Die Gartenlaube (1863)/Heft 11
Drob’n auf die Berg da saust der Wind,
Der Bach drunt’ in der Klamm:
Und Wind und Wasser, Berg und Thal,
Wie kamen die wohl z’samm’! (f. kämen.)
So klang es von einer der höchsten Höhen des Steinbergs lustig in den blauen, herbstlich klaren Abendhimmel hinein. Die Sängerin saß an einem weit vorspringenden steilen Bergabhang auf mächtigem Felsblock, zu dessen Füßen aus schauervoller Tiefe die Gipfel des hundertjährigen Tannenwaldes emporragten, der die Mitte des Gebirgs umgürtet. Hart daneben, durch eine Lücke in den Bäumen öffnete sich ein Ausblick in den schmalen, schon dunkelnden Thalgrund der Ramsau, aus welchem die Ach, vom Hintersee heranrauschend, hie und da flüchtig durch die Ahornkronen ihrer Gestade aufschimmerte. Gegenüber stiegen die schroffen Gewände der Reiser-Alm und die riesigen Mühlsturzhörner in das Abendroth empor, das auf den kahlen und grauen Häuptern schimmerte, wie eine Rosenkrone auf einer Greisenstirn. Es waren nur noch die letzten Strahlen der untergehenden Sonne, welche die obersten Schrofen und Grate erreichten; tiefer hinab verdämmerten schon die Risse und Spalten der Felswände mit den Säumen des Waldes, während es auf dem Steinberg selbst und um den Sitz der Sängerin bereits tiefer dunkelte; die Strahlen drangen nicht mehr über seinen gewaltigen Rücken, und die mächtige, scharf gerissene Scharte in demselben, das Denkmal eines vor Jahrhunderten dort abgegangenen ungeheueren Bergsturzes, ragte scharf gerändert und schwarz in den darüber verglühenden Abendhimmel. Beinahe völlige Nacht lag hinter dem Mädchen auf den zerstreuten Almhütten, aus deren offenen Thüren von fern her die rothen Heerdfeuer loderten. Weit und breit war es einsam und stille, nur einige verspätete Bergraben schwebten mit gemessenen Flügelschlägen dem Walde zu; der Gesang des Mädchens drang darum weithin in die Gegend, er traf das lauschende Ohr der Bauersleute, die drüben auf dem Lattengebirg bei der Wegscheid oder am Schwarzeck feiernd vor dem Hause sitzen mochten, und verweilte den Wanderschritt des Holzknechts, der vielleicht unten im Thale an den Mühlen vorüber von der Arbeit heimkehrte.
Ein schwacher Wiederhall antwortete den Tönen des Liedes, an den fernen Bergwänden verschwebend. Die Sängerin schien dem Nachklange mit Vergnügen zu lauschen und ihn selbst hervorzurufen, denn sie zog und schwellte die Töne lang hinaus und hielt dann inne, gleich als wenn sie prüfen wollte, ob die unbekannte ferne Stimme wirklich im Stande sei, sie ebenfo hell wiederzugeben, und fuhr emsig fort, ihren hohen breitkrämpigen Hut, den sie vor sich auf dem Schooße hielt, mit Alpenrosen zu bestecken.
Jetzt hatte sie geendet und horchte wieder mit gehobenem Kopfe auf das Hinsterben des Wiederhalls. Mit einem Male aber flog ein munteres Lächeln über das feingeformte Gesicht, denn das Echo dauerte ganz ungewöhnlich lange und schien sogar seinen Standpunkt ändern und näher kommen zu wollen. „Das ist einmal ein g’spaßiger Wiederhall,“ sagte sie vor sich hin, „der rührt sich vom Fleck und singt was Ander’s, als man ihm vorgesungen hat! Den muß ich schon ein Bissel auf die Prob’ setzen!“
Sie erhob die Stimme noch heller als zuvor und begann das zweite Gesätzel ihres Liedes zu singen:
„Jetzt treib’ ich von der Alma ab;
B’hüt Gott, Du Schatzel mein,
Und wenn der Auswarts wiederkimmt,
Wo wer’ ich nachher sein?“
Es dauerte nicht lange, so ließ die nachahmende Stimme sich wieder hören und verwebte sich begleitend und secundirend geschickt mit jener der Vorsingenden. Während des Jodlers am Schlusse kam sie immer näher und ertönte zuletzt hart unter dem Felsen, auf welchem das Mädchen saß, aus dem Walde herauf. Als das Lied zu Ende war, fügte die unsichtbare Begleiterin noch einen hellen, langgezogenen Juhschrei hinzu, und im nämlichen Augenblick tauchte zwischen den Steinblöcken und Tannenwipfeln ein Mädchen empor.
Die auf dem Felsen wendete sich nach ihr hin. „Die Kordel!“ rief sie lachend. „Du hast mich so gefoppt? Hab’ ich mir’s doch halb und halb gedacht, daß es Niemand Anderer ist, als Du unmüßige Dingin!“
„Hast mich wirklich nit gleich an der Stimm’ gekennt, Evi?“ sagte die Angekommene, indem sie näher trat und sich leichthin neben ihr auf den Felsblock setzte. „Ich mein’, wir hätten doch oft genug mit einander g’sungen, daß Du wissen könnt’st, daß es in der ganzen Ramsau keinen Stimmstock mehr giebt, als wie unsere Zwei? Mußt ja völlig tief in Gedanken gewesen sein!“
Die beiden Mädchen boten, als sie so nebeneinander saßen, ein ungemein reizendes Bild. Sie waren beide jung und schön, beide Bauerndirnen und doch vollständig verschieden. Evi war eine große, wohlgebaute und schlanke Gestalt, Kordel erschien kleiner und von feinem, fast zierlichem Bau; Jene hatte das reiche lichtbraune, beinahe blonde Haar in stattlichen Zöpfen um die Stirn geschlungen, diese trug ein Kopftuch, welches in breiten Zipfeln den Nacken hinunter fiel, während nach vorne zu sich dichtes, glänzend [162] schwarzes Scheitelhaar unter demselben vordrängte. In Evi’s Gesicht schimmerten tiefblaue Augen über angenehm gerötheten Wangen, kräftiger Nase und anmuthig geschwellten Lippen voll der Farbe des Kornmohns – Kordel’s Antlitz war bleich, von südlich gelbem Hauche überflogen, zu welchem die funkelnden kohlschwarzen Augen ebenso gut stimmten, als der schmale, tief rosig überflogene Mund. Evi trug das offene unverkennbare Gepräge deutscher Abstammung; bei Kordel wurde man unwillkürlich an die alte Sage erinnert, als seien die ersten Bewohner des Ramsauer-Thals Römer gewesen, die sich in diesen Bergversteck flüchteten, an welchem der Sturm der Völkerwanderung unbemerkt vorüber brauste.
„Und schau,“ begann Kordel wieder, „da ist ja eine ganze Burd’ von lauter Almenrausch und ganz frisch gebrockt … wo hast’n her?“
„Ich bin den Abend selber noch einmal hinauf in’s Gewandt, wo’s gegen das Geisterbrünnl hinauf geht, und hab’ das Blumwerk gesucht – es ist so viel schön da droben. D’rum hab’ ich mir’s noch einmal angeschau’t und hab’ mir einen Buschen geholt … und für mein Vieh muß ich doch auch was haben zu einem Kranz … weißt ja, daß wir morgen abtreiben!“
„Leider Gottes!“ sagte Kordel mit einem tiefen Seufzer. „Es liegt mir schwer genug in den Gliedern und auf dem Herzen!“
„Warum?“ fragte Evi entgegen. „Bei mir ist’s was and’res, wenn’s mich hart ankommt, von den Bergen fortzugehen. … Ein Dienstbot, wie ich einer bin, der muß bald da, bald dort sein … Du bist in Deiner Heimath!“
„Ja wohl,“ seufzte Kordel wieder, „… und ich wär’ glücklich, wenn ich frei wär’ und fort könnt’, wie Du! Mir graust, wenn ich d’ran denk’, wie der Winter hinüber gehen soll!“
„Das kann ich mir gar nit vorstellen!“ rief Evi verwundert. „Du bist doch auf der Ledermühl’ daheim, hast Vater und Mutter … ich hab’s meiner Lebtag nit so gut gehabt! Ich bin ein armes, ledig’s Kind – meine Mutter ist gestorben, wie ich noch so klein gewesen bin, daß ich’s nimmer denk’ … von meinem Vater weiß ich nichts, als daß er selbigesmal, wie sie hineinmarschirt sind in’s Rußland, nicht mehr zurückgekommen und mit den Andern erfroren ist. Ich bin im Hüthaus und im Gemeindhaus aufgewachsen und alleweil unter fremden Leuten ’rumgefahren … ich weiß nit, wie das thut, wenn man sagen kann, daß man auch einen Menschen hat, dem man angehört!“
Kordel war noch trauriger geworden und hielt den Kopf gesenkt. „Ich weiß nit, was besser ist,“ sagte sie kummervoll, „gar keine Heimath und keine Eltern haben, oder … Aber ich mag nit reden davon; sie bleiben doch meine Eltern und mein armer guter, guter Vater. … Man hört Dir’s an, Evi, daß Du noch kein Jahr in der Ramsau bist und daß Du noch nie in die Ledermühl’ kommen bist, Du thätst Dich sonst nit wundern, warum ich Sorg’ hab’ auf den Winter. … Aber ich glaub’ gar, ich hab’ nasse Augen?“ lachte sie scharf auf, indem sie die Schürze an’s Gesicht drückte. „Die könnt’ ich gerade brauchen! Fort mit den traurigen Gedanken! Ich mein’, es ist nit umsonst, daß wir heuer miteinander zusammen ’kommen sind auf der Alm und daß wir so gute Cameradinnen ’worden sind! Ich denk’, wir fahren im Auswärts wieder miteinander gen Alm … Warum sollt’st nimmer da sein, Evi? Ich mein’, es gab’ doch genug Bandeln, die Dich halten könnten in der Ramsau …“
„Was meinst damit?“ fragte Evi, indem sie das Gesicht abwandte, um ein leichtes Erröthen zu verbergen, das doch im Dunkel nicht mehr sichtbar gewesen wäre.
„Sei so gut und stell’ Dich an, als wenn Du’s nit wüßtest!“ lachte Kordel. „Meinst, ich hab’ keine Augen im Kopf, weil ich eine lustige Gesellin bin? Kennst dasselbe Gassel-G’sangel nit?
Die heilig’n drei König
Hab’n ein’ einzigen Stern:
Drei Bueben hat ’s Dirndl,
Wie wird denn das wer’n?“
Sie lachte muthwillig auf nach dem Gesang und hielt Evi’s Hand gefaßt, die ihr diese vergebens zu entziehen trachtete. „Laß mich aus, Kordl,“ sagte sie verlegen, „und häng’ mir Deinen Namen nit an! Ich mein’, Du sollst Dich selber bei der Nasen nehmen, wenn Du an den Brigadeer, an den Grenzwächter und an Deinen Schatz, den Quasi denkst …“
Aus Kordel’s Wesen und Miene war auf einmal wieder die Lustigkeit entwichen; sie senke den Kopf wie eine niedergeregnete Blume und sagte mit dem Tone herzlicher Betrübniß: „Ja, der Quasi macht das Kraut erst fett! Ich mag keinen Grünling, keinen Stichauf, der sein Brod davon hat, daß er and’re Leut’ in’s Unglück bringt – und der Quasi ist … ein Lump!“
Ueberrascht wandte Evi sich zu der Redenden. „Wirst doch nicht selber schlecht reden von Deinem eigenen Schatz!“ rief sie. „Oder ist’s aus mit Euch Zweien?“
„Ich weiß, was ich sag’, und ich wollte ich hätt’ den Quasi nit gesehen mein Leben lang! – O mein’ Evi, wenn ich noch einmal siebzehn Jahr alt werden könnt’, ich wollt’ meine Sache wohl so gescheidt machen, daß die Leut’ Recht haben, wenn sie sagen, daß ich eine lustige G’sellin bin … aber ich hab’ die Kappen verschnitten!“
„Red’ nur, was Dir ist, Kordl!“ rief Evi theilnehmend. „So hab’ ich Dich ja noch nie geseh’n!“
„Was wird mir sein!“ antwortete diese, in lautes unaufhaltsames Weinen ausbrechend. „Betrübt bin ich, daß ich mich der Läng’ nach in’s Grab legen möchte. Ja, Du – Du hast es gut … Du kannst einmal in Ehren und mit dem Kranzl zum Altar gehen, aber ich … O mein Gott, mein Gott!“ schluchzte sie noch stärker, „warum bin ich nit gestorben selbiges Mal! Neben meinem armen Würm’l wär’ ich am besten aufgehoben gewesen. …“
Evi war der Freundin näher gerückt, hatte ihr den Arm um die Hüfte geschlungen und drückte sie tröstend an sich. „Du machst mir ja ganz bang,“ sagte sie herzlich. „Sei doch gescheidt und laß Dir das Herz nit so völlig hinunter fallen. …“
Kordl biß, sich ermannend, die Zähne zusammen und faßte die Hand der Freundin. „Es ist so gefährlich nit, Evi,“ sagte sie. „Wenn mir das Herz auch hinunter fallt, wie in einen Ziehbrunnen – es hängt an einer starken Kette und ist das Auf- und Abwinden schon völlig gewohnt … es braucht nur ein paar Rucker, so ist’s wieder oben und so lustig wie zuvor! Wer wird sich ein graues Haar’l wachsen lassen um die Mannerleut …“
Dabei sprang sie auf und lachte so hell und laut, daß Evi ihr verwundert nachsah. „Na, Du hast wirklich das Lachen und Weinen in Einem Säck’l beisammen,“ sagte sie, „Du bist ein seltsames Leut!“
„Hörst?“ rief Kordel, wie um eine Antwort zu vermeiden. „Der Gaisbub schreit herüber von meiner Hütten. … Er wird die g’scheckete Pinzgauerin gefunden haben, die sich verstiegen hat und die wir g’sucht haben den ganzen Nachmittag – muß doch nachschau’n, ob Alles in Ordnung ist. … Es kommt mir auch vor, als wann Du mich nimmer brauchen thätst. … Hörst?“
Ein starker lustiger Juchzer klang unfern aus dem Gestein.
„Ich mein’, den Juchezer kenn’ ich!“ fuhr sie fort. „Du nit auch, Evi? Es wird wohl Numero Eins von den heiligen drei Königen sein. … B’hüt’ Dich Gott, Evi; ich komm zu Dir in Dein’ Kaser in Heimgarten, wann ich Dir nit im Weg umgeh!“
Sie ging und war bald im Dunkel verschwunden, während Evi sich bückte, um die Alpenrosen am Boden aufzulesen und in ihre Schürze zu sammeln. Nur wenige Augenblicke waren vergangen, als hinter ihrem Rücken aus dem Gestein die dunkle Gestalt eines Mannes hervorkam, der mit Hut, Rucksack und mächtigem Bergstock in der Entfernung von einigen Schritten stehen blieb. „Was ist denn das wieder für ein neuer Brauch?“ rief er mit wohlklingender, aber unwilliger Stimme. „Seit wann giebt einem denn die Sennerin keine Antwort, wenn man sie anschreit?“
„Du bist’s, Mentel?“ sagte Evi sich aufrichtend. „Ich hab’s wahrhaftig nit beacht’, daß Du mich angeschrieen hast. …“
„Hast es so nothwendig? Hast gewiß angenehme Gesellschaft gehabt? Schneid’ nur nit lang um und sag’s gerad’ heraus, ich hab’s doch geseh’n, daß Jemand justament weggewitscht ist von Dir!“
„- Und wenn’s so wär’?“ sagte sie, sich zum Gehen anschickend. „Ging’s Dich was an, Mentel? Bin ich etwa nit mein eigner Herr?“
Sie wollte rasch hinweg, aber noch rascher und wie im Sprunge war der Bursche neben ihr und hatte sie so fest am Arme gefaßt, daß ihr das Ende der Schürze entglitt und die Alpenrosen daraus zu Boden fielen. „Sag’ so was nit, Evi,“ rief er mit zorngedrücktem Tone, „Du weißt, daß ich’s nicht hören kann! Bleib’ da, ich muß mit Dir reden!“
„Laß mich aus – ich muß fort und nach dem Vieh umschau’n. …“
[163] „Hör’ mich an,“ rief er und hielt sie stärker. „Du mußt dableiben, Evi – ich will’s haben!“
„Das ist was anders!“ erwiderte sie gelassen und fast spöttisch, indem sie stehen blieb. „Wann Du so redst, muß ich wohl bleiben – Du bist der Sohn vom Haus und ich bin die Magd, der man anschaffen kann. Also was willst? Hat Dich wohl der Vater ’raufgeschickt gen Alm?“
„… Ich schaff’ Dir nichts an, Evi,“ sagte der Bursche milder, „ich komm’ auch nit von daheim; ich bin übern Hochkaltern her vom … Nun, Du weißt schon, wo ich gewesen bin!“
„Ich wollt’ lieber, ich wüßt’ es nit …“ flüsterte sie ernst und beinahe vorwurfsvoll.
„Red’ nit so, Evi … ich kann doch nicht anders! Das Wildpretschießen ist einmal meine Freud’, von der ich nit lassen kann! Das muß man von mir nit verlangen, daß ich mich daheim mit der Bauernarbeit plagen und schinden soll, wie ein Vieh! Soll ich den Mist hinauftragen auf die Berg’ statt den Hirschen nachzugehn und denen Gambs? Sollt’ ich Schachteln schneiden und Stuben hocken, statt in der freien Luft herum zu streichen? Ich kanns nit aufgeben, das frische Wildschützenleb’n!“
„In Gott’s Namen … Du wirst schon erfahren, wohin das Leben führt!“
„– Und wenn ich’s aufgeben wollt’, Evi … meinst, ich könnt’s thun, so für nichts und wider nichts? Umsonst ist nit einmal der Tod, denn der kost’s Leben … was sollt’ ich dafür kriegen, wenn ich’s aufgeb’? Ja, wenn Du wolltest, Evi …“
Das Mädchen war bewegt und mußte sich Gewalt anthun, es zu verbergen. „Wie Du daher schmatz’st!“ sagte sie mit möglichster Zurückhaltung. „Ich bin der Gar-Niemand – wie sollt’s auf das ankommen, was ich will?“
„Verstell’ Dich nit, Evi – Du weißt es lang, daß ich Dich gern hab’, lieber als Alles … fast gerad’ so lieb wie mein frei’s, lustig’s Wildschützenleb’n! – Der Vater will, ich soll das Heimathl übernehmen, soll gut thun und die Heugabel statt dem Stutzen in der Hand halten. … Wenn ich jetzt sagen thät’, ich will ein Bauer werden und bleiben – aber die Bäuerin muß Evi heißen?“
Das Mädchen schwieg; sie athmete tief auf, und es war gut, daß die Dunkelheit das Glühen ihrer Wangen verhüllte. Sie schien nach einer Erwiderung zu suchen. „Kannst mich denn gar nit leiden,“ fuhr der Bursche fort, „weil Du mir nit einmal eine Antwort giebst? Ich hab’ Dir’s schon so oft zu merken ’geben, Du bist mir allemal ausgewichen … heut hab’ ich eigens den weiten Weg herüber gemacht, um mit Dir noch einmal da heroben in der Freiung zu reden, eh’ wir wieder unter den Leuten und Giebachteln sind … willst mich ohne Bescheid fortgehen lassen?“
„– Und wenn ich gar nichts sag’, ist das nit auch ein Bescheid?“ erwiderte endlich das Mädchen mit unsicherer Stimme, die erst allmählich einige Festigkeit gewann. „Ich will aber auch gerad’ heraus reden, Mentel, und will Dir sagen, daß Du Dir das aus dem Sinn schlagen mußt! Mit uns Zwei kann’s nie was werden! Du bist ein reicher Bauernsohn, ich bin ein armer Dienstbot’; Du bist ein Ramsauer – ich bin fremd, ein hergelaufenes Hüterdirndl aus dem Laupgries … das giebt Dein Vater in Ewigkeit nit zu!“
„Er thut’s, Evi!“ rief der Bursche feurig. „Er muß – für das laß mich sorgen, wenn ich nur erst weiß, daß Du mich magst! Red’ – magst mich nit? Was hast gegen mich?“
Sie sah ihn entschlossen an; sie hatte ihre ganze Fassung wieder gewonnen. „Du bist mir zu wild, Mentel!“ sagte sie. „Zu unordentlich! Das könnt’ ich nit vertragen, wenn wir ein Paar wären … ich thät’s nit leiden, und Du thätst es nit lassen, wenn Du’s auch versprichst. … Schau, das könnt’ nit gut thun, und so ist’s das Gescheidteste, ich sag’ im voraus Nein. …“
„Das ist nur so eine verblümelte Weis’,“ rief Mentel mit auflodernder Hitze. „Warum magst mich nit? Weil ich Dir zu wild bin? Das sind Faxen, Evi … weil Dir ein Anderer lieber ist als ich – das ist der richtige Grund! Der Jäger ist es, der Lump, der mich ausgestochen hat, nit wahr … aber gieb’s Acht, Evi, es giebt ein Unglück, wenn ich das erfahr’! In der Mitt’ brech’ ich ihn ab, den Grashupfer den grünen, und Dich dazu!“
Evi trat ihm einen Schritt näher. „Ich fürchte Dich nit, Du Baumausreißer,“ sagte sie, „und wenn Du noch so wild thust! Wenn Du aber glaubst, Du g’fallst mir um das besser, bist auch auf dem Holzweg … ich hab’ meinen Kopf zum Aufsetzen, so gut wie Du, und …“ fügte sie etwas innehaltend bedächtiger hinzu … „und mein Herz auch!“
„Dein Herz?“ rief Mentel freudig. „Wenn Du’s nur noch hast, Dein Herzl – das ist ja das Einzige, um was ich mich sorg’! Wenn Du’s noch an keinen Andern verschenkt hast, nachher ist Alles gut – nachher mußt Du doch noch mein werden. … Kein Anderer soll Dich haben, und ich will nit rasten, bis Du als Bäuerin droben sitz’st am Schwarzeck auf dem Bühelgut! … Ich will auch nit mehr so wild sein … ich will Dir’s zeigen und gleich das Blumwerk aufklauben, das Dir aus dem Fürtuch gefallen ist wegen meiner Reschheit (Heftigkeit)! – Schau!“ fuhr er fort, indem er sich bückte und die zerstreuten Blüthen eilfertig zusammenraffte, „lauter frischer Almenrausch! Wo hast’n her?“
„Ich hab’ ihn selber geholt, droben am Gewandt beim Geisterbrünnl …“
„So? Das trifft sich ja prächtig!“ rief Mentel rasch. „Ich hab’ derweil’ Edelweiß gebrockt … da schau’ her, die schönsten frischesten Stern’ und so lind als wie Sammet; es wachst nirgends so schön, als drüben am Bartelmä-See, wo’s in’s Lauthal hinein geht! Gieb mir einen Buschen von Deinem Almenrausch!“
Er ergriff einen Zweig, nahm den Hut ab und befestigte die Alpenrosen neben dem Strauße von Edelweiß, womit er geziert war. „Die zwei fürnehmsten Blumen, die auf den Bergen wachsen,“ sagte er dabei, „die müssen bei einander sein! Und Du – Du sollst auch das Edelweiß von mir tragen. …“ Damit hatte er ihr den Hut, den sie in der Hand getragen, entrissen und ihn mit Edelweiß besteckt. „So,“ rief er, indem er ihr den Hut auf den Kopf drückte, „jetzt kannst sagen, was Du willst, Evi – jetzt ist’s richtig mit uns Zwei – denn Almenrausch und Edelweiß, die g’hören zusamm’!“
Das Mädchen war verwirrt, die Antwort wurde ihm aber erspart, denn von der Sennhütte her ließ sich Gesang vernehmen und unterbrach das Gespräch gerade im entscheidenden Augenblick. In ländlicher Weise, aber mit keineswegs bäurischem Ton klang es herüber:
„Sennrin, wo bleibst so lang?
Hast mich für’n Narrn?
Geh’, bring mir a Mili
und koch’ mir an Schmarrn!“
„Ist das nit der Maler?“ sagte Mentel, indem er mit Evi der Hütte zueilte. „Was nur der alleweil da heroben ’rumzusteigen hat?“
„Er ist schon seit ein paar Tagen in der Näh’,“ antwortete Evi, „ich glaub', er will das blaue Eis abmalen droben auf dem Hochkaltern. …“
Jetzt war die Hütte erreicht; in der offenen Thüre stand der Maler, eine fein gebaute, fast zarte Gestalt, von dem dahinter glimmenden Heerdfeuer in den Umrissen schwach röthlich beleuchtet. Er trug Gebirgshut, Joppe, Wadenstrümpfe und nagelbeschlagene Bändelschuhe; der an einem Bande über der Schulter hängende Malkasten, der Regenschirm und der zusammengelegte Feldstuhl aber zeigten, daß es kein Bauer war, der im Scharten-Kaser einsprach.
„Grüß’ Enk Gott, Herr Reinthaler!“ sagte Evi hinzutretend und bot ihm die Hand, in die er lustig einschlug. „Laßt’s Enk auch wieder einmal sehn’ da heroben?“
„Freilich, Evi,“ war die Antwort. „Ich will morgen in die Stadt zurück und mußte mich ja eilen, wenn ich die Hütte nicht schon gesperrt und die schöne Sennerin ausgeflogen finden wollte. Du mußt mir Nachtherberge geben; es ist zu spät und zu weit hinunter in’s Ramsauer Wirthshaus, und meine Schuhe halten nicht mehr aus – der Höllenweg über das Felsengeröll am blauen Eis herunter hat sie ganz hin gemacht!“
„Die schaun freilich übel aus!“ lachte Evi, indem sie die Schuhe des Malers betrachtete, aus welchen die Zehen vorsahen. „Kommts nur herein; ich koch’ Euch einen Schmarrn, Milch ist noch da, ein Glasl süßer Schnaps wird sich auch finden, und meine Lagerstatt im Kreister könnt Ihr auch haben!“
„Wo legst nachher mich hin?“ rief Mentel dazwischen. „Ich kann heut’ auch nit mehr hinüber aufs Schwarzeck!“
„Ah, Du bist nicht allein!“ sagte Reinthaler, indem er den Burschen, den er bis dahin nicht bemerkt hatte, prüfend betrachtete. „Alle Wetter, das ist ein hübscher Bursch … das ist wohl gar Dein Schatz, Evi?“
[164] Mentel, im Lichte des Heerdfeuers stehend, rechtfertigte die Bewunderung des Malers. Er war groß und schlank, von anscheinend nicht sehr kräftigem, aber sehnigem Gliederbau. Das Gesicht hatte etwas von Kordel’s südlicher Färbung, aber es war angenehm geröthet, und das pechschwarze krause Haar wie die dunklen Augen ließen vermuthen, daß die Gemüthsart der äußern Erscheinung nicht widersprach. Er that, als ob er die Frage und das Staunen des Malers gar nicht beachtete, warf den Rucksack ab und lehnte den Bergstock in die Ecke, aber ohne den Blick von Evi zu verwenden. Er wollte die Antwort, die doch kommen mußte, auch in ihren Mienen lesen. – Evi stand am Heerd, hatte den darüber hängenden Kessel bei Seite gedreht und Holz zugelegt, daß die Flamme hochauf prasselte; es war nicht zu unterscheiden, ob es Reinthaler’s Frage oder der Wiederschein des Feuers war, was ihre Wangen so glühend färbte. „Ich hab’ keinen Schatz,“ rief sie, „und das ist der Sohn von meinem Dienstbauern!“
Mentel, der in der Ecke an der Fensterbank niedergesessen war, drehte grimmig an seinem Schnauzbart und lachte eigenthümlich vor sich hin. Es konnte dem Maler nicht entgehen, daß das Lachen einige Beziehung auf ihn haben müsse. Er blieb vor ihm stehen.
„Was lachst Du, guter Freund?“ sagte er. „Mir scheint, meine Gegenwart ist Dir nicht angenehm?“
„Angenehm!“ lachte Mentel wie zuvor. „Ich hab’ mir nur Eure Schuh betrachtet, wo die Inwohner zum Fenster ’raus schau’n, und da hab’ ich lachen müssen über die Herrischen, die’s drunten im Thal und drinnen in der Stadt viel angenehmer haben, als bei uns! Das weiß unser lieber Herr-Gott, was so ein Maler auf den Bergen herumzusteigen hat!“
„Ich hoffe allerdings,“ sagte Reinthaler mit würdigem Ernst, „daß unser lieber Herr-Gott davon weiß, warum ich auf den Bergen herum steige. Sind sie nicht geschmückt mit auserwählter Schönheit? Bleibt nicht die Erde und ihr Kummer unten in der Tiefe? Ist man nicht näher am Himmel und an der Unendlichkeit? Meinst Du, das sei für Euch Bauern allein? Glaubst Du, wir Herrischen verstehen das nicht auch? Weil aber nicht Alle von uns so hoch hinauf steigen können, laß’ ich mir die Mühe nicht verdrießen und male, was ich sehe, damit die Andern sich auch an Gottes Herrlichkeit mitfreuen und das mitempfinden können, was Einem durch’s Herz geht bei ihrem Anblick!“
Evi trat hinzu und gab dem in Eifer Gerathenen die Hand. „Das ist schön von Euch, Herr Reinthaler,“ sagte sie, „mit dem stützigen Trutzkopf da müßt Ihr Euch gar nit einlassen – mir aber, mir müßt Ihr’s nachher noch zeigen, was Ihr wieder Schönes gemalen habt …“
„Es ist nicht viel,“ entgegnete Reinthaler. „Ich will den blauen Eis-Gletscher malen … aber es ist Alles so groß und gewaltig, das Licht ist so wundervoll, und das armselige Papier so klein, unsere Farben sind so matt … wollte man die Wirklichkeit wiedergeben, man müßte den Pinsel in die Abendröthe tauchen können …!“
„Ja, ja,“ lachte Evi, die sich wieder am Heerde zu schaffen machte und die Pfanne mit dem prasselnden Schmarrn über die Flamme hielt, „der liebe Gott laßt sich halt nit in’s Handwerk pfuschen! Ich hoff’ aber, Ihr werdet drum nicht den Appetit verlieren und meiner Kocherei Ehr’ anthun – ich bin bald fertig damit. Setzt Euch nur daweil’ und holt Euch die blechenen Löffel dort vom Gestell herunter!“
Mentel und Reinthaler folgten der Einladung; sie nahmen Platz auf der hölzernen Einfassung des Heerdes und führten eben die Löffel nach der dampfenden Schüssel, als Zuruf von der Thüre her sie unterbrach.
„Darf man vielleicht auch mithalten?“ rief eine rauhe Stimme über das geschlossene Halbgitter der Thür herein, und ein schmales schwarzbärtiges, verwegen geschnittenes Gesicht wurde in derselben sichtbar. „Grüß’ Gott, Herr Reinthaler, kommen wir da wieder zusammen?“
„Nur herein, Jäger-Gaberl!“ erwiderte der Maler. „Es wird wohl für uns Alle langen!“
„Und einen Platz auf dem Heu wird’s auch geben,“ sagte der Eintretende. „Was meinst, Evi?“
„Mir liegst gut droben im Heu!“ erwiderte das Mädchen, während der Jäger etwas abgewendet die Waidtasche abnahm, über den Stutzen hing und Beides neben der Thüre an die Bank lehnte. „Ein elender Hundsweg da vom Hochkaltern herunter! Ich kann doch sonst was vertragen, aber ich spür jedes Bein’l im ganzen Körper,“ fuhr er dabei fort. „Hab’ einen Wilddieb auf dem Korn gehabt und hab’ ihn scharf hineingesprengt in’s Gewandt, in der Zwielichten aber …“
In diesem Augenblick wandte er sich um, erblickte Mentel, der ihm bis dahin durch den Maler und Evi verdeckt gewesen war, und sprang mit einem raschen Satz bis an die Thüre zurück. Ebenso schnell hatte er den Stutzen ergriffen und schrie, die Hände am Schloß, um den Hahn zu spannen: „Himmelsacrament, Wilddieb, verfluchter, wie kommst Du da herein?“
„Geht’s Dich was an, Jager?“ rief Mentel entgegen, der sich in die Ecke gestellt hatte, in welcher sein Bergstock lehnte. „Sorg’ lieber, daß ich nit den Stiel umkehr’ und frag’, wie Du herein kommst! Der Scharten-Kaser gehört dem Bühelbauern von Schwarzeck – das ist mein Vater, also bin ich da in meinem Eigenthum!“
„Sei mir nit so frech, Kerl,“ eiferte der Jäger, „ich leid’s nit! Noch ein Wörtl, und ich sag’ Dir, wer heut’ den Zwölfender geschossen hat, droben am Hochkaltern! Meinst, ich hätt’ den Wilddieb nit durch die Boschen und Latschen schlupfen sehn? Kein anderer Mensch ists gewesen, als Du mit Deiner grauen Joppen … mach’ nur noch einen Schnaufer, so verarretir’ ich Dich!“
„Aber Gaberl,“ rief Evi, indem sie begütigend dazwischen trat, und auch Reinthaler gab dem Erzürnten gute Worte, ihn zu besänftigen. Mentel aber stand kaltblütig in einer Ecke und hatte den Bergstock ergriffen. „Probir’s einmal, Grünling, wenn Du Schneid’ hast … beim Verarretiren müssen Zwei dabei sein!“
„Gleich legst den Bergstock weg!“ schrie der Jäger, sich von den Friedensstiftern losmachend. „Ich hab’s schon gehört, daß Du einen Stutzen zum Abschrauben hast … her mit dem Stock! Gewiß steckt der Lauf drinnen – ich muß ihn visitiren!“
„Visitiren laß’ ich meinen Stock nit!“ rief Mentel und schwang denselben, so hoch es die Decke der niedrigen Hütte gestattete. „Aber verkosten kannst, wie er ausgiebt!“
Drohend standen sich die ergrimmten Gegner gegenüber, als Evi sich wieder dazwischen warf und, nachdem die Bitte nicht gefruchtet hatte, es mit ernsten Worten versuchte. „Stell’ Deinen Stock ins Eck, Mentel!“ rief sie befehlend. „Und der Jäger legt den Stutzen weg und giebt Ruh’ oder er geht wieder hin, wo er her’kommen ist! Wenn er dem Mentel was will, kann er ihn morgen finden … aber in meinem Kaser da leid ich keine Streitereien und da bin ich der Herr im Haus – Verstanden?“
Mit lächelndem Wohlgefallen betrachtete der Maler das Mädchen, wie es unerschrocken zwischen den Männern stand, und wie diese wirklich nicht zögerten, sich ihrem gebieterischen Worte zu fügen. Wie mechanisch stellte Gaberl den Stutzen zurück, nachdem Mentel ebenfalls den gefährlichen Stock abgelegt hatte. „So,“ sagte Evi dann begütigt, „jetzt setzt Euch wieder und laßt den Schmarrn nit kalt werden!“
Bilder aus dem Leben deutscher Dichter.
„Wildverwachsne, dunkle Fichten,
Leise klagt die Quelle fort:
Herz, das ist der rechte Ort
Für dein schmerzliches Verzichten!“
Dieses „schmerzliche Verzichten“ begleitete den Dichter wohl durch sein ganzes Leben, dessen größter Theil zu einer Passions-Geschichte wurde. „Sinnende Melancholie“ drückte ihr unheilvolles Siegel schon dem Knaben auf die Stirn und führte den Mann zuletzt in jene geistige Oede und Zerrissenheit, welche uns Alle einst erschütterte. Nicht mit Unrecht nannte ihn daher Justinus Kerner den deutschen „Byron“, der einer der größten, aber auch unglücklichsten Dichter Englands war. Lenau ist der Dichter des Weltschmerzes – aber nicht jenes, der neben Thränen und Seufzern „die Welt vom Moquirstuhle des Satirikers als eine große Komödie
[165]Justinus Kerner’s Wohnhaus bei Weinsberg. |
Nicolaus Lenau. Originalzeichnung von Herbert König. Ungarische Haide. Lenau’s Ruhestätte auf dem Weidlinger Friedhofe bei Wien. |
Xylographie von W. Haase Heilanstalt Winnenthal bei Stuttgart. |
[166] von Göttern und Thieren belacht,“ – sein Schmerz war ihm ein heilig ernster, geschrieben mit dem Herzblute! Sein Leben hätte anders sein können – so aber „war’s Entsagen nur und Trauern“ – „das grause Dunkel“, das in seiner Seele wohnte, war kein leeres Phantom – es war eine Vorahnung von dem, was später schrecklich in Erfüllung gehen sollte.
Im „weiten“ Ungarlande, im Dorfe Csatad, vier Meilen von Temesvar, wurde Nicolaus Franz Lenau am 13. August 1802 geboren. Sein Vater, Franz von Niembsch, königlicher Amtsschreiber in Csatad, fiel als ein Opfer ungezügelter Leidenschaften – seine Mutter Therese, das Bild rührendster, aufopferndster Liebe, war fortan der gute Engel des früh verwaisten Knaben, dessen jugendlicher Frohsinn durch das Elend des Vaters schon im Keime erstickt wurde. Als ob sie den Werth des von ihr vergötterten einzigen Sohnes früher als jeder Andere erkannt hätte, mochte sich die zärtliche Mutter nicht entschließen, ihren „Niki“ den Großeltern zu überlassen, welche den Knaben adoptiren wollten. Lieber arbeitete sie Tag und Nacht mit der Nadel, um ihrem Liebling, wenn auch nur annähernd, die Sorgfalt angedeihen zu lassen, die er in dem Hause der vermögenden Großeltern gefunden haben würde. – Im Guitarre- und Geigenspiel erhielt er seinen ersten Unterricht, nebenher dem Vogelfang leidenschaftlich anhängend. Damals konnte er sich stundenlang auf den Rasen hinstrecken, umweht von Binsen und dem schönen „Waisenmädchenhaar“, und mit seiner ihm angeborenen Listigkeit die Vögel locken, indem er ihr Pfeifen und Gezwitscher auf’s Täuschendste nachahmte. „Bemerkenswerth ist auch aus jener Zeit, daß er überaus fromm war. Er betete tagtäglich sein Morgen- und Abendgebet mit tiefster Inbrunst. Ein Hauptvergnügen für ihn war, vor einem zum Altar hergerichteten Stuhle die Messe zu lesen, wobei ihm seine Schwester „Resi“ dienen mußte. Letzteres that er späterhin auch selbst gerne dem Priester in der Kirche, wobei ihm aber schon sehr hoffärtige Gedanken durch den Kopf schossen, wie in seinem „Faust“ (Faust’s Tod) zu lesen steht. Er predigte auch manchmal so ergreifend, daß seiner Mutter und noch mehr seiner alten Wärterin, der Schwäbin Walburga, die hellen Thränen über die Wangen rollten. Auch noch als Mann sprach Lenau mit Entzücken von der wahrhaft himmlischen Seligkeit, die ihn durchströmte, als er das erste Mal, rein wie ein Engel, von der Beichte gegangen war. Die Frömmigkeit des Knaben erklärt uns, wie der Mann Lenau vornehmlich auf die Glaubenslehre bezügliche Stoffe zu großen Gedichten (Savonarola, die Albigenser) wählen mochte.“[1]
Gewiß mehr dem Drange, ihren Kindern einen Ernährer zu schaffen, als einer tieferen Neigung folgend, entschloß sich Lenau’s Mutter zu einer zweiten Verbindung. Der neue Gatte, ein Arzt, zog mit der Familie nach Pesth, und hier genoß der junge Lenau des ersten geregelten Unterrichts auf dem Gymnasium, das er von 1812–1815 besuchte. Doch eine zweite Uebersiedelung des Pflegevaters von Pesth nach dem weinreichen, aber arztarmen Tokai unterbrach diesen Unterricht auf’s Neue, wodurch der künftige Gelehrte vielleicht einbüßte – der künftige Dichter aber offenbar gewann. „Wie mußte den naturseligen Lenau, damals selbst noch im Lenze seines Lebens, dieser sein erster freier Lenz in ausgezeichnet schöner Gegend wonnig ergreifen!“
Dieser Frühling und Sommer in Tokai waren vielleicht die glücklichsten Tage in Lenau’s Leben. Zudem wurden sie verschönt durch die Erscheinung eines Mädchens, der Freundin seiner Schwester, welches sein Gemüth noch mehr ergriff, als der Anblick des Tokaier Landes und seiner krystallhellen Wasser. Doch auch diese glücklichen Tage sollten ihr Ende erreichen. In Tokai war kein Gymnasium – der bereits fünfzehnjährige Lenau mußte seine Studien wieder aufnehmen, und so entschloß sich die leidenschaftlich liebende Mutter, die sich vorläufig lieber von dem Gatten, als von dem Sohne trennen wollte, mit ihm und ihren andern Kindern wieder nach der Hauptstadt Ungarns zu gehen.
Am westlichen Fuße des Ofener Festungsberges steht noch jetzt ein einsames Haus (früher eine Capelle), von einem Wiesenplane umgeben, der früher als Soldatenkirchhof gebraucht wurde. In dieses schauerlich-romantische Häuschen zog die Mutter Therese mit ihren Kindern. Die Traurigkeit des Ortes, wie die mehr als bescheidenen Verhältnisse der Mutter, drückten den jungen Lenau schwer darnieder, und „zu jener Zeit mag die dunkle Blume der Schwermuth, deren Samen er schon bei der Geburt empfing, in seinem Busen zuerst zur Blüthe gelangt sein.“ – Auf den erneuten dringlichen Wunsch der Großeltern, Nikolaus zu sich nehmen zu wollen, ging daher dieser um so entschiedener ein, als er, gleich der Mutter, wohl einsah, daß an eine würdige Ausbildung seines Geistes aus eigenen Mitteln nicht zu denken war. Ein Brief aus Stockerau, wo nun Lenau bei den Großeltern lebte, giebt das herrlichste Zeugniß von dem rührenden Verhältniß zwischen Mutter und Sohn, und eine Stelle daraus möge hier ihren Platz finden:
„Liebe theure Mutter!
Ohne Verzug und gleich nach Erhaltung Ihres Briefes will ich Ihnen denselben beantworten. Innigst erfreut über die unbegrenzte Liebe, die aus allen Ihren Handlungen erhellt, und ganz von Dankgefühl durchdrungen, gelobe ich: meine gute Mutter nie aus meinem Herzen zu bannen, und eingedenk des Opfers, daß Sie sich um meines Wohles willen dem bittersten Schmerz, der Sie nach meiner Trennung übermannte, preisgaben, will ich, so lange ich athme, Ihr gutes Kind bleiben.“ etc. etc.
Beim Beginne des Schuljahres 1819 mußte Lenau nach Wien, um dort in das erste Jahr der Philosophie aufgenommen zu werden. „Mit dem Studiren, das einen praktischen Lebenszweck vor Augen hat, mag es ihm jetzt, wie in der Folge, nie recht Ernst gewesen sein; er erschien immer mehr als Gast und Liebhaber, der nur das, was ihm eben mundet, mit vollen Zügen schlürft und Alles, was ihn anekelt, mit unverhohlenem Mißbehagen bei Seite schiebt. Daher kam es auch (fährt der Dichter Seidl in seiner damaligen Charakteristik fort), daß er in die vorgeschriebenen Formen, die seinem unruhigen Geiste eine beengende Fessel waren, sich nicht zu fügen wußte, und bald da, bald dort anstieß.“ – Lenau genirte sich also cavaliermäßiger, als er sollte, und wurde dadurch vielleicht, wozu das heiße Magyarenblut, das in seinen Adern rollte, nicht wenig beitrug, früher in die Mysterien der Liebe eingeweiht, als dies sonst der Fall gewesen wäre. Ein Verhältniß, das er zu jener Zeit mit einem zwar schönen, aber seiner unwürdigen Mädchen anknüpfte, hinterließ die ersten Spuren jener Melancholie und Zweifelsucht, die später seinen Charakter verdüsterten, aber auch die schönsten Blüthen im Garten deutscher Poesie trieben. Diesen seinen ersten Schmerz zu tödten, sehen wir ihn im wildesten Ritt die weiten unabsehbaren Haiden zwischen Pesth und Tokai durchmessen. Diese wilden, oft nächtlichen Ritte, denn:
„Die Haide war so still, so leer,
Am Abendhimmel zogen
Die Wolken hin, gewitterschwer,
und leise Blitze flogen“
gaben ihm später den Stoff zu seinen reizenden „Haidebildern“.
Kaffeehausleben, Reisen in die österreichischen Alpen, Verbrüderungen mit gleichen geistigen Genossen wechselten nun bunt durcheinander. Besonders war es das „Neuner’sche Kaffeehaus“, für welches Lenau heftig inclinirte, weil es zugleich der Sammelpunkt anderer strebsamer Talente, wie Graf Auersperg (der nachmals berühmte Anastasius Grün), Baron Schlechta, Badenfeld etc. war. „Hier,“ erzählt Seidl „saß er in der Ecke des Billardzimmers, das Kinn tief in die Brust gebohrt, mit den Augen in die Gluth seines Pfeifenkopfes stierend, die Beine lang hingestreckt über einen zweiten Stuhl, mit der Rechten bald sein schwarzes Haar durchfingernd, bald im Genick und hinter den Ohren sich krauend, bald die Stirne runzelnd, bald die Mundwinkel zu einem ironischen Lächeln verziehend, einsam unter den plaudernden Tischgenossen, abwesend für Alles, was um ihn vorging, bis er plötzlich wie aus einem Traume erwachend, sich schüttelte, mit fast wilder Lustigkeit Einem oder dem Andern zurief: „Allons, Freund, eine Partie!“ und nun den Queue, den er meisterlich zu handhaben wußte, wie einen Zauberstab ergriff, um alle bösen Geister, die auf ihn einstürmten, zu bannen.“
Aus diesem vielleicht nur scheinbaren dolce far niente riß ihn der Tod seiner geliebten Mutter – der Ernst des Lebens sollte beginnen – und der Student Niembsch von Strehlenau (letzterer Name war ihm von seinen Großeltern überkommen) tritt 1830 zum ersten Male als Dichter unter dem Namen Lenau auf,[2] nachdem er sich abwechselnd mit dem Studium der Philosophie, der Rechtswissenschaft und Heilkunde beschäftigt hatte, was jedoch nur „ruckweise“ und mit großen Unterbrechungen geschah. – Wie mit [167] dem Lernen ging es ihm später auch mit dem Dichten, weshalb er eigentlich sehr wenig fruchtbar war.
Mit einem ziemlich geschmolzenen Vermögen, das Lenau von seinen Großeltern geerbt hatte, begann nun jenes ruhelose Wanderleben zwischen Wien und Stuttgart, wo er bald mit den „Besten“ der schwäbischen Dichterschule, an ihrer Spitze Altmeister Uhland, in herzlichste Verbindung trat. Männer wie Carl Mayer, Graf Alexander von Würtemberg, Justinus Kerner und Gustav Schwab kamen ihm mit jener Gastfreundschaft und Werthschätzung entgegen, die diesen Kreis vorzüglicher Menschen kennzeichneten und den einer solchen Aufnahme bedürftigen Fremdling auf’s Wohltuendste berührten. Gustav Schwab war es, der Lenau in dieser seiner zweiten Heimath zuerst als Dichter einführte, indem kurz nach seiner Ankunft „die Haidebilder“, „die Werbung“, „der Schiffsknecht“ und „der Invalide“ im Stuttgarter Morgenblatte erschienen, dessen poetischen Theil Schwab redigirte.
Die Fülle poetischer Kraft und Originalität, welche diese Gedichte in sich tragen, das Fremdartige, Ungewohnte des Gebiets, auf dem sie sich bewegen, der tiefe, melancholische Ernst, der das Ganze durchweht, und was so mächtig anzieht und gefangen hält, diese so bedeutenden als charakteristischen Züge in Lenau’s Poesie verfehlten auch hier ihren magischen Reflex nicht und rissen zur lautesten Bewunderung hin. So kam es, daß der Vertrag mit der Cotta’schen Verlagsbuchhandlung bereits 1831 abgeschlossen wurde, und der Name „Lenau“ bald als ein Meteor erster Größe am Dichterhimmel Deutschlands glänzen sollte. Ueber des Dichters damaliges Aeußere theilt uns sein Schwestermann und Biograph, der treffliche Anton Schurz (dessen bereits angeführtem Werke wir die interessantesten Notizen verdanken), Folgendes mit: „Lenau war reich mit Körperkräften ausgestattet – und wie tollkühn er war, wie heiß das kriegerische Blut seiner Ahnen ihm durch die Adern rollte, beweist sein wiederholter Ausspruch: daß er „die Freuden des Schlachtfeldes“ über alle anderen stellte.
„Drei Dinge hätt’ ich gern vollbracht:
Gestanden einmal in der Schlacht,
Ein holdes Weib als Braut errungen,
Ein Söhnlein froh im Arm geschwungen.“
„Eher klein als groß, aber stämmig, um die Schultern breit, von vortrefflicher Lunge und Brust, mit sehnigen Armen und Beinen, dazu voll Muth und Verwegenheit und stets gewaltiger Herr des Worts – wäre er ein vortrefflicher Husarenoberst gewesen. Sein sehr großer Schädel zeigt die Hülfsmittel des Dichters in höchster Ausbildung; das Haupthaar auf dem gedankenvollen Scheitel etwas dünn, Backen- und Schnurrbart dunkelbraun; die Stirne besonders breit, über der kräftigen, sanftgeschwungenen Nase sich gern stark faltend; die Brauen, wie bei Vieldenkern, oft sich zusammenziehend, die Backenknochen, wie bei Slaven, wie denn überhaupt Lenau’s Gesicht an einen edlen Serben mahnte, etwas hervorragend; die unaufgeworfenen schmalen Lippen energisch geschlossen; das Kinn wie abgehackt; endlich in den Augen zwei unergründliche Brunnen von Geist, Tiefsinn und Schwermuth … welch ein herrliches Gesicht! Hand und Fuß aristokratisch fein und klein; die Haltung ein gemächliches Sichgehenlassen; meist gebeugt sitzend oder bequem liegend; auf gebogenen Knieen sich schwingender Gang; in Kleidung gewählt und zierlich fast, stets rein behandschuht und auf das Aeußere mehr haltend, als man gewöhnlich bei Dichtern trifft: so, so war Lenau zu jener Zeit, als sein Name zuerst durch die Welt flog.“
Von nun an sehen wir den Dichter im lebhaftesten Verkehr mit den vorzüglichsten Geistern Wiens und Stuttgarts. In Wien war es vor Anderen der edle Anastasius Grün, welcher sich in einer an Pietät grenzenden Weise von Lenau’s Genius angezogen fühlte. Diese Pietät, die durch Nichts abgeschwächt werden konnte, fand später ihren schönsten Ausdruck in dem „Vorworte“, welches Anastasius Grün dem dichterischen Nachlasse des verewigten Freundes widmete. In Stuttgart waren es, wie schon früher angedeutet, Uhland, Schwab, Mayer und Kerner, die dem Geistesgenossen brüderlich die Hand reichten und ihre gastlichen Häuser in echt patriarchalischer Weise öffneten. In Kerner’s freundlichem Asyl bei Weinsberg verlebte Lenau Stunden des reinsten, harmlosesten Glücks, während die romantische Lage des Orts seine ohnehin schon ungeheuere Einbildungskraft noch steigerte. In jenem uralten Thurme, der einst zur Befestigung der Stadt gehörte, und in dessen unterstem Raume, nach Zerstörung der Burg, deren unglücklicher Vertheidiger, Graf von Helfenstein, gefangen saß, schrieb Lenau 1834 einen bedeutenden Theil seines „Faust“. Manchen Abend, oft bis tief in die Nacht, stand er auf der Zinne des alten Gemäuers, und schaute nach den dunkeln Umrissen der alten Veste „Weibertreue“, aus deren Trümmern die Aeolsharfen herüberklangen, die der phantastische Kerner dort angebracht hatte. Und streifte das Mondlicht jene Gegend, wo die „Seherin von Prevorst“ begraben liegt, über deren Hügel jenes riesige goldene Kreuz schimmert, so griff der einsame Dichter zu seiner Geige, die er so meisterhaft spielte, und entlockte ihren Saiten die schwermüthigsten Töne, die nicht selten in die wilden, kriegerischen Klänge des „Rakoczy“ übergingen. „Denn,“ sagt Kerner, „tiefe Melancholie wechselte bei ihm sehr oft mit ausgelassenem Lustigsein – eine Dissonanz, die ich oft mit geheimer Sorge beobachtete.“
Wenn Lenau’s Persönlichkeit die Männerwelt so unwiderstehlich anzog, ja beherrschte, so ist es nicht zu verwundern, wenn diese Persönlichkeit einen mindestens gleich mächtigen Zauber auf das andere Geschlecht übte. Die hervorragendsten Frauen jenes auserwählten Kreises, obenan die Damen Graf Alexander’s von Würtemberg, kamen dem Dichter mit unbefangenster Verehrung entgegen, die ihn mit freudiger Genugthuung erfüllte, weil er sie der Reinheit und Keuschheit seiner Muse zuschreiben durfte. „Wenn Gräfin Marie sein innigstes Lied: „Weil’ auf mir, du dunkles Auge!“ mit tiefer Empfindung vortrug, sah man das seinige in freudigem Strahle erglühen. Doch dieses Erglühen, dieses Lächeln erschien immer wie die auf Augenblicke zwischen düsterem Gewölk hervortretende Sonne.“
Aber trotz dieser vielseitigen Gunst und Verehrung, die dem Dichter von den edelsten Frauen ward, sollte es ihm nicht vergönnt sein, eine Gefährtin zu finden, an deren Seite er beglückt durch’s Leben gehen durfte. Einmal hielten ihn materielle Bedenklichkeiten von einem Ehebündniß zurück – ein anderes Mal körperliche und – geistige Leiden – noch früher ein böser Zufall, der ihn immer „zu spät“ kommen ließ. Jene „Sophie“, an welche Lenau bis zu seiner großen Krankheit die zärtlichsten, vertrautesten, aber auch verzweiflungsvollsten Briefe richtete, wurde die Gattin eines Anderen. Ihr galten die Strophen:
„Ach, wärst Du mein, es wär’ ein schönes Leben,
So aber ist’s Entsetzen nur und Trauern!“
Von einer wahrhaft dämonischen Unruhe getrieben, faßte er zu jener Zeit den Entschluß, nach Amerika zu gehen, um dort Ländereien zu kaufen, die er dann verpachten wollte. Jemehr die Freunde zu diesem abenteuerlichen Entschluß die Köpfe schüttelten, je dringlicher sie ihm davon abredeten, desto beharrlicher wurde Lenau und ließ sich nur das Versprechen abnöthigen, nach Jahresfrist wieder heimzukehren. Im August 1832 schiffte er sich ein – und nach Jahresfrist betrat er auch wieder den heimischen Boden – wie vorauszusehen war, das Herz voll von Enttäuschungen.
„Mein Aufenthalt in der neuen Welt,“ sagte er später, „hat mich von der Chimäre von Freiheit und Unabhängigkeit, für die ich mit jugendlicher Begeisterung schwärmte, geheilt. Ich habe mich dort überzeugt, daß die wahre Freiheit nur in unserer eigenen Brust, in unserem Wollen und Denken, Fühlen und Handeln ruht.“ – Enttäuschungen also dort wie hier! – Dazu leidige Geldsorgen, die ein empfindliches Gemüth, wie das Lenau’s, doppelt schwer treffen und seine natürliche Mißstimmung ungemein steigern mußten. „Um sich ihrer möglichst zu entschlagen, und auch um eine entschiedenere Stellung in der Gesellschaft zu gewinnen, bereitete er sich damals ernstlich für die ästhetische Professur an der theresianischen Ritterakademie zu Wien vor, die ihm vielleicht nur darum nicht wirklich zu Theil ward, weil er es unter seiner Würde hielt, sich um dieselbe auf dem allgemein vorgeschriebenen Wege zu bewerben.“
Diese Existenzsorgen, die ihn wie Gespenster verfolgten, veranlaßten ihn auch mit Baron Cotta einen Vertrag abzuschließen (wonach er ihm gegen ein Honorar von 20,000 Gulden seine literarischen Erzeugnisse überließ), als ihm in der Person einer jungen Frankfurter Dame das Glück noch einmal zu lächeln schien. Wir wissen nicht, wollen auch nicht entscheiden, ob dieses Verhältniß, welches die Ehe sanctioniren sollte, von Seiten Lenau’s aus wahrem Herzensbedürfniß angeknüpft wurde – es ist uns nur bekannt, daß seine Brautfahrt nach Frankfurt eine glückliche war – daß er freudestrahlend zu seinen Freunden nach Stuttgart zurückkehrte und wieder Hoffnung schöpfte für eine noch glücklich werdende [168] Zukunft. Da kamen aber „böse zischelnde Zungen“, die von einem bereits seit Jahren bestehenden Verhältniß mit einer verheirateten Frau in Wien sprachen – die nichts unversucht ließen, den eben von Glück Träumenden aus seinen Himmeln zu reißen. Bitterkeit und Mißtrauen gegen die Menschen, dazu wieder seine alte Aengstlichkeit um nachhaltige Existenz stiegen wechselweis in seiner zweifelsüchtigen Seele auf und warfen den kaum Hoffenden wieder zu Boden. Seine damalige Stimmung und deren unmittelbare Folge erhellen am Klarsten aus der Stelle eines Briefes, den er aus dem Hofrath Reinbeck’schen Hause schrieb, wo er die Aufnahme eines Freundes, eines Sohnes fand. … „Nach einer Einsicht in die Reinbeck’schen Wirthschaftsbücher hab’ ich mich überzeugt, daß ich selbst in Stuttgart mit weniger als 2000 Gulden rheinisch als verheiratheter Mann nicht bestehen könnte. Wie wenig ich auf meine poetischen Erwerbnisse (sein Contract mit Cotta war noch in der Schwebe) sicher zählen kann, ersehe ich aus dem bodenlosen Mißmuthe, in welchen mich schon jetzt eine bloße theoretische Berechnung meines wahrscheinlichen künftigen Elends gestürzt hat. Letzten Sonntag, vor vier Tagen, saß ich mit Reinbeck beim Frühstück. Da fiel mir plötzlich das ganze Gewicht meiner Lage auf’s Herz. Ich sprang auf mit einem Aufschrei des höchsten Zorns und Kummers, und im gleichen Augenblick fühlte ich einen Riß durch mein Gesicht. Ich ging an den Spiegel, sah meinen linken Mundwinkel in die Höhe gezerrt, und die rechte Wange war total starr und gelähmt.“
Mit diesem Riß, der sein Gesicht durchzuckte, begann der große Riß in seiner Seele – er fand von Stund an eine unheimliche Lust darin, die Gestörtheit seines Geistes zu prophezeien und sich mit dem Tode in Rapport zu setzen. Ein Brief, den er aus Wien erhielt und dessen Inhalt ihn offenbar im höchsten Grade beunruhigte und verstimmte, war der letzte und bitterste Tropfen, der das Gefäß überfließen machte – und in der darauf folgenden Nacht trat auch wirklich der erste stärkere Paroxysmus seiner Tobsucht ein, indem er ganz schlaflos blieb, eine fürchterliche Angst und Verzweiflung sich seiner bemächtigte, und er mit Fäusten um sich schlug, Selbstmordsgedanken in ihm aufstiegen, und er in einem unbewachten Augenblicke durch das ebenerdige Fenster auf die Straße sprang.
Es kann nicht in unserer Absicht liegen, die einzelnen wiederkehrenden und sich bis zum Entsetzen steigernden Züge dieser Periode zu detailliren – sie sind bekannt genug. Als die unglückliche Braut, welche auf die Nachricht von des Dichters Zustand mit ihrer Mutter sogleich nach Stuttgart aufbrach, in Heidelberg auf die kommende Post warten mußte, nimmt sie unwillkürlich eine Zeitung zur Hand und liest die furchtbaren Worte: „Lenau ist wahnsinnig und liegt in der Zwangsjacke“ –
Am 21. October 1844 wurde er vom Hofrath Zeller nach der nahen Heilanstalt Winnenthal abgeholt. Es verbreitete sich in Stuttgart das Gerücht, dort sei am nämlichen Tage, wo man Niembsch nach Winnenthal brachte, ein trefflich dargestelltes Stück gegeben worden, welches sein Schicksal ganz enthalte: Scribe’s „Fesseln“. Wer von den Lesern dieses Drama nicht kennen sollte, der lese es nach, es wird ihm den treuesten Commentar zur Herzensgeschichte unseres Dichters liefern.
Die erschütternde Kunde, die sich auch bald in Wien von Lenau’s Krankheit verbreitete, führte Freunde wie Bauernfeld und Anastasius Grün nach Winnenthal, um durch ihr persönliches Erscheinen ein günstiges Resultat zu erzielen. Umsonst! Die einst ihm so theuern Gefährten gingen wie Schatten vorüber an seinem leiblichen wie geistigen Auge. Selbst für seinen treuen Schwager Schurz, der schließlich kam, das mühevolle Werk zu übernehmen, den Kranken in die Heilanstalt Döbling bei Wien überzuführen, hatte er nur zeitweilig Gedächtniß. Nie sollte die leiseste Rückerinnerung in ihm wiederkehren – bis zu seinem Tode sollten die Nebelschleier eines gestörten Geistes sein ödes Dasein überschatten. Nur einmal, so theilt sein Wärter in Döbling mit, habe ihm Niembsch beim Spaziergang im Garten auf die Frage: „Wissen Sie, daß Sie Herr von Niembsch sind, der Große?“ geantwortet: „O, Niembsch ist jetzt klein geworden.“
Lenau’s Aussehen und Zustand in der letzten Zeit seines Lebens und Leidens schildert uns der Maler Aigner in charaktervollen, ergreifenden Zügen. „Als wir in Lenau’s Zimmer in Döbling traten, zeigte sich uns ein wahrhaft erschütterndes Bild. In einem braunen Lederstuhl saß die gebrochene Gestalt mit der kranken Seele, ein gelblich bleiches Gesicht, langes, hinter die Ohren gestrichenes Haar, voller Bart, und ein Auge so voll Leiden und ganz unbeschreiblicher Wehmuth begegnete fragend meinem Blick, daß es mir das Herz zerschneiden wollte. Auf die freundlich gegebene Erklärung des Arztes, daß er jetzt gemalt werde, stieg ein leises Wimmern aus seiner Brust als Antwort auf. Aufmerksam folgte er mit den Augen allen Vorbereitungen, die nöthig waren, bis er zum eigentlichen Sitzen kam. Endlich konnte ich beginnen, fieberhaft aufgeregt entwarf ich rasch mit Kreide auf Leinwand die Contouren und fing zu malen an. Zusammengekauert, die Hände auf der Brust gefaltet, den Kopf gesenkt, begegnete der Strahl seines Blickes immer dem meinigen, so oft ich ihn ansah, aber regungslos ließ er mich gewähren, nur stieg in immer kürzeren Zwischenräumen der leise, tiefeinschneidende, wehklagende Ton aus seiner Brust, der mich so ergriff, daß ich meiner kaum mehr mächtig war; langsam drängte sich eine Thräne aus meinem Auge und schmerzhaft folgte mir eine zweite, die mein Schauen verdunkelte; in demselben Momente stößt der Kranke ein krächzendes Geschrei aus, zitternd und mit grimmigen Blicken will er sich erheben – - ich war erstarrt. Schnell stürzte der Wärter herein, ihn zu beruhigen, und mich nicht minder, indem man mir erklärte, das sei bei ihm etwas ganz Gewöhnliches, und seit Monaten wäre er nicht so lange ununterbrochen ruhig gewesen. – Nach diesem Vorfall war es mir unmöglich, das Bild weiter auszuführen, halb vollendet mußte ich es stehen lassen, und er wurde erst wieder ruhig, nachdem ich von dem verhängnißvollen Hause weit weg war.“
Nicht menschliche Fürsorge – nur göttliche – konnte diesen Leiden ein Ziel setzen. Am 22. August 1850 starb Nicolaus Lenau – in den Armen seines treuen Anton Schurz.
Auf dem Weidlinger Gottesacker, auf dem er immer gern ruhen wollte – liegt er begraben. Eine Säule mit seinem Relief-Bildniß bezeichnet die Stätte, die seine sterblichen Reste weihen.
Es ist eine neue Welt entdeckt worden und zwar mit vielen Millionen Einwohnern, die ihre Verfassungen, Sitten und Gebräuche für sich haben und von auswärtigen Mächten ganz unabhängig sind, wobei es Fremden aller Art ganz frei steht, beliebig aus- und einzuziehen, ohne nach Paß, Zöllen und Abgaben nur gefragt zu werden. Das neue Land besteht aus einer Art von Hoch-Plateau mit einigen besonders hervorragenden Felsenkegeln. Der Boden ist kiesig, hier und da fein sandig, buchtig, höhlig und dabei fruchtbarer, als irgend ein Stück Erde, so weit man bis jetzt urtheilen kann.
Diese neue Welt umfaßt etwa 40,000 englische Quadratmeilen oder ist auf Deutsch 20–25 geographische Meilen lang und 10–12 breit. Dies ist der Größe nach nicht viel, aber dem Inhalte nach mehr, als Europa brauchen, von dort wegschleppen kann, obgleich die unermeßlichen Schätze dieses neuen Inselreichs Jedem durchaus umsonst geboten werden.
Es liegt im nördlichen Theile des atlantischen Meeres zwischen Europa und Amerika, aber ersterem bedeutend näher, nämlich unter 57° 35’ nördlicher Breite und 13° 40’ westlicher Länge, so daß sich’s Jeder auf der Karte suchen und in allgemeinen Umrissen einzeichnen kann. Man wird dann gleich sehen, daß es entschieden zu Europa gehört und wahrscheinlich nur eine Fortsetzung der Inselgruppen ist, die sich vom Norden Schottlands nach Island hin hinter den Hebriden größtentheils unter Wasser hinstrecken, von welchen es wohl nur eine etwas höher gehobene und ausgedehntere Hauptbank sein mag.
Hier wird man billiger Weise gleich fragen: Und diese neue Welt soll erst jetzt entdeckt worden sein? Allerdings, insofern die Welt im Ganzen und Großen diese europäische Reichthumsquelle erst ganz neuerdings zu beachten angefangen hat und sie namentlich für Deutschland geradezu als Aufforderung, endlich auch mal aus dieser Quelle wahrer „Machtfülle“ zu schöpfen, erkannt wird.
[169] Diese neue Welt liegt nämlich, mit einer einzigen kleinen Ausnahme, unter Wasser und ist nach der Bank von Neufundland, wo alle Jahre über 50,000 Menschen in mehr als tausend Schiffen vom Mai bis October für Millionen Thaler Schätze fischen, der reichste Tummel-, Spiel- und Tanzplatz aller Arten von Bewohnern des atlantischen Meeres. Hier lieben und laichen, leben und leuchten des Oceans Ungeheuer, Leckerbissen, Licht-, Heiz- und Schmierlieferanten in millionenfacher, wimmelnder Fülle vom Walfische an bis zum Hering, der Dorsch und der Delphin, der Kabeljau und der Klippfisch, der Stock- und der Stichfisch, die Phocäne und des Meeres Hyäne, der Hai, und fressen sich gegenseitig auf millionenweise und pflanzen sich fort in Billionen und jagen einander in Liebes- und Mordlust und schießen durch die Massen verfolgt und verfolgend und springen empor über das grimmige Gewälze der Wogen einem gefräßigen Feinde unten aus den Zähnen, um in dem Schnabel eines der zu Tausenden über ihnen kreisenden und kreischenden geflügelten Seeräuber unterzugehen.
Diese neue unteroceanische Welt ragt mit einem einzigen Felsenkegel bei ruhiger See höchstens 25 Fuß aus dem Wasser empor, im Sturme aber oft gar nicht, da die wallenden und donnernden Wogenberge darüber hinwegrollen und das Schiff des Unerfahrenen oder Verschlagenen zerschmettern. Dieser unbedeutende feste Haufen in dem unabsehbar umher ruhelosen Elemente sieht unheimlich gespensterhaft aus und hat in seiner stummen, stumpfen Einsamkeit, weiß oder kahlköpfig, wie er in der Regel emporragt, etwas spukhaft Ungethümliches. Die weiße Perrücke oben besteht aus Guano, da die umherkreischenden Seevögel hier den einzigen Ruheplatz finden und ihn oft doppelt und dreifach, auf einander sitzend und sich gegenseitig verdrängend, besetzen. Der Kegel oben ist stumpf, doch ist es noch Niemandem gelungen, ihm nahe zu kommen, geschweige ihn zu besteigen. Die Engländer nennen ihn „Rockall“ (Felsenall, lauter Fels), und das Wort ist in dem Munde der Meeresfischer und auf der Zunge von Compagnien, die hier im Ganzen und Großen fischen wollen, bereits eins der volksthümlichsten und verheißungsvollsten geworden.
Der Rockall-Kegel steht unheimlich in der ruhelosen Wüste des atlantischen Oceans, aber er ist ein freundliches Merk- und Wahrzeichen der Natur, um auf die unermeßlichen Schätze um sich herum aufmerksam zu machen.
Die Bank von Rockall ist eine der merkwürdigsten geographischen Entdeckungen unserer Zeit genannt worden. Sie ist es aber noch mehr für Handel und Wandel Europas, besonders für die Entwickelung Deutschlands in seinen oceanischen und Flottenbestrebungen, wenn es endlich einmal einen Wink verstehen und wirklich zugreifen lernen sollte. Die Bank von Rockall ist jetzt der Europa nächste Liebes- und Laich-Platz der atlantischen Meeresbewohner. Diese haben bekanntlich keine festen Wohnsitze und ziehen, ohne Wanderbücher, ganz nach Belieben oder Instinct (ein Wort für Natur- und Willensgesetze, die wir nicht kennen) in der weiten Welt der Wasser umher, unternehmen aber alle Jahre zu bestimmten Zeiten ungeheuere, tausendmeilige Wanderungen in solchen dichten Massen, daß sie sich oft, wie z. B. die Heringe, förmlich aus dem Wasser herausdrängen. Der „Instinct“, der sie dabei treibt, führt und leitet, ist uns im Wesentlichen unbekannt. Nur so viel gilt als ausgemacht, daß sie sich bestimmte günstige Plätze für Fortpflanzung aussuchen. Dergleichen Laichbänke kamen in früheren Zeiten oft ziemlich häufig in großer Nähe der europäischen Küsten vor. Diese sind aber alle aufgegeben worden, und die Rockall-Bank ist jetzt die uns nächste und nach allen bisherigen Ermittelungen eine fabelhaft ergiebige, da sie den verschiedensten Arten kostbarer Fische als Fortpflanzungs-Asyl dient. Der kiesige, sandige Boden mit vielen Hebungen, Höhlen und Schlupfwinkeln, auch wahrscheinlich mit viel zoophytischer und sonstiger Nahrung (da sie auch von einander leben) mag ihnen so günstig und dabei so geräumig erschienen sein, daß sie diese Stätte wohl nicht so leicht wieder aufgeben werden.
Französische und besonders holländische Fischer haben die Rockall-Bank wohl schon längere Zeit als besonders reiches See-Erntefeld gekannt. In Amsterdam soll es Seekarten geben, auf denen die besonders fetten Stellen von Rockall durch feingezeichnete Buysen oder holländische Seefischerboote markirt sind. Eigentlich und amtlich entdeckt wurde die neue Reichthumsquelle erst durch einen Leitartikel der Times vom 30. Juli 1861. Da wurde erzählt, wie zwei englische Seefischboote oder „Smacks“: „Resolution“ mit dem Capitain Gardener und „Adventure“, Capitain Rhodes, am 18. Juni nach sechswöchentlichen Versuchen, zwischen Island und den Far-Inseln etwas zu fangen und zu fischen, leer auf der Nord-Insel gelandet seien. Verdrießlich über ihr Mißgeschick beriethen die beiden Capitaine, was sie nun wohl vornehmen könnten. Dabei fiel dem Gardener ein, daß er einmal vor einer Mandel Jahre Rockall rühmen gehört habe: dort gäb’ es Stockfische groß wie Esel und in solcher Menge wie Besinge oder Heidelbeeren im Walde. Er habe zwar schon früher manchmal daran gedacht, sich aber immer vor der unheimlichen Einsamkeit am Rockall gefürchtet. In Gesellschaft möcht’ er aber wohl sein Heil dort versuchen. Kurz, die beiden Capitaine unternahmen eine Rockall-Expedition in Gesellschaft, gingen am 2. Juli in See und kamen schon am 13. mit 27 Tonnen oder 59,000 Pfund der besten und größten Stockfische zurück. Sie hatten Fische bis zur Schwere eines Centners, also mächtige, starke Riesen, die zum Theil die Netze durchgerissen hatten, um, befreit, sich von kornblumenblauen Hais ganz und ungekaut verschlingen zu lassen. Man hatte die Netze blos eben auszuwerfen und wieder einzuziehen brauchen, um sie voll zu finden und die ganze Ernte auf der Nord-Insel für etwa 1000 Thaler zu verkaufen, einen Preis, der durch Zwischenhandel und auf englischen Märkten sich mindestens auf das Doppelte steigerte. Bei dem Schlachten und Zubereiten erwiesen sich die umher kreischenden Seevögel so zahm, daß sie zu den Leuten auf die Schiffe kamen und ihnen die Abfälle beinahe aus den Händen nahmen, Beweises genug, daß sie noch nichts von Menschen und ihrer Gefährlichkeit wissen und die ganze Rockall-Bank wirklich eine neue Welt für menschlichen Unternehmungsgeist ist.
Die Capitaine gingen natürlich bald zum zweiten Male und holten sich ebenso schnell ähnliche Ernten. Vielleicht sind sie, und mit ihnen Andere, seitdem öfter aus- und eingelaufen. Wenigstens sind die beiden Helden in den englischen Seefischerstädten als Entdecker eines neuen, unerschöpflichen See-Erntefeldes ebenso populär geworden, wie jemals Wellington, und in Grimsby und anderen englischen Küstenstädten umjubelte die Bevölkerung den Capitain Rhodes mit enthusiastischen Vivats und Hurrahs, so oft er sich sehen ließ. Oeffentliche Orte, Bier- und Kaffeehäuser, nach Rhodes oder Rockall getauft, wie man in Berlin Straßen und Orte mit Namen von Prinzen und Polizei-Präsidenten belegt hat, kann man an der englischen Küste entlang von Grimsby bis Gravesend finden.
Damit ist’s aber nicht abgethan. Es haben sich natürlich im praktisch-speculativen Geiste Englands, der überall sofort mit Energie, Association und großem Capital zugreift, wo etwas zu holen ist, Compagnien zur Ausbeutung der neu entdeckten Schätze des Meeres gebildet. Actien à 1 Pfd. Sterling wurden binnen weniger Tage bis weit über den Bedarf gezeichnet, so daß eine Compagnie sofort mit 300,000 Thalern an’s Werk gehen konnte, um alle Vortheile, die der Fischfang von Rockall bietet, auf das Höchste zu benutzen. Dazu gehört Arbeitstheilung in Schiffe, die blos Fische fangen, in Schiffe, welche die Fische „kuren“, d. h. zubereiten, das Fleisch einpökeln, das Oel aus den Lebern ziehen, aus Abfällen Guano-Material machen etc., in Schiffe, die Proviant, Werkzeuge etc. herbeischaffen.
In Folge einer Aufforderung des einflußreichen englischen Rheders Mr. Shimper ist das Handelsministerium eben dabei, das ganze Gebiet von Rockall genau theilen und sondiren zu lassen. Seine Aufforderung schloß mit den schlagenden Worten: „Wir Fischrheders schaffen Wohlstand, vermindern die Last der Armensteuern und machen aus Abhängigen und Schwachen productive, freie und starke Menschen, weil wir einer überschüssigen Volkszahl Erwerb verschaffen. Und dadurch, daß wir eine überschwenglich vorhandene wohlfeile und gesunde Nahrung aus dem Meere ziehen, erziehen wir zugleich einen eisenfesten Vorrath von Seemännern und verwandeln Englands Armuth in Reichthum, unsere Schwäche in Stärke.“
Wir Deutsche brauchen ja auch wohl Seemänner und Producte des Meeres? Ja wahrhaftig. Es ist neuerdings beides mit einer Sachkenntniß, einem Patriotismus und so beschämenden Thatsachen nachgewiesen, daß namentlich die Norddeutschen, wo neuerdings so viel von „allen Preußenherzen“, preußischer „Machtfülle“ gegen das Volk und dessen Vertreter loyalitätsadressirt ward, in Sack und Asche kriechen oder lieber gleich auf den hohen Seefischfang in der neuen Welt gehen sollten. Diese neue Welt gehört [170] Allen, die dort eben fischen, und muß geradezu als dringendste Mahnung für Deutschland betrachtet werden, aus dem Kasernismus, aus dem leeren, unbezahlbaren Kasernismus auf Kriegsschiffen, aus dem hohlen Flotten-Enthusiasmus zur Sache zu kommen. Das kostspielige und spielerige Seecadettenthum, die Renommage mit blauen und goldenen Uniformen, Matrosendolchen und Hemdenkragen, die Uebungsspazierfahrten in schwimmenden Kasernen – die thun’s wahrlich nicht.
Deutschland hat die Ost- und Nordsee. Letztere wird von den Engländern „deutscher Ocean“ genant. Was macht Deutschland mit seinem Meere? Dasselbe, wie mit seinen Flüssen. Es dressirt und drillt auf ebener Erde Pferde, Hunde und Menschen, wofür das Volk tüchtig bezahlen muß, und läßt seine Flüsse versanden, überschwemmen, austrocknen. Englische Fischer kommen in’s „deutsche Meer“, fangen dort unsere Fische und verkaufen sie an uns. Auch kaufen wir unsere Fische von Holländern, Schweden und sogar Dänen. Es ist nachgewiesen, daß der Zollverein während des letzten Vierteljahrhunderts bis 1861 für mehr als einhundertundfünfundachtig Millionen Thaler Producte des Meeres vom Auslande gekauft habe, während derselbe Zollverein, um den „Unterthanen“ Arbeit und Benutzung ihres Geldes zu verschaffen, Tausende von Menschen durch Schutzzölle zwang, natürlich lohnende, gesunde, see- und landtüchtig machende Arbeit aufzugeben oder liegen zu lassen, um in schwindsüchtiger Baumwollen-Industrie etc. auf Kosten eigener Gesundheit zu arbeiten und dabei doch von National-Almosen (dem Betrage der durch Schutzzölle erzwungenen Vertheuerung) zu leben. Das ist eine schöne Wirthschaft zum Wohle des „Staates“!
Die 185 Millionen Thaler wurden an das Ausland bezahlt für mehr als 6 Millionen Centner Thran und Robbenspeck, für 1,178,000 Centner gesalzene, geräucherte, getrocknete und marinirte Fische, für mehr als 7 Millionen Tonnen Heringe, 143,000 Centner Austern, außerdem für mehr als 18 Millionen Centner Salz, das als preußisches Monopol im Inlande nie in gesunder, freier Industrie gehörig gewonnen werden kann. Der Zollverein kaufte während der letzten 25 Jahre 7,000,000,000 Stück Heringe vom Auslande, die alle Jahre in größerer Zahl durch unser deutsches Meer nach Rockall etc. ziehen.
Preußen in seiner noch nicht genügenden militärischen „Machtfülle“ und mit seinen vielen patriotischen „Preußenherzen“ fängt nicht so viel Fische, als die Nordamerikaner als Dünger zu Guano verfaulen lassen.
Wir schwärmten und sammelten für eine deutsche Flotte „unter preußischer Führung“. Die preußische Staatsmacht will zu ihrer erhöhten militärischen „Machtfülle“, der es den Frieden mit dem Volke opfert, noch für etwa 40 Millionen Thaler speciell preußische Flotte mit schwimmenden Kasernen und Cadetten-Häuschen. Dabei mußten und sollen die „Unterthanen“ auch noch das Meiste von den 185 Millionen für Seeproducte an das Ausland zahlen. Diese Millionen hätten wir uns sehr gut selbst aus dem Wasser fischen und dabei noch sehr wohlfeile Fische essen und den Grund zu einer Flotten-Machtfülle legen können, wenn wir gescheidt gewesen wären. Wollen wir’s nicht endlich jetzt werden, gerufen, gleichsam bei der Nase gezogen durch die Bank von Rockall?
Es fehlte bisher den Deutschen an Unternehmungsgeist, an Capital, an Kopf und Regierungs-Unterstützung dazu. Letztere wird von Sturz und andern Patrioten für nothwendig gehalten, weil ja auch die Nordamerikaner und die Franzosen durch Napoleon III. Fischerei-Prämien erhielten, und der Deutsche ohne Regierungs-Aufmunterung am wenigsten seinem Vortheile nachgehen würde. Dies scheint sehr löblich und praktisch; aber bei Lichte besehen ist’s doch nur eine kostspielige Kinderei für Kinder. Die Regierung, die ja selber weder Geld hat noch Geldgeschäfte machen darf, ohne sich und dem Lande zu schaden, müßte doch das Prämiengeld erst andern Leuten abnehmen, um es Fischerei-Unternehmungen zuzuwenden. Dadurch verlieren letztere von vorn herein ihre gesunde, volkswirthschaftliche Grundlage, ihre Freiheit. Jedenfalls ist’s viel gescheidter, wenn Capitalisten und intelligente Köpfe sofort selbstständig sich als Compagnie verbinden und ohne Weiteres eine tüchtige, vereinte Geld- und Geistsumme in einem Seefischerei-Unternehmen mit dem Hauptsitze in Hamburg oder Bremen anlegen. Der neue preußische Jahdebusen, der dazu vorgeschlagen ward, würde nur dann vortheilhaft sein, wenn Preußen eine andere Politik zu Lande und zu Wasser angenommen haben sollte. Mit seinen jetzigen militärischen und Flotten-Bestrebungen würde es einer Seefischer-Flotte keine besondere Gunst und Förderung zuwenden.
Wenigstens sollte Niemand darauf warten und darum betteln. Deutsches Capital und deutsche Capacität, gehörig vereinigt und angelegt, erreichen selbstständig immer mehr, als unter staatlicher Führung. Man denke an den stolzen, wichtigen Kaufmann, der einmal, von einem Bourbonen gefragt, was er für den Handel thun könne, ganz treffend antwortete: „Sire, schützen Sie uns vor Regierungsschutze!“
Die Seefischerei, namentlich jetzt mit der Rockall-Bank vor uns, ist eine sehr einfache und sichere Speculation. Der Zollverein kauft jetzt jährlich für 3–4 Millionen Thaler Seeproducte vom Auslande. Ganz Deutschland braucht vielleicht jährlich für 5 Millionen und wird jedenfalls noch viel mehr dafür ausgeben, wenn der Bedarf, namentlich an frischen Seefischen, wohlfeiler, schneller und massenhafter befriedigt wird, als bisher, so daß man während der kalten Monate auch in Leipzig und Dresden frische Waare aus der Nordsee oder vom Rockall für einen civilen Preis haben kann. Ein Unternehmen oder Unternehmungen, die auf Kunden bis zur Höhe von 5 Millionen jährlich rechnen können, lassen sich leicht berechnen. Wie viel Capital kann man hineinstecken, um besserer Verzinsung sicher zu sein, als in sonstigen rentablen Capitals-Anlagen? Will man noch Patriotismus, Schule für deutsche Seetüchtigkeit, für eine das Land und den Handel schützende Flotte mit einrechnen, desto nobler. Wir müßten eine Seefisch-Flotte von wenigstens 200 Schiffen haben, um die 5 Millionen selbst zu verdienen. Neun Zehntheile davon gehen nach Nordamerika und zwar meist für Producte des Walfisches. Wir bezahlen, wie behauptet wird (ich kenne den deutsch-nordamerikanischen Verkehr zu wenig), diese Summe zum größten Theile mit Geld, nicht mit dem Ueberfluß unserer Fabrikate. Wenigstens können die durch Schutzzölle vertheuerten und verkrüppelten Fabrikate Deutschlands nicht mit den entsprechenden Englands wetteifern. Unsere Rohstoffe haben sie selbst besser und billiger, unsere Fabrikate liefern ihnen (mit wenigen Ausnahmen) andere Länder billiger und besser. Dazu kommt, daß der Schiffsbau an Deutschlands Küsten viel billiger betrieben werden kann, als irgendwo. Auch haben wir keine Colonien auf festem Boden, so daß wir allen unsern schönen Ueberfluß von Arbeits-, Geld- und schlummernden Unternehmungs-Capitalien zur vortheilhaftesten Colonisirung auf fischreichem Salzwasser verwenden könnten. Auch braucht diese Colonie weder erobert, noch beschützt, besetzt und verwaltet zu werden. Rockall gehört der ganzen Welt. Auch hat das Meer eine unschätzbare Eigenthümlichkeit:
Fische, Oele, Thran, Schmiere, Dünger, Kraft, Leben, Freiheit, Reichthum – Alles läßt sich in unerschöpflichen Massen aus dem Meere fischen. Und dabei drückt und drechselt man immer weiter an Budgets- und Verfassungs-Paragraphen, und dressirt unser Junkerthum Pferde und Menschen und Hunde und fischt Deutschland auf seinen Meeren mit zwei Stettiner Schiffen und einem aus Wolgast. Die 200 Hamburger und Bremer Schiffe sind blos Frachtwagen auf dem Wasser. Was man „Flotte“ nennt, das macht „Uebungsfahrten“, wobei auch noch nicht ein einziger Stockfischschwanz gefangen ward.
Nun denn, wollen wir denn nicht endlich eine flotte Nation werden und uns Geld, Fische, Freiheit, Seetüchtigkeit, die Bedingung zur Tüchtigkeit auf dem Lande, aus dem Meere fischen und dabei jährlich 5 Millionen Thaler verdienen? dadurch, den einzig sichern und tüchtigen Grund, die Elementarschule für eine deutsche Flotte gewinnen! Wie viele junge gebildete Kräfte verkümmern jetzt in hungrigem Lungern nach einer Laufbahn, Anstellung, lohnenden Beschäftigung? Wie werden sie mit ihren harrenden Bräuten alt und welk, ehe sie mal ein mageres, abhängiges Pöstchen oder Stellchen mit 300 Thalern erwischen! Denke man sich eine norddeutsche Seefischereiflotte von 200 Schifen als Vorschule zu einer flotten Flotten-Laufbahn – was für Leben, Hoffnung, Streben, Muskelkraft, Production, Beförderung, Wohlstand und Reichthum! Welch neue „Steuerkraft“, ihr Herren Finanz- und Kriegsminister, die ihr nur immer Geld und Leute zum Geldverzehren haben wollt, ohne den Leuten zu erlauben, ihre „Steuerkraft“ frei zu entwickeln! Welch neue blühende Fischerdörfer und Seestädte an unsern Küsten [171] mit markigen Mannschaften für die Flotte! Keine See-Cadettchen, dressirt in schwimmenden Kasernen! Welche Kauffahrtei-Flotte, Landwehr und Landsturm in Zeiten der Noth an den bedrohten Flußmündungen und Küsten, die tüchtigste Landwehr für die Flotten-Armee! Und die 300 000 Centner Thran und Speck, die Schiffsladungen Fische zum Einsalzen, Räuchern, Trocknen und Mariniren, die 300 Millionen Heringe und Millionen Schalthiere, welche die Seefischflotte jährlich an’s und in’s Land liefern würde, was für alte Industriezweige müßte sie beleben und neue schaffen, wie viele Verkehrsadern mit neuen Säften und Kräften füllen und Millionen von Menschen eine gesunde, leichte, angenehme, neue Nahrung zugänglich machen, die der einzelne Reiche im Binnenlande sich jetzt nur als delicate Seltenheit verschaffen kann!
Reichen diese Aussichten und Thatsachen hin, die schmachvolle Schwäche und Faulheit in selbstständiger Unternehmungslust, wodurch Deutschland allen andern Nationen und sich selbst zum Gespött geworden ist, endlich zu brechen und uns aufzurütteln zum eigenen, einigen, durch Verbindung Vieler starken und siegreichen Zugreifen? Ich dächte, sie müßten hinreichen. Nur müßte die deutsche Presse, die sich in die unerträglichste Einseitigkeit und Trockenheit hoher und hohler Politik und täglicher Aufhäufung localen Klatsches hinein verloren hat, auch lernen, praktische Dinge anzupacken und, dafür agitirend, erwärmend, begeisternd, nie wieder loszulassen, bis sie Fleisch und Blut des Volkes geworden. Capitalisten und Capacitäten sollten aber nicht darauf warten, sondern, je eher, desto besser, als Compagnie für eine deutsche Rockall-Seefischerei auftreten. Im freien constitutionellen Preußen ist zwar das Geldzeichnen nach einem Ukas des seligen Hinckeldey verboten, aber es kostet blos 5 Thaler, und dann braucht’s ja auch nicht gerade in Preußen zu sein. –
In Potsdam, wo vom hohen Thurm der Garnisonkirche das alte Glockenspiel in kurzen Zwischenpausen seine Choräle und Weisen niederschallen läßt, deren feierliche Klänge gleichmäßig und ohne Unterschied die bescheidene Hütte des Armen, wie das stattliche Schloß des Reichen erfüllen, und in leisen zauberischen Schwingungen über zahlreiche stille Wasserspiegel und durch anmuthige Gärten getragen werden, um endlich fern ab in stolzen Forsten wie Geistergruß zu ersterben, da ruht aus von seinem vielbewegten Erdenleben der große Preußenkönig, der „Philosoph von Sanssouci“!
Entsprechend den Neigungen, die ihn einst vor allen andern Fürsten auszeichneten, ruht er in einfacher Gruft im schlichten Sarge, aber Ehrfurcht gebietend noch kommenden Geschlechtern.
Das Grabgewölbe, in welches Friedrich der Große beigesetzt wurde, hatte Friedrich Wilhelm I. für sich und seine Gemahlin mit großen Kosten errichten lassen. Dasselbe befindet sich gerade unterhalb der Kanzel, sodaß diese den oberen Theil des prachtvollen Marmorbauwerkes bildet. Durch eine Gitterpforte tritt man in das zu ebener Erde gelegene Gewölbe.
Nur sehr spärlich wird der enge abgeschlossene Raum durch das von der Kirche aus eindringende Dämmerlicht erhellt, und längere Zeit gebraucht das Auge, um die sich ihm darbietenden Gegenstände genau unterscheiden zu können.
Nachdem man von der Pforte aus zwei Schritte in das Gewölbe hineingethan, befindet man sich am Fußende zwischen zwei Särgen. Links in einem mächtigen Marmorsarkophag, der fast die ganze Länge der Gruft ausfüllt, ruht Friedrich Wilhelm I. Er ruht in einem der historischen Särge, deren er in der Vorahnung eines nahen Todes, der aber in der That erst sechs Jahre später erfolgte, zwei bestellte und endlich auch nach vielfachen eigenhändigen Schreiben erlangte. Er entspricht bis in’s Kleinste den in einem Schreiben an den Residenten Luiscius in Holland vom Könige selbst gestellten Anforderungen: „Ich will gerne zwei große Ausgehauene Särge von schwartzem Marmor haben mit einem gantz Platten Deckel und ohne Zierrathen.“
Rechts, dem Marmorsarkophag gegenüber, schläft im unscheinbaren zinnernen Sarge Friedrich der Große. Was sich im Leben getrennt von einander hielt, das hat hier der Tod vereinigt: hier der unerbittlich strenge Vater, dort der zuerst verkannte, dann so ruhmreiche Sohn. –
Angesichts der Vergänglichkeit aller irdischen Größe versinkt man unwillkürlich in tiefe Betrachtungen. – Die schmucklosen Wände, die sich in niedrigen Bogen über Beide wölben, erweitern sich, und vor dem geistigen Auge rollt ein Jahrhundert vorüber. –
Die Annahme, daß Friedrich der Große den Wunsch ausgesprochen habe, auf der obersten Terrasse seines Lieblingsschlosses Sanssouci beerdigt zu werden, findet ihre Bestätigung in seinem Testament vom 8. Januar 1769, in welchem es heißt:
„Ich habe als Philosoph gelebt und ich will als ein solcher begraben werden, ohne Gepränge, ohne Pomp; ich will weder geöffnet noch einbalsamirt werden. Man bestatte mich zu Sanssouci auf der Höhe der Terrasse in einem Grabe, das ich mir habe bereiten lassen. Auf dieselbe Weise ist der Prinz Moritz von Nassau in einem Walde bei Cleve beerdigt worden. Wenn ich im Kriege oder auf der Reise sterbe, so soll man meinen Leichnam im nächsten Orte beisetzen und ihn im Winter nach Sanssouci und an die Stelle bringen, die ich oben bezeichnet habe.“
Im Volke lebt der Glaube, Friedrich der Große habe die auf der Ostseite des Schlosses befindliche Stelle, wo sein Pferd und seine Hunde begraben liegen, als seine zukünftige Ruhestätte bezeichnet. Doch scheint es erwiesen zu sein, daß in späteren Jahren nie ernstlich eine besondere Stelle ausgewählt und bestimmt wurde.[3]
Wer indessen je in den späten Nachmittagstunden eines schönen Sommertages auf der obersten Terrasse vor dem Schloß Sanssouci weilte und seine Blicke schweifen ließ über die Stadt Potsdam und deren im üppigsten Schmuck prangende nähere und weitere Umgebung, die in der eigenthümlichen Beleuchtung der scheidenden Sonne mit einem duftigen, an die nächtliche Ruhe mahnenden Hauch überzogen waren, der vermag sich gewiß zu erklären, daß der alternde König, durch die Ruhe der Natur an den Abend des eigenen Lebens erinnert, den Wunsch aussprach, gerade da sein müdes Haupt niederzulegen, von wo aus er, fern vom Getümmel der Welt, sich so oft der vollen Aussicht auf den friedlichen Theil seiner Schöpfungen erfreute; wo nichts ihn mahnte an die schweren blutigen Aufgaben, die er als Mann und Held während eines langen ruhmreichen Lebens löste; wo statt kaltherziger Höflinge und Schranzen sorgfältig gepflegte Blumen, diese lieblichsten Kinder der Natur, ihm ihre duftenden Häupter entgegen neigten; wo die süßen Lieder der Nachtigallen ihm seine geliebte Flöte ersetzten, und er gewiß gern vergaß den harten, nur zu oft gerechtfertigten Ausspruch: „Ich bin es müde über Sclaven zu herrschen.“ –
Die Beisetzung Friedrich's des Großen erfolgte am 18. August 1786 in den Abendstunden, also schon am ersten Tage nach seinem Hinscheiden. Sie geschah mit den gebührenden königlichen Ehren, auf Befehl seines Nachfolgers, Friedrich Wilhelm II., der seine ausdrücklichen Anordnungen über die zu beobachtenden Formen mit folgenden Worten begleitete: „Weniger darf ich nicht thun, als mein seliger Onkel an Friedrich Wilhelm I. gethan, aber ein Mehreres zu thun steht in meiner Gewalt.“
Friedrich’s des Großen Wünsche betreffs seiner letzten Ruhestätte waren nicht bestimmt genug gewesen, daß seinem königlichen Nachfolger dadurch Verpflichtungen erwachsen wären. Das Gewölbe in der Garnisonkirche schien diesem würdiger des Heldenkönigs.
[172] Das eigentliche feierliche Leichenbegängniß fand erst am 9. September 1786 unter Entfaltung aller zu damaliger Zeit erdenklichen Pracht statt. Die umfangreichsten und großartigsten Vorbereitungen waren zu diesem Zweck getroffen worden. Eine zweitausend Fuß lange, zwanzig Fuß breite und einen Fuß hohe Brücke verband das Stadtschloß mit der Garnisonkirche, und auf dieser bewegte sich der Leichenzug mit dem Paradesarge nach dem im reichsten Trauerschmuck prangenden Gotteshause. Unter den Decorationen im Innern der Kirche verdienen besonders hervorgehoben zu werden die an den sechs vordersten Pfeilern in großer Medaillonform angebrachten und vom Director der königlichen Kunstakademie Rohde gemalten Sinnbilder, welche sich auf sechs Hauptpunkte im Leben und Charakter Friedrich’s des Großen bezogen:
Das erste darstellend die der Erweiterung und Verschönerung der Städte, wie auch dem Ackerbau gewidmete Fürsorge des Königs; das zweite den siebenjähr. Krieg; das dritte die Eroberung Schlesiens; das vierte den Schutz, welchen er den Künsten und den Wissenschaften angedeihen ließ; das fünfte verbildlichend den von ihm gegründeten deutschen Fürstenverein, zur Wahrung der Freiheit und Rechte des deutschen Reichs; und endlich das sechste die Vereinigung Ostpreußens mit Westpreußen.
Unter den zahllosen Besuchen, welche der Gruft des großen Preußenkönigs abgestattet wurden, sind es zwei, die eine historische Bedeutung erhalten haben, und die, obgleich schon vielfach beschrieben, hier erwähnt zu werden verdienen, und zwar in der Weise, in welcher der Hofküster Geim als Augenzeuge, namentlich über den Besuch Napoleon’s, an Ostmann berichtete.
„In der Nacht vom 4. zum 5. November des Jahres 1805, um 1 Uhr, betraten der Kaiser Alexander I. von Rußland, Friedrich Wilhelm III. und die Königin Louise die mit Wachskerzen erleuchtete Kirche. Am Grabe Friedrich’s II. küßte Alexander, von seinen Empfindungen überwältigt, den Sarg des ruhmreichen Todten, und der Königin die Hand zum Unterpfand unverbrüchlicher Freundschaft, während er die rechte Hand des Königs zum Zeichen unwandelbarer Treue ergriff.“
Aus Geim’s nachfolgender Erzählung geht hervor, daß Napoleon’s Aeußerung: „wenn dieser König noch lebte, würden wir uns nicht hier befinden,“ nicht, wie allgemein geglaubt wird, am Sarge Friedrich’s des Großen gethan wurde. In Uebereinstimmung mit dieser Aussage behauptet ein Kammerdiener Friedrich Wilhelm’s III. (in einem auf der königlichen Bibliothek zu Berlin befindlichen Manuscript, in welchem selbiger als Augenzeuge seine Erlebnisse während Napoleon’s Anwesenheit in Berlin und Potsdam niederschrieb), daß der Kaiser diese denkwürdigen Worte beim Besichtigen der Zimmer Friedrich’s des Großen in dem Schloß, und zwar beim Auffinden seines Degens gesprochen habe. Demgemäß soll Napoleon gesagt haben: „Wenn der König noch lebte, der diesen Degen getragen, so würden wir uns nicht hier befinden.“
Ostmann theilt die Erzählungen Geim’s, der damals bereits als Küster der Garnisonkirche fungirte, in folgender Weise mit:
Der Kaiser kam am 24. October[WS 1] 1806 mit dem Prinzen Jerôme, den Marschällen Murat, Duroc und Berthier, sowie dem General René, welcher zum Commandanten von Potsdam ernannt worden war, nicht vom Exerciren, wie es in dem eben erwähnten Manuscript heißt, sondern von Sanssouci her, um das Grab Friedrich’s des Großen zu besehen, in die Garnisonkirche. Er war, wie sein zahlreiches militärisches Gefolge, zu Pferde, und der Stallmeister Müller ritt vor ihm her, den Weg durch die Stadt zu zeigen. Die Benachrichtigung, daß der französische Kaiser in die Garnisonkirche kommen wolle, war vom Schlosse her zwar an den stellvertretenden Prediger Derége gekommen, hatte ihn aber nicht zu Hause angetroffen, so daß nur die Kirchendienerschaft in der Eile zusammengerufen werden konnte. Stallmeister Müller hatte den Kaiser vor die ebenfalls geöffnete Thurmthür geführt, während der Küster Geim am Eingange dem Waisenhause gegenüber wartete und erst durch die Kirche zum Thurm-Eingange eilen mußte, als das Pferdegetrappel die Ankunft des Kaisers verkündete. Da man den Eintritt des Kaisers durch die Thurmthür nicht erwartet hatte, so war die innere, aus der Thurmhalle in die Kirche führende [173] Thür noch verschlossen. Der Marschall Duroc und Küster Geim bemühten sich, die seit vielen Jahren nicht geöffnet gewesene Thür aufzuriegeln, und als es gelungen war, stand plötzlich der Kaiser hinter Geim und sagte: „Laissez donc!“ Während der Kaiser in der Thurmhalle wartete, hatte sich das durch die andere Thür eingetretene Gefolge an dem Altar, der damals noch nicht an seiner jetzigen Stelle, sondern in der Mitte des Raumes zwischen der Kanzel und der königlichen Loge stand, ehrerbietig in einem Halbkreise geordnet. Geim führte nun den Kaiser durch den schmalen Gang zwischen dem Grabgewölbe und dem breiten Tragepfeiler bis vor den schon geöffneten Eingang zur Gruft, an welchen sich zwei Gensd’armes d’élite mit aufgepflanztem Bajonnet gestellt hatten. Der Leibmameluk Rustan folgte dem Kaiser unmittelbar und hinter diesem noch zwei Gensd’armes d’élite. Bei dem Hervortreten des Kaisers aus der schmalen Passage in den freien Raum nahmen alle versammelten Generäle und Militärpersonen eine ehrfurchtsvolle Haltung an, und der Kaiser schritt nun mit seinem Bruder Jerôme unmittelbar hinter Geim her in die Gruft, stand einige Zeit in tiefer Betrachtung an dem Sarge des großen Königs, auf welchen Geim zeigte, und sagte dann: „Sic transit gloria mundi,“ worauf er einen Wink gab, ihn allein zu lassen.
Prinz Jerôme trat ebenfalls in den Vorraum, und der Kaiser verweilte wohl zehn Minuten allein an dem Sarge, Allen sichtbar, da die Thüren offen blieben.
Als er wieder herausgetreten war, zeigte er auf den Altartisch und fragte den Küster, was der Tisch da bedeute, worauf Geim erwiderte: „Er wird zu Taufen und bei der Abendmahlsfeier gebraucht.“
„Wo sind die Gefäße für den Gottesdienst?“ fragte Napoleon weiter.
„Sie werden in der Sacristei bis zu dem jedesmaligen Gebrauch verschlossen aufbewahrt.“
„Was bedeuten die Figuren?“ Dabei zeigte der Kaiser auf die beiden Statuen des Mars und der Minerva, welche damals rechts und links von der Kanzel auf Postamenten standen und später auf Veranlassung des Dr. Eylert in das königliche Stadtschloß in den Treppenraum gebracht wurden, welcher vom Hofe aus durch das Mittel-Risalit in den Kurfürstensaal führt, wo dieselben noch jetzt stehen.
„Es sind allegorische Figuren, welche König Friedrich I. hier aufstellen ließ, um die Kirche als eine Garnisonkirche zu bezeichnen.“
„Bah!“
Indem sich der Kaiser nach diesem Ausruf, der theils seine Verwunderung, theils seine Mißbilligung ausdrückte, zum Weggehen wandte, befahl er dem Marschall Duroc, daß die Garnisonkirche nicht, wie die andern Kirchen der Stadt, zu militärischen Zwecken (als Magazin, Lazareth, Stall etc.) gebraucht werden sollte, da sie unter seinem unmittelbaren kaiserlichen Schutz stände.
Vor dem Verlassen der Kirche sagte der Kaiser noch: „Où est le pasteur?“ Der Prediger war aber noch nicht da, sondern kam erst, als Alles vorüber war. Der Kaiser wartete auch die Antwort gar nicht ab, sondern verließ die Kirche ohne eine weitere Aeußerung.“
Seltsamer Wechsel des Schicksals! „Die Kirche mit der Gruft Friedrich’s des Großen stehen unter meinem persönlichen Schutz,“ sagte damals der französische Kaiser; jetzt sind es die kaiserlichen Adler, die der welterschütternde Eroberer so oft siegreich in’s Feld führte, welche zu beiden Seiten des Eingangs in die Gruft, in malerische Gruppen geordnet, den hehren Todten gleichsam bewachen und Zeugniß ablegen von der noch ungebrochenen Kraft des einst von ihm beherrschten Volkes.
Ueber die Kuppeln seines Lieblingsschlosses Sanssouci aber ragt hinaus, als Denkmal seiner Gerechtigkeit, der er mit Freuden die eigenen Neigungen opferte, die von seinen Nachfolgern in hohen Ehren gehaltene historische Windmühle.
Es war zu Anfange des jetzigen amerikanischen Bürgerkriegs, dessen erste Schlachten im westlichen Missouri, kaum weit von der Indianergrenze, geschlagen wurden. Was von den jüngern Deutschen in St. Louis ein Gewehr tragen konnte und nicht unabweislich an die Stadt gefesselt war, hatte sich in die aufgerufenen Freiwilligen-Regimenter einreihen lassen, um dem Gelüste des Gouverneurs, den Staat von der Union loszureißen und dem eben entstandenen Südbunde anzuschließen, entgegen zu treten. Das Verbleiben Missouri’s in der Union war für das deutsche Element im Staate nicht nur eine politische, sondern eine völlige Lebensfrage; die Deutschen waren von jeher die schärfsten Gegner der in Missouri am wenigsten gerechtfertigten Sclaverei gewesen, hatten es sogar endlich zu einer mächtigen Partei gegen das sclaverei-freundliche Amerikanerthum gebracht und wären unter der Herrschaft der südlichen Baumwollenbarone zu rechtlosen Parias gemacht worden. Nebenbei lagen unter der politischen Aufregung alle Geschäfte so gänzlich nieder, herrschte eine so drückende Geld- und Arbeitsnoth, daß Viele nach dem Gewehr griffen, um wenigstens der schweren Sorge für den täglichen Unterhalt enthoben zu sein. Indessen betrug die ganze Macht, womit der Höchst-Commandirende, General Lyons, seinen ersten Feldzug in das Innere des Staats unternahm, doch kaum über 7- oder 8000 Mann, von denen eigentlich nur die Officiere richtig uniformirt waren – das nothwendigste Exercitium aber hatte sich unter dem Drange des Augenblicks wunderbar schnell gelernt. Ich selbst, als gedienter preußischer Soldat, war gleich anfangs zum Lieutenant gewählt und bestätigt worden – kurze Zeit darauf aber nahm mich der General, theilweise wohl mit meines fertigen Englisch und meiner Schreibgeläufigkeit wegen, in seinen Stab auf.
Es war ein drückend warmer Abend, und das Haupt-Corps unserer kleinen Armee lagerte vor einem hügeligen, waldigen Terrain, um das Heranstoßen eines kleinern Corps unter Oberst Sigel zu erwarten. Vom Feinde hatten wir nur die unbestimmtesten Nachrichten; wir wußten, daß der Gouverneur Jackson die ganze amerikanische männliche Bevölkerung in dieser Gegend zu den Waffen gerufen und sie der Hauptmacht der Rebellen unter General Price zugeführt hatte; wie weit aber diese Macht stand und wie stark sie überhaupt sei, waren Fragen, die sich trotz aller eingezogener Erkundigungen noch nicht hatten beantworten lassen. Der ganze Landstrich, in welchem wir uns befanden, hing dem Südbunde an; gewöhnlich hatten wir auf den Farmen, denen wir uns genähert, nicht ein einziges weißes Gesicht, sondern nur grinsende und mit Verwunderung auf uns starrende Negersclaven angetroffen; wo wir aber auch einmal eines Amerikaners oder einer Farmersfrau habhaft geworden, hatten wir nichts als eine anscheinende völlige Unwissenheit über unsere Gegner getroffen; seit längerer Zeit wollte Niemand von ihnen etwas gesehen noch gehört haben, und selbst die Schwarzen, welche zuletzt zum Sprechen gebracht werden sollten, schienen mit ihren Herren im völligen Einverständniß zu handeln.
Ich lag vor dem Zelte des Generals im Grase, den leisen, kühlen Luftzug, welcher aus den Bergen vor uns kam, genießend und den Gesängen, welche aus der Mitte der lagernden Truppen ertönten, horchend. Wir hatten ganze Sängervereine unter uns, die trotz aller Ermüdung vom Marsche keinen Abend ohne den prächtigsten Quartettgesang vorübergehen ließen. Seit wir ausgerückt waren, war es hauptsächlich ein Lied im Marschtakt, welches für die Missourier Freiwilligen besonders geschrieben war, das mich vor Allen ansprach und das verdient hätte die Marseillaise aller Deutschen in dem sich entspinnenden Kampfe zu werden. Wenigstens dachte ich damals so, wo mich noch die ganze Begeisterung für unsere Sache, die ganze Romantik und Poesie des ersten Anfanges unseres „heiligen Kriegs“ umspann – heute, wo man einen zehnfachen Katzenjammer für den damaligen Rausch durchzumachen gehabt, wo gerade unsere Deutschen unter dem Betrugssystem der Verpflegungsbeamten und der Unfähigkeit sogenannter Generale immer bei Zehntausenden haben zu Grunde gehen müssen, klingt besagtes Lied freilich wie ein lebendiger Hohn. Es verherrlichte in zwei Anfangsversen die Union als neue Mutter und Ernährerin der herübergeflüchteten Deutschen und schloß dann:
[174]
Drum auf, drum auf, du deutsches Herz,
Es gilt die Mutter schützen!
Sei dir der Sohnespflicht bewußt,
Wirf dich als Wall vor ihre Brust
Und zeig’ die Schwerterspitzen!
Die deutsche Treu’, die alte Treu’,
Ersteh’ im neuen Lande neu,
Und Fluch ihm, der sie schändet!
Ich war, als die letzten Töne verklangen, wie gewöhnlich so davon angeregt, daß ich Gott weiß welche Heldenthaten zu vollbringen wünschte, gegen welche mein Leben mir im Augenblicke durchaus nichts war, als sich der Eingang des Zeltes öffnete und der General mit einem raschen Blick über die nächsten Umgebungen in’s Freie trat. Ich war mit einem Sprunge auf den Füßen, und er nickte zufrieden, als er mich erblickte. „Lassen Sie uns einige Minuten bei Seite treten, Reuter,“ sagte er halblaut und strich sich rasch das graue, buschige Haar aufwärts – eine Bewegung, die ich noch jedes Mal an ihm gesehen, wenn ihm ein wichtiger Gedanke zu schaffen machte, – „ich möchte ein paar Worte mit Ihnen reden!“ Er schritt mir voran von dem Lager hinweg, bis wir in gleicher Entfernung zwischen diesem und unserer Postenkette standen, sah sich erst scharf in der freien, vom Monde beleuchteten Umgebung um und begann dann mit vorsichtig gedämpfter Stimme: „Ich habe eine ungefähre Angabe über den Standort des General Price erhalten, bin aber trotzdem noch immer völlig im Dunkeln sowohl über seine Stärke als über die Art seiner Mannschaft. Das Terrain wird schwierig, verlangt die höchste Vorsicht, und bekommen wir es mit einem überlegenen Feinde zu thun, der sich noch dazu aus den besten Kräften der hiesigen Counties rekrutirt hat, so kann unsere junge Mannschaft trotz aller Bravheit eine Schlappe erhalten, die gerade jetzt vom allerschlimmsten Einfluß für den ganzen Staat werden müßte. Alles hängt augenblicklich davon ab, eine genaue Nachricht über die Stellung und ungefähre Stärke der Secessionisten zu erhalten. Kennen Sie nun wohl Jemand unter unsern Leuten, der sich der Gefahr einer Kundschaft unterzöge, aber auch so fertig im Englischen und so vertraut mit unsern Verhältnissen ist, daß er wenigstens als langjähriger Ansiedler in der hiesigen Gegend gelten könnte?“ Er sprach das Letztere langsamer, sein feuriges Auge ruhte aber dabei so bestimmt und forschend auf mir, daß ich sofort wußte, was er mit seiner Frage beabsichtigte, indessen auch nicht einen Augenblick anstand, seine Erwartung zu erfüllen. „Wenn Sie es für nothwendig halten, General, daß ich gehe, so haben Sie nur über mich zu befehlen!“ erwiderte ich in der gehobenen Stimmung, welche mich beseelte. Meine Erklärung schien ihm fast zu rasch zu kommen, denn er blickte mich wie plötzlich unschlüssig an und fuhr mit der Hand durch seine Haare. „Ich gestehe Ihnen, daß ich allerdings an Sie dachte,“ sagte er endlich langsam: „es ist ein Unternehmen, von dessen glücklicher Durchführung vielleicht unser Aller Schicksal abhängt – indessen, Reuter, muß ich Ihnen Eins sagen: lassen Sie sich erwischen, so sind Sie nicht Kriegsgefangener oder werden möglicherweise erschossen, sondern ehrlos gehangen!“
Ich mochte wohl bei dieser Aussicht etwas blaß geworden sein, denn er wandte sich mit einem sorgenvollen Stirnrunzeln rasch ab. „Ich weiß, daß Wenige das Geschäft übernehmen würden, wenn sich auch gerade darin der rechte Mann zeigen muß,“ murmelte er; „dazu ist die strengste Geheimhaltung das erste Erforderniß, und ich darf mich nicht einmal Vielen anvertrauen –“
„Ich gehe, General!“ unterbrach ich ihn. Ich hatte die plötzliche Anwandlung von moralischer Schwäche, die mich überkommen, rasch überwunden. „Werde ich gehangen, so weiß ich, wofür ich mich geopfert, und Sie werden meine Ehre vertreten. Im Uebrigen aber soll ich erst noch erwischt werden. Ich bitte um Ihre Anweisungen, General!“
Er sah mich an, als wolle er den Ernst meines Entschlusses prüfen; dann reichte er mir die Hand und drückte die meine kräftig. „Kommen Sie in mein Zelt!“ sagte er kurz und schritt, mir voran, wieder zurück.
Eine halbe Stunde darauf wanderte ich, in dem Anzuge eines echten „Farmerboy’s“, von dem Generale selbst durch unsere Postenkette geleitet, der schmalen Straße zu, welche sich in die waldigen Hügel hineinzog. An meiner Schulter hing ein grobes Tuch zu einem Sacke geknüpft, in welchem sich zwei lebendige gebundene Hühner und ein Dutzend Eier befanden. Wo die Kleidung, die ich jetzt trug, aufgetrieben worden war, weiß ich heute noch nicht; sie lag bereits, meiner wartend, im Zelte; Hühner und Eier aber waren der von dem deutschen Diener des Generals mühsam beschaffte Vorrath, um die Mahlzeiten des Letzteren in etwas zu bessern; aber es war auch ein ganz wunderlicher, fast wehmüthiger Blick, als Fred, wie ihn der General rief, die Früchte seiner Mühe in meinen Sack wandern lassen mußte. Wenn einmal die Specialgeschichte des jetzigen Kriegs geschrieben werden wird, ist auch diesem deutschen Burschen ein Denkmal sicher. Als wenige Wochen später General Lyons als leuchtendes Vorbild für seine Truppen in offener Schlacht fiel, sank er mit dem Rufe: „Fred, I am going up!“ (Fritz, ich gehe hinauf!) in die Arme des nie von seiner Seite weichenden Getreuen, und gab an dessen Brust seinen Geist auf.
Ich also hatte die Straße, welche in die waldigen Höhen hineinführte, eingeschlagen und überdachte die Rolle, welche mir zugetheilt worden war. Ich sollte als begeisterter Secessionist gelten, der einen stundenweiten Weg machte, um dem Rebellen-General etwas frische Kost auf seinen Tisch zu bringen. Daß ich selbst dabei als kräftiger und ansehnlicher junger Mann nicht wieder losgelassen, sondern zur Einreihung gezwungen werden würde, verstand sich von selbst; also meldete ich mich am besten gleich ohne Frage als Freiwilliger und suchte sodann in der Nacht das Weite wieder zu gewinnen.
Obgleich die Dunkelheit bereits hereingebrochen, konnte es doch noch nicht einmal acht Uhr sein, und waren die Nachrichten, welche der General erhalten, zuverlässig, so mußte ich lange vor zehn Uhr den Lagerplatz des Feindes erreichen.
Je weiter ich meine Straße verfolgte, je klarer wurde die Nacht. Der Wald trat oft zu beiden Seiten weit zurück und ließ dem cultivirten Felde Raum; hier und dort tauchte ein Farmhaus, vom Mondlicht umsponnen, auf, um mich her in den Blättern, dem Grase und der Luft ward das eigenthümliche südliche Nachtleben wach, glänzende Feuerfliegen leuchteten nach allen Richtungen hin auf; die warme Luft aber übte eine so erschlaffende Wirkung auf meine Nerven, daß ich sicher in ein halbwaches Träumen verfallen wäre, wenn mich nicht das Bewußtsein meines gefahrvollen Unternehmens wieder aufgeschreckt hätte.
Meiner Uhr nach war ich endlich wohl schon eine Stunde gewandert; die Gegend ward freier, und jetzt lief mein Weg in eine Straße ein, an deren Seiten das Gras sich viele Yards weit niedergetreten und zerstampft zeigte. Jetzt wußte ich, daß ich auf der rechten Spur war. Hier war Cavallerie passirt, ein Truppentheil, von welchem unsere kleine Armee noch fast nichts wußte, und nur der Gedanke an unsere von lauter gedienten Kanonieren prächtig bediente Artillerie vermochte einen beunruhigenden Gedanken an diese Ueberlegenheit des Feindes in mir niederzuschlagen. Ich richtete mich jetzt gerade auf und schritt vorwärts, als strebte ich nur dem Ziele meiner Wünsche entgegen, denn jeden Augenblick konnte ich irgend einer Begegnung gewärtig sein, in welcher nur mein äußeres Auftreten den Maßstab für meine Beurtheilung abgeben mußte. Nach wenigen Minuten wich der Wald ganz zurück, und ein Backsteinhaus von dichtbelaubten Obstbäumen umgeben, ein Garten mit zierlichem Stacket und eine weite Fläche eingezäunter Felder dahinter zeigten sich. Eine hölzerne Piazza schien rings um das Gebäude zu laufen, und zwischen den großblätterigen Schlingpflanzen, welche die Giebelseite erklettert hatten, ließ sich ein offenes Fenster erkennen. Es zeichnete sich inmitten des Grün und der lautlosen Ruhe umher wie ein Bild des sicheren Friedens ab, so daß ich fast an der Nähe der Secessionisten, von deren Gewaltthaten in unserm Lager die schauerlichsten Geschichten cursirten, zu zweifeln begann. Ich war unwillkürlich stehen geblieben; im gleichen Augenblicke aber rief mich auch unfern von mir eine Stimme in Englisch an: „Halt dort, mein Bursche, ich möchte wissen, wohin die Reise gehen soll!“ und zugleich sprang leicht über die nächste Einzäunung eine der kräftigen Gestalten, wie man sie so häufig im Innern des Landes trifft, eine schwere Büchse auf der Schulter. Ich sah, daß die Zeit, meine Rolle zu spielen, bereits begann.
„Haben Sie im Lager Geschäfte?“ fragte er endlich mit einem Blicke voll wachen Mißtrauens, „es heißt, die Deutschen stehen nur etwa drei Meilen von hier!“
„Weiß es, Sir,“ nickte ich so ruhig als möglich, „habe sogar die Vorposten gesehen, bin ihnen aber aus dem Wege gegangen, um nicht examinirt zu werden.“
[175] „Mir scheint aber, trotz Ihres geläufigen Englisch, als wären Sie selbst ein Deutscher!“ gab er mit scharfem Blick zurück.
„Mag wohl noch so etwas in meiner Sprache klingen,“ erwiderte ich, gerade auf diese Aeußerung längst vorbereitet, „meine Großeltern kamen als Deutsche in’s Land, und meiner Mutter ist die Deutsche bis zu ihrem Tode anzuhören gewesen. Das Alles hat aber mit mir nichts zu schaffen. Ich bin in Laclede County geboren, bin schon als Junge ein guter Demokrat gewesen und wünsche jetzt, daß die Republikaner, Deutsche, Irische oder Amerikaner, zur Hölle gehen – das ist Alles!“
„Und wahrscheinlich wollen Sie sich da jetzt den Truppen des Governor anschließen?“ fragte er mit einem lauernden Lächeln.
„So ist es, Sir!“ versetzte ich bestimmt, „vorausgesetzt, daß ein Gewehr für mich übrig ist. Was noch auf der Farm zu nehmen war, habe ich mitgebracht – zwei Hühner und ein Dutzend Eier für den Gov’rnor oder den General – Andere mögen mehr gethan haben, aber ich hatte nichts Besseres.“
Er sah mich noch immer wie halb unsicher an. „Well, Sir, die Abkömmlinge von Deutschen haben im Lügen meist die wenigste Fertigkeit,“ sagte er endlich langsam, „es giebt auch deren so Manche hier herum, die scharf zur guten Sache des Südens stehen, und so will ich Ihnen glauben. Wir gehen allerdings denselben Weg, und habe ich Sie hier examinirt, so erspart Ihnen das viele Worte bei unserer Ankunft!“ Er warf die Büchse über die Schulter, winkte mir den Weg fortzusetzen und schritt dann, immer einen Fuß zurück, an meiner Seite her. Ich aber betrachtete diese Begegnung als ein glückliches Omen für die Ausführung meines Vorhabens; durch ihn schon halb legitimirt, konnte mich ein besonderer Verdacht kaum mehr treffen, und fing ich meine Sache nur einigermaßen klug an, so konnte mir auch mein Rückzug im Laufe der Nacht nicht allzuschwer werden. „Scheint ein ganzes Theil Reiterei bei sich zu haben, der Gov’rnor,“ begann ich nach einer kurzen Weile schweigsamen Marschirens, wie nur um ein Gespräch zu beginnen, und deutete auf das zertretene Gras.
„Möchten wohl gern genau wissen, wie viel?“ klang es in einem so eigenthümlichen Tone zurück, daß ich mich rasch umwandte und mit meinem Manne wieder plötzlich Aug’ in Auge stand.
„Warum nicht, wenn Sie mir’s sagen können?“ erwiderte ich ruhig, „ist die Frage nicht erlaubt?“
„Sie tragen mir nur zu feine Hemden für einen Farmerburschen aus Laclede,“ versetzte er mit einem neuen Lächeln finstern Mißtrauens auf meinen linken Arm deutend, wo unter dem etwas zu kurzen Rockärmel die Manschette meines Hemdes herumgekrochen war, und es bedurfte in diesem Momente aller meiner Selbstbeherrschung, um keine Verlegenheit zu zeigen. Indessen half mir das Bewußtsein, mit welchem ich ausmarschirt, nur durch dreiste Lügen zu meinen Zwecke gelangen zu können, rasch zu völliger innerer Fassung. Bei dem früheren Worte meines Begleiters: daß er mir glauben wolle, weil die Abkömmlinge von Deutschen im Lügen keine Fertigkeit besäßen, war mir es allerdings wie eine Art Scham in der Seele aufgestiegen; indessen führten wir Krieg gegen einen Feind, der keine Rücksicht irgend welcher Art gegen uns kannte, der harm- und wehrlose Deutsche in St. Louis mit der scheußlichsten Brutalität gemordet, den unionstreuen Landbewohnern Nachts die Häuser angezündet und mit einer unglaublichen Rohheit überall dem einfachsten Menschenrechte Hohn gesprochen hatte; wir führten Krieg gegen wilde Raubthiere, in welchem jedes Mittel zum Zweck ein erlaubtes und ehrenhaftes war. „Wissen Sie wohl,“ sagte ich, meinen Rockärmel aufstreifend und die Manschette ruhig wieder zurückschlagend, „daß ich versucht war, Sie Ihrer vorigen Aeußerungen halber ebenfalls für deutsch-amerikanisches Blut zu halten? Ich habe mich freilich geirrt, denn sonst müßten Sie wissen, daß die meisten der alten deutschen Einwanderer im Staate den gebildeten Ständen angehört und daß sie auch hier ihren Kindern und Enkeln immer die bestmöglichste Erziehung gegeben haben. Ich selbst habe vor Jahren das College in St. Louis besucht, und wenn ich jetzt ein anständiges Hemd trage, so geschieht das, weil ich es so gewohnt bin. Meine Kleider sind schlecht, aber ich wollte mir bessere nicht unterwegs möglicherweise vom Leibe ziehen lassen. Im Uebrigen habe ich mit Ihnen nichts zu thun, sondern nur mit dem General oder dem Governor, dem ich meine Hühner und Eier bringe!“ Ich wandte mich mit einer Bewegung des Unmuths ab, rasch weiter schreitend, und wortlos folgte mein Begleiter.
„Gut, Sir, Sie mögen richtig gerathen haben, ich bin selbst von deutschen Großeltern,“ begann er nach einer Weile, als wolle er damit von mir eine neue Aeußerung herausfordern; mir aber schien es am gerathensten mich nicht in weitere, zu tiefe Untersuchungen einzulassen.
„Sie sagen es, und somit ist es gut,“ erwiderte ich, ohne meinen Schritt anzuhalten, „ich aber habe in Ihrer Weise gegen mich noch nichts davon gemerkt!“ Von da an fiel kein weiteres Wort zwischen uns, bis wir nach Verlauf von vielleicht einer Viertelstunde eine weite, waldlose Hochebene erreicht hatten und den Schein einzelner Feuer in kurzer Entfernung sich wundersam mit dem Lichte des Mondes mischen sahen. Noch funfzig Schritte weiter, und ein kräftiger Anruf erfolgte. „All right!“ gab mein Begleiter zurück und schritt mit einem Winke an mich, stehen zu bleiben, auf den Posten zu, welcher hinter einem Busche des eigenthümlichen hohen Unkrauts aufgetaucht war. Nur wenige Worte tauschten Beide aus, dann ward ich herangewinkt und unter dem musternden Blicke des Streiters für die Südrechte, welcher übrigens in seinem verlumpten Aeußern meine bisherige Vorstellung von dem „Gros“ der Secessionsmacht völlig bestätigte, folgte ich meinem jetzt rasch den Feuern zuschreitenden Führer. Sobald wir den ersteren nahe genug waren, um etwas zu erkennen, gingen alle meine Sinne in mein Auge über. Ich hatte den Blick über das ganze Lager und strebte schon jetzt, mir eine Idee über die ungefähre Stärke des Feindes zu machen; war ich einmal in das Gewühl vor uns gerathen, so fand sich, wenn ich nicht verdächtigende Fragen thun wollte, vielleicht keine Gelegenheit zu einer annähernd richtigen Schätzung des Ganzen wieder.
Links hinüber konnte ich deutlich zwischen den Lagerfeuern die Reihen der Pferde, deren Wiehern bis zu unseren Ohren drang, sehen, und die ganze Aufstellung sagte mir, daß der Oberbefehl in völlig kriegserfahrener Hand liegen müsse. In bedeutend größerem Umfange als das uns’rige breitete sich das übrige Lager aus, von dem ein wildes Summen, hier und da durch lautere, schnell verhallende Rufe übertönt, herüber klang; jetzt sah ich auch grobes Geschütz im Feuerscheine glänzen – zwei Stück waren indessen Alles, was ich trotz scharfen Suchens zu entdecken vermochte, und in dem Drange, mir Gewißheit über die Stärke dieser Waffengattung zu verschaffen, wandte ich mich nach meinem Begleiter. „Ein paar von den Brummern dort mehr, Sir, könnten eigentlich nichts schaden!“
Der Angeredete drehte mir rasch die gerunzelte Stirn zu. „Ihnen aber könnten dergleichen vorlaute Worte schaden, Sir; Sie haben ein merkwürdig rasches Auge für einen ruhigen Farmer.“
Ein lautes: „Halloh, Charley, wen haben wir denn hier?“ in unserem Rücken schnitt meine Antwort ab, und im nächsten Augenblicke waren wir von fünf oder sechs Bewaffneten, welche allem Anscheine nach von einer Patrouille zurückkehrten, umringt; der Führer derselben aber, eins der echten Raufbold- und Vagabondengesichter, wie sie an der Mississippi-Landung in St. Louis zu Hause sind, und der sich von den dortigen Gestalten nur durch sein Gewehr unterschied, legte die breite knochige Hand fest auf meine Schulter. Es zuckte in mir, den Griff von mir zu weisen, aber noch zeitig genug bezwang ich die unwillkürliche Regung.
„Bin selbst noch nicht ganz im Klaren!“ erwiderte mein bisheriger Begleiter, während sein Gesicht indessen ein halbes Mißbehagen über die vertrauliche Begegnungsweise des Andern zeigte, „er will aus Laclede County sein und hat Eier und Hühner für den General oder Governor im Sacke!“
„Halloh, halloh, Eier und Hühner!“ lachte plötzlich der Patrouillenführer in der rohen Weise seines Gelichters auf, während seine Hand mit festerem Drucke meine Schulter faßte, „ich sage, Charley, das Kind ist verdächtig, sonst müßte es wissen, daß die getreue Missouri-Bevölkerung weder den Governor noch den General an solchen Leckerbissen Mangel leiden läßt, während die Armee freilich in alten Speck und verdorbenes Pökelfleisch beißen muß. Ich schlage vor, wir examiniren ihn selber gründlich, geben ihm nach Befinden, was ihm gehört, und berechnen ihm, was er bei sich hat, als Gebühren des Kriegsgerichts!“
Von der Beleuchtung. Vor etwa zwei Jahren verbreitete sich plötzlich über Amerika die Kunde, daß in Virginen, Pennsylvanien und anderwärts aus verschiedenen Stellen des Bodens ein eigenthümliches Oel quelle, das an Größe der Leuchtkraft alle bekannten Oele überträfe. Mit der Rührigkeit, welche den Amerikanern in allen praktischen Dingen eigen ist, machten sie sich schnell den so günstigen Umstand zu nutz, und in kaum einem Jahre war bereits mehr als eine Million (1,112,476) Gallonen Erdöl aus dem Boden gewonnen. Ebenso schnell hatte man die Lampen, welche bisher für das dem Erdöl verwandte Schieferöl und Photogen im Gebrauch waren, zu größerer Vollkommenheit gebracht, so daß sich dieses ebenso schöne, wie billige Beleuchtungsmittel an allen Orten mit reißender Schnelligkeit Eingang verschafft hat. Als nun gar das Erdöl nebst den zugehörigen Lampen in ungeheuerer Menge nach Europa versandt wurde, erreichte schon die vierteljährige Ausbeute (Januar bis April 1862) dieselbe Höhe, wie die des ganzen vorigen Jahres. Waren ja doch bereits im Jahre 1861 32,000 Gallonen nach Bremen und 43,000 nach Hamburg versandt worden. Es giebt wohl kaum eine Stadt in Europa, in der nicht schon ein großer Theil der Bewohner die alten Lampen bei Seite gelegt und dafür die schönen und billigen Erdöllampen angeschafft hätte. Und in der That, zahlreiche und genaue Versuche, welche von den Gelehrten diesseits und jenseits des Oceans angestellt worden, haben unwiderleglich bewiesen, daß das Petroleum von allen bekannten Oelen im Verhältniß zu seiner Leuchtkraft das billigste ist. Selbst Photogen, welches eigentlich an Leuchtkraft das Erdöl übertrifft und bisher als das billigste Oel galt, ist um 20 Procent theurer, als dieses. Beträgt ja doch der Verbrauch in einer Stunde nur 19/100 Kreuzer, oder etwa ¾ Heller!
Das rohe Erdöl, wie es unmittelbar dem Boden entquillt, ist gelblich-grün, sehr leichtflüssig und leicht entzündlich. Dadurch aber, daß es mehrmals einer sorgfältigen Reinigung unterworfen wird, nimmt es eine fast wasserhelle Farbe mit einem Stich in’s Grauliche an und hat auch viel von seiner Entzündlichkeit verloren.
Die Warnungen, welche man wegen der Feuergefährlichkeit des Oels verbreitet hat, sind, wenigstens was das raffinirte betrifft, von allzu großem Eifer eingegeben. Freilich scheint der Erlaß der würtembergischen Regierung, welcher die größte Vorsicht anempfiehlt, dadurch an Bedeutung zu gewinnen, daß erst vor wenigen Wochen ein amerikanischer Dampfer, welcher Erdöl in großen Quantitäten führte, nahe am Gestade in Brand gerieth und einen furchtbaren Anblick darbot. Weithin verbreitete sich die flüssige Gluth über’s Meer, so daß der ganze Ocean zu brennen schien; doch aber ist das Petroleum nicht mehr und nicht weniger entzündlich, als das Schieferöl oder das Photogen, welches man doch so lange zur Beleuchtung gebraucht hat, ohne von dessen Feuergefährlichkeit besonderes Aufhebens zu machen. Das Erdöl entzündet sich durch Annähern eines brennenden Hölzchens oder Papiers bei gewöhnlicher Temperatur nicht, wohl aber, wenn es bis auf 50 Grad erhitzt worden; bei 54 Grad Wärme entzündet es sich schon, wenn das brennende Hölzchen noch ein Zoll von der Oberfläche entfernt ist.
Der Hauptfundort des amerikanischen Erdöls ist in Pennsylvanien längs den Ufern des sogenannten Oelbaches, welcher von Titusville nach der Bil-City in südlicher Richtung fließt und in den Alleghanyfluß mündet. Dieses Wasser ist ungefähr 100 Fuß breit und drei Fuß tief und durchläuft eine Strecke von 17 englischen Meilen. Auf beiden Seiten ist es von niedrigen Hügelreihen umschlossen, und auf den schmalen Wiesen, welche seine Ufer umgeben, sind die Brunnen angelegt, aus welchen das Oel theils von selbst ausfließt, theils durch Pumpen zu Tage gefördert wird. Die fließenden Brunnen sind bis zu einer Tiefe von 350 bis 500 Fuß gebohrt, und in der Kürze wird man noch viel tiefer in die Erde dringen.
Zahlreiche Raffiniranstalten sind rasch hinter einander in Venango, Erie, Cleveland und Pittsburg gegründet worden, und selbst das kühne Project, eine 40 Meilen lange Röhrenleitung bis Kiltanning herzustellen, von wo aus das Oel nach New-York geschafft werden soll, ist im Werden begriffen und sieht seiner raschen Vollendung entgegen.
Daß in Amerika das Erdöl jeden andern Leuchtstoff, mit Ausnahme des Gases, vollständig verdrängen muß, geht schon daraus hervor, daß der Preis für ein Pfund sich in New-York auf 1¾ Sgr. stellt. Auf welche Art das amerikanische Petroleum im Innern der Erde gebildet wird, darüber kann man allerdings bloß Hypothesen aufstellen, doch aber solche, welche einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit, ja Gewißheit in Anspruch nehmen dürfen.
Es giebt eine besondere Art Schiefer, die auch in Süddeutschland, namentlich zwischen Main und Rhein, in einer Ausdehnung von mehr als 60 Meilen vorkommt und wegen ihres übelen Geruches „bituminöser“ Schiefer genannt wird. Diese merkwürdige Felsart enthält eine ungeheuere Menge vorweltlicher Thiere, welche in ihr verwesen, eingeschlossen, so daß sie ganz mit Oel getränkt ist. Destillirt man diesen Schiefer, so erhält man ein Oel, das sogenannte Schieferöl, welches schon Jahre lang zur Beleuchtung gebraucht wird. Möglich also, daß an manchen Orten die innere Gluth der Erde diesen Destillationsproceß eines tiefliegenden Schiefers selbst übernimmt, wobei das entstehende Oel durch allerhand Canäle an die Oberfläche der Erde geführt wird.
Durch Auffindung dieses Petroleums ist die Frage der Beleuchtung in ein neues Stadium getreten und nimmt gegenwärtig das allgemeinste Interesse in Anspruch. Deshalb dürfte es an der Zeit sein, das ganze Beleuchtungswesen in seinen Grundzügen zu entwickeln und die wichtigsten und interessantesten Versuche in dieser Richtung einmal in der Kürze vor Augen zu führen. Wir kommen darauf später zurück.
Die Pflegerin Theodor Körner’s. Wir können heute unseren Lesern die interessante Mittheilung machen, daß die treue Pflegerin des muthigen Freiheitskämpfers jetzt noch und zwar in unserer unmittelbaren Nähe, in dem benachbarten Dorfe Groß-Zschocher, lebt. Es ist die neunundsiebzigjährige Wittwe Häusser, die Frau jenes barmherzigen Gärtners, der den verwundeten Körner im Walde aufsuchte und dort an der Eiche fand, unter deren Zweigen er sein schönes Abschiedslied dichtete. Die jetzt noch immer rüstige und muntere Frau, die dem schwer getroffenen Dichter damals die brennenden Wunden auswusch, seine Uniform vom Blute reinigte und ihn dann noch 10 bis 12 Tage unter banger Sorge pflegte, war es auch, die Körner’s Briefe – in dem Strumpfe versteckt – heimlich durch die vom Feinde besetzten Thore Leipzigs an den Kaufmann Kunze trug. Sie gerieth nach dem Tode ihres wackeren Mannes oft in große Bedrängnisse, aber keine Noth konnte sie dazu bewegen, den silbernen Becher, den ihr Körner aus Dankbarkeit verehrte und den sie jetzt noch besitzt, zu veräußern. Sie weiß heute noch viel aus jener Zeit zu erzählen und erinnert sich aller Einzelheiten jener Begebenheit mit treuem Gedächtniß.
Vielleicht wünschen einige der vielen Verehrer des Dichters der wackern Patriotin nachträglich noch ihre Anerkennung für ihre treue Pflege auszudrücken. Wir sind gern bereit, etwaige Zusendungen weiter zu befördern, und freuen uns, der braven Frau – wenn auch erst nach 50 Jahren – öffentlich den wärmsten Dank für ihre ebenso gefahrvolle, wie schöne That aussprechen zu können.
Aufgepaßt! Unter dem Titel: „Elekromotorische Fabrikate“ werden jetzt von den Apothekern Gebrüder Gehrig wieder einmal neue Heilapparate angezeigt. Diese Fabrikate bestehen für Erwachsene aus: Leibbinden à 2, 3, 4 Thlr., Cravatten und Shlipse à 1½, 1⅔, 2 Thlr., Einlagen dazu à 10 Sgr., Cravattenbänder für Damen à 15 und 17½ Sgr., Kopftücher à 11/6 Thlr., Fußsohlen à Paar 10 Sgr., Pulswärmer und Manschetten à 20 Sgr. und 11/6 Thlr., Rückenwärmer à 1½ Thlr., Brustwärmer à 1 Thlr., Unterjacken à 5½ Thlr. etc.; für Kinder: Zahnhalsbänder à 10 Sgr., Leibbinden à 1 und 2 Thlr. – und sollen helfen gegen die verschiedensten rheumatischen und gichtischen Leiden, Magenkrampf, habituelle Diarrhoe, Bleichsucht etc. Zahnkrämpfe der Kinder werden durch dieses Mittel augenblicklich beseitigt.
Unterzeichneter hält es für nothwendig, das Publicum vor diesem Schwindel (auch I. Classe!) zu warnen, und erlaubt sich, das Ergebniß, welches die Untersuchung eines elektromotorischen Zahnhalsbandes für Kinder ergab, mitzutheilen. Ein 8½ Zoll langer, 1¼ Zoll breiter zusammengenähter Sammtstreifen enthält – 2 etwas kürzere und schmälere Streifen Glanzkattun, welche mit Gummi bestrichen sind und zwischen welche circa ½ Gran Schwefelblumen (Flores Sulphuris) eingestreut ist. Ueberlegt man, daß von ordinärem Sammt die Viertelelle (1 Elle breit) 2½ Sgr. und von Schwefelblumen das Loth 4 Pfennige kostet, so wird man sich die Procente, welche für den Fabrikanten als Reinertrag abfallen, berechnen können, und zugleich wird die Ueberzeugung gewonnen werden müssen, daß ½ Gran Schwefel in Sammt eingenäht auf den Körper nicht mehr elektrisch einwirken kann als ein in der Tasche getragenes Büchschen mit Streichhölzern. Den Zeugnissen, welche die Verfertiger ihren Fabrikaten beilegen, präsidirt ein Attest von einem Dr. Hertwich, königl. Professor in Berlin, und eines Dr. Höltzel, Kreis-Physicus in Strasburg. Nehmen wir zur Ehre dieser Herren an, wenn sie überhaupt existiren und die betreffenden Atteste ausgestellt haben, daß sie nicht wußten, zu welchen Schwindelpreisen die Verfertiger ihre Präparate verkaufen, und möchten vorstehende Zeilen dazu beitragen, das Publicum auch vor diesen Mitteln, soweit sie nur dazu dienen, die Geldbeutel zu leeren, zu behüten.
S. in V. Wir müssen Sie auf Nr. 15 des Jahrgangs 1862 verweisen, worin der Klärungsapparat des Herrn Rawald in Freiburg a/U. ausführlich besprochen wird. Das unzulängliche chemische Klärverfahren, zeit- und geldraubend und meist die Substanz schwächend, wird durch das billige und schnelle Rawald’sche Klärmittel für immer beseitigt. Dieses Mittel besteht aus einem sinnreich construirten Apparat und einer besonders zubereiteten Klärmasse, und diesen beiden einfachen Factoren widersteht durchaus nichts Trübes in allen erdenklichen Flüssigkeiten. Wasser, Wein, Bier,Cider, Frucht- und Zuckersäfte, Spirituosen, Laugen, Oele und Essenzen, Farben, Wasserglas werden, und wenn sie noch so trüb sind, sofort glanzhell, ohne daß Farbe, Qualität oder Geschmack im Mindesten beeinträchtigt würden. Die Klärung erfolgt unmittelbar nach der Einfüllung in den Apparat. Dieser besteht aus einer dauerhaften steinartigen Masse, welche weder von Säuren, noch Temperaturwechsel angegriffen wird, nimmt wenig Raum ein und ist unmittelbar nacheinander für jede Flüssigkeit zu gebrauchen, unter Anwendung derselben Klärmasse, welche sich wenig abnutzt. Gleichzeitig dient dieses Verfahren auch zur Ausscheidung der noch nutzbaren Bestandtheile aus dem Waschwasser der Fabriken und der Hauswirthschaft und stellt sich somit als das sicherste, schnellste, zweckmäßigste und billigste Klärmittel dar, von Dr. Gall, Dr. Döbereiner und andern Autoritäten auf’s Wärmste empfohlen. Herr Rawald liefert den Apparat in verschiedener Größe für 3, 5 bis zu 20 Thaler, und es werden damit in der Stunde 30–60 Quart bis 4 Eimer geklärt.
- ↑ Siehe Lenau’s Leben von Anton Schurz.
- ↑ Sein erstes Gedicht mit dieser Namensunterschrift findet sich in weiland „Spindler’s Damenzeitung“ und trägt die Ueberschrift:„Glauben, Wissen, Handeln. Ein Allegorischer Traum.“
- ↑ Manger, ein von Friedrich dem Großen vielfach beschäftigter Baumeister, spricht sich darüber folgendermaßen aus (Manger’s Baugeschichte von Potsdam II. pag. 504): „König Friedrich II. hatte wohl anfänglich die Meinung nicht gehabt, nach seinem Tode in der Garnisonkirche aufbewahrt zu werden; denn Er hatte sich bereits bei der Anlage des Gartens Sanssouci 1744 auf der obern Terrasse neben dem Lustschlosse eine Ruhestätte von Klinkern (nicht von Marmor) wölben lassen, über welche die marmorne Flora von Adam 1749 gesetzt wurde, neben der seine Lieblingswindspiele, das letzte aber gar in diese Gruft begraben wurden. Jedoch es kann sein, daß er mit der Zeit seinen Entschluß änderte, oder daß man ihn zu befolgen nicht für nothwendig gehalten hat.“
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Octber