinem körperlichen und geistigen Auge vorbeiflog, bildete ihn zu dem, was er geworden; seine höchste Zierde und die Grundlage seiner Meisterschaft ist – sein Gemüt, seine echt deutsche Empfindung. Knaus ist ein deutscher Maler, wie wenige, das kennzeichnet sich durch seine Stoffe. Nicht als ob Knaus in Paris nicht viel für seine Kunst gewonnen und erfahren, die Wahrheit künstlerischen Schaffens gehört indeß nicht einer Nation, sie gehört nicht einer Schule ausschließlich, sie gehört eben nur der Wahrheit an.

Knaus bezog sehr früh die Malerschule in Düsseldorf und erregte hier in kurzer Frist die allgemeine Aufmerksamkeit nicht nur des Publicums, sondern auch seiner Genossen. Professor Sohn und andere Meister der Düsseldorfer Schule glaubten Knaus zur Historie berufen, das Talent des Künstlers fand indeß seinen Weg in anderer Richtung. Dies zeigten seine Erstlingswerke. Eine durch Frische und Leben ausgezeichnete Composition: „Tanz um die Dorflinde“ überraschte durch treffliche Ausführung in Zeichnung und Colorit. Ihr folgten „Die Spieler“, gegenwärtig in der städtischen Gemäldegalerie zu Düsseldorf, wenig unterschieden von einer andern Ausführung desselben Vorwurfs, die zur Zeit das Leipziger Museum besitzt (Gartenlaube Nr. 3 1862[WS 1]). Das Bild begründete zuerst den Ruf des Künstlers, und in der That, der gewaltige Eindruck dieser Scene, so fern von aller Uebertreibung, so ergreifend und wahr und gleichzeitig so erschütternd wirkend, mußte die allgemeine Aufmerksamkeit auf den jugendlichen Autor lenken. Knaus’ Künstlerschaft war documentirt, und als das Jahr 1852 der Berliner Kunstkritik das „Leichenbegängniß im Walde“ auf der Ausstellung der Akademie vorführte, war das Urtheil allgemein, daß Düsseldorf in ihm einen Stern erster Größe besitze.

Wir können uns bei den einzelnen Werken des Meisters leider nicht verweilen und müssen, dem Wunsche der Gartenlaube entsprechend, der naheliegenden Versuchung eingehenderer Schilderung seiner einzelnen Compositionen widerstehen, zugleich voraussetzend, daß Stich und Druck die Schöpfungen unseres Künstlers der deutschen Nation schon genügend nahe gebracht haben.

Knaus hat nicht versäumt, die Welt zu sehen, seine künstlerischen Wandertage führten ihn nach Belgien, Italien, der Schweiz, Tirol, München, Holland; er streifte durch die Ebenen des hessischen Landes, wie über die Höhen des Schwarzwaldes und des Rheines, und hatte stets das Ziel im Auge, durch lebendige frische Anschauung sich selbst und sein Talent zu bilden. Im Jahre 1852 übersiedelte Knaus nach Paris, zum Glück für ihn, zum Glück für uns. An den Meisterwerken und Sammlungen der Weltstadt bildete sich des Künstlers Auge und Erfahrung; mitten in dem Getriebe der französischen Metropole verbreitete sich der Ruf seiner Meisterschaft. Fast unbekannt erschien er dort mit seinem den Franzosen fast unaussprechlichen Namen Knaus (Knos)! „Qui est ce Monsieur Knaus? C’est un Russe – un barbare!“ Und wie lange währte es, – der stille, ruhige, deutsche Knaus erschien mit seinem „Morgen nach einer Kirmeßnacht“ auf der Ausstellung und errang sich die goldene Medaille zweiter Classe als Preis. Von da ab haben sich unsere Nachbarn jenseits des Rheines zum Oefteren die Mühe gegeben, Knaus für sich zu annectiren; man sah in Paris von dem barbarischen Namen ab und stempelte in öffentlichen Berichten den Künstler ohne Weiteres zum Franzosen. Diese Annexion sollte der großen Nation indeß nicht gelingen, und der Künstler gehört nunmehr nach den politischen Veränderungen der letzten Jahre in doppelter Beziehung dem selbstgewählten Heimath- und Vaterlande Preußen an, obschon die französische Regierung durch eine Reihe von Auszeichnungen ihn an Paris zu fesseln suchte.

Das deutsche Vaterland vergaß des Künstlers ebenso wenig wie er die Heimath; was Knaus in jener Periode in Paris geschaffen, hat größtenteils auch dort bleibende Stätte gefunden.

Mit wahrhaftem Enthusiasmus wurden aller Orten die Meistergebilde begrüßt, die er 1859 und 1860 in Paris vollendete: die „Taufe“ und die „goldene Hochzeit“. Diese beiden echt deutsch empfundenen Compositionen haben Knaus zu einem Volksmaler gestempelt, denn wer hätte nicht im Kupferstich, in Photographie oder sonstiger Nachbildung das tiefe Gemüth des Künstlers und seine geniale Wiedergabe dieser innig empfundenen Familienscenen bewundert! Die Nachbildungen dieser Werke, besonders in den Goupil’schen Stichen, sind in ganz Europa verbreitet.

Im folgenden Jahre übersiedelte Knaus, nachdem er schon früher aus seiner Vaterstadt Wiesbaden eine Gattin heimgeführt, von Paris nach Deutschland und wählte zunächst seine Vaterstadt, dann Berlin als bleibenden Aufenthalt. Die Sommermonate brachte er regelmäßig in seiner Heimath zu. In Berlin entstanden in kurzen Zwischenräume der bekannte „Taschenspieler“, den Goupil in Paris ankaufte, und ferner der „Auszug zu einem ländlichen Fest“, welche Werke beide in Paris ausgestellt waren. Während des Sommeraufenthaltes in Wiesbaden schuf der Meister die „Puffspieler“, denen in Berlin dann in verhältnißmäßig kurzer Reihenfolge „Die Wochenstube“, „Die Kleinstädter in der Schenke“ (jetzt Eigenthum des Kunst-Vereins seiner Vaterstadt) und die „Passeyrer Raufer“ folgten.

Die letzten drei Jahre war Knaus fast ausschließlich seiner Geburtsstadt Wiesbaden wiedergegeben und vollendete hier vornehmlich das allgemein bekannt gewordene Gemälde „Seine Hoheit auf Reisen“, dessen Entstehen und Fortschreiten wir selbst Gelegenheit hatten zu verfolgen. Gegen die Annahme, daß der Künstler bei diesem Werke portraitirt habe, verwahrte er sich stets auf das Entschiedenste, und wir dürfen ihm um so mehr Recht geben, als seine Figuren im strengsten Sinne des Wortes eigentlich alle Portraits sind. Hierin beruht ja eben die gewaltige Wirkung der Knaus’schen Schöpfungen, seine Gebilde tragen den ewig wahren Stempel der Natur, seine Figuren sind alle vorhanden, sein Pinsel zeichnet uns immer nur – Menschen!

So sagt Friedrich Pecht in seinen Pariser Briefen bei Gelegenheit der Welt-Ausstellung: „Es möchte schwer fallen, auch nur einen einzigen Menschen bei Knaus zu treffen, den er nicht lebendig empfunden, leibhaftig vor sich herumspazieren gesehen. Es sind niemals Modellfiguren, die er bringt, sie sind alle im Leben beobachtet, mit Blitzesschnelle in jedem Zuge einem getreuen Gedächtnisse einverleibt worden. Kurz, niemals wird man von Knaus weggehen, ohne erfreut und erheitert zu sein, und man wird sich erst nachher darauf besinnen, wie groß das malerische Talent sein müsse, welches eine so unwiderstehliche Wirkung auf Alt und jung, Kenner und Nichtkenner, auf alle Nationen und Stände ausübt.“

Der Aufenthalt in Wiesbaden konnte dem Meister im Allgemeinen die Anregung nicht bieten, welche für seine Entwürfe so erforderlich war. Die innige Liebe und Anhänglichkeit an Heimath und Familie hatten den Künstler nach Wiesbaden zurückgeführt. Hier arbeitete er in beschaulicher Ruhe, gänzlich abgeschieden von dem bunten und geräuschvollen Getriebe der Badestadt. Eine aussichtreiche Garten-Anlage umgab das auf einer Anhöhe in nächster Nähe der Stadt gelegene Atelier des Künstlers, und selten nur verließ er seine freundliche Häuslichkeit, aber die Annehmlichkeiten dieses Wohnsitzes konnten Knaus auf die Dauer ebensowenig, wie die Reize der seine Vaterstadt umgebenden Landschaften, den so notwendigen und anregenden Verkehr mit den Collegen ersetzen. Die Erinnerungen an die Studienjahre wirkten mächtig in ihm, und wenn auch ungern, doch zum Vortheil seiner Kunst, sahen wir ihn im vorletzten Herbst von Wiesbaden nach Düsseldorf scheiden, wo er unterdessen sich ein neues Heimwesen selbst hergerichtet hatte. Von den Kunstgenossen dort ward er mit aufrichtiger Freude empfangen; wie Oswald Achenbach dem Schreiber dieses gelegentlich eines Zusammentreffens in Aßmannshausen versicherte: „Von Euch kann der Verlust nicht so tief empfunden werden, als uns Alle der Gewinn des Meisters für unsere künstlerischen und geselligen Kreise erfreut.“

Und in der That, Knaus ist ein frischer lieber Genosse, für seine Freunde ein Charakter so offen und ehrlich, so bescheiden und anspruchslos wie wenige. Diese Bescheidenheit bei der bewährten Anerkennung seiner Künstlerschaft thut doppelt wohl im Umgang mit ihm, um so mehr, als man sofort erkennen lernt, wie streng er in seinen Anforderungen gegen sich selbst ist. „Er ist ein Mann, nehmt Alles nur in Allem!“

Das erste größere Werk des Düsseldorf Aufenthaltes war der kürzlich in Wien ausgestellte „Katzentisch“, der noch in jüngster [183] Zeit in allen Journalen des In- und Auslandes in so ehrender Weise von dem Meister reden machte. –

Wir finden bei unserm Besuche den Künstler im Vorraum seines Hauses und dürfen aus unserm Empfang wohl schließen, daß wir willkommen sind. Mit ehrlich sichtlichem Wohlbehagen zeigt uns der Künstler die innere Einrichtung seines Tusculums. Nicht fürstliche Pracht, aber echt künstlerische Anordnung ist es, was dieses trauliche Besitzthum so anheimelnd gestaltet hat. Knaus besitzt selbst einige Kunstwerke von bedeutendem Werth, und mit unverhohlener Freude an deren Besitz zeigt er uns seine Schätze, fröhlich plaudernd von den Eindrücken des Wiener Künstlerfestes, von dem er eben heimgekehrt, noch in der Erinnerung lebend an manche frohe Stunde, welche er dort mit den Kunstgenossen verbrachte. Das Leben in Wien scheint dem deutschen Künstler ungleich anmuthender gewesen zu sein, als das bewegte, aber häufig kalte Treiben der Weltstadt an der Seine.

Während sich Knaus einen Gartensaal mit eigener Meisterhand ausgemalt, hat er sich das Ideal eines Ateliers im oberen Stockwerk eingerichtet. Die günstigste Berechnung des Lichtes wetteifert hier mit der malerischen Anordnung, ohne daß das Ganze auch nur im Geringsten den Eindruck des Gesuchten erweckte. Prächtige Gobelins schmücken die Wände, welche eine im gothischen Geschmack geschnitzte und verzierte Decke überwölbt, wie denn der gothische Stil sich in dem ganzen Raume einheitlich kennzeichnet. Eine Perle der Malerei, eine Lucrezia von Lucas Cranach, verbirgt ein verschließbarer Schrein. Mittelalterliches Mobiliar, Geräthe und Waffen zieren den Raum, dessen hohe Fenster den Blick in’s Grüne, in das malerische Gärtchen des Hauses, leiten. Wir glauben gern der Versicherung des Künstlers, daß ihm der Aufenthalt in diesen traulichen Räumen erhöhte Lust und frischen Schaffensdrang verleihe.

Und in der That, wir sehen auf der Staffelei eine Gewähr für diese Aeußerung, da der Pinsel des Meisters aus einer harmlosen und doch so innig wahren Scene ein Bild von so ergreifender Wirkung schaffen konnte! Wir dürfen immerhin aus der Schule plaudern, denn wenn unsere Zeilen der Oeffentlichkeit vorliegen, möchte des Meisters Werk schon vollendet sein, und einer Schwatzhaftigkeit machen wir uns nicht schuldig, da unserem Knaus ein Vorwurf so leicht nicht „nachempfunden“ werden kann.

Stelle sich der Leser eine Straße, etwa in Köln, zur Zeit des Carnevals vor. Ein Kinderpärchen, der Knabe als Ritter, das Mädchen als Nonne verkleidet, – Kindermaskeraden wie diese am Rhein allüberall im Fasching Sitte sind – gehen ruhig ihre Straße, etwa um sich mit kindlichem Stolze in ihrem erborgten Schmuck Verwandten oder Freunden der Familie zu zeigen. Sie werden unterwegs von anderen Kindermasken, Strolchen in schäbiger, zusammengestoppelter Gewandung, aufgehalten und in bedrohlicher Weise attakirt. Die Letzteren, die Strolche, lockt und reizt wohl weiter nichts zum Angriff, als die bessere und kleidsamere Maske der Kleinen – der kindliche Neid. Mit ritterlicher Tapferkeit stellt sich der kleine Ritter, der Beschützer der zaghaften Begleiterin, zur Wehre, und doch kann das jugendliche Heldenantlitz die Furcht und Besorgniß vor den muthwilligen und abscheulich herausgeputzten Fratzen nicht verleugnen. Heldenmut im Streite mit kindlicher Furcht!

Und das zarte jugendliche Nönnchen, wie schmiegt es sich so innig, so schwesterlich an den ritterlichen Begleiter, dem der Helmschmuck trotzig und drollig zugleich zu Gesichte steht! Man sehe das Bild, und man erwehre sich der Rührung, welche uns aufrichtig bei dessen Beschauen ergriffen. Wahrlich! die Malerkunst ist vielleicht die schwerste, aber auch die dankbarste unter den Künsten, da eine Meisterhand mit einer so einfachen Scene eine so ergreifende Wirkung zu schaffen vermag. Es ist dies Werk ein neues Blatt im Lorbeerkranze des Künstlers, und wir wollen uns gern darüber trösten, daß es uns nicht vergönnt war, den „Katzentisch“ vollendet zu sehen, der sich zur Zeit unseres Besuches leider noch in Wien befand. Wir hoffen, daß es der Gartenlaube baldigst ermöglicht sein wird, eines der besten Werke unseres Meisters ihrem großen Leserkreis vorzuführen.

Bescheiden und deshalb nie mit sich und seinen Schöpfungen zufrieden, wie dies ja zum Glück für die Kunst das Loos des echten Künstlers immer ist, fragte uns der Meister treuherzig und offen um unser Urtheil über diese neueste Schöpfung, und wir dürfen annehmen, daß unser stummer Häudedruck ihm mehr gesagt hat, als eine Beschreibung des Eindrucks in Worten es vermocht haben würde.

Scherz und heitere Mittheilungen aus Wiesbaden, der bisherigen Heimath des Künstlers, täuschten uns einige Stunden hinweg. Ein glückliches Familienleben, geschmückt durch eine Zahl blühender Kinder, gewährt dem Künstler auch nach dieser Richtung Liebe, Freiheit und Anregung zu künstlerischem Schaffen.

Knaus steht im Zenith seiner Laufbahn. Die deutsche Nation darf von ihrem ersten Genremaler noch viele Kunstschöpfungen erwarten – und jener glückliche Humor, der nicht allein in seinen Werken, der sich auch im Umgang mit ihm ungebunden fühlbar macht, sichert dem Meister eine stets andauernde Frische. Wir schieden, um gegen Abend gemeinschaftlich den „Malkasten“ zu besuchen.

Düsseldorf, die Malerstadt, besitzt eine städtische Gemäldesammlung mit trefflichen Werken, aber leider – keine entsprechende Räumlichkeit für die Ausstellung dieser Perlen der edlen Malerkunst. Eine Stadt, die ein so großartiges Gebäude zur Pflege einer verwandten Kunst, der Musik, erbauen konnte, als welches die städtische Tonhalle sich darstellt, sollte des Näherliegenden nicht vergessen. Recht wie ein verlassenes Waisenkind hat die städtische Sammlung in den obersten Räumen der genannten Tonhalle eine dürftige Stätte gefunden. Entlegen und kaum aufzufinden in dem weitläufigen Gebäude, im Sommer der Sonne ausgesetzt, so daß sich die hier entwickelte Temperatur recht wohl mit den weiland Bleidächern Venedigs messen könnte! Und doch finden sich hier Werke, wie die Weinprobe von Hasenclever, Tidemand’s Haugianer, Knaus’ Spieler, Schrödter’s Don Quixote und Meistergebilde von Lessing, Andreas und Oswald Achenbach, Röting, Schirmer, Sohn und Jordan.

Neuere Bilder wurden bisher in einer Privatausstellung bei E. Schulte dem Publicum zur Ansicht geboten, und da viele dieser Stücke verkäuflich sind, so gewinnt diese Ausstellung mehr den Anschein einer größeren Kunsthandlung. Gegen eine bestimmte Summe zum Vortheil der Künstler-Unterstützungscasse hatten sich die Maler Düsseldorfs zur Ausstellung bei Schulte verpflichtet. Dieses Uebereinkommen hat indeß durch die Entstehung eines Concurrenzgeschäftes – Bismayer und Kraus – beinahe ein Ende gefunden, denn auch die letztgenannte Firma unterhält eine permanente Ausstellung an neuen und älteren Bildwerken. Und wohl finden sich auch in den Räumen dieser Privatunternehmern treffliche Gemälde. Es sind dort alle Meister der Düsseldorfer Schule, auch einzelne der verstorbenen, vertreten. Die Stadt aber ist der Kunst die Gründung eines Ausstellungslocales, einer Kunsthalle, schuldig, in welcher sowohl der städtische Besitz als Mittelpunkt der Gesammtausstellung, als auch die etwa zum Verkauf auszubietenden neueren Bilder einen Sammelplatz finden. Auf diese Weise würde der Beschauer ein einheitliches Bild der Düsseldorfer Bestrebungen in künstlerischer Hinsicht gewinnen, und an klingendem Erfolge dürfte es sicher auch nicht fehlen. Kann sich die Stadt zu diesem Werke der ausgesprochensten Notwendigkeit nicht ermannen, nun, so stehe die in sich selbst so fest geschlossene Künstlerschaft in Ausführung dieses Planes zusammen. Zeugt doch für die herzliche Gemeinschaft der Düsseldorfer Kunstgenossen der weltbekannte – Malkasten.

Es kann unsere Absicht nicht sein, dieses Künstlervereins in ausführlicher Weise zu gedenken, umsomehr, als die gewandte Feder Wolfgang Müller’s der Gartenlaube schon eine treffliche Schilderung lieferte (Jahrgang 1863, Nr. 37). Weilen auch einzelne der Haupthelden jener Mittheilungen, wie Leutze, Michaelis und Andere, nicht mehr unter den lebenden Genossen, der Geist des Malkastens, die Zusammengehörigkeit der Mitglieder desselben, hat sich seitdem womöglich noch inniger gestaltet.

Alle Welt weiß, daß sich die Maler Düsseldorfs durch eigene Werke die ausgedehnten Räumlichkeiten und Parkanlagen des „Malkastens“ selbst erworben haben. Eine Lotterie von Gemälden Düsseldorfer Schule mußte die Mittel beschaffen, und Dank dieser Veranstaltung, das historisch interessante Besitzthum des Philosophen Friedrich Jacobi, geweiht durch den mehrmaligen Aufenthalt Goethe’s, durch die Anwesenheit Georg Jacobi’s, des Lyrikers, der Grafen Stolberg, Jung-Stilling’s, Georg Forster’s und Heinse’s, des Dichters des Ardinghello, kam nicht in profane Hände, es blieb Eigenthum der Kunst, der Musen und ihrer Jünger.

[184] Nirgends scheint uns indeß genügend betont, in welcher wahrhaft künstlerischen Weise hier der Künstler für den Künstler und dessen zuweilen bedürftige Hinterlassenen sorgt. Eine gemeinschaftliche Vorschußcasse in Fällen der Verdienstlosigkeit Einzelner, eine gemeinschaftliche Unterstützungs- und Krankencasse hat ein echt brüderliches Band um die Musenjünger geschlossen, dessen Wirkungen sich schon in tausend Fällen segenbringend und wohlthätig erwiesen.

Als wir am Abend die Räume des Gesellschaftssaales in Begleitung von Knaus und Oscar Begas aus Berlin betraten, hatten wir ein Beispiel dieser innigen Zusammengehörigkeit vor Augen. Vor Kurzem war ein „Malkästner“ in nicht gerade gesegneten Glücksumständen dahingeschieden; seine Hinterbliebenen bedurften der Unterstützung. Rasch regten sich geschäftig Hunderte der Genossen und stifteten für den Zweck einer Verloosung Werke eigener Hand und eigenen Kopfes. Der Werth von eintausendfünfhundert Thalern (nebst einem erklecklichen Betrag für sämmtliche Verloosungskosten) war an jenem Abend in den ausgestellten und gestifteten Kunstwerken erreicht und die Loose zum selben Werthe gleichzeitig innerhalb des Malkastens – dem ungefähr hundert außerordentliche Mitglieder, die geistig bedeutendsten Leute der Stadt, angehören – verkauft und abgesetzt. Eine künstlerische und klingende Unterstützung zugleich! Wahrlich, wo solch’ ein echter Geist der Kunst und Zusammengehörigkeit waltet, da wird Erfolg und treue helfende Brüderlichkeit nimmer fehlen!

Unter Plaudern und Scherzen verfliegen in jenem anregenden Kreise die kurzen Abendstunden. Nahe vor uns, auf dem Ofen, steht ein mächtiger Behälter, der wohl ungefähr einen Eimer Weins zu fassen vermag und den der Malkasten einst für sich erworben. Er stammt aus der Zeit der Goethe-Periode. Damals muthmaßlich als Weinkühler in Benutzung, wird er jetzt öfter im Malkasten als Weinbowle gebraucht. Er sollte auch heute nicht unbenutzt bleiben. – Und siehe, dem blinkenden Messingbehälter entsteigen wunderliche Gestalten! Amoretten und buntwechselnde Landschaften, Charakterköpfe und idyllische Stillleben, Hasenclever’sche Originale und rheinische Burgen, die Schneeriesen der Schweiz, Tirols und wellenbewegte Seestürme. Ueber Allem aber schwebt in lichtstrahlender Glorie der Lorbeerkranz des deutschen Künstlerruhmes, in seiner Mitte die goldblitzenden Worte „Düsseldorf“ und „Malkasten“!




Die Königin von neun Tagen.

In einem der Thürme des Londoner Towers liest man an der Wand eines Zimmers, das früher zum Gefängniß gedient hat, die vier Buchstaben: Jane (Johanna). Sie erinnern an eine der unglücklichsten und lieblichsten Gestalten der englischen Geschichte, an eine Jungfrau, die, kaum dem kindlichen Alter entwachsen, ihr schönes Haupt auf den Block legen mußte, weil sie, von Verwandten und Großen des Reichs gedrängt, die Krone, die ihr zu gebühren schien, nicht zurückgewiesen hatte. „Jane“ ist Johanna Gray, die Königin von neun Tagen.

Auf Heinrich den Achten, den herrischen und grausamen Urheber der englischen Kirchenreformation, war Eduard der Sechste gefolgt. Man mußte darauf gefaßt sein, daß der schwächliche Knabe sterben werde, ehe er eine Heirath eingehen könne. Wem in diesem Falle die Krone gebühre, das vermochte der klügste Mann in England nicht zu sagen. Acht Personen, eigenthümlicher Weise lauter Frauen, konnten Anspruch auf die Krone machen. Die beiden ihrer Geburt zufolge nächsten Blutsverwandten, Marie und Elisabeth, Heinrich’s des Achten Töchter, waren von der Thronfolge ausdrücklich ausgeschlossen worden. Unter den übrigen berechtigten Frauen waren zwei, die beide auf dem Blutgerüst enden sollten: Maria Stuart und Johanna Gray. Die schottische Königin hatte Sünden begangen und Verbrechen wenigstens zugelassen und selbst begünstigt, so daß ihr gewaltsamer Tod als Buße betrachtet werde kann, Johanna Gray war so rein geblieben wie der junge Tag. Als Eduard der Sechste starb, zählte sie kaum sechszehn Jahre, die sie in Stille und Einsamkeit verlebt hatte. Lieblich und schön wie eine Rosenknospe, gewann sie die Herzen durch die Sanftmuth ihres Wesens. Obgleich sie eine Urenkelin Heinrich’s des Siebenten war, hatten ihre Eltern doch nie an den Thron gedacht und dieser Lieblingstochter eine fast gelehrte Erziehung gegeben. Fremder Ehrgeiz machte Johanna zu seinem Opfer. Ihr böser Geist war der Herzog Johann von Northumberland, ein kühner, hochmüthiger und schlechter Mann. Er war unter den englischen Großen der mächtigste. Um den Thron für seine Nachkommen zu erwerben, suchte er für seinen Sohn Guilford Dudley um die Hand Johanna Gray’s nach. Die Eltern fühlten sich durch den Antrag des Herzogs, der in ihren Augen der größte Mann Englands, ja Europa’s war, zu sehr geschmeichelt, um nicht mit Freuden ihre Einwilligung zu geben. Die stille und ernste, doch dabei wahrhaft liebenswürdige Johanna wagte keine Einwendungen zu machen. Sie hegte keine Neigung für den siebenzehnjährigen Guilford und hatte sogar ihr kleines Herzensgeheimniß, doch als sie hörte, daß auch der König ihre Verlobung wünsche, da neigte sie zustimmend den hübschen Kopf und folgte ihrem Verlobten zum Altar. Nach der Trauung bat sie, daß man sie mit ihrer Mutter fortgehen und so lange im elterlichen Hause bleiben lasse, bis sie und ihr Mann zu reiferen Jahren kämen. Ihr Wunsch war ein Befehl; vor der Kirche trennten sich die Neuvermählten. Sechs Wochen nach dieser Trauung war der Thron erledigt, und die Stunde für den kühnen Plan des Herzogs von Northumberland hatte geschlagen.

In einer Sommernacht (6. Juli 1553) entschlummerte König Eduard so sanft, daß sein Tod während dieser Nacht und des ganzen folgenden Tags verheimlicht werden konnte. Diese Zeit benutzte der Herzog von Northumberland für sich. Jedermann wußte, daß Johanna, die jetzige Gemahlin seines Sohnes Guilford, von königlichem Blut sei und ein gewisses Anrecht auf den Thron habe. Die Londoner Rathsherren und angesehensten Kaufleute, die in den Palast beschieden und dort zu dem königlichen Leichnam geführt wurden, schöpften deshalb keinen Argwohn, als der Herzog ihnen ein Papier zeigte und als eine von Eduard dem Sechsten aufgestellte Thronfolge-Ordnung, in der Johanna Gray für die rechte Erbin erklärt wurde, bezeichnete. Die Londoner Herren unterzeichneten dieses angebliche königliche Testament und versprachen, über den Tod Eduard’s so lange zu schweigen, bis die Lords ihn öffentlich bekannt gemacht hätten.

Der Herzog glaubte seinem Sohne Anhänger geworben zu haben und setzte seine Vorbereitungen in der Stille fort. Zwei Aufgaben waren für ihn die nächsten: die Königstochter Maria gefangen zu nehmen und Johanna Gray nach London führen zu lassen. Guilford’s jungfräuliche Gemahlin weigerte sich, das elterliche Haus zu verlassen. Als aber ihr Mann selbst erschien und sich auf ihre Pflicht, ihm zu folgen, berief, machte sie sich mit ihrer Mutter auf den Weg. Sie wußte nicht, daß der König seit drei Tagen todt sei. Plötzlich strömten die großen Lords des Reichs in ihr Zimmer, fielen vor ihr auf’s Knie und küßten ihr die Hand. Der erste von allen war der ewig lachende, ewig über Bösem brütende Graf von Arundel, der Todfeind ihres Hauses. Johanna wurde ohnmächtig, als man ihr sagte, daß sie Königin sei. Sie hatte den König wie eine Schwester geliebt, mit ihm gelesen, mit ihm gespielt, seine Geheimnisse und seine Hoffnungen getheilt, und als sie nun hörte, daß er todt sei, da schwanden ihr die Sinne. Die Lords knieeten noch vor ihr, als sie ihr Bewußtsein wieder bekam, und da alle bei ihrem Seelenheil betheuerten, daß sie kraft ihrer Geburt und nach Eduard’s Willen die rechtmäßige Königin sei, so erklärte sie sich bereit, die Krone, von der sie niemals geträumt habe, annehmen und zu Gottes Ruhm und des Volkes Wohl tragen zu wollen.

Der erste Tag dieser neuntägigen Regierung war ein schöner. Der hellste Sonnenschein strahlte vom Himmel nieder, als Königin Johanna in der königlichen Barke, von einer Flotte anderer Fahrzeuge begleitet, unter heiterer Musik, Glockengeläut und Kanonendonner die Themse hinab zum Tower fuhr. Der alte Bau war Schloß, Gerichtsgebäude und Gefängniß zugleich. Johanna landete an der königlichen Treppe, die nur bei feierlichen Gelegenheiten benutzt wurde, und schritt mit einem Gefolge von Herzogen und Grafen durch Reihen knieender Bürger in die Prunkzimmer des Schlosses. Während sie hier die Huldigungen der Großen annahm, [185] wurde sie in London unter lautem Jubel als Königin ausgerufen. Schön war der Tag, häßlich der Abend. Die arme Johanna sollte erfahren, daß sie ein Spielwerk fremden Ehrgeizes und an einen eiteln, eigensinnigen und schwachen Mann verheirathet sei. Man hatte ihr die Krone gebracht und dabei bemerkt, daß „die andere Krone“ schon bestellt sei. Für wen sollte diese zweite Krone gemacht werden? Für ihren Mann, Lord Guilford, wurde geantwortet, der mit ihr zugleich gekrönt werden solle. Verletzt und schweigend saß sie da, als ihr Gemahl in’s Zimmer trat. Da stand sie auf und sagte ihm, eine Krone sei kein Spielzeug für Mädchen und Knaben, zum Herzoge könne sie ihn ernennen, aber nur das Parlament habe die Macht, ihn zum König zu machen. Guilford begann zu weinen und lief aus dem Zimmer. Nach wenigen Minuten kam er mit seiner Mutter zurück und wiederholte schluchzend, König wolle er sein, Herzog sei ihm nicht genug. Die Königin blieb fest, und nach einer heftigen Scene führte die Herzogin von Northumberland ihren Sohn an der Hand mit sich fort, indem sie erklärte, daß er mit einer undankbaren Frau nicht leben sollte.

Am nächsten Tage kam eine böse Nachricht. Die Ritter, welche mit der Gefangennahme der Prinzessin Marie beauftragt worden waren, hatten das Nest leer gefunden. Trotz aller Veranstaltungen Northumberland’s war der Tod des Königs nicht verschwiegen geblieben. Der böse Graf Arundel hatte der Prinzessin Botschaft geschickt, daß ihr Bruder gestorben und sie in Leben und Freiheit bedroht sei. Rasch hatte sie sich auf’s Pferd geworfen und war die ganze Nacht durch geritten, bis sie jenseits der Ebenen von Suffolk ein festes Schloß erreichte, wo sie sich als Königin ausrufen ließ. Von dort erließ sie nach allen Seiten Aufforderungen, sich um sie, die rechtmäßige Königin, zu schaaren. Die Männer, welche ihr zuströmten, waren fast alle im Herzen gut englisch und gut protestantisch. Wohl befürchteten sie, daß Marie sich von ihren Beichtvätern und von ihren spanischen Freunden locken lassen werde, aber sie wollten es lieber auf diese Gefahr ankommen lassen, als auf einen Bürgerkrieg, der, einmal begonnen, lange dauern und einen furchtbaren Charakter annehmen konnte.

Noch hatte kein Monarch eines anderen Glaubens auf dem Thron gesessen, und erst die blutige Marie – diesen Namen hat die Geschichte ihr gegeben – sollte die Engländer durch ihre Scheiterhaufen belehren, was es heißen will, wenn eine Schülerin von Inquisitoren über ein protestantisches Volk herrscht. Jetzt glaubte man nicht, daß sie viel Schaden thun könne. Sie stand allein, war kränklich und starb wahrscheinlich bald, ohne einen Sohn zu hinterlassen. Dann fiel der Thron an ihre Schwester, die starke und schöne Elisabeth, die an Leib und Seele eine Engländerin war. Was Marie krumm gebogen hatte, richtete Elisabeth gewiß wieder gerade. Mithin war es besser, Mariens Regierung eine Zeitlang zu ertragen, als einen neuen Thronstreit hervorzurufen. Vor allen Dingen sprach das natürliche Recht für Marie. Sie war die älteste Tochter Heinrich’s des Achten, die nächste Thronerbin. Dieses Recht hatte ihr durch keine Scheidungsklage und durch keinen Parlamentsbeschluß genommen werden können.

Die vornehmen Herren hatten sich für Johanna erklärt, die Landedelleute, Bürger und Bauern sprachen sich für Marie aus. Kaum war ihr Banner erhoben, so strömte ihr das Volk in hellen Haufen zu und aller Orten riefen die Sturmglocken sie zur Hülfe. Die vornehmen Herren in Johanna’s Umgebung hielten einen Rath. Truppen mußten abgeschickt werden, aber wer sollte den Befehl übernehmen? Graf Arundel richtete seine Schlangenblicke auf den Herzog von Northumberland, den natürlichen Beschützer Johanna’s, den er entfernen mußte, um die Aermste verrathen zu können. „Der Herzog,“ sagte er, „sei der Feldherr der Partei, mit den aufrührerischen Gegenden bekannt und bei dem Volke wegen oft bewiesener Strenge in lebendigem Andenken.“ Northumberland fügte sich, indem er blos bemerkte: Er wisse ja, daß er die Königin in guten und treuen Händen lasse. Wenn große Namen und tüchtige Generäle den Ausschlag zu geben hatten, so war Marie jetzt verloren. Lauter große Herren, meistens in Kriegen bewährt, waren es, die mit dem Herzog in’s Land ritten, aber es waren Officiere ohne Soldaten, Lords ohne Gefolge. Northumberland bemerkte die Stimmung des Volks noch in London selbst. „Die Leute drängen sich auf unserem Wege zusammen,“ sagte er zu einem Begleiter, „aber nicht ein Einziger ruft: Gott sei mit Euch!“

Marie ergriff vor dem heranrückenden Feinde die Flucht. In einem einzigen Tage machte sie zu Pferde einen Weg von neun deutschen Meilen. Sie brachte sich dadurch in eine Gefahr, die so gut vorüber ging, daß sie nunmehr des glücklichen Erfolges sicher sein konnte. Sie begegnete nämlich Truppen, die der Königin Johanna zugeführt wurden, und sogleich gingen diese Soldaten zu ihr über, so daß die Officiere kaum schnell genug die Pferde herumwerfen und sich durch die Flucht retten konnten. Der Herzog mußte auf seinem Marsche bald genug nothgedrungen Halt machen. Er war unter lauter Feinden, sogar die Matrosen der königlichen Schiffe verließen die protestantische Königin. Nun wankten seine Soldaten, und die großen Herren in seinem Gefolge begannen ihn zu verlassen. Das kläglichste Schauspiel von Allem bot das Königsschloß in London dar. Die großen Herren hatten erkannt, daß das Spiel verloren sei. Diese Minister und Geheimen Räthe der Königin Johanna waren bis auf ihren Vater und einen Bischof alle falsch und suchten ihren Frieden mit der Königin Marie zu machen. Um die arme Johanna entstand eine Leere und am neunten Tage ihrer Regierung saß sie ganz allein auf ihrem Staatssessel unter dem Thronhimmel, als ihr Vater eintrat. „Komm’ herunter, mein Kind,“ sagte er, „dies ist kein Platz für Dich.“ Mild und ruhig, ohne einen einzigen Seufzer, stieg Johanna von ihrem Thron.

Graf Arundel war unter den ersten, welche Marie auf den Straßen von London als Königin ausriefen. Der böse Graf hatte noch ein Geschäft zu verrichten: seinen Feind Northumberland in Person zu verhaften. Dieser war inzwischen von Allen verlassen worden und hatte einen letzten Versuch zur Rettung gemacht. Mit einem Herold vor sich war er in drei Städten umhergeritten und hatte das Volk nicht für Johanna, sondern für die Königin Marie in Eid genommen. Er war jetzt in Cambridge und hatte sich nach diesem schändlichen Abfall von der Sache seines Sohnes und seiner Schwiegertochter zur Ruhe gelegt, als er im Vorzimmer schwere Tritte hörte. Böses ahnend, sprang er auf und öffnete die Thür. Graf Arundel stand vor ihm und sagte, während der Herzog vor ihm auf die Kniee fiel, mit rauher Stimme: „Mylord, die Königin schickt mich, und auf ihren Befehl verhafte ich Euch.“

„Ueben Sie Gnade gegen mich,“ stammelte der Herzog, dessen Muth vollständig gebrochen war.

„Mylord,“ antwortete der Graf, „Sie hätten früher um Gnade bitten sollen; ich muß nach Befehl handeln.“

Bis jetzt das Königsschloß Johanna’s, wurde der Tower jetzt ihr Kerker. Als eigentliche Gefangene wurde sie noch nicht behandelt, wohl aber hatten ihre Verwandten die ganze Härte des Schicksals von Besiegten zu empfinden. Die blutige Marie begann ihren Namen zu verdienen. Kein Engländer, sondern der spanische Gesandte Renard war ihr Rathgeber, und nicht mit englischem, sondern mit spanischem Maß wurde das Blut gemessen, das vergossen werden sollte. Keiner verdiente den Tod mehr, als der Herzog von Northumberland, der ehrgeizige Urheber der Thronbesteigung Johanna’s. Zum Tode verurtheilt, verscherzte er den letzten Rest von Achtung, auf den er vielleicht noch Anspruch machen konnte, indem er zum katholischen Glauben übertrat. Graf Arundel war sehr bereit, seinem Feinde das Abendmahl nach katholischem Ritus reichen zu lassen, aber er lud vierzehn der angesehensten Kaufleute Londons zu der feierlichen Handlung ein, damit Jedermann erfahre, daß der Herzog in der thörichten Hoffnung, begnadigt zu werden, seinen Glauben verleugne. Am nächsten Tage wurde er auf dem Hügel des Tower hingerichtet und in der Capelle des letzteren begraben.

Johanna hatte die Krone getragen und war wegen dieses Verbrechens, zu dem Andere die kindliche Jungfrau halb gezwungen hatten, zum Tode verurtheilt worden. Man hatte ihr einen Aufschub bewilligt, und die blutige Marie scheint den Tod dieser so harmlosen und edlen Nebenbuhlerin nicht gewollt zu haben. Der Gefangenen wurden ihre Edelfräulein gelassen und selbst ein gewisser Verkehr mit Fremden nicht abgeschnitten. Sie kam wohl die Treppe herunter, wenn bei ihrem Wächter Besuch aus London war, und bezauberte die Gäste durch ihre Jugend, ihre Bescheidenheit und Standhaftigkeit. Wenn sie nicht im Neuen Testament las, so beschäftigte sie sich mit Sorgen um ihren Vater, der ihretwegen [186] vom Tode bedroht war. An sich selbst dachte sie kaum, und ihr Mann war für sie blos ein Unglücklicher, dessen Geschick für einen Moment mit dem ihrigen verbunden gewesen war. Sie betrachtete ihn nicht mit der Liebe, welche sie für ihre Eltern und ihre Schwestern empfand. Sie hatte ihn nur aus Gehorsam geheirathet, niemals als seine Gattin mit ihm gelebt und ihn überhaupt nur wenige Tage gekannt. Daß ihr Gatte mit Liebe ihrer gedacht habe, möchten wir nicht behaupten, obgleich die Inschrift an einer Gefängnißmauer „Jane“ von seiner Hand herrührt.

Ein toller Aufstand brachte die arme Johanna fast in Vergessenheit. Die Männer von Kent erhoben sich, nicht für Johanna oder Elisabeth, auch nicht gegen die Königin Marie, sondern nur gegen den Plan ihrer Verheirathung mit dem spanischen Philipp. Den Anführer spielte ein Edelmann Wyat, ein Tollkopf und Lebemann, der bei der Flasche für sich warb. Die spanischen Rathgeber Mariens aus dem Lande zu jagen, war ein Plan, der unter den Landedelleuten und Pächtern den rauschendsten Beifall fand. Die Männer von Kent setzten sich in Bewegung und fanden einen solchen Zulauf, daß der Thron Mariens in ernstliche Gefahr gerieth. Wyat stand bereits vor London, dem Tower gegenüber, auf der anderen Seite des Flusses, als sein gutes Herz ihn einen verhängnißvollen Fehler begehen ließ. Vom Tower wurde ein Feuer auf die ärmlichen Häuser eröffnet, die er besetzt hielt, und die Eigenthümer baten ihn so flehentlich, sie nicht um ihr einziges Besitzthum zu bringen, daß er abzog, um den Uebergang über die Themse, der ihm an diesem Punkte sehr leicht geworden sein würde, weiter oben zu suchen. Dort fand er aber die Brücken abgebrochen, und als er endlich mit seinen stark zusammengeschmolzenen Männern von Kent das andere Ufer erreichte, stand ihm eine ganze Armee gegenüber, vor der er die Waffen streckte.

Der Tower bekam neue Bewohner. Der Aufstand der Männer von Kent machte die Königin den grausamen Einflüsterungen Renard’s geneigt. Die Hinrichtung Johanna’s, die doch vielleicht gefährlich werden konnte, wurde beschlossen. Am Aschermittwoch, sieben Monate nach ihrer neuntägigen Regierung, wurde ihr angezeigt, daß sie zu sterben habe. Pater Feckenham, der Beichtvater der Königin, ein rauher, kein schlechter Mann, übernahm die Botschaft. Er staunte über das demüthige Lächeln, mit dem Johanna seine Ankündigung annahm. Ihre Ergebenheit kam ihm unnatürlich, fast unchristlich vor. Was er auch mit dem Eifer eines Priesters, der die Macht, zu binden und zu lösen, in seinem Besitz weiß, zu ihr sprechen mochte, immer blieb sie ruhig und mild, mit Gott und mit der Welt im Frieden. Endlich bat sie ihn, sie zu verlassen, da sie die wenigen Stunden, die sie noch zu leben habe, alle zum Gebet brauche.

Pater Feckenham kehrte zur Königin zurück, um ihr mit Bestimmtheit zu erklären, daß die Hinrichtung am nächsten Morgen nicht stattfinden könne. Es sei nicht möglich, dieses Mädchen in einem kurzen Wintertage zu bekehren! Die Königin willigte ein, aber als ihr Beichtvater von einer zweiten Unterredung mit dem armen Opfer zurückkehrte und gestehen mußte, daß alle seine Bemühungen vergeblich gewesen seien, gerieth sie vor Wuth außer sich. Einer ihrer Secretäre mußte den Befehl zur Hinrichtung ausfertigen, ein zweiter Johanna’s Vater aus seinem Gefängniß in der Nähe von London herbeiholen. Es giebt Mittel, die Bitterkeit des Todes zu vermehren, und die blutige Marie studirte und benutzte sie alle. Sie konnte Johanna und ihren Mann in den letzten Lebensstunden von einander trennen; sie konnte Guilford unter Johanna’s Fenster zur Hinrichtung führen lassen; sie konnte Befehl geben, daß der Karren mit seiner Leiche vor ihrer Thür vorbeifahre; sie konnte das Blutgerüst vor Johanna’s Augen aufschlagen lassen; sie konnte den Vater zwingen, die Tochter sterben zu sehen; sie konnte Johanna einen Geistlichen ihres Glaubens verweigern; sie konnte sie durch Jesuiten und andere Bekehrer quälen lassen. Das Alles konnte Königin Marie thun, und das Alles that sie.

Die Priester, welche die Königin in den Tower schickte, waren Johanna’s schlimmste Folter. Sie ließen sich nicht abweisen, drängten die beiden Hofdamen zurück und gingen nicht wieder, wenn sie einmal im Zimmer waren. Die langen Berichte, welche diese Jesuiten über ihre mißglückten Bekehrungsversuche veröffentlicht haben, mischen Wahres und Falsches durcheinander. Am Montag sollte die Hinrichtung stattfinden und erst am Sonntag ließen die Peiniger von Johanna ab. Sie betete und sagte ihrem Vater, dessen Nähe sie nicht ahnte, und ihrer Schwester Katharine ein schriftliches Lebewohl. Eine letzte Zusammenkunft, um die ihr Gemahl bat, lehnte sie ab. Ein Theaterabschied schicke sich nicht für sie, ließ sie ihm sagen.

Am nächsten Morgen war es noch nicht Tag, als die Zimmerleute vor ihrem Fenster bereits das für sie bestimmte Blutgerüst errichteten. Als sie hinaussah, marschirten eben die Bogenschützen vorbei, die ihren Gatten zum Tode führten. Sie setzte sich mit gefalteten Händen nieder und wartete, bis die Reihe an sie komme. Eine Stunde ging langsam vorüber, und dann hörte sie einen Karren auf dem Pflaster rollen. Sie wußte, was er enthalte, und wollte an’s Fenster treten. Ihre Edelfräulein, beide in Thränen aufgelöst, suchten sie zurückzuhalten, aber Johanna schob sie sanft zur Seite, blickte hinaus und winkte der Leiche ihres Gatten ein Lebewohl zu.

Jetzt wurde sie geholt. Ihre Damen vermochten kaum zu gehen, aber sie schritt festen Ganges, mit dem Gebetbuch in der Hand, durch die Reihen der Soldaten, bestieg das Blutgerüst, wendete sich gegen den Haufen der Zuschauer und sagte mit sanfter Stimme: „Ihr guten Leute, ich komme hierher, um zu sterben. Was gegen der Königin Majestät geschah, war ungesetzlich, aber was meinen Antheil dabei betrifft, so wasche ich vor Gott und vor Eurem Angesicht meine Hände in Unschuld.“ Sie machte eine Pause und fuhr fort: „Ich bitte Euch Alle, Ihr guten christlichen Männer, mir zu bezeugen, daß ich als wahre Christin sterbe und meine Seligkeit blos von Gott und von dem Blut erhoffe, das sein Sohn, unser Herr Jesus Christus, für uns vergossen hat. Und nun, Ihr guten Leute, unterstützt mich, so lange ich noch lebe, mit Eurem Gebet.“ Sie kniete nieder und fragte den Pater Feckenham, der auf Marie’s Befehl allein neben ihr sein durfte: „Darf ich diesen Psalm beten?“

„Ja,“ stammelte der Priester, gerührt von der Unschuld und dem Muth dieses jungen Mädchens, und nun sprach sie mit heller Stimme:

„Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte und tilge meine Sünden nach deiner großen Barmherzigkeit.“

Als sie die letzten Worte gesprochen hatte, stand sie auf, zog die Handschuhe aus, schenkte ihr Gebetbuch einem der Officiere, die im Gefängniß die Wache gehabt hatten, und knöpfte ihr Kleid oben auf. Dem Henker, der ihr helfen wollte, schob sie die Hände sanft zurück und band sich ihr weißes Taschentuch um die Augen. Der maskirte Scharfrichter sank ihr zu Füßen und bat sie um Verzeihung. Sie flüsterte ihm einige beruhigende Worte in’s Ohr und sagte dann laut: „Ich bitte Sie, verfahren Sie rasch.“ Vor dem Block niederknieend, fühlte sie mit geöffneten Händen nach ihm. Einer der Umstehenden führte ihre Arme nach dem Platze, den sie suchte, worauf sie das schöne Haupt niederlegte und mit den Worten: „Herr, in deine Hände befehle ich meinen Geist!“ zur ewigen Ruhe einging.




Die Hörnerschlittenfahrt im Riesengebirge.

Trotz der Eisenbahn, die seit zwei Jahren von allen vier Winden in die nächste Nähe unseres Gebirges führt, entspricht wenigstens der Winterbesuch desselben durchaus nicht den gehegten Erwartungen. Nicht die Zeitverhältnisse allein tragen daran die Schuld, sondern weit mehr der Mangel an Kenntniß von den großartigen Winterschönheiten unseres Gebirges. Auf einige dieser Reize aufmerksam zu machen, erachte ich für meine Pflicht. Es geschieht nicht blos im Interesse meines heimathlichen Winkels, nach Seume ja eines der „reizendsten der Erde“, sondern auch im Interesse Derer, welche Naturschönheiten zu würdigen wissen und sich den Hochgenuß einer Winterpartie in’s Riesengebirge nicht zu versagen brauchen.

Die meiste Beachtung verdient unbedingt die wundervolle Beleuchtung der mit Schnee und Eis bedeckten kolossalen Gebirgsmauer [187] bei Tag wie in Mondscheinnächten. Nächstdem aber sind es die tausendfach verschiedenartigen Gemälde, welche auf einer Wanderung durch unsere winterlich geschmückten Thäler und auf einigen der hervorragendsten Vorberge dem Auge sich darbieten und die Seele in Staunen und Entzücken versetzen.

Schon der bloße Anblick des Hochgebirges in seiner ganzen Ausdehnung und in seiner vollen Winterpracht ist eine Reise werth. Am schönsten ist und bleibt derselbe auf den Höhen bei Warmbrunn, ganz besonders in den Monaten Februar und März.

Wenn am frühen Morgen die Thäler noch im tiefen Schlafe unter dichter Nebeldecke ruhen, überhaucht oben auf dem Kamm schon ein rosenfarbener Schimmer die westlichen Häupter. Und während nach und nach die Gipfel des Hohen Rades, des Reifträgers, der Großen und Kleinen Sturmhaube, die Veilchenspitze und die Eisränder der Schneegruben und der Teiche nebst dem ganzen Silberkamm in der Morgenröthe erstem Hauche sich berauschen, schlummern alle übrigen Gebirgstheile, ganz besonders der östliche Flügel, noch immer unter ihrer Decke weiter und bis tief in den Morgen hinein.

Von Blick zu Blick steigert sich die Färbung oben und im Westen; dem Hauch folgt eine rosige Gluth, indeß immer noch festgehalten werden von süßen Träumen die Schläfer im Osten. Erst wenn nach einer Viertelstunde die Gluth an den westlichen Wangen sich immer tiefer dehnt, lüftet eine unsichtbare Mutterhand die Schattendecke an den östlichen Hängen, und die Waldung windet zum Morgengruß einen Strauß mit violetten Bändern, in welche der Berggeist all’ die vielen kleinen Sturzbäche als Silberfäden eingewirkt.

Wenn endlich der dunkelblaue Morgenhimmel im vollen Glanze strahlt, löst sich auch die Schattendecke über den östlichen Kanten des Schmiedeberger Kammes, der Schwarzen Koppe und der Riesenkoppe in Aether auf, und Felsengruppen, Wäldermeer und Baudendachung zeigen sich in ihrem winterlichen Morgen-Negligé, bis endlich die höher gestiegene Sonne das ganze Gebirge mit der gewöhnlichen Beleuchtung des Tages erfüllt. Es beginnt aber dann nicht etwa ein einförmiger und einfarbiger Tagesschimmer, sondern das wundervolle Wechselspiel geht ununterbrochen bis zum Sonnenuntergang fort, wo die volle Rosengluth über die Südseite des Gebirges sich ausgießt und die Bewohner Böhmens mit ihrem Zauberglanz erfreut, wie am Morgen die Bewohner der Nordseite.

Nicht weniger reizende Bilder bietet die lange winterliche Mondscheinnacht; aus dem Silberschleier, den der Mond über das Gebirg breitet, steigen sie so zauberisch auf, daß sie bis zur heranschwebenden Dämmerung uns im Staunen und Entzücken erhalten.

Nicht immer ist das Hochgebirge frei oder „klar“, wie der Thalbewohner sagt, sondern oft mit Nebel oder Wolkenschichten mehr oder minder stark bedeckt. Doch auch dieses Nebel- oder Wolkenspiel hat seine Reize und gewährt in seiner Mannigfaltigkeit dem Beobachter oft die schönste Unterhaltung. Besonders interessant ist das Formen der ersten Wolkenmassen, das Auflagern und Verschwinden derselben von den Kuppen und Gehängen, ihr Verdichten und Wiederauflösen, ihr Herüber- und Hinüberlugen, Zusammenballen und Herabwälzen in bald lichter, bald dunklerer Färbung, manchmal sogar finster wie die Nacht.

Schon das unheimliche Kochen und Brauen, Sieden und Brodeln in den großen Küchen des Berggeistes, den Moorsümpfen des Isergebirges, der Naworer-, Mädel- und Weißen Wiese, in den Teichen und Gruben und in den Felsenstädten der Thor- und Korallensteine, fesselt den Blick und spannt die Erwartung. Oft ist der höchste Rücken des mit Schnee und Eis bedeckten Kammes noch frei von Wolkenmassen, während sich dieselben schon an den Gehängen und auf dem niederen Gebirge mit einander herumbalgen und nur hinter dem Kamm herauf eine finstere Wand sich emporthürmt. Dann erzeugen die von den Eisflächen abblitzenden Sonnenstrahlen einen wundervollen Goldsaum, der an dem dunklen Hintergrund sich abspiegelt und von den unteren Wolkenmassen aufgefangen wird.

Bald erhebt sich der Sturm, wirbelt Schneeschichten durch den goldenen Saum und über die Wände herab, und bildet einen prachtvollen, mit Silberfransen besetzten Spitzenschleier, der nach wenigen Augenblicken seines Erscheinens wieder von den immer höher schäumenden Wogen des Wolkenmeeres verschlungen wird. Der Kampf da oben braust toller und immer toller, während unten in den Thälern noch vollständigste Stille herrscht und kein Lüftchen sich rührt, wohl aber der Baudenbewohner dem Herabsteigen des wüthenden Kampfes mit Bangen entgegensieht.

Schon lange vor dem Herniederwälzen der Sturmeswogen hört man, nahe am Gebirgsfuß stehend, das Brausen und Toben derselben, als sausten tausend Eisenbahnzüge auf den Gipfeln der Bergkolosse hin und her. Am deutlichsten hörbar ist der Widerhall am Fuß des Kynast in Hermsdorf, am Fuß des Mühlberges in Petersdorf und in den Thälern des großen und kleinen Zackens. Oft währt es länger als eine Stunde, bevor man auf den Gipfeln der Vorberge die Baumspitzen sich beugen sieht; – dann aber folgt Stoß auf Stoß, und ein Hin- und Herwogen, Umarmen und Niederbeugen der Bäume und ein Heulen und Aechzen, als würde eine der furchtbarsten Schlachten geschlagen. Auch ein solch’ gewaltiges, großartiges Naturschauspiel zu beobachten, dürfte eine Reise in’s Riesengebirge lohnen. Am lohnendsten aber ist eine Fahrt durch das Zackenthal bis hinauf zur weltberühmten Glasfabrik „Josephinenhütte“ und, wenn möglich, bis hinüber nach den ersten böhmischen Fabrikdörfern Neuwelt, Wurzeldorf und Tannwald.

Nicht blos alle Straßen im Zackenthal, nein, sämmtliche Straßen, Wege und Stege im Gebirge sind während des Winters fast mehr belebt, als im Sommer. Bis tief in die Wälder hinein und bis hoch zum Kamm hinauf wogt das menschliche Treiben Tag für Tag selbst bei dem tollsten Winterwetter. Das ganze Gebirge gleicht einem riesigen Ameisenhaufen, auf dem ein rastlos Leben waltet; denn gerade je mehr die Felsspalten, Klüfte, Schluchten und Gründe mit Schneemassen sich füllen, desto emsiger ist der Mensch bemüht, das Holz, welches man den ganzen Sommer und den größten Theil des Winters über geschlagen, von den höchsten Gipfeln, von den steilsten Wänden und Kuppen herab und über die gefährlichsten Spalten und Abgründe hinüber oder herüber zu schaffen. Wohin man sieht, da klebt ein Mensch, trägt ein Mensch, fährt ein Mensch, oft übermäßig schwer belastet, bis zu den Stellen, welche mit Pferden oder Rindern bespannte Schlitten nur irgend erreichen können. Auch dieses großartige, geschäftliche Treiben gehört zu den interessanten Winterbildern im Gebirge, die man eben sehen muß, um sie bewundern zu können.

Neuerdings ist von all’ diesen Winterfreuden des Riesengebirgs, namentlich durch die Bemühung des bekannten Berliner Reiseunternehmers Stangen, keine so vielgerühmt und gesucht, wie die sogenannte Hörnerschlittenfahrt. Der wunderlich klingende Namen rührt von der hörnerartigen Form des Vordertheils der Schlittenkufen her, die man ähnlich auch in anderen deutschen Gebirgsländern findet, wo solche Schlitten dann „Böcke“ oder „Böckchen“ genannt werden.

Man benutzt von Norddeutschland aus zu diesem Vergnügen die Eisenbahn bis Hirschberg, fährt von da zu Wagen oder Schlitten nach Schmiedeberg und besteigt hier zuerst Hörnerschlitten, aber größere als zur freien Herabrutschfahrt, weil wir bergauf von Pferden gezogen werden. Wir waren gegen fünf Uhr Abends in Schmiedeberg angelangt. Von dem Hôtel von Ruppert aus werden die Fahrten nach der Grenzbaude unternommen. In den Gaststuben wimmelte es von Fremden, die, von nah und fern hergekommen, ihre Schlittenpartieen theils schon gemacht hatten, theils frisch daran gingen oder eine Wiederholung derselben am nächsten Tage beabsichtigten.

Bald verkündete mehrstimmiges Glockengeläut die Ankunft der Hörnerschlitten. Jeder Schlitten war mit einem jener kräftigen Gebirgspferde bespannt, die eine fabelhafte Geschicklichkeit besitzen, die steilen und glatten Pfade emporzuklimmen. Dicht hinter jedem Pferde, sich an den Kufenhörnern festhaltend, den Zügel um den Hals gelegt, ging im Schnellschritt der Führer des Schlittens.

So fuhren wir durch Ober-Schmiedeberg das Gebirge hinauf. Wir waren durchaus nicht einsam. Bald links, bald rechts vom Wege tauchten einzelne Gebirgsbewohner auf, welche das schwierige Geschäft des Schlittentransportes übernommen hatten und mit Benutzung aller möglichen abkürzenden Pfade die zur Herabfahrt benutzten Schlitten hinaufzogen, die sich von den unsrigen dadurch unterschieden, daß sie niedriger und länger und mit einer Rücklehne versehen waren. Eine Strecke weiter, an einer nicht gerade steilen Stelle, sahen wir von oben herab einen gespenstigen Zug auf uns loseilen. Eine verspätete Partie, die aus einer Grenzbaude [188] kam! Zwei Damen und ein Herr im Hörnerschlitten, so fuhren sie mit hellem „Guten Abend“ an uns vorbei. Sehnsüchtig blickten wir ihnen nach – noch einen Moment – und sie waren im Dunkel verschwunden.

Eine neue Ueberraschung! Als wir auf der Hälfte des Weges bei dem steilen Mordhügel angelangt waren, von wo aus sich unser Pfad in Windungen durch einen hohen Wald hinzog, schimmerte uns röthlicher Lichtglanz durch die Bäume entgegen, und verwandelte sich nach wenigen Augenblicken in strahlenden Fackelschein, mit dem uns die freundlichen Besitzer der zum Gast- und Abfahrtsort gewählten Grenzbaude empfangen ließen. So zogen wir nun, wie weiland die Israeliten in der Wüste, hinter dieser Feuersäule her, der Schnee knirschte unter den Schlittenkufen und den Tritten der Pferde, der Wind heulte hoch oben in den Wipfeln der Bäume und links vom Wege starrte uns pechschwarze Finsterniß aus dem Abgrunde entgegen. Um sieben Uhr fuhren wir an dem schwarzgelben Schlagbaum vorüber in’s Oesterreichische hinein. Einige hundert Schritte davon entfernt, strahlten uns die erleuchteten Fenster der Grenzbaude entgegen und die Besitzerfamilie, Herr und Frau Blaschke, empfingen uns nun selbst mit herzlichem Willkommen und Handschlag an der Thür. Die warmen Pelze wurden abgelegt, und über die beeisten Stufen der kleinen Treppe traten wir in den großen, wohlgeheizten Saal ein. Hier trug alsbald die schwarze Nanni, die Schleißnerin der Baude, eine wahre Fülle von Speisen auf, denen sich ein herrlicher Ungarwein, eben so billig als trefflich, zur Seite stellte.

Aus dem Dorfe Klein-Aupa, dessen einzelne Bauden sich, nebenbei bemerkt, über einen nicht viel kleineren Raum erstrecken, als ganz Berlin einnimmt, kamen, von unserer Ankunft unterrichtet, böhmische Mädchen und junge tanzlustige Ehepaare zu uns herauf; auch die Musikanten ließen nicht lange auf sich warten, und so befanden wir uns plötzlich mitten in einem höchst interessanten Dorfballe, an dem wir uns nach Herzenslust betheiligten. Die Minuten, die Stunden flogen nur so dahin!

Tief Athem schöpfend trat ich endlich einmal, den Hut vorsichtig auf dem Kopfe, hinaus in’s Freie. Vor der Baude ein großes, weißes Schneefeld, links der Weg hinab in’s Preußenland, rechts und ringsum hohe weiße Berggipfel und oben am Himmel zwischen eilenden Wolken die noch fast volle Scheibe des eben aufgegangenen Mondes! Auf dem Boden aber zu meinen Füßen die verführerischen kleinen Hörnerschlitten! Da klopft leise eine Hand auf meine Schulter, ein Herr Fargau – Compagnon Blaschke’s – ist mir gefolgt – und mit einem „Wollen wir?“ springen wir Beide auf den Schlitten.

Niemand ahnt da drinnen, daß wir jetzt unter dem Schlagbaum wieder hindurchfahren, Niemand sieht, wie sich unser Schlitten auf dem spiegelglatten Wege, der plötzlich abschüssig wird, schneller und schneller in Bewegung setzt, wie er pfeilgeschwind dahinschießt, als ob er geradewegs in den Abgrund will. Das ist das wahre Gefühl des Fliegens, gar nicht ängstlich, als wenn man im Traum vom hohen Thurm fällt, sondern ein frisches, freies Dahinsausen, wie auf den Schwingen des Vogels!

Blitzschnell kommt mir dieser Gedanke und in demselben Moment – wir sind gerade an einer abschüssigen Stufe im Wege – hebt sich der Schlitten vom Schnee geradeaus in die Luft, fliegt eine gute Strecke weit fort und setzt dann mit pünktlicher Genauigkeit wieder mitten auf dem Wege auf, indem er unaufhaltsam weiter schießt. So geht es noch mehrere hundert Schritt vorwärts, bis wir an eine Stelle kommen, wo der Weg sich krümmt. Hier stemmt mein Führer plötzlich seinen Fuß mitten in den Schnee zur Seite des Weges und – der Schlitten gehorcht fast augenblicklich, indem er eine Schwenkung macht und dann stillsteht.

„Nun, wie hat’s Ihnen gefallen?“ rief Fargau, als wir Beide aufgesprungen waren, um nun den Schlitten gemeinsam die Strecke von etwa siebenhundert Schritt, die wir in der Zeit von wenig mehr als einer halben Minute zurückgelegt hatten, wieder hinaufzuschleppen.

„Mir fehlen augenblicklich die Worte,“ erwiderte ich. „Lassen Sie uns aber eilen, damit die Reisegefährten dieselbe Wonne genießen können!“

So geschah es denn auch. Als wir mit der Nachricht von unserer Fahrt in den Saal eintraten, eilten die Gefährten sofort hinaus und Einer nach dem Anderen vertraute sich dem Schlitten an und sauste auf seinen Schwingen den steilen Berg hinab.

Ja, es war eine tolle Nacht! Doch endlich mußte geschieden sein. Um drei Uhr machte ich meine siebente und letzte Hörnerschlittenfahrt und folgte dann dem allgemeinen Beispiele zur Ruhe und Ordnung.

Da früh das Wetter hell und klar war, so unternahmen wir eine gemeinsame Fußpartie nach dem Gipfel des Forstkammes. Unter Vorantritt einer Reihe von Schlitten, auf welchen wir von oben wieder hinunterfahren sollten, stiegen wir in einer langen Kette, das heißt Einer in die Fußstapfen des Anderen tretend, über den ungebahnten Schnee den Berg empor.

Aber, hilf Himmel! Schon nach den ersten zehn Schritten sahen wir, welche Anstrengung es uns kosten würde, auf den nur achthundert Fuß niedriger als die Schneekoppe liegenden Gipfel zu kommen. Knietief sanken wir zunächst, später aber schenkeltief durch die dünne Eiskruste in den Schnee ein. Jeder Schritt mußte mit zäher Ausdauer erkämpft werden. Trotz der schneidenden Kälte und des heftigen Windes fror uns jedoch nicht, wir vergossen vielmehr sämmtlich so viele Schweißtropfen, wie seit Jahren nicht. So gelangten wir nach unsäglichen Mühen auf den Gipfel des Berges und schauten nun gerade vor uns hinab in’s Hirschberger Thal. Die Herrlichkeit des Gebirgsbildes von solcher Höhe ist bereits oben geschildert. Wir genossen sie mit allem Behagen überstandener Mühen und winkender Freuden, und nachdem wir uns endlich, als den in diesem Augenblick wahrscheinlich „höchsten Personen“ Norddeutschlands, ein kräftiges dreifaches Lebehoch gebracht, bestieg jeder von uns einen Schlitten, die Führer ergriffen die Hörner und fort ging es den Berg hinab, zwar nicht so eilig, wie in der Nacht, da die Bahn ja nicht fest war, aber dafür sanken unsere Führer, die Schlitten und wir selber auch oft genug im Schnee fast ganz unter, was natürlich die allgemeinste Heiterkeit hervorrief. – So langten wir nach wenigen Minuten wieder unten in der Grenzbaude an und nachdem die Schneespuren von unseren Kleidern verwischt und einige der großstädtischen leichten Stiefel buchstäblich ausgerungen worden waren, setzten wir uns noch zu einem kräftigen Frühstück nieder und nahmen dann vom Ungarwein, von der gemüthlichen Baude und der Familie Blaschke Abschied, um die Schlitten zur großen Hörnerschlittenfahrt zu besteigen.

Von Besorgniß vor dem etwaigen Herausstürzen hatte natürlich Niemand eine Spur, ja, wir setzten uns nicht einmal sämmtlich auf den kleinen, mit Heu ausgestopften runden Sack im Schlitten, sondern Einer nahm gemächlich auf dem als Rücklehne bestimmten kleinen Geländer Platz.

Nun schossen wir los – es war etwa elf Uhr – zuerst ganz steil den bereits in der Nacht gefahrenen Weg hinab. Die Stufe, bei der die Schlitten wieder gewaltige Sätze durch die Luft nahmen, wurde mit lautem Hurrah und Schwenken der Hüte passirt, dann bogen wir um die Ecke des Weges und links ging es weiter in immer schnellerer Fahrt. Jetzt kam eine Stelle, wo sich mehrere der erwähnten Stufen dicht hinter einander befanden, und es gewährte einen prachtvollen Anblick, wie jeder unserer Schlitten den vorgeschriebenen Luftsprung mit der vollendeten Gracie eines Schulpferdes ausführte. Bald links, bald rechts extravagirten unsere Schlitten dann ein wenig von der Bahn, aber stets kehrten sie gehorsam auf den leisesten Wink des Führers zurück, der vorn saß und dadurch, daß er einen der beiden Füße, die er schwebend dicht über dem Schnee hielt, stets zur richtigen Zeit als Steuer einsetzte, die vollständige Lenkung in den Händen hatte.

Als wir so einige Minuten im tollsten Laufe dahingefahren waren milderte sich die steile Böschung, der Weg wurde weniger abschüssig und augenblicklich parirten unsere Schlitten, indem sie langsamer liefen. Doch schnell sprangen die Führer auf die Füße, ergriffen die Schlitten an den Hörnern und rannten mit ihnen vorwärts, indem sie uns so lange zogen, bis wir wieder an steilere Stellen kamen. So gelangten wir bald bis zu dem Orte, wo wir am Abend vorher mit Fackellicht empfangen worden waren. Hier beschreibt der gewöhnlich benutzte Weg einen großen Halbkreis durch ein kleines Gehölz, es giebt aber, wenn auch gewöhnlich nur von den Eingeborenen benutzt, einen anderen Weg, welcher in gerader Linie die Sehne dieses Halbkreises bildet und über den steilen Mordhügel hinabführt, wodurch eine ziemlich große Strecke von der Partie abgekürzt wird.

[189]

Auf der Hörnerschlittenfahrt im Riesengebirge.
Nach der Natur aufgenommen.

[190] Es war schon vorher davon gesprochen worden, daß wir diesen Weg benutzen wollten, und als uns hier nun die Führer einen fragenden Blick zuwarfen, riefen wir ihnen ohne Bedenken ein Vorwärts zu und fort ging es in unglaublicher Schnelligkeit weiter. in der Mitte des Mordhügels befand sich wieder eine Stufe, diesmal machten wir aber einen so ansehnlichen Luftsprung, daß man nicht viel Zeit hatte, sich nach seinem Hintermanne umzusehen. Unten mäßigte sich der Lauf wieder, aber nun war auch leider das beste Ende der Fahrt zurückgelegt. Das Thauwetter der vorhergegangenen Tage hatte selbst noch in dieser Höhe zu wirken vermocht und der Schnee war nicht nur weich geworden, sondern auch durch den Wind und die Huftritte der Pferde an manchen Stellen ganz verschwunden.

Bis hierher hatten wir etwa sechs Minuten gebraucht, nun aber mußten die Schlitten an verschiedenen Stellen gezogen werden. Dies störte unseren guten Muth indessen durchaus nicht, und sobald der Weg wieder steil wurde, glitten wir wieder vorwärts, bald über Schnee, bald über Sand und Steine, bis wir endlich wohlbehalten unten am preußischen Zollhause in Oberschmiedeberg ankamen. Gegen siebenzehn Minuten hatte die Fahrt gedauert, sie würde aber bei strengem Frost in zehn Minuten zu machen gewesen sein. Es giebt, wie man uns versicherte, in Schmiedeberg Leute, die diese Strecke bereits in sieben bis acht Minuten zurückgelegt haben.

Wir verabschiedeten hier nun unsere Führer und begaben uns nach Ruppert’s Hotel, wo wir uns. mit allen Anzeichen eines respectablen Appetites zu Tische setzten. Auf der Fahrt nach Hirschberg lag noch einmal unter dem blauen Himmel die ganze in winterlicher Pracht schimmernde Kette des Riesengebirges vor uns – und fast wehmüthig nahmen Auge und Herz von der Herrlichkeit Abschied.




Polytechnikum der Gartenlaube.

Nr. 2.
Ein unfaßbares neues Metall. – Wunderbare Lichtwirkungen – Zum Besten der Farbenreiber. – Mechanischer Lichtbilderdruck. – Künstliches Krapproth. – Tränkung der Locomotiven im Laufen. – Schwimmende Telegraphenstationen. – Die Monsterbrücke zwischen England und Frankreich. – Das Lachgas. – Dampfkesselexplosionen noch einmal.


Ueber die Aufsaugung von Gasen durch Metalle bei gewissen höheren Temperaturen oder unter Einfluß der Elektricität sind von dem bekannten englischen Chemiker Graham eine Reihe interessanter Versuche angestellt worden. Die Metalle verhalten sich in den Graden ihrer aufsaugenden Kraft verschieden, allen voran aber steht dam Palladium. Wird ein Blech oder Draht dieses Metalls in ein Glasrohr gebracht, die Luft herausgezogen und dafür trockenes Wasserstoffgas andauernd hineingeleitet, so absorbirt das Metall, wenn das Rohr dabei auf hundert Grad C. erhitzt wurde, davon das Neunhundertfünfzig- bis Neunhundertachtzigfache seines eigenen Volumens. Schon bei gewöhnlicher Sonnenwärme wird das Dreihundertsechsundsiebenzigfache verdichtet; dagegen bewirken Temperaturen über hundert Grad hinaus, je höher sie steigen, in zunehmendem Maße eine Wiederaustreibung bis zur gänzlichen Erschöpfung. Auf einfachere Weise wird die Sättigung des Metalls mit dem Gase erreicht durch Verbindung des ersteren mit dem Wasserstoffgas einer galvanischen Batterie, in welcher Wasser zersetzt wird. Das im Metall verdichtete Gas zeigt die ihm eigenen chemischen Reactionen, aber energischer als unter gewöhnlichen Umständen; ein gasbeladenes Palladiumstäbchen entfärbt die blaue Jodstärke, das übermangansaure Kali bildet in einer Lösung von Blutlaugensalz Berlinerblau etc.

Also das leichteste aller Gase, das sich noch auf keine Weise zu einer Flüssigkeit verdichten ließ, befindet sich in den Poren eines Metalls in fast tausendfacher Concentration, und es liegt nun die Frage nahe, in welchem Zustande es sich hierbei befinden möge. man könnte wohl vermuthen, die Wasserstoffatome möchten zu einer Flüssigkeit zusammengedrängt sein; Graham dagegen ist zu der Ueberzeugung gelangt, der Wasserstoff selbst sei nichts anderes als der Dampf eines höchst flüchtigen Metalls, welches sich unter den angegebenen Umständen mit dem Palladium zu einer ordentlichen Legirung zusammen thue und somit einen festen Bestandtheil in derselben ausmache. In der That zeigt sich das mit dem Wasserstoff gesättigte Metall in seinen Eigenschaften dem entsprechend verändert: seine Dichtigkeit und Fähigkeit sind wesentlich vermindert, ebenso seine Leitungsfähigkeit für Elektricität, wie dies bei Legirungen der gewöhnliche Fall ist. Dagegen erhält das Palladium, welches an sich sehr wenig magnetisch ist, durch die Verbindung mit Wasserstoff diese Eigenschaft in ansehnlichem Grade, ganz so, als sei es mit einem stark magnetischen Metall legirt worden. Auf diese Indicien hin hat Graham den Wasserstoff in die Reihe der Metalle gestellt und Hydrogeninm benannt. Daß man aber dieses flüchtige Wesen jemals in Form solider Barren in die Hände bekommen werde, ist undenkbar. Die Graham’schen Versuche sind von hohem Interesse, aber das daraus Gefolgerte ist zur Zeit noch Hypothese. –

Großes Interesse erregen in England die neuen Untersuchungen des Professors Tyndall über die chemischen Wirkungen des Lichts, die dem Gelehrten viel zu denken, dem Laien wenigstens ein magisch anziehendes Schauspiel geben, gleichsam Träume der Natur sichtbar vorführen. Der Professor gebraucht bei seinen Darstellungen eine wagerecht aufgestellte Glasröhre von etwa drei Fuß Länge und dritthalb Zoll Weite, an einem Ende mit einer Luftpumpe verbunden, während am anderen eine elektrische Lampe steht, deren Strahlen längshin durch die Röhre fallen. Statt des elektrischen kann auch Sonnenlicht dienen und die Wirkung beider ist ganz die nämliche. Durch die Pumpe wird gereinigte Luft in die Röhre geschafft, welche vorher durch eine gewisse Flüssigkeit streichen muß, um sich mit den Dämpfen derselben zu sättigen. Die verschiedenen chemischen Flüssigkeiten, welche einzeln den Versuchen unterworfen werden, sind solche, deren Empfindlichkeit gegen das Licht bekannt ist, namentlich salpetersaures Amyl, Bromwasserstoff, Jodwasserstoff etc. Eine jede bewirkt Erscheinungen von besonderem Charakter. Ist nun das Glasrohr in angegebener Weise mit dampfhaltiger Luft erfüllt und von dem starken Licht durchleuchtet, so ist anfänglich nichts Besonderes zu bemerken; nach einigen Minuten aber entstehen in der Röhre Nebel, welche bald allerlei symmetrische Formen und Gruppirungen annehmen, und zwar manche derselben von sehr complicirtem Charakter. Es zeigen sich je nach den Umständen Gestalten wie Rosen, Sonnenblumen, Fischaugen oder mit Kiemen versehene Fischköpfe, schneckenförmige Gewinde, Trichter etc. in manchen Fällen sind diese Gebilde mit den brillantesten Farben ausgestattet. stets aber herrscht bei der Gruppierung derselben eine gewisse Symmetrie, und namentlich bei den thierähnlichen Gestaltungen findet sich für jedes Bild immer ein Gegenbild. Es sind nach Professor Tyndall vorzugsweise die dunkeln, mit der stärksten chemischen Wirkung begabten Strahlen des Lichtes, welche diese Phänomene zu Stande bringen; sie zersetzen die dunstförmigen chemischen Verbindungen und gruppiren durch ihre Schwingungen die schwebenden Atome etwa in ähnlicher Weise, wie die Luftwellen musikalischer Töne die bekannten Klangfiguren erzeugen. So wäre es denn das Licht, welches, wie in der biblischen Schöpfungsgeschichte, Ordnung und Symmetrie in das Chaos bringt, und das planetarische Leben verdankte der Sonne nicht nur die Existenz, sondern erhielte von dort gleichsam auch die Modelle zu den Formen, in denen es sich ausprägt. –

Das Verreiben von Farben mit Leinöl, Firniß u. dgl. ist bekanntlich, wenn es nicht einer Maschine übertragen werden kann, eine so mühsame wie zeitraubende, dabei scheinbar ganz unausweichliche Arbeit. Dennoch hat sich gefunden, daß man sich in mehreren Fällen davon dispensiren und auf weit leichtere und raschere Art zum Ziele gelangen kann. Dies ist thunlich, so weit bis jetzt constatirt worden, bei Bleiweiß, Zinkweiß und Zinkgrau, Mennige, Kienruß, also gerade den meist gebräuchlichen Substanzen, während andere, namentlich Erden und Ocker, für das Verfahren nicht taugen. Die einfache, im kleinsten wie größten Maßstabe ausführbare Operation ist folgende. Das Farbepulver wird in viel Wasser eingerührt (der Ruß nach vorheriger Durchfeuchtung mit etwas Spiritus) und die dünne Suppe durch ein Haarsieb gelassen, womit man der gröberen Theile ledig ist. Hat sich der Farbstoff zu Boden gesetzt, so gießt man das meiste Wasser ab, gießt Leinöl zu und arbeitet die Masse mit Spatel, Kelle u. dgl. durch. Nach einigen Minuten schon fangen Oel und Farbstoff an sich zu verbinden, das Wasser sondert sich als obere Schicht völlig klar ab und ist leicht zu entfernen. Durch weitere knetende Verarbeitung läßt sich alles noch etwa mechanisch eingeschlossene Wasser absondern und die Farbe ist dann zum verstreichen fertig, kann auch beliebig mit mehr Oel oder Siccativ versetzt werden. Bei den für diese Behandlung ungeeigneten Stoffen bleibt das Durcheinanderrühren ohne Erfolg, es sondert und bindet sich nichts, und man muß demnach bei jenen andern eine besondere Neigung annehmen, mit dem Oel in chemische Verbindung zu treten. –

Mit dem Auftreten der wunderhaften, uns jetzt so alltäglich gewordenen Lichtbildnerei war eine große Aufgabe gelöst und eine neue gegeben: die Ermöglichung des Abdrucks photographisch erzeugter Bilder auf dem gewöhnlichen mechanischen Wege. Die Versuche dazu begannen alsbald nach dem Bekanntwerden von Daguerre’s Erfindung; man bemühte sich damals, die Quecksilberbilder durch Aetzen der Metallplatten abdruckbar zu machen. Seitdem ist die Sache noch von mancher anderen Seite angegriffen worden und zwar von so vielen Gelehrten und Praktikern und mit solchem Eifer, daß man sich sagen konnte, die volle Lösung – denn an halben Erfolgen hat es nicht gefehlt – werde sicher noch gefunden werden und die Angelegenheit sei nur eine Zeitfrage. Jetzt haben sich der Lösungen gleich zwei angekündigt, ganz verschieden in der Art des Verfahrens, aber beide den Versicherungen zufolge zu solcher Vollendung gebracht, daß nichts zu wünschen übrig bleibt. Die von Herrn Hofphotograph J. Albert in München erfundene Methode liefert von Glasplatten gedruckte Bilder, die sich in nichts von gewöhnlichen Photographien unterscheiden und die ganze Kraft und Weichheit der Töne wie Feinheit der Details, deren photographische Aufnahmen fähig sind, getreulich wiedergeben. Ganz das Nämliche wird behauptet von der jetzt zur Reife gediehenen, Erfindung des Franzosen Drivet. Sein Verfahren besteht im Allgemeinen darin, daß über dem auf photographisch-chemischem Wege gewonnenen Original eine Kupferplatte galvanisch niedergeschlagen wird, welche das Bild nach Belieben erhaben

[191] oder vertieft wiedergiebt und zwar so kräftig ausgeprägt, daß die Platten für große Mengen von Abdrücken dienen können. Das Verfahren soll für jegliche Größe und Art von Bildern, namentlich auch für Porträts sich eignen, und es wird der Vortheil hervorgehoben, daß man künftig für denselben Preis, den ein paar Dutzend gute Porträtkarten beim Photographen kosten, eine Platte werde erhalten können, welche auf Jahre hinaus zur Abnahme von Drucken tauglich bleibe. Dies wäre natürlich nur ein Minimum von allen den großen Vortheilen, welche in der Möglichkeit liegen, große Mengen guter bildlicher Darstellungen von unvergänglicher Dauer bedeutend leichter und rascher herstellen zu können, als es dem Photographen in seinem Copirrahmen möglich ist. –

Der Steinkohlentheer, die schwarze Mutter der farbenprächtigsten Kinder, hat sich noch nicht erschöpft. Nachdem der Reihe nach das Anilin, das Naphtalin, das Theerkreosot ihren Beitrag zu der bunten Scala geliefert, ist noch ein anderer fester, dem Naphtalin verwandter Kohlenwasserstoff des Theers, das Paranaphtalin oder Anthracen, tributpflichtig geworden. In der deutschen chemischen Gesellschaft zu Berlin haben kürzlich die Herren Gräbe und Liebermann die interessante Mittheilung gemacht, daß es ihnen gelungen sei, daraus den Farbstoff des Krapps, das Alizarin, künstlich darzustellen. Proben dieses Kunstproducts im Krystallzustande, sowie damit bedruckte Zeuge wurden vorgelegt. Bei allen Fortschritten in der Industrie der Theerfarben konnte man die Meinung hegen, daß wenigstens die beiden edelsten Pflanzenfarbstoffe, Indigo und Krapproth, dennoch immer in Amt und Würden bleiben dürften. Jetzt scheint die eine dieser Größen schon entthront, und so könnte es künftig möglicherweise dahin kommen, daß wir dem Orient, statt Krapp von dort zu beziehen, künstliches Alizarin zuführten. Zählen doch schon gegenwärtig selbst China und Japan unter den stärksten Abnehmern europäischer Theerfarben. –

In England beginnt eine gut ausgedachte Verbesserung im Eisenbahnwesen in Aufnahme zu kommen, eine Vorrichtung nämlich, durch welche bei Schnellzügen die Aufenthalte wegfallen, welche bisher durch die Einnahme von frischem Speisewasser verursacht wurden. Die Tender schöpfen vielmehr ihren Bedarf, während die Züge im vollen Laufe bleiben. Das Wasser wird ihnen nämlich in einem eisernen Troge vorgesetzt, der sich an der Einnahmestation zwölfhundert Fuß lang in der Mitte der Schienen hinzieht. Ein metallenes Schöpfrohr mit einer Weitung von zehn Zoll Breite und zwei Zoll Höhe geht schräg vom Tender herab gegen den Wasserspiegel. Sobald der Tender den Anfang des Troges erreicht, drückt der Wärter auf einen Hebel und das Rohr senkt sich so weit, daß es zwei Zoll tief in’s Wasser taucht. Das Weitere macht sich von selbst; durch das rasche Gegenfahren gegen das ruhende Wasser wird dieses gezwungen im Rohre aufzusteigen. Die Steighöhe bis zum Ausguß in den Tender ist siebenundeinhalb Fuß; nach der theoretischen Berechnung muß der Zug, um das Wasser so hoch emporzutreiben, die Geschwindigkeit von einundzwanzig Fuß per Secunde haben. Die Praxis ergab jedoch, daß, um die Sache in erwünschten Gang zu bringen, die Geschwindigkeit noch etwas höher gesteigert werden muß. Beim Durchfahren des ganzen Trogs können 1148 Gallonen Wasser aufgenommen werden. –

Eine neue Erweiterung der Communicationsmittel in England liegt erst im Plan vor, hat aber alle Aussicht ins Leben zu treten. Es sollen schwimmende Telegraphenstationen an geeigneten Punkten der britischen Küsten errichtet werden auf Schiffen, die einige vierzig oder fünfzig englische Meilen vom Lande ab in’s Meer gelegt werben und mit der Küste durch Unterwasserkabel verbunden sind. Die äußerste südwestliche Spitze Englands, der südliche Zugang zum St. Georgscanal, verschiedene Punkte im Norden und Süden Irlands sollen successive in dieser Art versorgt werden. Vorbeifahrende oder ankommende Schiffe werden dann schon aus der Ferne mit der Küste und dem ganzen Lande correspondiren können. In zweiter Linie sollen dann diese Ausliegeschiffe auch Stationen bilden zur Aufnahme und Abgabe von Personen, Briefen etc., deren Beförderung durch regelmäßig hin- und herfahrende Dampfboote besorgt werden soll. –

Das kolossale Project einer Eisenbahnbrücke zwischen England und Frankreich ist vielfach als ein ebenso großer Humbug bezeichnet worden; gegen solche Anschauung aber wird von Seiten der Unternehmergesellschaft lebhaft protestirt und die Gesundheit und Reellität des Unternehmens vertheidigt. Man beruft sich darauf, daß die bedeutendsten Sachverständigen beider Länder den Plan gebilligt und für wohl ausführbar erklärt haben; daß die viertausend Pfund, welche zur Herstellung eines in der Ausführung begriffenen großen Modells zusammengesteuert worden, zum guten Theil von Fachleuten gegeben sind; endlich daß das Unternehmen fortdauernd die hohe Protection des französischen Kaisers genieße. Die Brücke soll nach einer neuerlichen Abänderung des Planes dreißig Bogen erhalten, die Pfeiler werden nicht aufgemauert, sondern ein jeder wird aus einer Anzahl eiserner Hohlcylinder bestehen, einer Gruppe von Riesensäulen, die durch Zwischenwerk unter sich verbunden sind, übrigens aber isolirt stehen und den Wogen und Winden freien Durchgang gestatten. Bei der Höhe der ansehnlichsten Kirchtürme und den angenommenen Stärkedimensionen aller Theile wird der Bau ein Gewicht und eine Widerstandsfähigkeit haben, welche laut Rechnung die Kraft der stärksten Orcane um das Sechsunddreißigfache überbieten soll. –

Die gebräuchlichsten fest überall angewandten Betäubungs- und Schmerzverhütungsmittel bei Operationen am menschlichen Körper sind bekanntlich Chloroform und Schwefeläther. Jedes der beiden hat seine Verfechter, die das andere verwerfen, Thatsache ist es indeß, daß die Anwendung des einen wie des andern mit Gefahr verbunden ist und Todesfälle nicht allzuselten im Gefolge gehabt hat, und daß auch im gelungenen Fall Schwindel, Kopfschmerz und sonstiges Uebelbefinden als Folgen der Betäubung zurückzubleiben pflegen. In letzter Zeit beginnt nun als ein neues Anästheticum das Lach- oder Lustgas (Stickstoffoxydul) sich geltend zu machen, das eigentlich gar keine Neuigkeit ist, sondern schon 1800 von Davy zur Anwendung für denselben Zweck vorgeschlagen wurde. Allein obschon seitdem in Hörsälen und sonst mit dem Gas vieltausendfache Proben angestellt worden sind, weil sich immer Leute fanden, die seine eigenthümlichen Wirkungen an sich selbst zu erfahren wünschten, so hat seine praktische Anwendung doch erst in letzter Zeit, vor etwa zwei Jahren, und zwar zuerst in Amerika begonnen. Diesem Beispiele sind kürzlich die Engländer und Franzosen gefolgt. In Amerika zählt man bereits mehr als vierzigtausend Fälle gelungener Anwendung, in England über zweitausend. Das Mittel paßt indeß nicht für schwere und mehr Zeit erfordernde Operationen, sondern nur bei solchen, die in ein paar Minuten abzumachen sind, wie das Ausziehen von Zähnen, Oeffnung von Geschwüren und dergleichen. Es sind darum auch besonders die Zahnärzte die eifrigen Freunde des Lachgases geworden, obschon seine Anwendung umständlicher und seine Bereitung kostspieliger ist als die der andern Mittel. Denn es muß, um keine üblen Wirkungen zu haben, erstlich chemisch ganz rein sein und dann auch so verabreicht werden, daß es unvermischt mit Luft eingeathmet werden kann, wozu ein besonderer Apparat gehört. Unter diesen Bedingungen ist die Wirkung des Mittels so rasch als gutartig. in sechzig bis achtzig Secunden pflegt der Betäubungszustand einzutreten, fünfzig bis hundert Secunden anzudauern und dann plötzlich und vollständig, ohne Hinterlassung von Nachwehen, wieder zu verschwinden. Nun muß aber bei der gewöhnlichen Schilderung der Lachgaswirkungen – ungeheure Heiterkeit, unwiderstehlicher Lachtrieb, lebhafte Körperbewegungen und Gesticulationen – wohl die Frage entstehen, wie bei solchen Zuständen eine Operation thunlich sein könne. Hierauf antworten uns die Operateure. die Wirkungen sind nicht allein nach den Temperamenten verschieden, sondern hängen wesentlich auch von der augenblicklichen Gemüthsstimmung ab. Wer im Begriff ist sich einer Operation zu unterziehen, schwebt immer in einiger Besorgniß, und da kommt es gar nicht oder doch nur in den allerseltensten Fällen zu lebhaften Ausbrüchen. Manche Patienten verlieren auch gar nicht das Bewußtsein, sondern sehen Alles, was um sie vorgeht, aber in dem ungemeinen Wohlgefühl, das der Einathmung folgt, bleiben die Schmerzen der Operation von ihnen unbemerkt. Uebrigens ist die merkwürdige Wirkung dieses Mittels eben auch, wie bei Chloroform und Aether, nichts anderes als das Vorspiel einer Erstickung, die bei zu weit fortgesetzter Anwendung nicht ausbleiben würde. –

In Anlaß unseres neulichen Referats über die Hipp’sche Erklärung der Kesselexplosionen geht uns von competenter Seite eine Kritik dieser Knallgastheorie zu, nach welcher dieselbe denn doch auf schwachen Füßen stehen würde. Es wäre hiernach erstlich noch unerwiesen, daß überhaupt Kesselpartieen glühend werden können, so lange noch irgend Wasser im Kessel befindlich die mit Kesselstein und Oxyd bedeckten Wandungen gewährten dann selbst im glühenden Zustande nicht die Bedingungen, die zur Wasserzersetzung, noch weniger die zur Entzündung des präsumirten Knallgases erforderlich sind. Ein solches Gas in seiner Vermischung mit der ganzen Dampfmenge würde sich jedenfalls selbst durch den elektrischen Funken nicht entzünden lassen oder, die Möglichkeit einer Entzündung angenommen, doch eben wegen dieser Vermischung nur eine ganz unbedeutende Drucksteigerung bewirken können. Die Sache ist also nach unserm Gewährsmann unmöglich. Dagegen lehre die Erfahrung immer deutlicher, daß Explosionen nur durch sträfliche Vernachlässigung einer gehörigen Kesselprüfung entstehen, daß in fast allen Fällen die eigentliche Ursache darin gefunden wurde, daß man fortfuhr, Kessel zu benutzen, deren Wände durch Rost und Brand schon zu sehr geschwächt waren.




Blätter und Blüthen.


Ein Duell des Komikers Wenzel Scholz. Vor etwa dreißig Jahren gastirte Scholz in Graz. Sein Benefiz war angekündigt. Die Einladung zu dieser Vorstellung liegt mir im Original vor und ich erlaube mir, sie als Curiosum dem Lesepublicum mitzutheilen.

Heute zum Vortheile des Komikers Wenzel Scholz
zum ersten Male.
Der Elephantenrüssel.

Eine dialogisirte Pantomime in 3 Acten. Der erste Act ist von Herrn Pantalon, der zweite von Herrn Harlekin und der dritte von Herrn Pierrot gedichtet.

Bin mit sehnlichstem Verlangen
Den Theatermarkt durchgangen,
Hab geschaut bis zum Erblinden,
Ob was Gutes aufzufinden,

5
Und ich sah auf einer Schüssel

Einen Elephantenrüssel,
Von Thalia, meiner Mahm,
Frisch gekocht mit saurem Rahm.
Her damit! Kost’s tausend Gulden,

10
Tout égal, ich mach halt Schulden,

Alles eins, wenn ich’s nur habe, –
Und ich pump’s, um mit der Gabe
Ihnen meinen Dank zu weihn
Und Sie möglichst zu zerstreun.

15
Haben’s Nachsicht nur ein Bissel

Mit dem Elephantenrüssel.
Wird mit Beifall er gegeben,
Lächelt mir ein neues Leben.
Kann aus mir auf dieser Erden.

20
Noch vielleicht was G’scheidtes werden,

Ist’s nur Ihnen vorbehalten,
Mich so glücklich umzustalten,
Wie Mercur aus bloßem Holz.
Ihr ganz treu ergebner Scholz.

Glückliche, harmlose Zeit, in weicher noch eine solche Einladungskarte

[192] zur „Elephantenrüssel-Soiré“ das Publicum locken konnte! Man ließ sich glücklich „abspeisen“ damit.

Nach der Vorstellung schritt Scholz der Franzensgasse zu, denn eine kleine allerliebste Grazerin hatte ihn dort zum Rendezvous eingeladen. Aber die kleine allerliebste Grazerin liebte neben Scholz noch einen Husaren-Lieutenant, der den Komiker zu seinem Schätzchen schleichen sah und zähneknirschend an der Straßenecke wartete, bis sein Nebenbuhler das Haus verließ.

Er durfte nicht lange warten, denn schon nach einer Viertelstunde kehrte der Komiker zurück.

„Guten Abend!“ rief der Lieutenant barsch, indem er ihm den Weg vertrat.

„Gehorsamer Diener!“ brummte der Komiker erschrocken und in einem Baß, den er Lablache entlehnt zu haben schien.

„Verstellen Sie sich nicht – ich kenne Sie.“

„Ich bin’s nicht – ich bin ganz ein Anderer.“

„Sie sind Wenzel Scholz?“

„Warum nicht gar! keine Idee!“

„Leugnen Sie nicht! Im Theater habe ich oft herzlich über Sie gelacht, aber außerhalb desselben verstehe ich keinen Spaß, am allerwenigsten, wenn man meine Wege durchkreuzt.“

„Die Wege sind für Militair und Civil gebaut.“

„Sehr richtig, aber dennoch darf ich es nicht dulden, daß man Wege, die ich mir selbst gebahnt, mit mir gemeinschaftlich zurücklegen will. Sie werden mich verstehen und begreifen, daß Sie mir Genugthuung schuldig sind.“

„Was? Sie fordern mich?“

„Zu dienen. Morgen früh werde ich Ihnen einen meiner Freunde senden, um das nähere mit Ihnen zu verabreden. Auf Wiedersehen, mein Herr!“

Der Lieutenant grüßte kalt und förmlich und entfernte sich.

Am nächsten Morgen fanden sich auf einem lichten Platze eines naheliegenden Gehölzes die beiden Gegner gegenüber. Sie hatten die Röcke abgelegt, die Arme entblößt und Jeder hielt einen blitzenden Stoßdegen in der Hand. Die Secundanten hatten das Möglichste gethan, die Gegner zu versöhnen, aber der Lieutenant wies jeden Vergleich zurück, und Scholz hatte zu viel Ambition, ein Wort der Entschuldigung fallen zu lassen.

Aber als sich der Komiker in Positur stellte mit seinem martialischen pudelnärrischen Gesicht und den Degen kreuzen wollte, fing sein Gegner sowohl als die Secundanten aus vollem Halse zu lachen an, denn ihnen war plötzlich und unwillkürlich der „Klapperl“ eingefallen, die Rolle eines Tölpels, die Scholz unübertrefflich spielte.

„Was soll das?“ frug er ernst. „Hat ihnen mein Benehmen etwa Veranlassung zu dieser Heiterkeit gegeben?“

„Nein, nein, Ihr Benehmen ist das eines Mannes von Ehre!“ antwortete sein Gegner, gewaltsam das Lachen verbeißend. „Aber Sie haben ein so drolliges Gesicht, daß ich mit geschlossenen Augen werde fechten müssen.“

Der Zweikampf begann und schon nach einigen Minuten färbte sich das Hemd des Komikers. Die Degenspitze seines Gegners war ihm in die Brust gedrungen, hatte ihm jedoch nur ein wenig zur Ader gelassen, ohne edle Theile zu verletzen.

Die Gegner boten einander die Hände, feierten bei einer Bowle Punsch das Versöhnungsfest, und die komische Muse freute sich, nicht eines Priesters beraubt worden zu sein, für den sie wahrscheinlich in diesem Jahrhundert keinen Ersatz gefunden hätte.




Ein deutscher Dichter in Rom. Unter der Ueberschrift „Meiner Mutter“ brachte die Gartenlaube in der ersten Nummer des laufenden Jahrgangs ein dem tiefsten Gemüth entsprossenes, durch anmuthsvolle Form und zarteste Innigkeit des Gedankens sich auszeichnendes Gedicht, von dem wir nicht mit Unrecht voraussetzen, daß es weit und breit die Herzen ergreifen und ein inniges Verständniß finden würde. Das Gedicht war einem eben ganz neu aus der Presse gekommenen Touristenbuche entnommen, auf das wir hiermit nachträglich unsere Leser aufmerksam machen wollen, da es zu dem Frischesten, Liebenswürdigsten und Gemüthreichsten gehört, was seit langer Zeit auf dem Gebiete der Reiseliteratur erschienen ist. „Römische Schlendertage von Hermann Allmers“ (Oldenburg, Schulze’sche Buchhandlung). Allmers hat nicht über Rom geschrieben, um ein Buch zu machen. Was er dort mit gebildetem Geist betrachtet, gedacht und erforscht, mit der seelenvollen Empfänglichkeit und dem frischen und hellen Auge des deutschen Poeten geschaut und beobachtet hat, das ist ihm während seines Aufenthaltes in einzelnen Tagebuchsnotizen, Aufsätzen und Dichtungen gleichsam auf’s Papier geflossen. Dadurch erhalten die Schilderungen einen Charakter anspruchsloser Originalität, einen Ton individueller Wärme und Lebendigkeit, der das ganze Buch, in welchem sie nun aneinandergereiht sind, ungemein anziehend und erquicklich macht. Der Inhalt ist ziemlich reich, vielseitig, nach mancher Seite hin auch bedeutsam durch Neuheit der Gegenstände und der Anschauung. Wir nennen in letzterer Beziehung z. B. nur die höchst interessanten Capitel „Der italienische Volkscharakter“, „Schutt und Scherben“, „Vegetationsbilder“, „Zwischen den Mauern“, „Eine vergessene Stadt“. Was Allmers schreibt, ist charakteristisch und vor Allem: es ist deutsch in jeder Faser des Denkens, Empfindens und des Ausdrucks.



Zur Curirschwindelei. 1. Was ein Lohgerber mit seiner Lohe fertig bringt. Der Lohgerber Carl Dittmann in Berlin schreibt an Hrn. J. L. in Schw., welcher gehörkrank ist, wörtlich Folgendes: „Noch nie hat Jemand mit Gehörkranken so große Curen gemacht als meine Cur. Sie können hier Taubstumme sehen, die wieder hören und sprechen, die hier in dieser Cur geheilt sind, und so in den verschiedenen Fällen.“ Giebt es denn wohl noch eine größere Curirunverschämtheit?

2. Dank für Heilung der Schwindsucht durch Dr. Reimann in Berlin Es ist merkwürdig, daß viele der von. Dr. R. geheilten Schwindsüchtigen, die sich öffentlich für ihre Heilung bedanken, gar nicht zu existiren scheinen. Noch neuerlich wurde nach einem Kaufmann Müller in Ludwigslust vergeblich geforscht.

3. Dr. Killisch’s Heilmittel gegen Epilepsie, dessen Versendung früher durch die Wittwe Plaumann vermittelt wurde und das jetzt, wahrscheinlich in Folge eines Zerwürfnisses zwischen Doctor und Wittwe, von dieser für die Hälfte (per sechs Flaschen drei Thaler) des Killisch’schen Preises ausgeboten wird, ist, wie alle Geheimmittel, nichts als Geldschneiderei. Sein Hauptbestandtheil ist Bromkalium, ein Arzneistoff, der von den Aerzten seit Jahren gegen die Epilepsie, aber ganz vergeblich, verordnet wird. – Ein armer Weber, der natürlich durch dieses Mittel nicht curirt wurde, hat in drei Monaten an ärztlichem Honorar neun Thaler und für vierundfünfzig Flaschen Arznei in sechs Sendungen dreiunddreißig Thaler an Dr. Killisch bezahlt, abgesehen von dem Porto, das, da das Geld immer durch Postvorschuß entnommen wurde, sich ziemlich hoch belief. Uebrigens ist das unnütze Zeug nur wenige Thaler werth.

Aber die Dummen werden nicht alle! Bock.     



Instinct oder Ueberlegung. Vor Jahren besaß ich ein hübsches Exemplar der kleinen langhaarigen Wachtelhund-Race, das sich durch auffallende Klugheit vor vielen seines Geschlechts auszeichnete. Trouvé, so hieß mein Hund, konnte – wie jeder andere – nie der Verlockung widerstehen, wenn er einen Igel fand, stets von neuem mißlungene Versuche anzustellen denselben zu fassen und todtzubeißen. Eines Tages hatte er mich, wie gewöhnlich, auf meinem Gange in’s Bad begleitet, als er im Walde am Meeresufer wieder einen Igel fand, der sich sofort beim ersten Angriff zusammenkugelte. Trouvé’s Versuche, ihn zu fassen, blieben natürlich auch dieses mal erfolglos, und eine geraume Zeit zerstach er sich an dem Igel ganz nutz- und witzlos das Maul. Dann aber ließ er plötzlich von ihm ab und beobachtete ihn eine Zeit lang ohne zu bellen, hoffend, daß der Igel sich strecken würde. Als dieser aber gar keine Anstalten machte, seine vortheilhafte Stellung aufzugeben, begann Trouvé von allen Seiten mit den Vorderpfoten trockenes Laub zusammen zu scharren und dasselbe auf seinen Feind zu häufen. Er setzte diese Arbeit so lange fort, bis der Igel hoch mit Blättern bedeckt war; darauf faßte er ihn mit großer Gemüthsruhe und trug ihn wedelnd, und sich nach mir mit Befriedigung umsehend, in’s Wasser, wo er ihn fallen ließ. Natürlich beeilte sich der Igel wieder an’s Land zu schwimmen; kaum aber erschien der kleine Kopf über dem Wasser, so machte Trouvé mit wohlangebrachtem Biß dem Igel den Garaus, trug ihn an’s Land und legte mir sein Opfer triumphirend und mit den lebhaftesten Aeußerungen der Freude zu Füßen. C. v. R.     




Kleiner Briefkasten.


R. in V. Was können und sollen wir dagegen thun? Es existiren bereits fünf Gartenlauben – eine musikalische, eine österreichische, eine amerikanische, eine Kinder- und eine Theater-Gartenlaube. Wir gönnen allen freie Bahn.

K. H. in Lpz. Das Geld ist sofort an den armen Mann abgesandt. Eine öffentliche Sammlung liegt nicht in der Absicht der Redaction.



Inhalt: Reichsgräfin Gisela. Von E. Marlitt. (Fortsetzung.) – Ein Tag in Düsseldorf. Von Ferd. Heyl. Mit Portrait. – Die Königin von neun Tagen. – Die Hörnerschlittenfahrt im Riesengebirge. Mit Abbildung. – Polytechnikum der Gartenlaube. Nr. 2. – Blätter und Blüthen: Ein Duell des Komikers Wenzel Scholz. – Ein deutscher Dichter in Rom. – Zur Curirschwindelei. Von Bock. – Instinct oder Ueberlegung? – Kleiner Briefkasten.



Als Confirmationsgeschenk empfohlen!

Im Verlag des Magazins für Literatur in Leipzig ist in eleganter Ausstattung erschienen und in allen Buchhandlungen zu haben:

Palmen des Friedens.
Eine Mitgabe auf des Lebens Pilgerreise.
Dichtungen
von Ferdinand Stolle.
5. vermehrte Auflage. – prachtvoll geb. 1½ Thlr.

Das Publicum, welches mit so großem Beifalle die in der Gartenlaube mitgetheilten Proben dieser Sammlung begrüßte, wird diesen herrlichen Blumenstrauß, in welchem sich derselbe Geist, dasselbe Gemüth in schöner Form widerspiegeln, gewiß doppelt willkommen heißen. Die Palmen des Friedens in ihrer prachtvollen Ausstattung dürften unter den poetischen Geschenken mit Recht einen der ersten Plätze einnehmen.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Nr. 5 1862