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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[657]
Blut um Blut
Eine oberbairische Geschichte.
Von Hermann Schmid.
(Fortsetzung.)


Adrian stand indessen schon lang am Schauerkreuz unter der großen Eiche und sah in den ungewöhnlich milden und heitern Abendhimmel hinaus. Ueber dem westlichen Walde lag eine breite blutrothe Wolke und nahm die Sonne früher als gewöhnlich hinweg; in der dürren Eiche rauschte es, als wie von durcheinander flüsternden Stimmen der Trauer, und das halbverwitterte Schauerkreuz sah finster in die aufsteigende Dämmerung hinein. Adrian schritt unruhig hin und her; unter der Eiche neben der Waldspitze saß Davidle. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, den Bruder zum Empfang der zärtlichen Pflegerin zu begleiten, der er rasch das ganze Kinderherz zugewendet hatte, und da der Abend so still, die Entfernung nach dem neuen Wohnorte nicht beträchtlich war, hatte Adrian seinen Bitten nicht widerstanden. „Kommt das Ameile noch nicht?“ fragte der Knabe wiederholt. „Siehst Du denn noch nichts von ihr?“

„Ich sehe nichts,“ erwiderte Adrian, „aber sie muß bald kommen; es wird eben doch einen harten Strauß absetzen, bis sie den Hof im Rücken hat. Vielleicht hab’ ich sie aber übersehen, und sie kommt schon in dem kleinen Hohlweg dort unter den Büschen herauf … Wenn’s so ist, will ich ihr all’s leichte Füß’ mache und will ihr Eins singe …“

An den grasigen Abhang vortretend begann er frisch und freudig …

„Sag’ was ist die schwerste Büß’?
Wenn vom Schatz man scheiden muß!
Sag’ was ist die größte Lust?
Wiedersehen, Brust an … “

„Es geht nit mit dem Singe’,“ sagte er abbrechend, „ich weiß selber nit, wie es ist, aber das lange Ausbleiben von dem Mädle macht mir ganz ernsthafte Gedanken … es will sich aach nit recht schicke, daß man neben dem alten ehrwürdigen Kreuz da Liebslieder singt …“

„Adrian, was ist das?“ rief der Blinde ängstlich. „Was rauscht so hinter mir im Gebüsch?“

„Was wird’s sein, Kleiner! Ein Haas, der sein Gelieger sucht … Halt Dich nur ruhig, Davidle. Es wird mir auf einmal so ängstig um’s Herz … es wird doch dem Ameile nichts zugestoßen sein … ich will ein Vaterunser beten …“

Er kniete auf den am Schauerkreuz angebrachten Betschemel nieder, stützte die Arme auf und sah in das geneigte Antlitz des Heilands am Kreuze empor. Auch der Kleine unter der Eiche faltete die Hände.

„Vater unser, der Du bist … betete Adrian, da krachte ein Schuß aus dem Gebüsche, und von der Seite mitten durch die Brust geschossen, sank er lautlos zusammen und überströmte die Fußbank des Betschemels mit seinem Blute.

„Adrian, Adrian, was ist das?“ rief der Blinde erschrocken.

„Wo bist Du, Adrian … gieb Antwort …“ Während er der Erwiderung entgegen lauschte, theilte sich neben ihm das Gebüsch, Melcher sah sich behutsam um und schlüpfte daraus hervor. Mit weiten, lautlosen Schritten langte er bei Adrian an, der eben den letzten Seufzer ausröchelte. „Der geht mir nicht mehr in’s Gau,“ sagte er über ihn gebeugt, „jetzt kann ihn das Ameile finden – droben am Schauerkreuz!“

Ebenso behutsam und rasch wollte, er wieder in das Gebüsch zurück, stieß aber auf den Blinden, der in seiner Herzensangst sich von der Eiche in der Richtung fortgetastet hatte, in der er zuvor Adrian’s Stimme vernommen. „Bist Du’s, Adrian?“ rief er, ihn am Arme ergreifend. „Warum erschreckst Du mich so und antwortest nicht?… Das ist nicht Adrian,“ schrie er angstvoll, als der Mann, den er gefaßt hielt, sich stumm aber gewaltsam loszumachen suchte. „Adrian, wo bist Du? Ist Dir ein Leid geschehn?“ Mit einer seine Jahre weit übersteigenden Kraft hielt er den Unbekannten am Handgelenke fest, und selbst als dieser ihn von sich schleuderte, erfaßte er noch dessen schwarzsammtne Jacke und ließ nicht eher los, bis sie zerriß. Mit einem Stücke derselben in der Hand sank er betäubt zu Boden.

– Sepp fuhr inzwischen lustig durch den Tannenwald dem Stürzerhofe zu. Er hatte den Tag vorher beim Landgericht mit dem alten Ueberrheiner den Kauf und mit seiner jungen Braut den Ehevertrag in Ordnung gebracht und diese heute nach ihrer Heimath zurückgeleitet. Davon kam er seelenvergnügt zurück und war tief in Gedanken und Plänen, wie er es einrichten wollte, wenn er nun Herr und Mayer auf dem ganzen stattlichen Stürzerhofe sein würde, als sich aus dem Straßengraben Melcher erhob und ihm zurief, ihn mit sich zu nehmen. Er trug jetzt eine braune Tuchjacke und hatte eine Waidtasche um, in die etwas Dunkles hineingestopft war.

„Hab’ mich also doch nit verrechnet,“ sagte er, „daß Du des Wegs kommen werdest… . Hab’ noch ein Bischen hinaus gewollt auf den Anstand,“ fuhr er fort, indem er sich neben Sepp auf den Sitz des Wägelchens schwang, „es ist aber nicht zu trauen heut’; der Forstner muß in der Revier sein, – hab’ erst vorhin einen Schuß fallen hören …“

[658] „Hast also gar nicht geschossen?“ fragte Sepp, der ihn etwas befremdet betrachtete und einen Seitenblick auf Gewehr und Ranzen warf, die Melcher auf dem Boden des Wägelchens im Stroh verbarg.

„Nein,“ erwiderte Melcher, „bin nit dazu gekommen … aber morgen wollen wir miteinander hinaus; ich weiß einen prächtigen Platz, wo uns sicher ein Bock anläuft …“

„Du kannst es thun, Melcher,“ sagte der junge Bauer, „aber ich geh nicht mehr mit. Ich hab’ mir’s vorgenommen, ich geb’ das Wildern auf – wegen dem Bissel Wildpret ist nicht der Mühe werth, daß ich mich der Gefahr aussetz’ … es schickt sich auch nicht mehr recht, wenn man heirathen soll!“

„Hab’ ich mir’s nicht gedacht,“ rief Melcher mit widrigem Lachen, „daß Du auch ein Duckmäuser wirst, wie ein Weib über Dich kommt! Wegen dem Wildpret ist’s freilich nicht der Mühe werth – aber das lustige Leben im Wald und daß man’s den hochmüthigen Jägern abgewinnen kann, ist das nichts? – Aber so geht’s, wenn man sich mit den Weibsleuten einläßt! Ich will d’rum von Keiner was wissen … Deine Schwester wär’ die Einzige gewesen, für die ich vielleicht auch zum Kreuz gekrochen wär! Mit der ist’s aus – also soll der Stutzen mein Schatz sein und bleiben!“

Jetzt rollte der Wagen aus dem Walde auf die Feldflur des Stürzerhofs; wenige Schritte seitwärts stand die Eiche mit dem Schauerkreuz. „Schau nur,“ rief Sepp die Pferde anhaltend, „was giebt’s denn da drüben? Es ist schon dämmrig … aber siehst Du nicht, daß Leute hin und wieder laufen und jammern … Häng’ die Gäul’ an den Zaun, Melcher, ich will hin, da ist ein Unglück geschehn …“

Er war rasch vom Wagen gesprungen und eilte dem Kreuze zu. „Jesus Christus,“ rief er schon von Weitem, „Schwester, bist Du’s? Was ist denn passirt?“ Er erhielt keine Antwort, aber er mußte sich zusammen nehmen, nicht umzusinken, als er das ganze Bild des Schreckens überschaute. Einer Wahnsinnigen gleich lief Annemarie hin und wieder und schrie um eine Hülfe, die längst überflüssig geworden war, dann warf sie sich wieder über den blutigen Leichnam, zerraufte sich das Haar und heulte verwirrte Gebete zu dem schweigenden Kreuzbilde empor. Der blinde Knabe saß daneben und schrie seinen thränenlosen Schmerz, daß es einen Stein erbarmen mochte, hinaus in die taub und stumm herabsinkende Nacht. „Adrian,“ schrie sie verzweifelnd, „Adrian – wach’ auf! Es kann nicht sein, daß Du todt bist … höre mich … ich bin’s! – Das Ameile ist da! … Helft, helft, um Gotteswillen helft … er wird ja schon ganz starr … Adrian, wach’ auf. … Es ist ja nicht möglich, daß Du … Du, der kein Kind beleidigt hat, so schrecklich zu Grund gehn sollst …“

Erschöpft blieb sie endlich auf dem Todten liegen. Im Gehöfte war man indessen auf das Rufen aufmerksam geworden, und die Dienstboten eilten mit Fackeln und Laternen herbei. „Bringt die Schwester heim,“ befahl ihnen Sepp, „lauft zum Bader und zum Vorsteher hinüber … das Bübel nehmt auch mit auf den Hof; – der alte Ueberrheiner erfährt’s immer noch früh genug. Macht ein Feuer an … ich und der Melcher wollen den Todten hüten, bis die Gerichtsleute kommen. …“

Sie gingen; bald war es grabesstill um den Todten und seine Wächter; nur das Feuer knisterte und warf seinen rothen Schein über den blutigen Grund. Sepp saß auf der Fußbank des Betschemels, Melcher hatte sich unter das finstere Laubdach der Eiche zurückgezogen.

Es fing leicht und naß zu schneien an.

„Da hilft unser Herrgott auch wieder einem Spitzbuben durch,“ rief Melcher aus dem Dunkel herüber. „Bis morgen ist Alles verschneit und keine Spur zu finden, wer dem armen Rheinschnacken das Lebenslicht ausgeblasen hat …“

„Schweigend stand Sepp auf, trat zu dem Knecht und führte ihn am Arm aus dem Schattenkreise des Baumes an das Feuer neben den Todten, auf dessen Gesicht die Schatten und Lichter wie gespenstisches Leben zuckten. „Schau den Todten an,“ sagte er, „den hat kein anderer Mensch auf dem Gewissen, als Du!“

„Ich glaub’, Du schnappst über!“ rief Melcher, indem er heftig dessen Arm zurückschleuderte.

„Ich bleib’ dabei,“ fuhr der Andere fort. „Ich hab’s vorhin wohl bemerkt. Dein Gewehr ist frisch abgeschossen und brandig …

Warum hast Du mir’s geleugnet, wenn Du nichts zu verbergen hast?“

„Das ist ja wunderschön!“ rief Melcher wild. „Sei so gut und bring’ Deinen besten Freund in’s Gered’ wegen nichts und wider nichts! Ich hab’ nit geschossen, sag’ ich Dir … und wer dem Adrian Eins hinauf gebrannt hat, ist nit schwer zu errathen, … mein’ ich Der Forstner hat’s gethan … er hat ihn für den Unrechten gehalten; der Schuß ist Einem von uns Beiden vermeint gewesen!“

„Nein, nein, Du hast es gethan, Melcher … Du hast ihn weggeschafft, weil er Dir im Weg war bei meiner Schwester …

Tritt hin zu ihm, leg’ ihm die Hand auf die Wunden und sag’s, wenn Du kannst, daß sie nit von Dir sind!“

„Laß mich mit Deinen Faxen in Ruh’! Ist das wohl der Dank für die lange und treue Cameradschaft? Lauf’ hin auf’s Landgericht, Du Narr, und bring’ mich in’s Unglück … aber sei nur gewiß, daß ich unsre Stückeln auch erzähl’ … und wenn ich zum Weveld muß, geht der Stürzerbauernsohn mit mir!“

„Ich geh’ nicht zum Gericht,“ sagte Sepp nach einigem Schweigen und klemmte die Lippen übereinander … „ich weiß leider Gott, daß ich an Dich gebunden bin … es thät’ auch den armen Burschen nit wieder lebendig machen … aber Eins merk’ Dir, Melcher! – Wenn Du etwa noch an meine Schwester denkst und meinst, Du wolltest Dich wieder an sie machen … das schlag’ Dir aus dem Sinn … es ist mir leid genug, daß ich in der Gemeinschaft sein muß mit einem Wilddieb, aber einen Mordschützen will ich nit zum Schwager!“

„Will mir’s merken!“ rief Melcher höhnisch. „Und wenn’s mir etwa nit behagen thät, was der gestrenge Herr anschafft?“

„… Dann geh’ ich zum Landrichter und sag’ Alles, was ich weiß … und wenn’s mich meinen eigenen Kopf kosten sollt’!“

Die herbeieilenden Bewohner der Umgegend trennten Beide. Melcher ging auf den Hof und anscheinend ganz ruhig in seine Kammer im Pferdestall. In der Nacht aber stand er geräuschlos auf und kroch über den ihm wohlbekannten Heuboden bis unter’s Dach. Dort versteckte er die aus der Waidtasche genommene Jacke, die er getragen, unter den Sparren und Steinen. „Es ist doch gut gewesen,“ sagte er für sich, „daß ich nicht meinen eigenen Janker angezogen hab’ … der Blinde hat gehalten, als wie mit Klammern … ich spür’ seine Finger noch am Gelenk. … Da kann der alte Fetzen liegen, da sucht ihn Niemand … und wer kann wissen, wozu er noch zu brauchen ist? …“

– Der Frühling war herangekommen, als Annemarie sich von dem tödtlichen Fieber, in das sie vom ersten Schmerz verfallen war, völlig erholt hatte und das Bett wieder verließ. Sie war wieder gesund und kräftig; sogar die Blüthe ihrer Schönheit begann wieder sich zu entfalten, aber jeder Zug von Milde, jeder Schimmer des Frohsinns war auf immer von dem versteinerten Antlitz gewichen. Jetzt hatte die wilde Natur des Vaters in ihr gesiegt; finster und ohne Worte ging sie wie früher der Besorgung des Haushalts auch, denn wegen der ungewöhnlichen Ereignisse und wegen ihrer Krankheit war die Hochzeit des Bruders bis zum Frühjahr aufgeschoben worden. Noch stand daher die Breterabtheilung im Haus und Garten, denn sie sollte feierlich erst mit der feierlichen Gutsübernahme fallen, und wenn Adrian zurückgekommen wäre und hätte über die Planke geschaut, er hätte sein liebes, gutes, herziges Ameile nicht wieder erkannt! – Wenn sie jetzt durch den Garten ging, hatte sie keinen anderen Gedanken als Vergeltung, keinen anderen Wunsch, als Rache. So oft sie konnte, war sie daher bei Gericht, um sich nach dem Gang der Untersuchung zu erkundigen, aber dieselbe blieb ohne Erfolg. Der in der Hand des Blinden zurückgebliebene Sammtfetzen war das einzige Beweisstück; die Auffindung anderer Spuren hatte, wie Melcher gehofft, der gefallene tiefe Schnee verhindert. Umsonst wurde überall nach dem Kleidungsstücke gespürt, das zu dem Lappen paßte, und der Criminalrichter mußte bald seine vergebliche Thätigkeit einstellen. Annemarie wurde darüber von unsäglicher Verachtung über das Treiben weltlicher Gerechtigkeit erfüllt; das unschuldige Blut durfte nicht ungerächt bleiben, und sie hielt es nun für unantastbares Recht, für ihre heilige Pflicht, den Thäter zu ermitteln und selbst die Rache an ihm zu vollziehen. Oft saß sie stundenlang am Fenster neben dem Nelkenstock, der eben anfing, frische Blätter zu treiben, las in der Bibel, die sie aus Adrian’s Rücklaß erhalten hatte, und brütete über dem furchtbaren „Aug’ um Auge, Zahn um [659] Zahn, Blut um Blut“. Am liebsten aber war sie außer dem Hause und trieb sich, wenn sie konnte, halbe Tage lang bei dem Schauerkreuz an der Eiche herum. Sie weinte nicht, dazu war sie zu hart geworden; sie betete nicht, denn wie die Menschen war der Himmel taub geblieben für all’ die Verwünschungen und Flüche, womit sie ihn bestürmt hatte – sie brütete, grollte und wühlte in sich hinein in den Untiefen ihres Jammers.

Eines Tages saß sie wieder auf der Fußbank des Betschemels und starrte in das frische Gras nieder, als könne sie nicht fassen, wie der Boden zu grünen vermöge, der Adrian’s reines Blut getrunken … da fuhr sie auf, denn es rauschte im Gebüsch und neben ihr stand Melcher, im Feiertagsgewand, Bündel und Stock in der Hand.

„Du bist’s?“ fragte sie. „Was willst von mir?“

„Abschied nehmen,“ erwiderte er, „der Bauer hat mich heut’ ausgezahlt – ich muß gehen … und Du wirst mich auch nicht halten …“

Sie lächelte höhnisch. „Ich hätt’ Dich wohl noch früher weiter geschickt,“ sagte sie, „wundert mich nur, daß der Bruder sich doch einmal das Herz dazu genommen hat!“

„Das Herz genommen? Wie ist das gemeint?“

„Weil Du ihn in der Hand hast, mein’ ich! … Er muß Dir viel gegeben haben, wenn Du ihm Schweigen versprochen hast?“

„Er hat mir nichts zu geben gebraucht; er weiß eh’, daß ich dem Bruder von Dir nichts zu Leid thu’, – daß ich Dich dazu viel zu gern hab’ …“

Annemarie lachte verächtlich auf und wandte ihm den Rücken; er ließ sich davon nicht abschrecken. „Solltest Dich doch besinnen,“ sagte er, „und einmal aufhören mit Deiner Kümmerniß … es ist schad’ um Dich …“

„Und den da war auch schad’,“ rief sie bitter, indem sie auf Adrian’s Todesstelle deutete. „Wer fragt jetzt darnach? Nicht einmal das Gericht thut seine Schuldigkeit … d’rum muß ich auf den Todten denken und sorgen, daß ihm sein Recht wird …“

„Und was hast davon?“

„Was ich davon hab’?“ rief sie hohl und vor sich hinstierend.

„Nichts! Den armen Adrian bringt’s nimmer in’s Leben … aber mir selber ist das Herz wie versteinert … Wenn ich den elenden Böswicht, der ihn erschossen hat, auch so liegen sehen thät … in seinem Blut, wie er gelegen ist … ich glaub’ dann wär’ mir wieder wohl … dann ging mir auch das Herz wieder auf …“

„Wie wild Du darein schaust,“ sagte Melcher, sie beinahe scheu betrachtend… „völlig zum Fürchten! … Aber wenn das geschehen thät’, was Du sagst … wenn’s dennoch Einen gäb’, der das ausführt, was dann?“

„Melcher!“ schrie sie aufspringend und faßte ihn hart an der Brust. „Was willst damit sagen? … Ich seh’ Dir’s am Gesicht an, Du weißt, wer den Adrian erschossen hat!“

„… Und wenn ich’s wüßt’?“

„Du weißt es – und hast es nit gesagt?“

„Weil ich’s nit sagen darf … aber ich weiß es, so gewiß als ich selber vor Dir steh’ …!“

„Ich will’s nit wissen, wer’s ist, Melcher!“ rief sie außer sich. „Behalt’s für Dich, aber wenn das geschieht, was ich gesagt hab’ … wenn Du das zu Stand bringst . .. dann komm und verlang’, was Du willst!“

„… Und wenn ich Dich selber verlang’? Wenn ich sagen that’ … komm und werd’ mein Weib?“

Annemarie’s Busen flog fieberisch; sie kämpfte eine Regung des Abscheus nieder. „Melcher,“ stieß sie fast athemlos hervor … „ich weiß nimmer, was das heißt, einen Menschen gern haben … es ist Dein und mein Unglück, Melcher, wenn Du das verlangst. … Aber wenn Du mich daher führen kannst, da auf diesen Platz, wo mein Adrian gelegen ist … wenn Du mir seinen Mörder zeigen kannst, daß er in seinem Blute daliegt, wie mein Adrian gelegen ist … dann … dann will ich Dein Weib werden, Melcher … so wahr unser Herr da über uns am Kreuz hängt …!“

„Es gilt,“ rief Melcher, „kannst einstweilen die Trauring’ bestellen!“ und verschwand im Gebüsch.

– Wenige Tage später hatte Annemarie Abends lange vergeblich auf die Rückkehr des Bruders gewartet. Noch spät war ein Forstknecht gekommen und hatte ihn hinaus in’s Holz gerufen, weil der Revierförster noch mit ihm über Anweisung des neuen Schlags sich besprechen wolle. Als er nicht kam, mußte ein Knecht in der Stube aufbleiben und ihn erwarten; sie selber ging in ihre Kammer, zündete den Wachsstock an und blätterte bei dem schwachen Schein in der alten Bibel … Die Worte „Aug’ um Aug’ und Blut um Blut“ fielen ihr immer wieder in’s Auge; sie schienen sich zu bewegen, größer zu werden und wie in rothem Scheine zu glänzen. Leises Pochen schreckte sie empor, und als sie aufsah, leuchteten Melcher’s Augen unheimlich durch die Scheiben. „Ich habe Wort gehalten, Mirl,“ rief er, „draußen am Schauerkreuz liegt, der den Adrian erschossen hat …“ Eine wilde Freude loderte in ihr auf, und doch packte sie zugleich ein kalter Schauder mit eisigen Klauen an; sie wollte hinaus und brach doch wie ohnmächtig neben dem Bette zusammen.

Wild durcheinander schreiende Stimmen und rother Fackelschein drangen in’s Gemach, als sie wieder zu sich kam. Es waren die Knechte des Hofs, die mit Fackeln auszogen. „Was ist’s denn?“ rief die eine Stimme, und eine andere erwiderte: „Mach’ nur, daß Du nachkommst – draußen am Schauerkreuz liegt schon wieder Einer erschossen …“ Der Lärm verhallte … Annemarie raffte sich auf und eilte in die Nacht hinaus dem finster empor ragenden Eichbaume zu. Jetzt stand sie neben dem Todten … er lag auf dem Betschemel, wie Adrian gelegen war … jetzt blickte sie in dessen Antlitz und taumelte wie vom Blitz getroffen zurück, als die entstellten Züge des Bruders ihr entgegen starrten. Sie hatte kein Wort, sie vergoß keine Thräne … sie war starr vor Entsetzen.

Mit dem Todten beschäftigt achtete Niemand auf sie; da schlich Melcher heran, der wieder wie am Martinstage zurückgezogen im Eichenschatten stand. „Ich hab’ Wort gehalten …“ flüsterte er, „Wie sieht’s aus? Wann soll die Hochzeit fein?“

„Melcher, Du lügst!“ erwiderte sie mit bebender Stimme …

„Du mußt lügen! Mein Bruder kann kein solches Ungeheuer gewesen sein …“

„Ich komme morgen zu Dir auf den Stürzerhof … Denkst noch an das Stück Zeug, das der Blinde gepackt hat? … Ich will Dir den Ort zeigen, wo der Sepp den Janker versteckt hat, den er angehabt hat … Du sollst selber sagen, ob er ihm nicht gehört und ob der Fetzen nicht dazu paßt … “

„Dann ist er ein Teufel gewesen,“ sagte sie mit dämonisch funkelnden Augen … „dann ist ihm sein Recht geschehn! Blut um Blut – ich hab’s geschworen, Melcher … da hast meine Hand, ich halt’ mein Wort!“




3.


Auf dem Freithofe der Kirche, zu welcher der Stürzerhof eingepfarrt war, hatte schon langes Gras die frischen Gräber überwachsen, der Löwenzahn wiegte ungestört seine goldenen Blumen, und der Flieder breitete die schwarzen Beeren-Dolden über die hohe verbröckelnde Mauer, die den Ort der Ruhe umgiebt. Wenige Schritte von der niedrigen, rothangestrichenen Eingangsthüre und neben dem eisernen Gitter, das am Boden hohl liegend angebracht ist, stand auf niedrigem Sandsteinsockel ein schweres eisernes Kreuz mir vergoldeten Enden, allerlei Zierrathen und Blumenwerk, in der Mitte ein kleines Gemälde, auf welchem der „ehr und tugendsame Jüngling Joseph Stürzer“ knieend und mit dem Rosenkranz in den gefalteten Händen abgebildet war, über dem Kopfe ein rothes Kreuz, anzeigend, daß er gewaltsamen Todes gestorben. Rings herum waren die Gräber der eingeborenen Geschlechter der Bauern und Söldner, wie sie seit vielen Jahrzehnten sich auf den Gütern erhalten und fortgepflanzt hatten.

Weit davon entfernt, hinter der Kirche und an einem fast abgelegenen Orte war Adrian’s Grab. Die fremden Ueberrheiner hatten noch wenige der Ihrigen begraben und mußten mit dem Winkel vorlieb nehmen, dessen die Eingeborenen nicht bedurften, unfern der Abtheilung, die für die totgeborenen und ungetauften Kinder bestimmt ist. Dort verkündete eine hölzerne Tafel an der Wand, daß der Hügel zu ihren Füßen sich über dem armen Pfälzer-Jüngling wölbte. Alle Grabkreuze des Friedhofs aber sahen vernachlässigt gegen diese Tafel aus, und während an Einzelnen darunter nur noch ein dürrer und vergilbter Kranz hing, der vom Allerseelentage herstammte und der Auswechslung bei der Wiederkehr des Festes entgegensah, war um dieselbe ein Gewinde von grünem Buchs gezogen, und aus dem Hügelgrase blickte ein frischer Kranz von rothen und blauen Kornblumen mit Eichenlaub durchflochten.

[660] Es war einsam und stille auf dem Friedhofe; nur eine wanderbereite Schwalbe schwirrte manchmal aus den Schalllöchern des Thurms, oder eine Eidechse schlüpfte zu den Schädeln und Knochen durch das Gitter des Beinhauses, über welchem Christus am Oelberg mit den schlafenden Jüngern in lebensgroßer buntbemalter Steingruppe angebracht war. Unbeweglich wie diese Gestalten kniete eine steinalte Bauersfrau auf der Bank davor und ließ als einziges Lebenszeichen manchmal eine Perle ihres Rosenkranzes niedergleiten.

Die Alte war so in ihr Gebet versunken, daß sie es kaum gewahr wurde, als der eiserne Drücker der Freithofthüre sich öffnete und Annemarie, in tiefe Trauer gekleidet, eintrat. Todesbleich schritt sie an dem Grabe des Bruders vorüber und schlug die Augen zu Boden, um dessen Grabkreuz nicht zu erblicken; ihr Herz war mit dem Mörder Adrian’s noch nicht versöhnt, wenn auch ihrer Rache genug geschehen war. Als sie den Hügel des Geliebten erblickte, überkam sie ein krampfhaftes Zittern, sie vermochte kaum den frischen Kranz, den sie mitgebracht, unter der Holztafel aufzuhängen. Er war reich und voll aus den Purpurnelken gebunden, die im Fenster des Stürzerhofs brannten, und die Trauernde schien den ganzen Stock bis an die Wurzeln beschnitten zu haben. Zusammenbrechend sank sie in die Kniee, beugte sich über den Hügel und barg den glühend heißen Kopf in dem kühlenden Grase. Bei dem Zustande steter Abspannung und Ueberreizung, in welchem sie dahin lebte, war es nicht zu verwundern, daß ihre Seufzer nach und nach in Worte übergingen und sie mit dem Begrabenen ein leidenschaftliches Gespräch begann. „Du weißt, warum ich da bin,“ flüsterte sie, „Dir brauch’ ich nit erst zu sagen, was ich ausgestanden hab’ die ganze schrecklich lange Zeit, seit Du mich verlassen hast … Dein armselig’s Ameile soll Abschied von Dir nehmen … Aber ich thu’s nit, Adrian, ich thu’s nit! Ich bleib’ bei Dir mit Herz und Sinn … ach, warum lieg’ ich nit neben Dir da drunten … warum hast Du mir nit die Lieb’ gethan und hast mich nachgeholt? … Bet’ wenigstens droben für mich … Du bist ja längst ein reiner Engel im Himmel; bet für mich, daß ich aushalten kann, was noch kommt … daß ich wenigstens wieder weinen kann … ich muß sonst verbrennen von inwendig heraus! Erbitt’ mir’s bei den heiligen Engeln, bei denen Du bist, daß ich bald erlöst und ausgespannt werd’ … und zu Dir komm!“

Lange mattete und rang sie sich ab in vergeblicher Qual; ohne Trost war sie gekommen, ohne Trost ging sie wieder – ihr Inneres war wie ein gluthversengtes Land, in dem kein belebendes Grün zu wurzeln und zu keimen vermag. Verwundert hatte die Alte am Oelberg ihrem Treiben zugesehen und sah ihr kopfschüttelnd nach. „Das ist ein g’spaßiges Leut, die Stürzerbauern-Mirl … sie sieht völlig darein, wie geschreckt!“

Wenige Tage später ging es desto lauter und lebhafter auf dem stillen Kirchhofe zu. Ein Hochzeitszug schritt aus dem Kirchenportale; die Musikanten bliesen und trompeteten, die Böller krachten, und der weißgraue Pulverdampf wölbte sich in den glänzend blauen Septembertag empor, als wetteiferten sie, das Freudenfest zu verkünden, das da begangen werden sollte.

Der alte Stürzer kam auch hinter den Musikanten und dem Hochzeitlader mit einem Antlitz dahergeschritten, das von Freude strahlte, so weit ein solcher Ausdruck in den strengen Zügen sich auszuprägen vermochte. Mit der freudigen Miene stand aber die Haltung des Körpers in Widerspruch, denn der hohe Mann hatte Mühe sich aufrecht zu halten, und es war keineswegs zum Schein, daß er der neben ihm schreitenden Ehrenmutter den Arm gegeben hatte, denn er bedurfte Führer und Stütze, wenn das Herzdrücken kam und ihm die Kniee zittern machte. Das Siechthum war nicht wieder von ihm gewichen, und der Tod des einzigen Sohnes hatte die letzte Kraft des Widerstandes gegen dasselbe gebrochen. Er war nahe daran gewesen, der Gewalt dieses Stoßes zu erliegen, aber die Zähigkeit seiner Eigensucht überdauerte ihn: war auch die Hoffnung verloren, den vereinigten Stürzerhof in seinem Hause und mit seinem Namen zu vererben, so blieb ihm doch noch die Aussicht, Annemarie auf das Gut zu verheirathen … der Stürzerhof war doch wieder ganz, und das Gut selbst, der ganze Hof war es ja, was ihm von jeher am Herzen gelegen, mehr als die eigenen Kinder.

Nach ihm kamen die Brautführer, die Beiständer und Kränzeljungfern, dann das Brautpaar und dahinter der nicht enden wollende Zug der Gäste. Der Bräutigam bot einen stattlichen Anblick dar; trotz des unkleidsamen langen Rocks trat das kräftige Ebenmaß seines Körpers hervor, und wer ihn so durch die Reihen der neugierigen Dorfbewohner fest und mit lächelndem Angesicht dahin schreiten sah, ahnte nicht, welche Schauer ihm das Herz zusammenschraubten, als er zwischen den Gräbern derer dahin ging, die er kaltblütig geopfert hatte, um die Hand fassen zu können, die nun am Altare in seine blutbefleckte gelegt worden war.

Die Braut gab sich nicht die Mühe, anders auszusehen, als es ihr um’s Herz war; sie war schön, aber die Schönheit hatte etwas Unheimliches, und der fahlgrüne bräutliche Rosmarin-Zweig in dem dunklen Haare stand zu dem bleichen Gesicht, wie ein Todtenkränzchen; sie durfte nur die Augen schließen, um einer Gestorbenen zu gleichen.

Unter Musik, Schießen, Jauchzen und Hüteschwenken bewegte sich der Zug dem Wirthshause zu, an dessen Thüre eine grüne Ehrenpforte aus Tannenzweigen, mit bunten Streifen umwickelt, emporstieg, während oberhalb ein riesiges „Vivat“ angebracht war, aus aneinandergereihten purpurrothen Vogelbeeren geformt. Dort hatte sich die ganze Einwohnerschaft des Dorfs versammelt, die nicht zu den Gästen gehörte; auch die alte Beterin vom Oelberge war darunter. „Gott soll mich behüten,“ flüsterte sie einer Nachbarin zu, „daß ich einem Christenmenschen was Uebles wünsche. … aber das ist eine traurige Hochzeit! Da wird nit viel Gutes herauskommen … schaut nur die Braut an, ob sie nicht wie tiefsinnig ist!“

„Sie ist halt ernsthaft,“ erwiderte die Nachbarin, „das bedeutet einen guten Ehstand. Heißt es nicht: „Eine traurige Braut, eine lustige Frau“?“

„Sagt das nicht, Nachbarin,“ murmelte die Alte wieder, „Ihr werdet auf meine Worte kommen! Ich versteh’ mich auf solche Sachen! Ich bin bei der Copulation nahe am Altar gestanden und hab’ es gut geseh’n, wie die Kerzen so unruhig gebrannt und hin und wieder geflackert haben, und hat sich doch kein Lüftchen geregt in der Kirche … Glaubt mir, das bedeutet Unfrieden in der Ehe!“

Das Mahl im Wirthshause hatte indeß bereits begonnen und nahm den gewohnten Verlauf mit den Tänzen zwischen den einzelnen Richten (Gerichten) bis zum unerläßlichen Ehrenkraut, zum Abdanken und Weisat; allein so reichlich die Geschenke der Gäste ausfielen, so sehr der Hochzeitlader sich anstrengte und die besten seiner Sprüche auskramte, wie sie sich für eine so „große Hochzeit“ gebührten, es gelang ihm nicht, Annemarie’s herbgeschlossenem Munde ein schwaches Lächeln abzugewinnen. Desto lauter lärmte und lachte der alte Stürzerbauer, und sprach dem Bierkruge wie den Weinflaschen so weidlich zu, daß er wie der munterste Bauernbursche zu singen anfing. „Hui!“ schrie er, und schlug auf den Tisch, daß die Gläser tanzten und klirrten, „ich werd’ völlig wieder jung! Der ganze Hof macht mich wieder zu einem ganzen Mann – ich könnt’ mich selber nochmal copuliren lassen! Und auch das Herzdrücken ist weg, als wenn’s nie dagewesen wäre!“

Er hielt Annemarie sein Glas hin, um anzustoßen, aber sie weigerte sich, in dem rothen Weine Bescheid zu thun, der sie wie Blut gemahnte; sie schützte Unwohlsein vor und trank nur Wasser. „Aber mir wirst doch Bescheid thun?“ fragte sie Melcher, der, um sich zu beruhigen und zu betäuben, ebenfalls den Wein nicht schonte. „Jetzt sind wir Mann und Frau – jetzt wirst doch einmal anfangen und wirst mir ein freundliches Gesicht machen? … Oder muß ich einen andern Namen nennen, daß Du’s kannst? Muß ich Ameile zu Dir sagen?“

Er hatte die Worte in seiner Weinlaune noch kaum ausgesprochen, als ihn aus Annemarie’s Augen ein Blick traf, der ihm wie ein Blitz in die Seele fuhr. „Nenn’ mir den Namen nicht wieder!“ stammelte sie mit mühsam unterdrückter Stimme. „Ich hab’ Dir versprochen, Dein Weib zu werden … Das hab’ ich gehalten … jetzt sind wir Zwei fertig miteinander! Nenn’ mir den Namen nit wieder … ich kann ihn nit hören aus einem solchen Mund!“

Sie stieß den Stuhl zurück, gab gesteigertes Uebelbefinden vor und eilte aus dem Saale.



(Schluß folgt.)
[661]

Fanny Lewald.

Es ist schön zu sehen, daß einem Menschen, der
mit festem Willen und reiner Ueberzeugung seinen
eigenen Weg geht, eben fast Alles möglich ist.
 Fanny Lewald, England und Schottland.
 I. Band, Seite 523.


Als ich, um die folgende Skizze zu schreiben, die Werke Fanny Lewald’s wieder einmal durchblätterte, traf ich zufällig auch auf die Stelle, welche ich oben ausgeschrieben habe, und indem ich sie las, sagte ich zu mir: das paßt wahrlich auf Niemand in der Welt besser, als auf Fanny Lewald selbst. In der That, wenn man den Lebenslauf der Dichterin zurückgeht, wie sie aus der quetschenden Enge des Familienlebens sich heraushebt zu umfassendster Bildung, zu hoher moralischer und intellectueller Freiheit, schließlich zu einer glücklichen socialen Stellung, in welcher ihr schönes Talent sich auf’s Reichste entfalten und die herrlichsten Früchte zeitigen konnte, und man nun der Empfindung, die ein so siegreicher Kampf gegen Vorurtheile der verschiedensten Art in dem Gemüth des Betrachtenden hervorruft, Ausdruck geben will, so muß man sagen: „Es ist schön zu sehen, daß einem Menschen, der mit festem Willen und reiner Ueberzeugung seinen eigenen Weg geht, eben fast Alles möglich ist.“

Fanny Lewald hat ihr Leben bis zu dem Punkte, wo ihre Schriftstellerlaufbahn eigentlich beginnt, selbst beschrieben, und da es hier nur meine Aufgabe sein kann, zu dem wohlgelungenen Portrait der Dichterin, das dieses Blatt schmückt, ein Bild ihrer geistigen Individualität und ihres künstlerischen Wirkens zu entwerfen, so muß ich den Leser auf diese Autobiographie verweisen und thue das mit um so besserem Gewissen, als das Buch eins der anmuthigsten, interessantesten und lehrreichsten ist, die unsere Memoiren-Literatur aufzuweisen hat. Nur ein paar Momente will ich hervorheben, die mir von bestimmender Wichtigkeit für die Artung, Entwickelung und definitive Gestaltung ihres Wesens zu sein scheinen. Fanny Lewald ist im Jahre 1811 von jüdischen Eltern in Königsberg geboren, als das älteste einer zahlreichen Kinderschaar, die sie heraufwachsen sah und zum Theil selbst mit erziehen half, um so mehr als die Vermögensverhältnisse der Familie niemals über eine aurea mediocritas (goldene Mittelmäßigkeit) hinausgingen, sodaß die energische Mithülfe der erwachseneren Kinder in dem großen Hausstande nicht wohl zu entrathen war.

In der That ist es mir mehr als wahrscheinlich, daß Fanny Lewald alle Ursache hat, sich zu ihrer Geburt in der Stadt, in welcher die „Kritik der reinen Vernunft“ geschrieben wurde, Glück zu wünschen. Zwar war der geistige Aufschwung, wie er zur Zeit der achtziger und neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts eben durch Kant und jene andern ausgezeichneten Männer, von denen ich nur Hippel und Hamann nennen will, dort stattgehabt hatte, nicht auf seiner Höhe geblieben; aber die Wirkungen dieser glänzenden Epoche waren für Königsberg doch keineswegs verloren gegangen, und Fanny Lewald hat die mit politischen und philosophisch-religiösen Bildungselementen reichlich gesättigte geistige Strömung in einem Alter jugendlich leidenschaftlicher Receptivität auf sich wirken lassen können und auf sich wirken lassen. Der Kopf, von dem der alte Dinter einst in der Schulstube sagte, daß „er besser auf dem Körper eines Knaben gesessen hätte,“ konnte nicht wohl anders, als an der Gedankenarbeit der Männer Theil nehmen, „wenn um die Kräfte, die des Menschen Brust so freundlich und so fürchterlich bewegen, mit Grazie die Rednerlippe spielt,“ und das Glück wollte, daß außer einem höchst intelligenten Vater und strebsamen Brüdern Männer [662] wie Ludwig Crelinger, Johann Jakoby, Heinrich Simon von Breslau direct oder indirect Einfluß auf ihre Bildung übten. Heinrich Simon war ihr Vetter, und das junge Mädchen hegte Jahre lang eine leidenschaftliche Liebe zu diesem herrlichen Menschen, der, wenn Einer, des Vaterlandes Wohl und Weh in treuem Herzen trug.

Mit dem aber, was man liebt, ist man schon von Natur ähnlich, oder wird ihm ähnlich; eine Frau kann in einem Patrioten nicht ihr Ideal sehen, ohne selbst eine Patriotin zu werden. Und das ist Fanny Lewald. Sie ist nicht blos weit über das gewöhnliche Maß der Frauen hinaus (was am Ende nicht so viel sagen will) mit dem praktisch-politischen Sinn begabt, sondern auch vor sehr vielen Männern, die sich mit Emphase als Politiker von Fach bezeichnen. Gewisse Axiome, welche auch sonst leidlich gute Köpfe bis an ihr Lebensende nicht begreifen können, scheinen a priori in dem Verstande dieser Frau zu liegen. Schon in ihren ersten Büchern spricht sie mit einer Entschiedenheit, welche eine Folge innigster Ueberzeugung ist, von der Nothwendigkeit socialer Reformen, die mit den politischen Hand in Hand gehen müssen. Es ist ihr von vornherein wie ein mathematischer Grundsatz, der nicht weiter bewiesen zu werden braucht, klar, daß die Freiheit nicht in Hütten blühen kann, in denen Schmutz und Elend hausen. Und wie trifft sie in ihren politischen Apercus den Nagel auf den Kopf! Am 22. März 1848, vier Tage nach der Berliner Revolution, in dem Augenblicke, wo die ersten bestimmten Nachrichten nach Paris gelangten, schreibt sie von dort: „Es giebt gewisse Dinge, welche Volk und König einander nie verzeihen, nie vergessen können. Eine wirkliche Aussöhnung zwischen unserem mittelalterlich-romantischen Könige und der Idee der Volksfreiheit ist so unmöglich, wie die Herstellung einer innerlich zerstörten Ehe. Ein Volk soll aber kein Scheindasein führen.“ Und als sie Anfang April desselben Jahres, als der Vertrauensrausch noch so ziemlich alle Köpfe umnebelt hielt, nach Berlin zurückkehrte, fällt ihr der Mangel an Freudigkeit, der fehlende Schwung des Enthusiasmus, den sie überall wahrnimmt, schwer auf’s Herz. „Weder ein Volksgesang, wie das: Mourir pour la patrie! noch ein Zuruf, wie das jubelnde: Vive la république! Wir haben keinen deutschen Volksgesang, und: es lebe der überwundene Absolutismus! (denn weiter halten wir ja noch nicht) kann man eben nicht rufen.“ Ist es nicht prachtvoll, dies Wort von dem überwundenen Absolutismus, den man doch am Ende nicht leben lassen kann? Man sollte es allen Gothanern damaliger und jetziger Zeit in’s Stammbuch schreiben!

Ich habe es oben der Dichterin für einen glücklichen Zufall angerechnet, daß sie in Königsberg eine politisch nicht ganz stagnirende Luft athmen durfte, und ich hätte nicht übel Lust, ihr zu gratuliren, daß sie im Schooße einer jüdischen Familie geboren wurde. Jedenfalls hat sie so die Freiheitsliebe oder, negativ ausgedrückt, den Haß gegen alles Vorurtheil, gegen alle Unterdrückung und Knechtschaft mit der Muttermilch eingesogen. Wenn nun schon in Fanny’s elterlichem Hause in Sitten und Gebräuchen wenig mehr von dem specifischen Judenthume zu merken war, wenn schon der aufgeklärte Vater auf dem Standpunkt des weisen Nathan, d. h. über dem der geoffenbarten Religion, stand und seine Söhne und hernach auch die Tochter zum Christenthume übertreten ließ und damit dem Vorurtheil eine Concession machte, die nicht auf seine Rechnung, sondern auf Rechnung des brutalen Vorurtheils kommt, – so konnte es doch nicht ausbleiben, daß das lebhafte Gefühl des scharfsinnigen Kindes oft und oft durch den Christenhochmuth beleidigt wurde. An dem Judenstolz nun entzündete sich in Fanny Lewald der Menschenstolz, dieser Kampf für die Judenrechte war nur ein Vorspiel des Kampfes für die Menschenrechte, den sie ihr Leben lang geführt hat. Jeder Mensch ist mehr oder weniger ein gutmüthiger Collatinus, der erst von der brutalen Gewalt in seinen heiligsten Interessen geschändet werden muß, bevor er zum echten und rechten Tyrannenhasser und Republikaner wird.

So sehen wir denn auch Fanny Lewald überall auf der Seite der Unterdrückten und Mißhandelten, überall als Sachwalterin der Vernunft und des Rechtes contra Aberwitz, Dummheit und Compagnie. Wie sie in ihrem ersten größeren Romane, der „Jenny“, in welcher noch das Gefühl von Ungerechtigkeiten, die sie aus erster Hand erfahren hatte, nachzitterte, mit jener Ueberzeugung, die Ueberzeugung weckt, für die Emancipation der Juden plaidirte, so führt sie in ihren späteren Schriften die einmal aufgenommene Sache der Freiheit in allen ihren Instanzen durch, so kämpft sie für die Emancipation der Völker, für die Emancipation der Frauen, für die Emancipation jedes Individuums von dem angestammten Joche seines beschränkten Unterthanenverstandes, seines Kleinmuthes, seiner Halbheit. Und hier ist ein anderes Moment in Fanny Lewald’s geistiger Entwickelung, für das sie ebenfalls ihrer jüdischen Abstammung dankbar sein mag.

Fanny Lewald hat sich eigentlich in keinem Augenblicke ihres Lebens, zum wenigsten von der Zeit an, wo sie die Illusionen der kindischen Phantasie verloren hatte, von der Fessel eines religiösen Dogma in ihrem Denken beschränkt gefühlt. Ihr Vater, der nach Allem, was die dankbare Tochter in ihrer „Lebensgeschichte“ von ihm erzählt, einer der klarsten Köpfe war, die auf Menschenschultern sitzen können, gehörte zu den seltenen Sterblichen, denen es „genügt, ein Mensch zu sein,“ und in diesem Sinne hatte er seine Kinder erzogen. Er hatte sie erzogen in der Wahrheit, welche die Leute ärgert, weil sie so einfach ist, in der Wahrheit: „daß alle Länder gute Menschen tragen,“ daß der Mensch auf Erden schlechterdings keine andere Aufgabe hat, als seine Pflicht zu thun, und daß diese Pflicht im Wohlthun, in vorurtheilsfreier, thätiger Liebe, in herzlicher Verträglichkeit besteht und daß das „Herr-Herr-sagen“ im allerbesten Falle zur Gottseligkeit gewiß nichts beitrage. Diese von allem Dogmenwust gereinigte, echt menschliche Erziehung war das natürliche Element für ein Kind, das, im schönsten Sinne des Wortes, Kopf und Herz auf dem rechten Fleck hatte. Wie gut die väterliche Erziehung, die doch schließlich nur in der Kunst des guten Arztes, die gesunde Natur sich selbst helfen zu lassen, bestand, bei der kleinen Fanny angeschlagen hatte, davon giebt eine charakteristische Anekdote aus der ersten Zeit ihres Schullebens ein ergötzliches Beispiel. Ihr Religionslehrer – der nebenbei Niemand Geringeres war, als der Prediger Epel, welcher hernach im Muckerproceß eine so hervorragende Rolle spielte – hatte den Kindern die famose Geschichte von der Schlange im Paradiese – der bekannten Großmutter der Erbsünde – erzählt. Da sagte die achtjährige Fanny, während die Andern in entzücktem Schweigen der Wundermähr lauschten, mitten in der Stille der Stunde ganz laut: „das glaube ich nicht, Schlangen können nicht sprechen.“ Der verblüffte Theologe sah die kleine Philosophin an und fragte, wer ihr das gesagt habe. Sie versetzte, das hätte ihr Niemand gesagt, das wisse sie von selbst, kein Thier könne sprechen. „Gewiß nicht!“ bedeutete Epel, „wenn Gott es ihm nicht giebt!“ –

„Ich verstummte,“ fährt die Erzählerin fort. „Das war auch gewiß Alles, was Epel in dem Augenblicke beabsichtigt hatte, aber meine Zweifel waren nicht beschwichtigt, und irgend ein Wunder geglaubt zu haben, kann ich mich überhaupt nicht erinnern.“

Diese Unfähigkeit, den gesunden Menschenverstand, es sei, um was es sei, zu verleugnen, mußte die arme Fanny schwer büßen, als nach dem Wunsche ihres Vaters die Reihe an sie kam, sich taufen zu lassen. Sie hat in ihrer „Jenny“ den Kampf, in welchen bei dieser Gelegenheit ihr besseres Wissen oder, wenn man will, ihr Instinct des Wahren mit dem Vorurtheil gerieth, in ergreifender Weise poetisch verklärt.[1] – Fanny Lewald ist sich verhältnißmäßig erst spät ihres dichterischen Berufes bewußt geworden. Als „Clementine“, ihre erste Novelle, erschien, war sie bereits einunddreißig Jahre, stand also in einem Alter, in welchem schon oft bei andern Poeten der allzufrüh erworbene Lorbeer bereits zu welken begann. Daß sie so mit der Vollkraft gereiften Denkens und mit einem reichen Schatz innerer Erlebnisse in die Arena trat, ist für sie in jeder Beziehung vortheilhaft gewesen. Sie hat diesem Umstände zu verdanken, daß sie jetzt nicht, wie so mancher Andere, auf eine Reihe mehr oder weniger verfehlter Versuche zurückzublicken hat; zu verdanken, daß sie sich mit ihren ersten Werken, denen Niemand das leidige „Erstlingthum“ ansehen konnte, sofort einen ehrenvollen Platz in der Literatur eroberte; zu verdanken, daß ihr Talent, welches sich in aller Stille, langsam, stätig, naturgemäß entwickeln durfte, nun auch desto fleißiger Früchte um Früchte in üppiger Fülle trug.

Freilich hatte sich nun auch mittlerweile der Horizont ihrer Anschauungen mächtig erweitert. Von dem richtigen Gefühl geleitet, daß sie der kleinen Welt, die sie brütend in ihrem Gehirne hielt, ein Gegengewicht und Supplement in der Kenntniß der großen [663] draußen geben müsse, hatte sie zwischen den Jahren 1847 und 1852 ausgedehnte Reisen unternommen, deren Resultate sie in mehreren Werken niederlegte,[2] welche zu dem Besten gehören, was wir Deutschen in diesem Genre besitzen. Gerade in diesen Werken tritt der Vortheil, den Fanny Lewald davon hatte, daß sie vorbereitet an ihre Lebensarbeit ging, auf das Evidenteste hervor. Die Welt kam ihr vertraut entgegen, weil sie schon eine Welt in sich trug, und das platonische Wort, daß alles lernen nur ein Sich-Erinnern sei, fand hier seine volle Anwendung. Sie selbst gesteht einmal, daß sie im ganzen Leben nur einige Eindrucke durch neue Anschauungen erhalten habe, die sie bis in’s Innerste auf unvergleichliche Weise ergriffen hätten. „Dahin gehört der erste Anblick des alten Museums in Berlin, als sich mir in der schönen Rotunde die Idee der architektonischen Schönheit plötzlich erschloß. Danach, als ich in Heidelberg die erste schöne Gegend sah; endlich, als ich viele Jahre später einst ganz einsam stand auf der Wengernalp an der Jungfrau und die Lawinen herabdonnern hörte von der sonnenglänzenden, eisigen Höhe; und dann zuletzt das Gefühl jenes Momentes, in dem ich mich den Thoren des ewigen Roms näherte.“ Aus dieser inneren Ruhe, welche eine Folge der Tiefe ist, erklärt sich die hohe Objectivität, mit welcher Fanny Lewald in ihren Reisewerken den Dingen und Menschen gegenübertritt, das innige Verständniß, welches sie den heterogensten Verhältnissen entgegenbringt, endlich die vollendete Sicherheit, mit welcher ihre Hand, bald in großen, kecken Umrissen, bald in sauberer Detaillirung, das Geschaute, Erlebte, Beobachtete auf die Leinwand zu bannen versteht.

Die Reisewerke müssen uns vorläufig, wo Fanny Lewald die Geschichte ihres Lebens erst bis zu dem Augenblicke geschrieben hat, da sie in’s schöne Land Italia zog, als eine Ergänzung ihrer Autobiographie dienen. Auf die Fortsetzung derselben dürfen wir um so gespannter sein, als – nach einer Aeußerung, die ich aus dem Munde der Dichterin selbst habe – „das Stück ihres Lebens, das bis jetzt dem Publicum vor Augen liegt, unbedeutend ist an Gehalt gegen die Jahre, welche diesseits ihrer Memoiren beginnen.“ Dem Laufe ihres Lebens während dieser Jahre, die sie meistens in Berlin verbrachte, zu folgen, ist hier nicht der Ort, und nur eines Ereignisses muß ich erwähnen, weil es für Fanny Lewald von der intensivesten Bedeutung wurde, ich meine ihre Bekanntschaft und spätere Verbindung mit dem Biographen Lessing’s, dem Verfasser von „Ein Jahr in Italien“, und so vieler anderer ausgezeichneter Werke, dem gelehrten und geistreichen Professor Adolf Stahr. Durch dieses Verhältniß schloß sich, so zu sagen, der Cirkel von Fanny Lewald’s geistigem Horizont in der schönsten Weise ab. Ohne dasselbe wäre sie auf ihre eigene Beobachtung, auf ihre, wie das bei der Bildung der Frauen kaum anders sein kann, mehr oder weniger dilettirenden Studien angewiesen geblieben; jetzt konnte sie beinahe mühelos aus einem unversiegbaren Schatz classischer Gelehrsamkeit und streng methodischen Wissens schöpfen und in geistige Gebiete eindringen, die sich ihr ohne dies schwerlich erschlossen hätten.

Und nun bliebe mir nur noch über Fanny Lewald als Dichterin, als Romanschreiberin zu sprechen übrig, d. h. so ziemlich die Hauptsache. Aber wenn es mir gelungen ist, dem Leser die großen Züge dieser Natur zu zeichnen, kann ich mich in der Hauptsache sehr kurz fassen. Fanny Lewald’s Romane gehören nach Form und Inhalt zu den bedeutendsten. Ihr specielles Gebiet ist das moderne Leben mit seinen Höhen und Tiefen, seinen Schatten- und Lichtseiten, seiner Größe und seiner Elendigkeit. Wie bei allen Romandichtern der Gegenwart, die nicht hinter dem äußerlichen Schaugepränge sogenannter historischer Culturbilder und vielbändiger Haupt- und Staatsactionen die innere Leere zu verbergen suchen, fallen die Hauptaccente auch bei ihr auf das sociale Moment, d. h. die Verhältnisse und den Kampf der verschiedenen Stände untereinander, sodann auf das psychologische Moment, d. h. die Schilderung der Conflicte, in welche die Individuen als Individuen mit diesen Anlagen, diesem Temperament, diesem Charakter, dieser Bildung untereinander gerathen. Meistens sind bei Fanny Lewald beide Momente gleich sorgfältig behandelt, so daß man, wie auf manchen Lessing’schen Bildern, nicht unterscheiden kann, ob die Landschaft – das sociale Moment – für die Staffage – das psychologische Moment – oder dieses für jenes da ist. So vorzüglich in dem Roman, der, was die Großartigkeit des Planes und die strenge Durchführung betrifft, wohl der bedeutendste sein möchte, in den „Wandlungen“; aber auch in dem „Mädchen von Hela“, im „Seehof“, in „Auf rother Erde“ – und wie gesagt, eigentlich überall.

In dem historischen Roman hat Fanny Lewald sich nur einmal versucht, im „Prinz Louis Ferdinand“, und es ist zu bedauern, daß sie es bei diesem einen Versuche, der so gut ausgefallen ist, hat bewenden lassen. Sie hätte Musterleistungen auf diesem Gebiete schaffen können, wo sie uns wahrlich sehr noth thun. Indessen will ich darüber mit der Dichterin nicht rechten. Eine so durch und durch gesunde Natur, wie die ihre, darf und muß sich auf ihren Instinct verlassen, der sie gebieterisch nach dieser oder jener Richtung weist.

Das Gebiet, welches Fanny Lewald ihrer dichterischen Phantasie unterworfen hat, ist sehr bedeutend. Sie keimt den einzelnen Menschen ebenso genau, wie das Charakteristische der Stände und Gewerke, und ihre Grafen sind so treu nach der Natur gezeichnet, wie ihre Tischlermeister, Schäfer, Fischer und Bauern. Und hier müssen wir zur Erklärung dieser intimen Kenntniß auch der unteren Stände von der schönen Höhe, auf welche wir die Dichterin begleitet haben, noch einmal zurückkehren, von wo wir ausgingen, in ihr väterliches Haus dort hinten im alten Königsberg. Hier hat sie Jahre lang in stiller Muße den Blick an der Erfassung des Individuellen üben können; Tochter in einer zahlreichen Familie, Kind in dem großen Hause ihres Vaters, dessen Geschäft ihn mit sehr vielen und verschiedenartigen Menschen in Berührung brachte, Bewohnerin einer Stadt, die gerade klein genug war, um sie nach allen Richtungen hin in allen ihren Erscheinungen auswendig zu lernen, und doch wiederum groß genug, daß man dabei Vieles und viel lernen konnte – das war die treffliche Schule, die Fanny Lewald durchgemacht hat, der Boden, in dem ihre Physische wie geistige Existenz sicher wurzelt.

Das Gefühl dieser Sicherheit – eine Folge eben ihrer normalen, naturgemäßen Entwickelung – ist charakteristisch für Fanny Lewald. Niemand ist weniger in Gefahr, als sie, den Boden unter den Füßen zu verlieren und zu verhimmeln. „Homo sum, nihil humani mihi alienum puto“ – kann sie mit Fug und Recht auf sich anwenden, und sie drückte das in ihrer liebenswürdig sicherstelligen Weise in meiner Gegenwart einmal mit den halb scherzhaft, halb ernsthaft gemeinten Worten aus: „Ob ich als Schriftstellerin etwas Bedeutendes leiste, weiß ich nicht – das aber weiß ich mit Bestimmtheit, daß ich eine gute Hausfrau bin.“

Friedrich Spielhagen.


Der Proceß Windham in London.

England ist stolz darauf, das Land der Widersprüche zu sein, und es läßt sich nicht leugnen, daß diese Phrase, womit man die unbequeme Kritik vorwitziger Ausländer zum Schweigen zu bringen pflegt, eine gewisse Berechtigung hat. Im Grunde genommen sind diese Widersprüche freilich allenthalben vorhanden; aber die größere Freiheit, in der sich das englische Leben seit Jahrhunderten bewegt, die Öffentlichkeit der Discussion in Presse, Versammlungen und Gerichtshöfen hat ihnen einen klareren Ausdruck gegeben als in den Ländern des Continents, wo sie sich hinter der polizeilichen Bevormundung, dem Unterthanenrespect vor hohen und höchsten Personnagen und der büreaukratischen Geheimnißkrämerei verstecken. Das reichste Land der Welt, das in seinem Kanzleistyle eine stehende Formel für die Jahr aus Jahr ein zu registrirenden Fälle des Hungertods besitzt, die meisten Kirchen und die meisten Gefängnisse, die größte Frömmigkeit und die größten Verbrecher, das großartigste Geschäft und der großartigste Schwindel, die aufopferndste Menschenfreundlichkeit und die raffinirteste Schurkerei, eine übermächtige Aristokratie und die ausgebreitetste demokratische Selbstregierung, die höchsten wissenschaftlichen Erfolge und die traurigste Verwahrlosung der Volkserziehung, die glänzendsten Paläste und die elendsten Hütten, politische Freiheit und gesellschaftliche Sklaverei, – diese Gegensätze sind schreiend genug; aber sie würden viel weniger augenfällig [664] sein, wenn ihnen nicht die Großartigkeit des englischen Lebens zum hohen Piedestale (Untergrunde) diente. Wenn ein untergeordneter Eisenbahnbeamter, wie der vor einigen Jahren verurtheilte Redpath, ein Commis in einem Bankgeschäft, wie der berüchtigte, auf seiner Ueberfahrt nach Australien verstorbene Pullinger, ein Secretair einer Actiengesellschaft, wie der zur Zeit wegen seiner Frömmigkeit gepriesene Robson, Hunderttausende von Pfunden und Millionen von Thalern durch die einfache Fabrication einiger Nullen unterschlagen können, so beweist dies nicht nur die Großartigkeit des englischen Geschäfts, welche so kolossale Diebstähle ermöglicht, sondern auch das unbedingte Vertrauen, welches in der englischen Geschäftswelt herrscht und den systematischen Betrieb solcher Betrügereien erleichtert. Im Ganzen und Großen betrachtet, ist der Geist, welcher die englische Geschäftswelt belebt, ein solider. Die Unsittlichkeit der neumodischen Börsenspeculation, die im kaiserlichen Frankreich ihr Hauptquartier aufgeschlagen hat, findet hier keinen Boden: ein Herr von Morny, der durch Börsenspeculationen der reichste Mann Frankreichs wird und an der Spitze der Staatsgeschäfte steht, ein Credit-Mobilier mit seinem zweifelhaften Betriebscapital und seiner unzweifelhaften Staatsprotection sind hier nicht möglich.

England besitzt die geschicktesten und verwegensten Diebe, die gewissenlosesten Fälscher, die erfolgreichsten Betrüger. Das Verbrechen ist hier großartig, wie das ganze englische Leben; aber man weiß immer ganz genau, wo die Ehrlichkeit aufhört und die Unehrlichkeit beginnt. Ein entdeckter Verbrecher ist Verbrecher ohne alle Präambeln und Vertuschungen. Unternehmungsgeist, Thatkraft und Consequenz, Kühnheit und Rohheit, – kurz, alle die Eigenschaften, durch welche die englische Nation groß geworden ist, drücken dem hiesigen Verbrecher den nationalen Stempel auf. Vielleicht gerade deshalb bilden die Polizei- und Criminalberichte der hiesigen Zeitungen die Lieblingslectüre der großen Masse der Bevölkerung. Der große Verbrecher wird gewissermaßen als ein Nationaleigenthum betrachtet und in allen seinen Lebensschicksalen, Handlungen, Bewegungen und Worten mit der zärtlichsten Aufmerksamkeit verfolgt. Der Held einer cause celèbre hat keineswegs seine Rolle mit seiner Verurtheilung ausgespielt. Das öffentliche Interesse folgt ihm auf den Galgen, in’s Gefängniß, nach Australien und registrirt gewissenhaft Alles, was er sagt und thut. Er ist ein berühmter Mann und lebt im Bewußtsein seiner Nation fort, wie die großen Dichter, Staatsmänner und Helden. Daher kommt es, daß dieselben berüchtigten Namen immer wieder und wieder in der englischen Presse auftauchen und der Held eines populären Processes, eines aufregenden Scandals unsterblich wird.

Der sogenannte Windham-Fall versetzte im vergangenen Jahre ganz Großbritannien in Aufregung und warf so grelle Streiflichter auf die gesellschaftlichen Zustände der oberen Classen, daß das Publicum wie geblendet vor der enthüllten Unsittlichkeit der privilegirten Gesellschaft stand. Auch den Lesern der „Gartenlaube“ werden wohl die Hauptzüge dieses scandalösen Processes noch erinnerlich sein. Der junge Windham war der Abkömmling und Erbe einer reichen Familie des englischen Landadels (Squire), aus der sich die wirkliche Aristokratie vielfach rekrutirt hatte und die mit dieser in mehreren lebendigen Exemplaren verschwägert war. Sein Vermögen würde sich im Laufe der Zeit auf etwa 15,000 Pfd. St. jährlicher Revenuen belaufen haben und war auch schon für den Augenblick bedeutend genug, um die mehr einflußreichen als wohlhabenden Verwandten zu einem energischen Versuch, sich desselben zu bemächtigen, anzuspornen. Dieser Versuch schien um so mehr gerechtfertigt, da Herr Windham auf dem besten Wege war, sein Vermögen durchzubringen, und zwar in einer Weise, die gewöhnlich genug unter den goldenen Jünglingen des heutigen Englands ist, gegen die sich jedoch im vorliegenden Falle das sittliche Gefühl zweier zärtlicher Oheime empörte. Sie steckten sich ein doppeltes Ziel vor, die irdischen Güter der Familie Windham für sich und die Seele mit obligater Anwartschaft auf die himmlischen Güter für ihren entarteten Neffen zu retten. Der nächste und natürlichste Weg zu diesem Ziele schien den beiden zärtlichen Oheimen, einem General der britischen Armee und einem Earl (Graf) der britischen Aristokratie, nach der Seite einer Irrenhaus-Commission hin zu liegen. Daher wurde eine Petition eingereicht und verlangt, daß William Windham wahnsinnig befunden, besitzunfähig erklärt und hinter Schloß und Riegel gesetzt werde. Dies ist gewöhnlich hier ein sehr kurzer und einfacher Proceß, und das Mittel schlägt fast nie fehl, wenn es von einflußreichen Personen in Anwendung gebracht und gegen einen armen Teufel gerichtet wird, der sich durch Enthüllungen unbequem machen, mißliebige Ansprüche erheben könnte, oder aus irgend einem anderen Grunde aus dem Wege geschafft werden muß.

Da der Spleen eine Nationaleigenschaft ist, von der jeder Engländer mehr oder weniger abbekommen hat, und überhaupt das ganze englische Leben von einer so überkünstelten Civilisation beherrscht und outrirt wird, daß es in der That schwer zu sagen ist, wo der Sinn aufhört und der Wahnsinn beginnt, – so gehört, wie gesagt, nicht viel dazu, die Jury einer Irrenhaus-Commission von dem Irrsinne eines beliebigen Individuums zu überzeugen, immer vorausgesetzt, daß die Petitionirenden „respectable“, d. h. reich und mächtig genug sind, um ihrer Petition Nachdruck zu geben. Sir Lytton Bulwer ließ seine Frau in eine Irrenanstalt einsperren, weil sie ihn mit geistreichen Romanen verfolgte, also mehr Geist und Verstand zeigte, als ihrem Herrn und Gemahl lieb war, und Lady Bulwer konnte nur durch die Intervention des entrüsteten Publicums aus ihrer Haft befreit werden und auch dann nur, nachdem sie ihrem Gatten, dem damaligen Minister der Colonien, gelobt hatte, auf Reisen zu gehen und sich in Zukunft des Romanschreibens zu enthalten. Dem armen Dr. Bernard wurde Verstand und Freiheit abgesprochen, weil man von gewissen Seiten her glaubte, daß diese sanitärische Maßregel den Kaiser der Franzosen bewegen könnte, zur Ausstellung herüber zu kommen und so dem verfehlten Unternehmen zur profitablen Reclame zu dienen. Solche Dinge kommen hier alle Tage vor; und wenn wir auch gerade nicht mit dem verstorbenen O’Connell behaupten wollen, daß in den englischen Irrenheilanstalten mehr Menschen ihren Verstand verlieren, als wiederfinden, so begreifen wir doch, daß eine Irrenhaus-Commission den beiden Oheimen als das einfachste und wirksamste Mittel erschien, um sich ihrer verwandtschaftlichen Pflichten gegen ihren Neffen und dessen verwahrloste und im höchsten Grade wünschenswerthe 15,000 Pfd. St. jährlicher Revenuen zu entledigen.

Auf alle Fälle war es der billigste Weg, denn das englische Gesetz hat zur Erleichterung solcher Proceduren vorsorglich verordnet, daß die unter Umständen zu einer enormen Höhe anwachsenden Kosten aus der Vermögensmasse des Angeklagten bestritten werden, gleichviel, ob die Untersuchungs-Commission ihm den Verstand abspricht oder nicht. So weit also war ihre Berechnung richtig; nur in einem Punkte täuschten sie sich. Im Uebermaß ihrer zärtlichen Besorgniß um den Geisteszustand ihres geliebten Neffen hatten sie nämlich übersehen, daß es für einen General und Grafen zwar ein Kinderspiel ist, einem armen Teufel seinen Verstand absprechen zu lassen, daß es jedoch sehr schwer ist, einen Menschen verrückt zu machen, wenn dieser 15,000 Pfd. Sterl. jährlicher Einkünfte und somit Widerstandskraft genug besitzt, um sich seiner Haut zu wehren und dem mächtigen Angriff eine mächtige Vertheidigung entgegen zu setzen. So kam es denn zu jenem Riesenkampfe um das bischen Verstand des jungen Windham, der selbst in der Geschichte der englischen Schwurgerichtspflege ohne Beispiel dasteht. Mehr als zweihundert Zeugen wurden von beiden Seiten unter der Leitung der berühmtesten Advocaten in’s Feuer geführt, nachdem sie aus allen Ständen, aus dem ganzen britischen Reiche, aus Amerika und Indien, aus Rußland und Italien zusammengetrommelt waren. Der Schmutz, in dem beide Parteien bis an die Kniee wateten, vermochte ihre Kampflust nicht abzukühlen; einunddreißig Sitzungen, die sich über sechs Wochen erstreckten, waren nöthig, ehe die Scandalsucht des heißhungrigen Publicums gesättigt werden konnte, der allgemeine Ekel über den aus den Tiefen der vornehmen Gesellschaft aufgewühlten Schmutz intervenirte und die öffentliche Meinung mit einstimmiger Entrüstung erklärte: So weit und nicht weiter!

Das Publicum war ernstlich alarmirt. Wenn der Umstand, daß der fünfjährige Windham seine ersten weißen Höschen beschmutzt, oder die Thatsache, daß der zwölfjährige Knabe einen ganzen Rosinenpudding aufgegessen hatte, als Beweise von Verrücktheit gelten konnten; wenn es hinreichend war, roh, lüderlich, schmutzig, unwissend, albern oder verschwenderisch zu sein, um für bürgerlich todt erklärt und in ein Irrenhaus gesperrt zu werden: so war Niemand mehr seines Eigenthums und seiner Freiheit sicher. Der erschrockene John Bull fühlte sich an den Kopf, um sich zu vergewissern, ob er ihn noch besitze, und zählte bis auf Tausend, um sich zu überzeugen, daß er mehr Ansprüche auf gesunde Vernunft machen könne, als W. Windham, der, nach Aussage eines Belastungszeugen, [665] nur bis Hundert fließend zu zählen vermochte. Die aristokratischen Wüstlinge des Westend, die wie ihr vor die Irrencommission gestellter Genosse die Atmosphäre des Haymarket zu athmen und sich im Schmutze jener ekelhaften Prostitution zu wälzen pflegten, fürchteten für die Sicherheit ihrer congenialen Passionen und schlugen Alarm. Kurz, die öffentliche Meinung verlangte so stürmisch und drohend die Freisprechung des jungen Mannes, daß Jury und Irrengericht sich diesem Verlangen nicht zu entziehen vermochten. Die Petition wurde zurückgewiesen, und W. Windham hatte für die Genugthuung, daß er sich als geistesgesund betrachten konnte, etwa 50,000 Pfd. Sterl. zu zahlen, die übrigen 20,000 Pfd. Sterl. der Gerichtskosten wurden seinen petitionirenden Oheimen auferlegt oder vielmehr von diesen, um der öffentlichen Entrüstung ein Sühnungsopfer zu bringen, freiwillig übernommen.

Somit war die Sache eigentlich abgemacht. Publicum und Jury waren darüber einverstanden, daß Mr. Windham nicht verrückter sei, als ein so reicher Mann das Recht dazu habe, und weder durch ein Nervenfieber, noch durch einen Fall vom Pferde seinen Verstand verloren haben konnte, schon aus dem einfachen Grunde, weil er keinen zu verlieren hatte. Wenn er nach Aussage der medicinischen Belastungszeugen mehr, als mit gesunder Vernunft verträglich, zum Maulaufsperren geneigt war, so konnte ihm John Bull kein Verbrechen daraus machen, denn er stand selbst mit weit aufgesperrtem Munde und starrte in den bodenlosen Abgrund der Entsittlichung, dessen Dasein er bisher wohl geahnt hatte, der aber noch nie mit so schamloser Rücksichtslosigkeit vor seinen erstaunten Augen enthüllt worden war. Die Vertheidigung hatte sich darauf beschränkt, den befriedigenden Beweis zu liefern, daß die Laster des angeschuldigten Mannes Gemeingut der vornehmen Jugend seien und nicht sowohl für eine Abirrung des Verstandes, als für standesgemäßes Betragen sprächen. Die verpesteten Kneipen des Haymarket, die Tempel einer Prostitution, von der keine Stadt der Welt auch nur ein annäherndes Beispiel auszuweisen hat, waren die fashionablen Aufenthaltsorte der fashionablen Jugend. Wenn Mr. Windham der Held des Gesindels von Dieben und Prostituirten war, das von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang jenes verpestete Stadtviertel bevölkert, so war er nur erfolgreicher in seinen Bemühungen gewesen, als seine rivalisirenden Alters- und Standesgenossen; wenn er eine der gemeinsten Straßennymphen geheirathet hatte, so wurde nachgewiesen, daß solche Heirathen mit all den schmutzigen Details, die diesen Fall bezeichneten, keineswegs ungewöhnlich, sondern vielmehr fashionable und comme il faut, seien.

Die sittliche Entrüstung hinderte das Publicum jedoch nicht, das zärtlichste Interesse an dem Thun und Lassen seines Helden zu nehmen. Anstatt den Vorhang über einen Scandal fallen zu lassen, der Alle beschmutzen mußte, die mit ihm in Berührung kamen, anstatt den Hauptdarstellern in diesem ekelhaften Drama zu gestatten, sich in das Dunkel schweigender Verachtung zurückzuziehen, folgten die Berichterstatter der englischen Presse ihrer populären Berühmtheit auf Schritt und Tritt. Das Publicum erfuhr, wie Mr. Windham am Tage seiner Freisprechung 300 Pfd. Sterl. verausgabt hatte, um das ganze Gesindel des Haymarket zu bewirthen, wie bei diesem mitternächtlichen Feste begeisterte Toaste auf den Helden der Prostitution ausgebracht wurden, mit welcher Liberalität Mr. Windham den Wirth und mit welcher Grazie Mistreß Windham die Wirthin gemacht hatte. So oft Letztere, einem neuen Abenteuer zu Liebe, wie dies schon wenige Tage nach der Hochzeit der Fall gewesen zu sein scheint, ihrem Gatten durchgegangen war, wurde das Publicum pflichtschuldigst davon benachrichtigt und die Erscheinung der jungen Frau, die Scene ihrer neuen Triumphe mit der graphischen Umständlichkeit geschildert, die dem englischen Penny-a-liner eigenthümlich ist.

Officiell vor die Oeffentlichkeit trat der unsterbliche Windham abermals in der jüngstvergangenen Zeit und diesmal in einem neuen Costüme, nicht als Held der Straße, als tragisches Opfer einer großen aristokratischen Familienconspiration, sondern als liebender Gatte im Vollgenusse des häuslichen Glückes, dem er bereits den größten Theil seines Vermögens geopfert zu haben scheint. Er ist nicht mehr der reiche Windham, obgleich er noch immer neben seinem prachtvollen Landsitz eine Stadtresidenz und so viel gepuderte Livreebediente, Pferde, Equipagen, Jagdhunde und „Freunde“ aufrecht erhält, als sein geschwächter Credit und die etwas erschütterten Reize seiner liebenden Gattin ihm zu halten gestatten. Aber er ist immer noch der berühmte Windham, und als solcher gab er vor einigen Wochen dem Publicum eine Scene seines glücklichen Familienlebens zum Besten. Mistreß Windham stand vor dem Polizeigerichtshofe von Hammersmith als Klägerin gegen ihren Gatten, „weil derselbe gedroht hatte, ihr den Hals abzuschneiden“. Das Gemälde seines häuslichen Glückes, das zur Begründung dieser Anklage vor dem ehrenwerthen Polizeirichter entrollt wurde, bietet mehrere sehr anziehende Punkte dar. Auf den Wunsch seiner Gattin hatte der verbindliche Gemahl zwei ihm fremde „Gentlemen“ eingeladen, ihn mit ihrem Besuche in seiner Stadtresidenz, Nr. 7, Westbourne Terrace, zu beehren. Die jungen Gentlemen, von denen der eine als ein Student der Rechtspflege und der andere als „ohne bestimmte Beschäftigung“ bezeichnet wird, rechnen es sich zur Ehre, dieser Einladung Folge zu leisten. Man scheint sich wenig genirt zu haben. Die Gäste mit Mistreß Windham gehen ihre eigenen Wege, und Mr. Windham verfolgt die seinigen. Jene kommen von einer ihrer Excursionen spät nach Mitternacht nach Hause und finden den Gemahl, der den Abend in verschiedenen Musikhallen zugebracht und die Scenen seiner früheren Triumphe wiedergesehen hatte, total betrunken und in tiefem Schlafe auf dem Sopha liegen. Um ihn zu erwecken, gießen sie ein Glas kaltes Wasser über sein Gesicht. Mr. Windham scheint diesen gefühlvollen Scherz anfangs mit dem besten Humor aufgenommen zu haben, und die zwei „Freunde“ sowohl, als Mrs. Windham, ziehen sich in ihre Schlafcabinete zurück. Plötzlich jedoch scheint ein gewisser unklarer Verdacht in dem unklaren Kopfe des Gatten aufgetaucht zu sein. Er umgürtet sich mit einem gewaltigen Tranchirmesser der Rache, erscheint vor dem Schlafzimmer seiner Ehehälfte, pocht als mahnendes Schicksal an die Thür und droht unter einem fürchterlichen Schwure, „allen Dreien die Hälse abzuschneiden“. Aufgelöstes Haar, flatterndes Nachtgewand, durchdringende Hülferufe der erschreckten Gattin, herbeieilende Retter in der Gestalt der beiden „Freunde“, rasche Worte, Geschrei, vorbereitende Puffe, allgemeine Prügelei, die mit dem Herbeieilen der Domestiken und möglichst gegenseitigem Zurtreppehinunterwerfen geendet zu haben scheint. Die verschiedenen Phasen dieses häuslichen Drama’s sind natürlich und logisch genug; auffallend dabei nur ist, daß der reiche Windham außer Stande war, die 500 Pfd. Sterl. Caution, die ihm der Polizeirichter als Bürgschaft des friedfertigen Betragens gegen die klagende Ehehälfte für den Zeitraum von sechs Monaten auferlegte, zu zahlen, und daher von dem Gefangenwärter in’s Districtsgefängniß abgeführt werden mußte. Mr. Windham ist also nicht mehr reich, und es darf uns daher nicht wundern, wenn die Einladungen interessanter „Freunde“ sich mehren sollten. Unter allen Umständen haben wir noch nicht die letzte Scene des „großen Windham-Falles“ hinter uns. Alle englischen Journalisten spitzen bereits ihre Federn für diesen „nicht uninteressanten Fall aus den höheren Schichten der Gesellschaft“.






Deutsche Bilder.

Nr. 9. König Enzio.
Von Wilhelm Müller.

Vorbemerkung der Redaction. Eine der herrlichsten Heldengestalten unserer Geschichte ist des großen Kaisers Friedrich II. Sohn und Ebenbild Heinrich, sein Heinz, nach welcher Namensverkürzung ihn das Land seiner Geburt, seiner ersten und seiner letzten kriegerischen Triumphe, seines Liebens und seines langen Leidens „Enzio“ nannte. Trotz dieses fremden Namens, an den die Geschichte sich gewöhnt hat, gehört auch dieser Hohenstaufe in seinem äußeren wie in seinem innersten Wesen ganz unserem Volke an, er ist eine seiner vollendetsten Erscheinungen, ein Mensch, wie ihn des Dichters Auge – „im schönen Leib die schöne [666] Seele“ – nur freudig und stolz schauen mag, in sich Alles vereinend, was das deutsche Herz am glühendsten begeistert: Jugend und Schönheit, Liebe und Treue, Dichtergeist und Heldenmuth.

Wenn unseres gewaltigsten Kaisers Herrscherleben sich als ein welterschütterndes Drama auf Deutschlands Schicksalsbühne abrollt, so bildet in ihm des blonden Königs Enzio Heldenlauf ein rasch abschließendes Zwischenspiel, das uns um so tiefer bewegt, je mehr wir für seinen kaiserlichen Vater und dessen Riesenkämpfe, für der Hohenstaufen Glanz und Blüthe, für des Reiches Macht und Ruhm mit ihm, dem so hochbegabten und im blutigen Ernst des Lebens so früh bewährten Jüngling, zu Grunde gehen sehen. Aber wie vorübergehend auch das Aufleuchten seines erhabenen Geistes für die deutsche Geschichte erscheinen mag, immer bleibt er in Deutschlands Heldenhalle ein unvergänglicher Schmuck, und darum soll er dem deutschen Volke der Gegenwart, das in seiner Geschichte keinen Ueberfluß an herzerhebenden Fürstenbildern hat, wieder näher vor das Auge treten.

Unsere Freunde müssen uns jedoch gestatten, sie heute nicht zuerst vor den glückstrahlenden, kämpfenden und siegenden Jüngling Enzio zu führen, sondern zu dem leidenden, zu dem „gefangenen König“, der mit den Reichthümern seines Herzens und seines Geistes den öden Kerker schmückt, der Blumen aus den Kerkermauern zaubert. König Enzio’s letzter Tag der Freiheit war der 26. Mai 1249. Der offene Krieg zwischen Kaiser und Papst wüthete in Italien. Bald im Nord, bald im Süd erhob die vom heiligen Vater genährte Rebellion ihr Haupt. Eben rief die Noth seiner Getreuen den Kaiser nach Neapel. Er eilte dorthin, seinem Enzio die Heerführung gegen die empörten Städte Norditaliens vertrauend. Stadt kämpfte dort gegen Stadt, nach alter italienischer Unsitte; unter der Geißel der Eifersucht ehr- und habsüchtiger Geschlechter war dort die Vaterlandsliebe wie die Bürgertreue erstickt worden. In einem solchen Kampfe stand Bologna, das dem Papste anhing, gegen Modena, das kaiserlich gesinnt war, und zu dem Kampf beider führt uns der Verfasser des nachstehenden Artikels. Enzio’s glück- und ruhmgeschmücktes Leben bis zu dem Unglückstage an der Fossalta, mit dem sein langes Leiden, die andere Hälfte seines Lebens, beginnt, soll ein zweiter Artikel unseren Lesern vorführen.




Die beiden Nachbarrepubliken Bologna und Modena hegten schon längst bitteren Haß gegen einander, und während Friedrich in Neapel verweilte und Enzio mit der Belagerung Parma’s und einiger Schlösser beschäftigt war, zog Filippo Ugone, der Podesta von Bologna, ein muthiger und erfahrener Kriegsmann, mit einem starken Heere von Bolognesen und Verbündeten bis in die Nähe von Modena. Die Bewohner dieser Stadt schickten schnell zu Enzio und riefen ihn dringend zu ihrer Hülfe herbei. Schnell nahm er, was er von Truppen zusammenraffen konnte, zog in Eilmärschen nach Modena, gönnte den abgemüdeten Menschen und Pferden keine Rast und eilte, in Verbindung mit den modenesischen Truppen, noch am nämlichen Tage weiter, um die Feinde desto sicherer zu überraschen. Als er bis zu dem wilden Waldbach Fossalta kam, welcher in die Scultenna fließt, und sah, daß die Feinde auf dem rechten Ufer der Scultenna in ihrer festen Stellung sich hielten, so beschloß er, mit einem Theile seiner Mannschaft durch eine seitwärts gelegene Fuhrt unbemerkt über die Scultenna zu gehen und den Feinden in den Rücken zu fallen. Aber Filippo Ugone, von seinem Plane unterrichtet, empfing ihn mit großer Ueberzahl, so daß Enzio nach mehrstündigem Kampfe sich über den Fluß zurückziehen mußte, worauf beide Heere ihre alten Stellungen wieder einnahmen. Dieser Rückzug, wenn auch nach dem muthigsten Kampfe erst begonnen und mit der größten Ordnung ausgeführt, entmuthigte auf der einen Seite ebenso sehr, als er auf der anderen ermuthigte. Auch stieß zu den Bolognesen noch am Abend ihr tapferer Mitbürger Antonio Lambertacci mit 2000 auserlesenen Streitern und brachte den Befehl des Rathes mit, daß sie am andern Morgen, dem Tage ihres Schutzpatrons, des heiligen Augustin, am 26. Mai (1249) den Feind angreifen sollten. An diesem Tage stellte Ugone sein Heer in drei Schlachthaufen mit der Bestimmung, daß der dritte als Nachhut den Bedrängten überall zu Hülfe eilen solle. Ebenso stellte Enzio die Deutschen als besonderen Heerhaufen und den Kern der Italiener als zweiten in die Front und die Modenesen in die Reserve. Als die Bolognesen angriffen, warf sich ihnen Enzio mit seinen Deutschen, welche den gestrigen Rückzug wieder gut machen wollten, rasch entgegen, und bald tobte der Kampf auf allen Seiten. Doch war es weniger eine regelmäßige Schlacht, als eine Menge von Einzelgefechten, in denen beide Theile mit der größten Tapferkeit kämpften. Enzio, unter allen Rittern als der tapferste ausgezeichnet und durch seinen weißen, mit goldenen Adlern durchwirkten Mantel noch besonders kenntlich, suchte stets die edelsten und kühnsten Streiter auf. Man kämpfte bis gegen Abend, und noch hatte kein Theil entscheidende Vortheile errungen. Da traf Enzio auf Antonio Lambertacci, ließ sich mit ihm in einen Zweikampf ein, sein Pferd, von Antonio verwundet, stürzt, und Enzio fällt zu Boden. Rasch wollen ihn die Feinde ergreifen, aber die Deutschen werfen sich wie gereizte Löwen auf sie, theilen kräftige Hiebe aus, befreien den König, und auf’s Neue durchfliegt dieser auf einem andern Rosse die Reihen seines Heeres, um den schlimmen Eindruck, den sein Fall verursacht, durch sein persönliches Erscheinen zu verwischen. Aber es war schon zu spät. Die Modenesen hatten indessen nur mit Mühe der andrängenden Bolognesen sich erwehren können, warfen sich, auf die erste Nachricht von Enzio’s Sturz, in die Flucht und brachten dadurch das ganze Heer in Verwirrung. Enzio that, was er konnte, suchte die Fliehenden zum Stehen zu bringen, aber umsonst. Die meisten Welschen flohen unaufhaltsam, die tapfersten Deutschen lagen erschlagen, zu allem Unglück brach noch die Nacht herein, an einen geregelten Rückzug war nicht mehr zu denken, die Verfolger stürmten von allen Seiten auf die einzelnen kleinen Haufen, das Terrain war von tiefen Gräben und von Wald durchschnitten, kein Mensch kannte Weg und Steg, und Enzio, der Letzte auf dem Wahlplatze, sah sich plötzlich nebst 200 Anderen von einer ungeheueren Ueberzahl umringt und wurde gefangen. Der Jubel im Lager der Bolognesen war unbeschreiblich. Sogleich wurde Antonio Lambertacci an den Rath von Bologna geschickt, um weitere Verhaltungsbefehle einzuholen, und sämmtliche Gefangene einstweilen unter starker Bedeckung in das feste Castello Franco gebracht, das zwischen Modena und Bologna liegt.

Die Bevölkerung von Bologna brannte vor Begierde, den gefangenen König zu sehen, und bestürmte den Rath mit Bitten und Drohungen, den Befehl zu geben, daß man ihn sogleich in die Stadt bringen solle. Diese stolzen Republikaner konnten den Augenblick nicht erwarten, wo sie den Genuß haben sollten, eine königliche Majestät zu ihren Füßen zu sehen. Von allen verbündeten Städten kamen Gesandtschaften, um der siegreichen Schwesterrepublik Glück zu wünschen. Endlich kam die ersehnte Stunde. Bologna hatte nie einen Festtag glänzender gefeiert. Alle Kirchen, alle Staatsgebäude und Herbergen waren geschlossen; was man an öffentlichen und Privatschätzen Kostbares und Prachtvolles hatte, wurde zur Schau gestellt, alle Straßen und Häuser mit Blumen, Gemälden und Teppichen geschmückt. Alle Fenster und Dächer waren mit erwartungsvollen Zuschauern und Zuschauerinnen besetzt, die Straße dicht gefüllt von den Bürgern Bologna’s und den in Masse herbeiströmenden Nachbarn. Ein lautes Freudengeschrei sagte den entfernter Wohnenden, daß die Spitze des Zuges das Thor der Stadt betreten habe. Zuerst kamen Pfeifer und Posaunenbläser, kriegerische Weisen spielend, dann Reiter und Fußvolk mit Eichenkränzen geschmückt, hierauf wurde der erbeutete Reichsadler, mit umgekehrtem Speer, und der königliche Schatz, aus goldenen und silbernen Gefäßen bestehend, hergetragen. Nun folgte das Caroccio (Fahnenwagen) der Republik, von zwölf weißen Ochsen gezogen, welche auch geschmückt und mit Purpurteppichen behangen waren; neben der Fahne der Republik glänzte auf dem Wagen ein großes goldenes Kreuz; mehrere edle Jünglinge in glänzendem Harnisch und mit gezückten Schwertern gaben diesem städtischen Heiligthume das Geleite.

Hierauf wurden die gemeinen Gefangenen von einer Abtheilung Hellebardirer escortirt und ihre und der Gefallenen Helme und Waffen ihnen nachgetragen. Hinter diesen gingen viele deutsche und italienische Ritter und die edlen Führer Marino von Ebulo und Boso von Doaro. Diesen Beiden folgte König Enzio selbst, hoch auf seinem Streitroß sitzend, in kostbarem Kriegsgewand, mit glänzender Helmkrone geziert, welche sein bis an den Gürtel niederfallendes goldgelocktes Haupthaar zusammenhielt. Diese edle Kriegergestalt mit dem jugendlich weichen und zugleich kräftigen Antlitz, mit der würdevollen Haltung und dem stolzen Blick, mit dem tiefen Schweigen, das nur ruhige Ergebung, nur erhabene Fassung, aber keine Spur von Trauer ausdrückte, ragte wie der Held der Nibelungen aus Allen hervor und zwang ebenso sehr die [667] Männer zu Achtung und Bewunderung, als er die Frauen zu sanftem Mitleid erregte und ihre Herzen rascher schlagen machte. Der siegreiche Podesta ritt, mit einem Purpurkleid geschmückt, auf einem weißen Pferde hart hinter dem König. Eine Abtheilung Fußvolk schloß den Zug, der unter Hymnen und Siegesliedern nach der Kirche von St. Pietro sich bewegte, wo ein feierliches Tedeum angestimmt und die Gnade des Himmels für weitere Siege angefleht wurde. Dann nahm Enzio von seinen Mitgefangenen, welche heiße Thränen vergossen, zärtlichen Abschied, tröstete und ermunterte sie, theilte unter die ärmeren Geld aus und ließ sich willig in den Palast des Podesta führen, der ihm bis zur Erbauung eines eigenen, wohl befestigten und vergitterten, übrigens gut eingerichteten Hauses als Wohnung angewiesen wurde. Er war auf Alles, auch auf das Aeußerste gefaßt, schrieb einen Brief an seinen Vater und wurde durch einen alsbaldigen Besuch der Consuln überrascht, welche den Gebeugten trösteten und baten, seines berühmten Vaters weder je ganz zu vergessen, noch desselben allzusehr eingedenk zu sein.

Der Kaiser war durch dieses Unglück seines liebsten Sohnes auf’s Tiefste erschüttert. Nicht blos sein Herz, auch seine ganze Politik hatte einen furchtbaren Schlag erhalten. Daher schrieb er sogleich an den Rath und die Gemeinde von Bologna, daß sie bei Verlust seiner Gnade den König Enzio und alle anderen Gefangenen freilassen sollten. Aber vergeblich waren alle seine Verheißungen und Drohungen; von diesem Felsen republikanischen Stolzes glitten alle Blitze der kaiserlichen Gewalt machtlos ab. Die Bolognesen erkannten recht wohl, welch kostbares Unterpfand sie in dem gefangenen König bei allen Wechselfällen des Kriegs dem Kaiser gegenüber hatten, und wieviel dieser durch den Verlust seines trefflichen Feldherrn, seines treuesten Parteigängers, seines beliebtesten Unterhändlers verloren habe. Aus Gründen der Politik, im Interesse der Freiheit Italiens wiesen sie sowohl das Anerbieten Enzio’s, für seine Befreiung einen silbernen Ring, der um ganz Bologna herumgehe, ihnen zu geben, als auch alle Unterhandlungen Friedrich’s ab und antworteten ihm auf seine Drohungen, daß nach einem alten Sprüchwort ein wilder und schäumender Eber wohl auch durch einen kleinen Hund festgehalten werde. Ihr unabänderlicher Beschluß, welcher von der ganzen Gemeinde bestätigt wurde, lautete: „König Enzio bleibt bis zu seinem Tode in der Haft der Bolognesen.“ Die übrigen Gefangenen wurden bis zu ihrer Auswechslung gegen gefangene Guelfen oder bis zu ihrer Auslösung, je nach Stand und Würde, gleichfalls in der Gefangenschaft gehalten.

Zwar suchten die Bolognesen Enzio’s Haft so leidlich als möglich zu machen. Er durfte Besuche empfangen und Gesellschaften halten und sah die berühmtesten Rechtsgelehrten der Universität, die angesehensten Jünglinge der Stadt von Zeit zu Zeit bei sich, unterhielt sich mit jenen über Staatsangelegenheiten und genoß mit diesen die Freuden eines heiteren Mahles, das durch Musik und Dichtkunst gewürzt war. Die Letztere war es besonders, die ihm viele Stunden versüßte. Er sammelte, was ihm von schönen Dichtungen und Sagen bekannt oder in Bologna zu bekommen war, griff, des Schwertes beraubt, selbst wieder zur Leier, hauchte in süßen Canzonen und Sonnetten seine Klagen ans und erweiterte so sein Gefängniß zu einer reichen, schönen Welt. Aber so viel Freiheit man ihm im Innern des Hauses ließ, so streng wurde er doch von den vorsichtigen Bolognesen bewacht. Jeden Tag mußten der Podesta und die Consuln durch persönlichen Besuch von dem Dasein des Gefangenen sich überzeugen, einer der Hauptleute des Podesta selbst die Thüren verschließen und öffnen, und die Wächter wurden nur aus den reichsten, erprobtesten Bürgern gewählt. Auch war er 14 Jahre lang mit dem beschränkten und ungebildeten Deutschordensritter, Graf Conrad von Solimburg, in einem und demselben Zimmer eingesperrt, und erst auf wiederholte Bitten und Klagen wurde ihm „der unerträgliche und alberne Geselle“, wie ihn der Rath selbst bezeichnete, abgenommen und an einen andern Ort gebracht.

Unter den Jünglingen, welche ihn häufig besuchten und seine Einsamkeit erheiterten, fühlte sich besonders einer auf’s Lebhafteste zu ihm hingezogen, Pietro Asinelli, aus einer vornehmen Familie, ein Mensch von glücklichen Talenten und trefflichem Gemüth, ausgezeichnet durch seine Beredsamkeit und seine Vertrautheit mit den Schätzen der deutschen und italienischen Literatur, dazu voll heiteren italienischen Frohsinns und sinnigen deutschen Ernstes. Ein solcher Charakter war für Enzio wie gemacht. Es entwickelte sich zwischen Beiden die vertrauteste Freundschaft, Asinelli war fast der tägliche Gast des Königs und trug zur Aufheiterung seiner oft gedrückten Stimmung sehr viel bei. Hierzu kam noch ein anderer Umstand. Eines Abends brachte Asinelli einen nicht gar großen, feingekleideten Jüngling von ausnehmender Schönheit zu Enzio und bat ihn um die Erlaubniß, einen jungen Rechtsgelehrten ihm vorstellen zu dürfen. Dem König fiel dieser weiche Ausdruck des kindlich-jugendlichen Gesichtes, dieser feine Mund, diese rosigen Wangen auf, und zweiflerisch lächelnd sah er bald Asinelli, bald den neuen Gast an. „Unser junger Rechtsgelehrter,“ fuhr Asinelli fort, „ist ein leidenschaftlicher Bolognese und wünscht, um Eure Gefangenschaft vollständig zu machen, den Rechtsbeweis vor Euch zu führen, daß man nicht blos Euren Leib, sondern auch Euer Herz in Beschlag nehmen dürfe.“ Während der fremde Jüngling allerliebst erröthete und lächelnd Asinelli anzublicken schien, in Wahrheit aber Enzio anblickte, zog Letzterer rasch ein Papier hervor, das ihm Asinelli den vorhergehenden Tag in einem Blumenstrauß versteckt, als von einer Unbekannten kommend, überbracht hatte. Auf demselben standen mit zierlicher Frauenhand geschrieben die vier Worte: che ben ti voglio (Dir will ich wohl). Dieses Papier hielt er Asinelli hin, welcher lächelnd zunickte, und die süßen Worte wiederholend ergriff er die Hand der verkleideten Jungfrau und küßte sie. Es war Lucia Viadagola, die schönste unter allen Töchtern Bologna’s, aus einer armen, aber angesehenen Familie. Als sie bei dem Einzug Enzio’s unter dem mit Blumen verzierten Fenster lag, fiel sein Blick auf sie, und dieser Blick drang ihr bis in die tiefste Seele. Je größer der Abstand zwischen dem König von Sardinien und der armen Lucia war, je mehr sie in ihrer Freiheit die Gefangenschaft des Königs beklagte und beweinte, je schwieriger die Wege waren, um denjenigen, der so ganz ihre Seele erfüllte, auch nur zu sehen, geschweige zu sprechen, zu besitzen: desto heftiger, desto verzehrender brannte die Liebesgluth in ihrem Herzen. Von dem Gedanken, daß sie des Königs Lage durch ihre Liebe mildern könne, über alle Bedenklichkeiten weggetragen, vertraute sie sich Asinelli an, der dann das Weitere vermittelte. Enzio fühlte sich glücklich in dem Besitz der ebenso geistreichen als schönen Lucia und vermählte sich mit ihr. Sie erhielt die Erlaubniß, sein Loos mit ihm zu theilen, und im Jahr 1251 gebar sie ihm einen Knaben, welchem Enzio den lieblichen Namen Bentivoglio gab. Es ist merkwürdig, daß ein Nachkomme dieses Knaben als Fürst Bentivoglio, wie wenn er die lange Gefangenschaft seines königlichen Ahnen hätte rächen wollen, die republikanische Staatsform Bologna’s zertrümmerte und sich zum Herrn der Stadt aufwarf.

So verflossen dem Gefangenen nach und nach 20 volle Jahre, und so ruhig sich der Faden seines Lebens abrollte, so furchtbar, so vernichtend waren die Schläge, unter denen während dieser Zeit sein ganzes Geschlecht endete. Es spielte sich jene große Schicksalstragödie ab, in welcher von dem mit aller Kraft des Willens und des Geistes ausgerüsteten Kaiserhause in kaum zwei Decennien alle männlichen Glieder bis auf den letzten Sprößling vernichtet wurden. Der Kaiser war schon ein Jahr nach Enzio’s Gefangennehmung an einer Krankheit, wohl noch mehr vor Kummer über den allgemeinen Verrath gestorben; sein nächster Erbe, König Konrad von Deutschland, sah sich in der Heimath verrathen, kam nach Italien, eroberte das sicilische Königreich und starb dort 1254; der nächste Bruder, der durch Geist und Tapferkeit Enzio am nächsten ähnliche Manfred, behauptete darauf die sicilische Krone fest gegen alle Ansprüche, Bannflüche und Heere der Päpste, verlor aber gegen den französischen Prinzen Karl von Anjou, welchem der thörichte Papst jene Krone antrug, in der Schlacht bei Benevent 1260 Thron und Leben; Konrad’s Sohn, der 15jährige Konradin, nicht zufrieden mit seinem Herzogthum Schwaben, erfüllt von dem hohen Geist seiner Ahnen, wollte gleichfalls sein rechtmäßiges Erbe in Unteritalien erobern, war bei Scurcola zugleich Sieger und Besiegter, wurde auf der Flucht gefangen, an Karl ausgeliefert und auf dessen Befehl im Anblick des Golfs von Neapel 1268 enthauptet. So war Enzio noch der Letzte seines Stammes. Schon als der Jubelruf des Volkes in Bologna, das bei dem Einzug Karl’s diesem entgegenjauchzte, durch die Fenster seines Palastes drang, glaubte er voll Ingrimm seinen Arm erheben zu müssen. Als aber diesem französischen Eindringling anfangs Alles gelang und Enzio den Tod all der Seinigen vernahm, da erwachte die Erinnerung an die alle Heldenzeit stärker als je, und er, der noch Lebende, hielt sich für berufen, den völligen Untergang von seinem Hause abzuwenden, [668] als Rächer seines Geschlechts gegen Karl von Anjou aufzutreten und nicht nur in Italien, sondern auch in dem zerrütteten Deutschland die Fahne der Hohenstaufen hoch zu halten. Dieser Gedanke, zu dessen Ausführung vor allen seine Freiheit gehörte, ließ ihn nicht mehr schlafen, und er fand erst einige Ruhe, als er Asinelli seinen Kummer, seine Sehnsucht und seine Plane mitgetheilt hatte. Dieser war sogleich bereit, ihm behülflich zu sein, wenn sich ein passendes Rettungsmittel zeige. Beide Freunde sprachen nur noch von ihren Planen, und Enzio verhieß seinem treuen Pylades für den Fall des Gelingens Ruhm und Glück in Fülle. Es war freilich äußerst schwer, die so fest verschlossenen Thore zu öffnen oder die aufgestellten Wächter zu täuschen. Nur durch eine sehr schlaue List konnte man die Erreichung dieses Zieles hoffen. Endlich glaubte Asinelli das Richtige gefunden zu haben, besprach sich mit Enzio und zog auch den edlen Rainerio Gonfalonieri aus Piacenza, welcher in Bologna die Rechte studirte und zu dem poetischen Cirkel Enzio’s gehörte, in’s Geheimniß. Lucia und ihrem indessen herangewachsenen Sohn verheimlichten sie den ganzen Plan, damit sie, falls er mißlinge, nicht gleichfalls in’s Verderben hineingezogen würden. Der Tag der Ausführung wurde festgesetzt.

König Enzio und Lucia Viadagola im Kerker.

Ein ehrlicher Küfer, Namens Filippo, welcher dem König zu seinen Banketen schon manches Faß Wein geliefert und das geleerte auf seinen Schultern wieder zurückgetragen hatte, kam, durch glänzende Versprechungen gewonnen, gegen Abend in den Palast, und während die etwas sorgloser gewordenen Zimmerwachen in Folge des gar zu köstlichen Weins verhindert waren, ihrer Pflicht obzuliegen, nahm er ein im Vorsaal stehendes leeres Faß und trug es auf seinen kräftigen Schultern zum Palast hinaus. Schon war er glücklich durch alle Wachen und Thore gekommen, schon sah man in der Ferne Rainerio mit den zur Flucht bereitstehenden Pferden, als ein des Weges herkommender Soldat zufällig seinen Blick auf das Faß warf und eine goldene Locke aus demselben hervorhängen sah. „Was ist das? Solche Locken hat nur König Enzio! König Enzio!“ rief er, „König Enzio!“ Die Wachen eilten herbei, Filippo wurde festgenommen, das Faß, welches von Asinelli nicht ganz vorsichtig zugemacht worden war, geöffnet und, wie man vermuthete, Enzio darin gefunden. Filippo und der gleichfalls ergriffene Rainerio wurden öffentlich hingerichtet, Asinelli entkam durch die Schnelligkeit seines Pferdes den Verfolgern, wurde aber unter Verlust seines Vermögens auf immer verbannt, der unglückliche König sofort in die engste und strengste Verwahrung gebracht und Niemand mehr zu ihm gelassen, auch nicht Lucia und ihr Sohn, welche übrigens, da keine Schuld auf sie fiel, unangefochten blieben. Wie streng man ihn hielt, kann man daraus sehen, daß er einmal den Wächtern, welche ihm nichts zu essen geben wollten, den Vorschlag machte, darum zu würfeln. Er gewann und bekam durch einen Scherz wenigstens die nöthige Nahrung. Aber seine Kraft war gebrochen; er fühlte bald, daß er nicht mehr lange zu leben habe. Da ließ er einen Notar kommen, dictirte ihm seinen letzten Willen, vermachte in seinem Testament die so viele Länder umfassenden Ansprüche der Hohenstaufen seinem Vetter, Alphons von Castilien, und seinem Neffen, Friedrich von Thüringen, welcher ein Sohn seiner Schwester Margaretha war, ersuchte sie, für seine Töchter zu sorgen, verzieh den Bolognesen alle Schuld, dankte ihnen, daß sie seine Aerzte besoldet hatten, und bat sie, ihn nicht an ungeweihter Stelle, sondern in einer Kirche begraben zu lassen. Bald darauf starb er, am 15. März 1272, am Namenstag seiner geliebten Lucia. Er war 46 Jahre alt und hat fast 23 Jahre in der Gefangenschaft zugebracht. Außer seinem geliebten Bentivoglio hinterließ er drei Töchter. Die eine derselben, Helena, aus seiner Ehe mit Adelasia, hatte einen Grafen von Donotarico geheirathet und mehrere Söhne geboren; von den beiden andern, Maddalena und Costanza, ist ihr Ursprung so dunkel als ihr Schicksal.

Die Bolognesen, welche ihn in der letzten Zeit so unköniglich behandelt hatten, bestatteten ihn auf königliche Weise. Sie ließen ihn einbalsamiren, in Scharlach kleiden, sein Haupt mit einem aus Gold, Silber und Edelsteinen verfertigten Diadem schmücken und ihm ein Scepter in die Hand geben. Auf einer mit Sammt und Scharlach überzogenen Erhöhung stand

[669]

König Enzio’s verhinderter Fluchtversuch.

der offene Sarg und wurde in feierlichem Zuge,[3] an welchem zum zweiten Mal die ganze Bevölkerung Bologna’s Theil nahm, in die Kirche von St. Dominico gebracht. Eine zwei Fuß hohe gekrönte Bildsäule von Marmor und eine Inschrift bezeichnen noch jetzt in Bologna die Grabstätte des letzten Hohenstaufen.




Vorlesungen über nützliche, verkannte und verleumdete Thiere.
Von Carl Vogt in Genf.
Nr. 7.
Schilderung der Haut- und Aderflügler – Nutzen derselben – Pflaumen- und Schlupfwespen – Die Larven der Galläpfel – Eine Schmetterlingsgeschichte aus der Streusandbüchse des heiligen römischen Reichs – Der Kampf einer Goldwespe mit einer Mauerbiene – Der Instinct der Grabwespen – Wie die Grabwespen ihre Beute einholen.

Meine Herren!

Ohne Zweifel gipfelt der Typus der Insecten in dieser merkwürdigen Ordnung, welche weniger durch ihre Farben und äußere Bildung, als durch die merkwürdige Bethätigung der Intelligenz in ihrem Haushalte unsere ganz besondere Aufmerksamkeit verdient. Wenn ich sage, daß Bienen und Ameisen dieser Ordnung zugehören, [670] so fühlt unmittelbar ein Jeder, daß wir hier mit Wesen zu thun haben, welche durch Ausbildung ihres individuellen wie gesellschaftlichen Wesens eine hohe Stellung in der Stufenleiter der thierischen Intelligenz einnehmen. Bevor wir indeß auf diese Merkwürdigkeiten näher eingehen, wollen wir uns zuerst diejenigen Eigenthümlichkeiten der Bildung und Entwicklung, durch welche man einen Hautflügler stets erkennen kann, näher vergegenwärtigen.

Der Name schon sagt es, daß vier häutige, mit wenigen Adern versehene, meist ganz durchsichtige und farblose Flügel bei diesen Thieren vorhanden sind, die nur in höchst seltenen Fällen, wie z. B. bei den Arbeiterinnen der Ameisen, fehlen. Gewöhnlich sind diese Flügel lang, kräftig, der Flug äußerst schnell und gewandt, so daß nur wenige Insecten in dieser Hinsicht sich mit den Hautflüglern messen können. Der Kopf ist meist groß, scharf abgesetzt und durch die großen zusammengesetzten Augen, die an der Seite stehen, meist breiter als lang; die Fühler gewöhnlich faden- oder borstenförmig; die Mundtheile immer kauend, aber häufig auch durch bedeutende Verlängerung der Unterlippe zum Saugen, oder fast möchte man sagen, zum Schlappen eingerichtet; der Hinterleib meist schlank, walzenförmig, bald mit seiner ganzen Breite an der Brust ansitzend, wie z. B. bei den Blattwespen, bald nur durch einen dünnen Stiel mit der Brust zusammenhängend, wie bei den eigentlichen Wespen; entweder mit einem Giftstachel, der gänzlich zurückgezogen werden kann, oder mit einer mehr oder minder hervorstehenden, von Klappen beschützten Legeröhre bewaffnet. Da der Giftstachel nur eine Modifikation der Legeröhre ist, so fehlt er stets den Männchen und findet sich nur bei den Weibchen oder den sogenannten Geschlechtslosen, welche nur verkümmerte Weibchen sind.

Merkwürdig sind die Unterschiede, welche sich hinsichtlich der Bildung der Larven finden. Bei einer ganzen Gruppe der Ordnung, den Holz- und Blattwespen, besitzen die Larven außer den eigentlichen Brustfüßen gewöhnlich noch eine große Anzahl von falschen Bauchfüßen, so daß man sie auch Afterraupen genannt hat. Bei den meisten anderen Hautflüglern dagegen sind die Larven fußlose Maden mit wurmähnlichem Leibe, die unfähig sind, sich von der Stelle zu bewegen, und entweder auf die unmittelbar im Umkreise sich findende Nahrung oder selbst auf die Fütterung durch die Eltern und Ammen angewiesen sind. Die Puppen sind meist in einem dünnen Gespinnste eingeschlossen und fein gemeißelt, so daß die sämmtlichen Theile des werdenden Insectes mit großer Deutlichkeit erkannt werden können.

Nutzen und Schaden für den Menschen mögen in dieser Ordnung etwa gleich vertheilt sein, der Nutzen vielleicht sogar überwiegen. Denn wenn auch Holz- und Blattwespen manche unserer Nutzgewächse zerstören und Wespen und Ameisen unseren Vorräthen manchen Schaden zufügen, so dürfen wir doch neben den werthvollen Produkten der Biene an Wachs und Honig nicht der mannigfachen großen Dienste vergessen, welche uns Schlupf- und Grabwespen durch massenhafte Zerstörung schädlicher Insecten und wilde Bienen und Hummeln durch Befruchtung vieler unserer Nutzgewächse leisten. Ja, bei einigen Arten verkehrt sich der Schaden, welchen die verwandten anrichten, in offenbaren Nutzen durch die Anwendung des krankhaften Auswuchses, den sie an Gewächsen durch ihren Stich hervorbringen. Ein wesentlicher Bestandtheil der Tinte sind die Galläpfel, welche durch den Stich einer Gallwespe an den Blattstielen der Eiche hervorgebracht werden. Was wäre die Welt aber ohne Tinte? Man wagt den Gedanken nicht weiter zu verfolgen, und gewiß hat die Partei der „Umkehr“, welche das Rad der Zeit und der Wissenschaft rückwärts zu drehen versucht, noch nicht daran gedacht, es bis zu jenem Zeitpunkte zurückzurollen, wo die patriarchalische Einfachheit noch kein anderes Schreibmaterial besaß, als Meißel und Bausteine.

Unter den schädlichen Hautflüglern stehen die Blattwespen (Tenthredinida) obenan. Breiter, ungestielter Kopf; mächtige Brust; dicker, sitzender Hinterleib; ziemlich lange Fühlhörner und wenig hervorstehende Legeröhre charakterisiren sie hinlänglich; nicht minder die mit 18 bis 22 Beinen und meist kleinen Augen versehenen Afterraupen, die gewöhnlich ihren Hinterleib schneckenförmig zusammenrollen und meistens von Blättern leben. So finden wir auf den Rosen mehrere Arten von Blattwespenraupen, welche häufig die Blätter gänzlich abfressen; so andere auf dem Raps, auf den Kirschen, auf den Stachel- und Johannisbeeren, die alle durch gemeinsame Lebensart sich auszeichnen. Die Mutter schneidet mittelst ihrer sägeförmigen Legeröhre das Blatt an und schiebt dann unter die Oberhaut das Ei, das sich bald entwickelt. Die ausgewachsenen Räupchen, die sich häufig in Gespinnsten oder auch in ihrem eigenen schleimigen Unrathe, der sie kleinen Schneckchen ähnlich macht, verbergen, spinnen sich nach erlangtem Wachsthum in der Erde ein, bleiben aber gewöhnlich den Winter über in ihren Gespinnsten als Larven und verpuppen sich erst kurz vor der endlichen Verwandlung, so daß die eigentliche Puppenzeit im Verhältniß zu dieser ruhenden Larvenzeit nur sehr kurz dauert.

Andere, nur sehr kurzbeinige, gekrümmte Larven wohnen im Innern von Früchten, und hier ist es namentlich die Pflaumenwespe (Tenthredo flavicornis), die uns manchen Schaden zufügt. Sobald die Pflaumenblüthe sich entfallet hat, sticht sie von außen her ein Loch in den Kelch und schiebt ihr Ei bis an den winzigen Fruchtansatz, der sich in der Mitte der Blüthe findet. Das bald ausgeschlüpfte Räupchen frißt sich in die junge Frucht ein, bohrt sich voran bis in die Mitte des Kernes, frißt diesen aus und zerstört die Pflaume so, daß diese nach und nach welkt und endlich, wenn sie kaum die Hälfte ihres Wachsthums erreicht hat, zu Boden fällt. Man erkennt die Gegenwart der Larve leicht an dem zur Herausschaffung des wanzenartig stinkenden Unrathes angelegten harzigen Loch und begeht meistens die Unvorsichtigkeit, diese welken Pflaumen am Boden liegen zu lassen. Eine große Unvorsichtigkeit in der That: denn sobald die Pflaume am Boden liegt, bohrt sich die Larve heraus und kriecht in den Boden, um sich einzuspinnen und auf diese Weise fernern Nachforschungen zu entgehen. In manchen Jahren aber wird von diesen Larven der größte Theil der Zwetschgenernte zerstört.

Eine andere große Reihe der Hautflügler mit Legröhre wird von den zahllosen Schlupfwespen (Ichneumonida) gebildet, deren Larven schmarotzend auf Kosten anderer Insecten leben. Der Hinterleib dieser Thiere ist meistens lang und schlank, die Legeröhre gewöhnlich dünn, oft sehr lang und innen mit einem Stachel versehen, so daß viele Arten den Hinterleib mit dieser Legeröhre beim Fliegen fast wie eine Balancirstange in der Luft tragen müssen. Die größeren, meist lebhaft gefärbten Arten sieht man überall auf Kräutern und Gesträuchern, stets mit den langen, feinen Fühlhörnern tastend, lebhaft hin und hersuchend und zuweilen vom Honigsafte der Blumen sich nährend. Die kleineren Arten sind häufig fast mikroskopisch, aber selbst dann noch mit lebhaften Farben geziert.

Jedes Töpfchen, sagt man, findet sein Deckelchen, und so hat auch jedes Insect in der Familie der Schlupfwespen nicht nur einen, sondern mehrere schmarotzende Feinde, deren Larven sich auf seine Kosten ernähren sollen. Nicht nur die vollkommenen Insecten, sondern auch die Eier, Larven und Puppen werden von diesen Wespen heimgesucht und mit ihren mikroskopischen Eierchen, aus denen die Larven sich entwickeln, besetzt. Zu diesem Endzwecke haben die Wespen die oft lange Legeröhre, mittelst deren sie die Insecten, die ihnen zum Opfer fallen, sogar in den Verstecken und Höhlungen aufsuchen, worin sich diese bergen. Die Larven der Gallwespen, welche in den Zellen jener krankhaften Auswüchse der Pflanzen wohnen, welche man Galläpfel nennt, die in Stengeln, Bast und Rinde bohrenden Larven der Schmetterlinge sind nicht sicher vor den Angriffen der Schlupfwespen. Diese stechen die Legeröhre durch die dicken Wände der Galle hindurch und wissen sichsr die darin wohnenden Larven zu treffen, welche mit dem Eie belegt werden. Die kleinsten Arten hausen gewöhnlich auch in den kleinsten Insecten, wie es denn mehrere Schlupfwespen giebt, die ihre ganze Entwickelung von Ei, Larve und Puppe in einem winzigen Schmetterlingsei durchmachen. Das Tröpfchen Dotter, welches den Inhalt eines solchen Eies bildet, genügt vollkommen zur Nahrung der noch winzigeren Larve, die innerhalb desselben aus dem Eie sich entwickelt. Doch kann man nicht sagen, daß die Größe der Larve einer solchen schmarotzenden Schlupfwespe stets im Verhältnisse zu der Größe des Insectes steht, in welchem sie sich aufhält, indem die Menge häufig die Größe ersetzt. Wie manchem Schmetterlingsfreunde ist nicht schon die Freude vergällt worden, aus einer seltenen Raupe den unversehrten Schmetterling ausschlüpfen zu sehen! Die anscheinend ganz gesunde Raupe verpuppte sich, und nach einiger Zeit brach aus der Puppe ein Schwarm unendlich kleiner Wespen hervor, die nur dem Naturforscher überhaupt, nicht aber dem Schmetterlingssammler Interesse einflößen können. Wir waren als Knaben eifrige Schmetterlingsjäger und [671] übten beständigen Tauschhandel, wobei die Schmetterlinge nach der Häufigkeit in der Gegend abgeschätzt wurden. Der Wolfsmilchschwärmer war in Gießen äußerst selten, in Darmstadt schon häufiger, stand aber nichts desto weniger hoch im Preise. Wie wunderten wir uns, als wir eines Tages bei einer Ferienreise nach der „Streusandbüchse des heiligen römischen Reichs“ den weiten Exercirplatz vor der Stadt, wo den Darmhessen militärische Bildung und Schwindsucht zugleich angedrillt werden, dicht mit Wolfsmilch übersäet fanden, auf welcher Raupen der Schwärmer in Menge weideten! Wir sammelten Hunderte und kehrten triumphirend nach Hause. Trotz der Warnungen unserer kleinen Darmstädter Freunde, welche energisch behaupteten, die auf dem Exercirplatze gesammelten Raupen seien mit dem militärischen Fluche der Sterilität behaftet und erzeugten nur kleine Mücken, aber keine Schmetterlinge; um letztere zu haben, müsse man Schmetterlinge fangen, von diesen Eier legen lassen und aus diesen Eiern Räupchen in geschlossenen Räumen ziehen – trotz dieser Warnungen beluden wir uns mit Wolfsmilch-Raupen, die wir harmlos in die Ecke kriechen und sich einpuppen sahen. Es kam nie ein Schmetterling zum Vorschein – die untersuchten Puppen waren leer, mit kleinen Gespinnsten gefüllt. Die Aufhellung der Sache, die uns abermals ein Räthsel erschien, ergiebt sich wohl von selbst aus dem Gesagten: die Darmstädter Sandwüste ist von Schlupfwespen übervölkert.

Die Schlupfwespen beschränken sich nicht nur auf Insecten anderer Ordnungen; sie greifen auch ihre eigenen Verwandten an, und man kennt sogar Beispiele, daß die in andern Insecten schmarotzenden Schlupfwespenlarven einer zweiten Schlupfwespenlarve zum Aufenthalt dienen, die also ein doppelter Schmarotzer ist. So giebt es kleine Schlupfwespen, von denen die einen (Aphidius) in Blattläusen, die anderen (Bracon) in Raupen hausen. Noch kleinere Schlupfwespen aber (Chrysolampas und Hermiteles) wissen die im Inneren der Blattläuse und Raupen schmarotzenden Larven mit ihrer Legeröhre zu treffen und ihr Ei in sie hineinzuschieben.

Nun, glaubt man, müßte das Insect, welches einen solchen Schmarotzer beherbergt, auch sehr bald unter ihm zu Grunde gehen; allein dies ist nicht der Fall. Wie ich schon in einer früheren Vorlesung anführte, ist der Larvenzustand namentlich dazu bestimmt, gewissermaßen ein Stoffmagazin anzulegen, das zur künftigen Ausbildung dient. Von diesem Stoffmagazin, von diesem Fettkörper, ernähren sich die schmarotzenden Larven, ohne durch Angriff der Organe dem Leben der Larve selbst eine Grenze zu setzen. So frißt also in dem angeführten Falle die Raupe fort und fort; allein der Stoff, den sie zu ihrer Verwandlung nöthig hat, wird ihr von dem schmarotzenden Bracon weggefressen, und auch dieser frißt nicht für seinen eigenen Nutzen, denn in ihrem Innern haust die Larve des Hemiteles, welche ihr den geraubten Stoff, den sie zur Verwandlung nöthig hätte, entzieht.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß die meisten Schlupfwespen für uns nützliche Thiere sind, indem sie die schädlichen Raupen durch Besetzung mit ihrer Brut vertilgen. Die Ueberzeugung von dieser Nützlichkeit ist sogar so weit gegangen, daß man in vielen von Raupen verwüsteten Forsten besondere Raupenzwinger anlegte, in welchen man Schwärme von Schlupfwespen zu erziehen gedachte, die dann wie die Seuchen der Apokalypse über die Raupen herfallen sollten. Heutzutage ist man von der totalen Zwecklosigkeit solcher Versuche wohl zurückgekommen und läßt die Schlupfwespen ziemlich ungestört ihr Wesen treiben, ohne in ihre Entwicklung weder hemmend noch fördernd eingreifen zu wollen.

Die Goldwespen (Chrysidida), die eine lange, wie ein Perspectiv zurückzieh- und ausdehnbare Legeröhre mit einem kurzen Giftstachel am Ende haben und die sich einer Assel gleich zusammenrollen können, wobei ihr breiter, meist in den schönsten Metallfarben glänzender Hinterleib die Unterseite des Körpers deckt, besitzen eine andere Industrie. Sie spielen, sagt ein Beobachter, in der Classe der Insecten etwa dieselbe Rolle, wie der Kukuk in der Classe der Vögel. Unfähig, eine Zufluchts- und Wohnstätte für ihre Larven zu errichten, bemächtigen sie sich durch List der Nester, welche geschicktere Verwandte angelegt haben. Diese schamlosen Schmarotzer lauern auf den Augenblick, wo eine einsame Biene ihr Nest verläßt, schieben die Legeröhre hinein und setzen zwischen den Vorräthen, welche die Biene anhäuft, ihr Ei neben dasjenige der rechtmäßigen Besitzerin. Die Larve der Goldwespe wächst viel schneller, als die Bienenlarve, und frißt dieser die Nahrung weg, so daß sie vor Hunger stirbt, oder sie krallt sich auf dem Rücken derselben fest und saugt sie langsam aus, bevor sie ihr den Gnadenstoß giebt. Ungestraft aber kommen sie nicht immer durch, und wehe ihnen, wenn die stärkere Biene sie auf der That ertappt! Lepelletier de Saint-Fargeau, dessen Beobachtungen so viel zur Kenntniß der Sitten der Hautflügler beigetragen haben, erzählt ein Beispiel, das wir nicht umhin können, zu citiren. Die königliche Goldwespe (Hedychrum regium) pflegt ihre Eier in das Nest der Mauerbiene (Osima muraria) zu legen. „Ich habe,“ so erzählt jener Naturforscher, „eine Goldwespe beobachtet, welche mit dem Kopfe voran in eine beinahe vollendete Zelle der Mauerbiene gekrochen war. Nach geschehener Untersuchung hatte sie eben sich umgedreht und schob rückwärtsgehend ihren Hinterleib in die Zelle, als die Mauerbiene mit Blumenstaub und Honig beladen anlangte und mit einem eigenthümlichen zornigen Summen, das ich früher nie gehört hatte, sich auf ihre Feindin warf. Die Goldwespe rollte sich ihrer Gewohnheit gemäß sogleich zusammen, während die Mauerbiene sie mit ihren Kiefern packte, und bildete eine vollständige Kugel, über welche nur die Flügel herausragten. Vergebens suchte die Mauerbiene ihr mit Kiefern und Stachel eine Wunde beizubringen; die Waffen glitten an dem glatten Panzer ab. Nun biß ihr die Mauerbiene die vier Flügel hart an der Brust ab, ließ sie zur Erde fallen, untersuchte ihr Nest mit einer Art von Unruhe, legte dann ihre Ladung ab und flog wieder davon. Die an der Erde liegende Goldwespe aber entrollte sich nach kurzer Zeit, kletterte zu dem Neste hinauf und legte nun ruhig ihr Ei hinein, dessen Unterbringung sie mit dem Verluste ihrer Flügel erkauft hatte.“ Man sieht aus diesem Beispiele, daß der Gerechte in der Natur nicht immer seine Belohnung findet, und daß die Goldwespe dennoch trotz der Kühnheit und Vorsicht, welche die Mauerbiene zeigte, mit raffinirter Schlauheit zu ihrem Zwecke gelangte. Offenbar hatte die Mauerbiene den weisheitsvollen alten Satz vergessen, daß nur die Todten nicht wiederkehren.

Unter den Hautflüglern mit Giftstachel ragen vor allen die einsam lebenden Grab- oder Wegewespen (Fossores) hervor, bei denen Männchen und Weibchen geflügelt sind und keine geschlechtslosen Arbeiter vorkommen. Die Weibchen machen ihre Nester in der Erde, im Holze, in Mauern, vorzugsweise aber gern im Sande, weshalb man sie denn auch an sonnigen Sandrainen, an Wegen und Dünen außerordentlich häufig findet. Dort graben die meist schöngeschmückten, schlanken Wespen mit großer Schnelligkeit tiefe Gänge ein, auf deren Grund sich die Hallen befinden, in welche die Eier abgelegt werden. Die Larven sind fußlos, wurmförmig, schwach, mit kleinem festen Kopfe, kaum geeignet, eine Beute zu bewältigen, und nichts desto weniger darauf angewiesen, von lebendigen Insecten zu leben. Wahrhaft wunderbar ist der Instinct der Mütter, welcher ihnen dies möglich macht. Jede Grabwespenart verfolgt eine besondere Insectengattuug, mit deren ohnmächtigen Leibern sie die Zelle verproviantirt, in welcher sie ihr Ei abgesetzt hat. Jene holt Raupen, diese Käfer, eine andere Spinnen, und selbst die großen Kakerlaken in den Colonien haben eine gewaltige Grabwespe zum Feind, welche sie in ihr Nest schleppt. Die seltensten Spinnenarten, die man kaum bei tagelangem Suchen erhaschen könnte, findet man dutzendweise in den Hallen solcher Grabwespen aufgestapelt, und für den Käfersammler ist häufig ein solches Nest ein willkommener Fund; denn die darin niedergelegten Exemplare sind stets vollkommen frisch, wie wenn sie eben aus der Puppe gekrochen wären.

Seltsam ist das Verhalten dieser aufgespeicherten Opfer der Grabwespen. Sie sind nicht todt und leben auch nicht, sie befinden sich in einem Zustande tiefer Ohnmacht, kaum fähig, ein Glied zu bewegen, vollständig unfähig, es zu einem bestimmten Zweck zu gebrauchen. In diesem Zustande erhalten sich die Thiere wochenlang, ohne zu faulen oder sich zu zersetzen, sodaß die Larve Zeit hat, einen lebenden Leichnam nach dem andern anzuschroten und so im Inneren auszufressen, daß nur die leere Hülse übrig bleibt. Wären die Thiere bewegungsfähig, so könnte die Waffen- und fußlose Larve sie unmöglich bewältigen; wären sie vollkommen getödtet, so würden sie faulen, ehe die Larve das Ziel ihres Wachsthums erreicht hätte. Die nothwendigen Bedingungen zur Ausbildung der Larve sind also durch jenen seltsamen Scheintod gegeben, in welchen die Opfer versenkt sind.

Welche Mittel wendet aber die Grabwespe an, um auf diese Weise ihr Nest zu verproviantiren und jenen Zustand herbeizuführen, den wir soeben beschrieben? Hören wir darüber denselben [672] Beobachter, welchen ich schon in der ersten Vorlesung anführte, Professor Fabre von Avignon. Die Grabwespe, welche er beobachtete, ist eine neue Art, welche nach seinem Namen Cerceris Fabreiana genannt wurde; die Beute einer der größten europäischen Rüsselkäfer, Cleonus ophthalmicus. „Man sieht,“ sagt Fabre, „die Wespe herbeifliegen, schwer beladen, ihre Beute zwischen den Füßen tragend, Bauch gegen Bauch, Kopf gegen Kopf. In einiger Entfernung von ihrem Loche sitzt sie schwerfällig ab, packt den Käfer mit den Kiefern und schleppt ihn nun den steilen Abhang hinan zu ihrem Loche. Das ist eine schwere Arbeit. Häufig stürzt sie, überschlägt sich, rollt im Sande bis an den Fuß des Abhanges, läßt sich aber nicht entmuthigen und gelangt endlich an ihr Loch, in welches sie die Beute hineinschleppt, welche sie nicht einen Augenblick aus den Kiefern ließ. Wenn diese Erkletterung des Loches für die Wespe nicht leicht ist, so ist dagegen ihr Flug wunderbar kräftig, zumal wenn man bedenkt, daß das mächtige Thier eine Beute fortschleppt, die bedeutend schwerer ist, als es selbst. In der That wiegt die Grabwespe 150, der Rüsselkäfer 250 Milligramm. Diese Zahlen sprechen beredt zu Gunsten der kräftigen Jägerin, und in der That konnte ich nicht müde werden zu bewundern, mit welcher Geschicklichkeit, Leichtigkeit und Schnelligkeit sie mit ihrem Wildpret in den Klauen davonflog und sich zu unabsehbarer Höhe emporschwang, wenn ich sie mit meiner Neugierde belästigte. Aber nicht immer flog sie, und zuweilen gelang es mir, durch unablässige Neckereien mit einem Strohhalm sie dahin zu bringen, ihre Beute fahren zu lassen, deren ich mich unmittelbar bemächtigte. Die beraubte Wespe suchte eine Zeitlang herum, schlüpfte auch wohl in ihr Loch, flog aber bald auf eine neue Jagd aus. In weniger als zehn Minuten hatte die geschickte Jägerin ein neues Wild gefunden, getödtet und sausend durch die Lüfte herbeigeführt. Acht Mal nahm ich einer Wespe so die Beute ab, acht Mal kam sie mit einem frischen Käfer wieder. Ihre Geduld erschöpfte die meinige, ich ließ ihr den neunten Fang.“

(Schluß folgt.)


Bürger’s Grab. Die Grabstätte Bürger’s zu Göttingen war lange Zeit verschollen, als vor einigen Jahren das Interesse für dieselbe erwachte. Man forschte nach, und besonders durch die Aussage der alten Magd Bürger’s, die bei dem Begräbniß zugegen gewesen war, wurde mit ziemlicher Sicherheit das Grab auf dem Friedhofe vor dem Weenderthore rechts an der hinteren Wand ermittelt. Damals wurde öffentlich zu Beiträgen für ein Denkmal aufgefordert; aber von den eingegangenen Geldern hörte man nichts wieder, es hieß, der Student, welcher die Sammlungen übernommen hatte, sei mit dem Gelde durchgegangen. So schien der Unstern, der den Dichter im Leben verfolgte, auch über seinem Grabe zu walten, und mit doppelter Wehmuth stand der Fremde an dem niedrigen Rasenhügel mit der Akazie, den ihm der Todtengräber als solches bezeichnete. – Jetzt hat es der Zufall gefügt, daß nicht nur das Grab des Dichters mit Sicherheit entdeckt ist, sondern auch ein Grabdenkmal, das er längst besaß. Der Todtengräber des Gottesackers soll im Auftrage einer Familie das Grab eines von deren Angehörigen suchen. Bei der Entzifferung alter Leichensteine kommt er auch an ein Denkmal, das neben dem bisher als Bürger’s Grab bezeichneten Hügel steht, dicht von Gestrüpp eingehüllt und dick vom Moose umkrustet, und das sich nach Entfernung des Mooses als ein Grabdenkmal Bürger’s ausweist. Es ist eine cannelirte dorische Säule, die eine Urne trägt; in der Mitte wird die Säule durch einen Würfel unterbrochen, der auf drei Seiten die Inschrift führt: „Die Stadt Göttingen dem Dichter August Bürger“, nebst dem Geburts- und dem Sterbejahre des Dichters. So hatte also Bürger längst ein Denkmal, das nur im Laufe der Zeiten vergessen war. Es ist jetzt von dem Gestrüpp entblößt und ragt frei über die niedrige Mauer, an der es steht. Bürger ruht in einer Reihe mit dem großen Philologen Heyne; Thibaut, der Rechtsgelehrte, und Planck, der große Theolog, ruhen auf derselben Seite des Gottesackers; dort ist auch Cäcilie Tychsen begraben, die Geliebte Ernst Schulze’s, deren Grabstein eine Harfe mit zersprungenen Saiten zeigt.




Ein deutscher Trollhätta-Canal. Wenige gebildete Deutsche dürfte es geben, die nicht von dem berühmten Canal in Schweden gehört haben; wie viele derselben wissen jedoch etwas von dem in seiner Art noch merkwürdigeren deutschen Bauwerk, dem Elbing-Oberländischen Canal? Ein Bauwerk, sehenswerther als gar manches, um dessen willen der Deutsche, der im Ausland reist, einen bedeutenden Umweg nicht scheut. Während die schwedischen Schleußen eine Höhe von 112 Fuß haben, liegen die Canalstrecken des preußischen Oberlandes 225 Fuß über dem Wasserspiegel der untern Strecke, welche in den Elbingfluß und durch diesen in das frische Haff führt. Die Verbindung wird durch schiefe Ebenen unterhalten, was schneller und billiger ist als durch Schleußen. Das hierbei stattfindende Verfahren ist folgendes: Ist ein Schiff an dem Ende der oberen Canalstrecke angelangt, so wird unter dasselbe, während es noch schwimmt, ein großer Wagen gefahren; vermittelst desselben wird es dann herausgezogen und auf einem Schienenwege über eine geneigte Ebene von 65 Fuß herabgelassen; das gleiche Verfahren findet nach und nach an drei andern Stellen statt. Umgekehrt findet das Aufsteigen in derselben Weise statt; wenn es sich aber trifft, daß gleichzeitig ein Schiff am obern Theile des Canals und ein anderes am untern Theile desselben ankommen, so wird das Gewicht des hinabgehenden zum Hinaufziehen des andern benutzt. Der erforderliche Mehraufwand von Kraft, und wenn kein thalgehendes Schiff zur Stelle ist, die ganze Kraft wird durch ein rückschlächtiges Wasserrad von 27 Fuß Durchmesser gewonnen. Die Dauer der Fahrt über die vier Ebenen beträgt mit Einrechnung der Zeit, welche zum Einfahren der Schiffe auf den Wagen und zum Abfahren von denselben erforderlich ist, durchschnittlich 15 Minuten, also nicht mehr, als zur Füllung oder Entleerung einer einzigen Schleuße gehören würde.




18. October 1861.

An der Pforte des Palastes steht der greise Veteran.
Mühsam brach der graue Stelzfuß durch die Menge sich die Bahn:
„Habet Achtung vor dem Krieger, der gekämpft auf Leipzigs Feld,
Wo die Eisenwürfel fielen blutig um die halbe Welt.“

5
An der Pforte des Palastes steht der blanke Kürassier,

Wehrt dem Volke, das sich eifrig dränget an die Königsthür –
Drinnen wird ein Fürst gekrönet, stolzer Hohenzollern Sproß;
Zutritt nur gewährt der Orden und der Stern dem Adelstroß.

Und der Alte murmelt leise in den silberweißen Bart:

10
„Trage auch den Stern am Busen, wahrlich! von der besten Art;

Als wir heut’ vor vielen Jahren unser Vaterland befreit,
Hat die scharfe Säbelklinge uns zu Rittern eingeweiht.“

Also murmelt er und vorwärts ohne Wort und ohne Gruß
Setzt er muthig auf die schöne Marmortreppe seinen Fuß,

15
„Freund zurück!“ so ruft die Wache; doch der Alte stolz und frei:

„Vorwärts! hieß es Anno 13!“ und so stampfet er vorbei.
„Vorwärts! hieß es Anno 13!“ und so stampfetS. A. in C.




Bei Beginn eines neuen Quartals empfiehlt die unterzeichnete Verlagshandlung:

Aus der Heimath.
Ein naturwissenschaftliches Volksblatt.
Herausgegeben von E. A. Roßmäßler.
Amtliches Organ des deutschen Humboldt-Vereins.
Wöchentlich eine Nummer mit Illustrationen. Preis vierteljährlich 15 Ngr.

Nichts ist so sehr geeignet, das Trennende der Standesunterschiede, welche eine nothwendige Folge unserer Culturstufe sind, zu mildern, als das schöne echt menschliche Bewußtsein der Allen gleichen irdischen Heimathsangehörigkeit. Wer in dieser Heimath nicht länger mehr ein Fremdling sein will – und wie sehr sind dies die Meisten noch! – der dürfte wohl thun, sich den Abonnenten unseres Blattes zuzugesellen.

„Aus der Heimath“ hat die Aufgabe, in populärster, dabei aber doch wissenschaftlicher Weise die Kenntniß der Natur in allen Beziehungen – Astronomie, Physik, Chemie, Geologie, Naturgeschichte etc. – zur Anschauung zu bringen und somit den Leser immermehr heimisch auf der Mutter Erde zu machen. Die dem Text beigegebenen Abbildungen in Holzschnitt sind nicht nur eine Zierde des Blattes, sondern es zeichnen sich dieselben vor allem durch wissenschaftliche Treue aus, die ihnen erst ihren Werth verleiht.
Ernst Keil. 

  1. Ich verweise den Leser auf das Buch, wie ich denn überall bei der Gedrängtheit dieser Skizze, zu welcher mich der gedrängte Raum des Blattes zwingt, die Bekanntschaft, resp. Erneuerung der Bekanntschaft mit den Werken der Dichterin zur Voraussetzung nehme.
  2. Italienisches Bilderbuch 1847. Erinnerungen aus dem Jahre 1848. England und Schottland 1851.
  3. WS: fehlendes Komma ergänzt.