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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[625]
Blut um Blut
Eine oberbairische Geschichte.
Von Herman Schmid.

Wo die Isar aus dem tiefen Thaleinschnitt, den sie sich auf ihrer Gebirgswanderung gegraben, bei München in die Ebene tritt, kann sie als die Grenze gelten, die das Hochland von dem übrigen Theile Oberbaierns scheidet, in welchem sich, anschließend an die Münchner Hochebene, zuerst tagelange Moosstrecken von Fürstenfeldbruck über Dachau und Schleißheim bis hinunter gegen Freising ausdehnen. Es wird wohl noch Jahrzehnte dauern, bis es der vordringenden Cultur gelingen wird, den Torfgehalt des ehemaligen Seegrundes zu erschöpfen und diesen selbst trocken zu legen – jetzt bietet die weite wellige Ebene, nur von trägen Moosbächen durchschnitten, kaum hie und da von graugrünem Weidengebüsch unterbrochen und noch seltener von einer menschlichen Ansiedelung belebt, einen traurigen, wenn auch nicht unschönen Anblick, dessen braunrothe Farbentöne und duftige Linien, vielleicht an jene der römischen Campagna erinnernd, schon manchen Maler begeistert und unter dem Pinsel eines Zwengauer und Morgenstern ihre künstlerische Verherrlichung gefunden haben. Als Grenze blickt von links her in blauer Ferne der Schluß der Bergkette des bairischen Hochlandes mit dem Herzogenstand, dem Heimgarten und der scharf abfallenden Zugspitze, die in’s Land hinaus ragt, wie der leergelassene Thronsessel eines Riesen, den die niedrigern Algäuer Berge wie dienende Vasallen umdrängen; zur rechten Seite zieht abschließend eine anmuthige Hügelkette dahin, auf welcher dunkle Tannenwälder mit braunen Ackerstreifen und grauen Wiesflecken wechseln, und bald ein freundliches Dorf mit stattlicher Kirche und Sattelthurm das heitere Leben der Gegenwart verkündet, bald das Schloß der alten Grafen von Dachau oder das ehrwürdige Stift von Weihenstephan von vergangenen Jahrhunderten und ihrer Herrlichkeit erzählen.

Auf dieser Höhe, zu deren Füßen sich die braune Amper aus dem weiten glänzenden Silberbecken des Ammersees heranschlängelt, ist wieder schönes fruchtbares Land, und während unten die Moosbäuerlein mit ihrem kleinen Vieh und ihren unscheinbaren Pferden mühsam um dem kargen Boden und der sauren Weide um ein kümmerliches Leben ringen, hat eine Stunde weiter der Wohlstand seinen behäbigen Wohnsitz aufgeschlagen. In leichten angenehmen Hügelwellen zieht reiches Fruchtland sich bis gegen Friedberg hin, mit zahllosen Dörfern, Hofmarken und Märkten, mit ergiebigem Boden, saftigen Wiesen und stattlichen schützenden Tannenwäldern, mit kleinen Flüßchen und Bächen dazwischen, so erquickend und mild, als die Luft, die darüber heimisch ist. Eine Eigenthümlichkeit der Gegend sind die vielen Einzelhöfe, eine Erinnerung, daß wir uns auf dem Boden echt germanischer Ansiedlung befinden, denn der Bajuvare liebte es, sich einzeln anzubauen und sein Gehöfte an einen möglichst freien und beherrschenden Punkt zu stellen.

Auf einer dieser Einöden begab sich die Geschichte, die wir erzählen; möge aber darum Niemand nach ihren örtlichen Spuren suchen, es würde vergebens sein, denn ein Theil der mithandelnden Personen lebt vielleicht noch, und dies gebot uns, die Spuren zu verwischen und zu verwirren: Niemand wird und soll unterscheiden können, was davon in’s Bereich der Dichtung gehört; daß sie wahr sei, wird nur derjenige bezweifeln, der das Volk nicht kennt, und über der idyllisch heitern Seite des Bauernlebens vergißt, daß hart daneben auch Abgründe liegen, wie kein städtisch verfeinertes Treiben sie schauriger und finsterer zeigt. Der Kern des Bauernthums ist unverdorbene Kraft: es ist nur natürlich, wenn sie nicht blos zum Guten drängt, sondern auch in maßloser Leidenschaft ausbricht – zumal im Flachlande, wo Luft und Lebensweise beitragen, das Blut minder leicht fließen zu machen, als in den Bergen des Hochlandes.

Auf grasigem Hügelabhang, mit der Giebelspitze gegen Sonnenaufgang gewendet, liegt der Stürzerhof, ein stattliches Bauerngut in Mitte einer mächtigen breiten Ackerflur, die nach allen Seiten von dunklem Tannenwalde bekränzt wird. Der Umkreis ist nicht groß; keine Fernsicht reicht über den Waldgürtel hinaus, und auch innerhalb desselben bietet sich dem Auge keine andere Abwechselung, als die leichten Hebungen und Senkungen des Geländes, als die sich in Braun, Gelb und Grün abstufenden Farben der Ackerstreifen. Das war besonders bei Beginn der Erzählung der Fall, denn der Wind wehte schon lange über die Stoppeln und über die grünen Schöpfe der Halmrüben, und der erste Sonntag im October ging in prachtvoller goldener Abendbeleuchtung zu Ende. Im Wiederscheine desselben stand der Stürzerhof mit seinen weißen Mauern wie ein Schlößchen da, an welches sich zur einen Seite ein langgestreckter Baumgarten schmiegte, während gegenüber der Wald eine grüne Spitze den Hügel herab vorschob und den natürlichen Park des Schloßherrn zu bilden schien. Zwischen der Spitze und dem Hofe stand auf grüner Wiesenfläche eine mächtige, dichtbelaubte Eiche, vor ihr ein über den Baum hinaus ragendes, roth angestrichenes Kreuz mit drei Armen – ein sogenanntes Schauerkreuz, dem man die Kraft zuschreibt, den Hagelschlag von der Flur abzuwenden, die es überschaut.

Beim Nähertreten verlor sich das gute Aussehen des Hofes beträchtlich, denn da war nicht zu verkennen, daß ein Theil desselben etwas verkommen aussah und das Eine sich nicht zum Andern [626] schickte. Die Thüren und Fenster des Erdgeschosses waren nach der Sitte der Gegend rothbraun angestrichen und mit einem weißen Andreaskreuz bemalt; die Fenster waren klein, niedrig, breit und mit Blei in runde Scheiben gefaßt; im auffallenden Gegensatze dazu waren Fensterstöcke und Läden des obern Stocks mit freundlichem Grün bemalt, die Fenster selber aber geräumig und mit breiten hellen Scheiben besetzt, hinter denen sich bescheidene Anfänge von Vorhängen blicken ließen. Hart an die linke Wand des Hauses schloß sich eine hohe Planke und theilte den Raum von der Einfahrt her in zwei streng geschiedene Hälften; auch hinter dem Hause durch den Obstgarten setzte sich die Scheidewand fort und verwandelte sich am Ende desselben in einen Feldzaun, der sich erst am Waldsaume verlor.

Der Stürzerhof war offenbar getheilt und im Besitze zweier Herren, die nicht eben gute Freunde und Nachbarn zu sein schienen, und alle möglichen Anstalten getroffen hatten, einander nicht zu begegnen.

An jenem Abend schritt ein junges Bauermädchen in der eigenthümlichen Tracht jener Gegend zur rechten Seite der Planke durch den Garten. Es war eine groß und schlank gewachsene Gestalt, auf deren Hüften der schwarze gelbgesäumte Rock mit seinen unzähligen dicht gelegten Falten bequem und natürlich ruhte, und nur etwas über’s Knie fallend ein ungemein zierliches Bein in weiß und blau geflammten Strümpfen und einen Fuß erblicken ließ, den selbst die rund ausgeschnittenen Schuhe mit ihren plumpen Bandrosen nicht zu entstellen vermochten. Um den Oberkörper schmiegte sich ein schwarzes Mieder mit einem leicht vor die Brust geschnürten Vorstecker aus Goldstoff; den schlanken Hals umgab das feingefältete Hemd in zierlicher Krause, und mit gleichen Fälteln und Krausen waren auch die Hemdärmel besetzt und hoben, nur bis an die Hälfte des Oberarmes reichend, dessen kräftige Rundung angenehm hervor. Auf dem Kopfe saß das unvermeidliche Spitzenhäubchen mit Draht, das sich um das schöne feingeröthete Angesicht des Mädchens wie ein duftiger Rahmen anschmiegte, während das durch Haar und Zöpfe über die Stirne gebundene rothwollene Band den Ausdruck der feurigen nußbraunen Augen noch entschiedener machte. Das Mädchen war unbestreitbar von hoher Schönheit, und dennoch konnte das holde Gesicht in Augenblicken des Nachdenkens einen so harten, ja beinahe wilden und trotzigen Ausdruck annehmen, daß man nicht glauben konnte, das seien dieselben Züge, die noch eben so kinderhaft freundlich zu lächeln vermocht hatten.

Das Mädchen ging langsam; es hatte ein Körbchen am Arme, mit überreifen aufplatzenden Bohnenhülsen gefüllt, und machte sich an den Gemüsebeeten des Gartens zu schaffen. Es gab aber dort so viel wie nichts zu thun, denn der Garten war herbstlich verwildert und schien sich keiner besonders sorgsamen Hand zu erfreuen. Auf den Beeten standen die Strünke der abgeräumten Kohlköpfe zwischen den Stengeln hoch aufgeschossener Samenpflanzen; nur hie und da ragte ein unordentlicher Büschel Bandgras oder ein Geniste von Nelken und Rittersporn. Es gab ein kümmerliches Sträußchen, das die schöne Bäuerin sich zusammenlas und hinter den Goldlatz steckte; fast hatte es den Anschein, als suche sie nur einen Vorwand, um länger im Garten zu bleiben und dem Gesange zuhören zu können, der aus dem feindlichen Gebiete jenseits der Planke herübertönte.

In den Zweigen eines großen alten Baumes stand dort ein Bauernbursche in blauem Staubhemd, einen Gürtel um die Mitte, ein leicht umgeschlagenes schwarzes Tuch um den Hals und auf dem schwarzen Krauskopf einen hellen Strohhut, dessen breiter Rand ihm gestattete, unbemerkt in den Nachbargarten zu schielen. Konnte er auch von dem Mädchen, das sich immer in der Nähe des Zaunes hielt, nicht viel sehen, so war doch klar, daß seine Aufmerksamkeit nicht dem verwilderten Garten galt, obwohl der von ihm gepflegte dagegen allerdings wie eine fürstliche Anlage anzusehen war. Die Wege durch den Obstgarten waren so rein, wie gescheuert; die Baumscheiben zierlich ausgehoben und frei gehalten; die Kronen der Bäume verriethen die sichtende Hand des kundigen Gärtners, und in der Rabatte die Breterwand entlang leuchtete ein prachtvoller Herbstflor von Astern, Monatrosen, Georginen und andern Spätblumen. Der Bursche war mit dem Abpflücken von Zwetschgen beschäftigt, die er in ein am Baume befestigtes Körbchen legte und dazu mit heller Stimme sang:

„Jetzund lad’ ich zwei Pistolen,
Thu’ vor Freuden einen Schuß,
Der Herzliebsten zu gefallen,
Weil’s die Schönste ist von Allen,
Die ich jetzund meiden muß!“

Er machte einen kleinen Absatz, blickte fest in die andere Abtheilung hinüber und schien seinen Muth zu einem besondern Anlauf zusammen zu fassen. „Einmal muß es sein,“ brummte er vor sich hin und rief dann laut: „Ich kann schon all’s aufhör’n mit meinem Kreische’, wenn’s der Jungfer Nachbarin nicht gefällt …“

„Meint Ihr mich, Nachbar?“ sagte das überraschte Mädchen und blickte erröthend auf. „Von wegen meiner könnt Ihr immer fortsingen, mir gefällt’s ganz wohl!“

Der Bursche erwiderte nichts und sang weiter:

„Jetzund geb’ ich meinem Pferd die Sporen,
Reite zu dem Thor hinaus,
Hab’ vor Allen Dich erkoren,
Schönster Schatz, Du bleibst mir unverloren,
Bis ich wied’rum komm …“

Das Krachen des Astes, auf dem er stand, unterbrach ihn: das Mädchen drüben schrie laut auf und war mit einem Sprunge an der Planke, als wenn sie ihm zu Hülfe kommen wollte – sie hatte in der Eile nicht an die Scheidewand gedacht, die es unmöglich machte. Die Sache war indeß nicht so gefährlich, denn der gewandte Bursche hatte sich gerade im rechten Augenblick vom Baume niedergeschwungen und stand wohlbehalten an der andern Seite des Zaunes, einige im Sprunge entfallene Früchte wieder auflesend.

Keines sprach ein Wort, Keines sah das Andere, und dennoch blieben Beide an ihrem Platze stehn, als müßten sie noch etwas Besonderes erwarten, das sie kommen sahen, wie das langsame Aufschließen einer Blumenknospe. Der Bursche ermannte sich zuerst. „Wenn die Jungfer Nachbari’ noch drüben ist, möcht ich ihr wohl was sagen … Ich hab’s schon oft auf der Zung’ gehabt und hab’s Ihrem Vater und Ihrem Bruder sagen wollen, aber ich hab’s nie anbringen können, denn sie sind immer fuchsteufelswild, wenn sie mir begegnen, und schauen drein, als wenn sie all’s anfangen wollten zu krakehle…“

„Und was wär’ denn das?“ klang’s von drüben etwas beklommen; „ich will’s dem Vater wohl ausrichten …“

„Dann will ich der Jungfer Nachbarin sagen,“ begann der Bursche rasch, „daß ich … daß sie …“ Er stockte und setzte dann langsam hinzu: „… daß dort an der Planken ein paar Breter losgeworden sind …“

„Ist das die Möglichkeit! Davon hab’ ich noch nie was bemerkt …“

„Ja, es ist schon so,“ fuhr der Bursche geläufig fort, „da seh’ die Jungfer Nachbarin nur selbst … an den beiden Läden da sind die Pfostennägel ausgefault, es braucht nur einen Druck, so liegen sie unten …“ Im Eifer, seine Entdeckung nachzuweisen, gerieth der Druck etwas zu stark, die beiden Breter lösten sich von dem Pfosten ab und senkten sich schräg zu Boden.

In der blitzschnell entstandenen Lücke standen sich Bursche und Mädchen hart gegenüber, beinahe Gesicht an Gesicht, daß ihre Athemzüge sich streiften. Beide waren wie mit Blut übergossen und vermochten keinen Laut hervor zu bringen. „Das muß ich gleich dem Vater sagen, daß er’s wieder vermacht …“ stammelte endlich das Mädchen.

„Wenn die Jungfer will,“ entgegnete der Bursche, „mir thät’s nicht pressire’, und wenn’s nach meinem Kopf ging, ich ließ’ den ganzen Zaun einreißen …“

„Ich hätt’ auch nichts dawider… dann könnt’ ich besser in Euren Garten sehn, der gefällt mir einmal zu gut. Da ist Alles so sauber wie in einer Kapellen, und Ihr habt so schöne Blumen. Bei uns sind Distel und Brennnessel das Meiste, und Hennendarm und Taubenkropf – kaum daß ein armseliges Nagerl (Nelke) und ein Rosmarin fortkommt …“

„Das ist eine besondere Sach’,“ rief der Bursche lachend, „wie die Geschmäcker verschiede’ sind! Mir gefallt Ihr Garte’ viel besser als der unsrige, und ich hab’ in der ganzen Welt nirgends solch’ eine schöne Blum’ gesehen, wie sie da wachsen … Wenn ich ein solches Sträußle hätt’, wie die Jungfer Nachbarin da am Mieder stecken hat, ich thät’ einen Kreuzsprung machen vor Vergnüge’!“

[627] „Die paar Blümeln sind net so viel werth,“ sagte das Mädchen, indem sie ihm das Sträußchen mit niedergeschlagenen Augen hinreichte. Der Bursche ergriff es hastig, als ob er daran riechen wolle, und drückte einen leichten Kuß darauf. „Da muß aber die Jungfer Nachbarin,“ rief er, „von mir auch ä Gegengeschenk annehme’ und sich von meine Zwetschge’ da was aussuche’ …“

Dem Mädchen war der geheime Kuß nicht entgangen, in der Verwirrung darüber kam ihr der Vorwand gelegen, sich bewundernd über das Körbchen zu beugen. „Was Ihr für wunderschöne Zwetschgen habt!“ rief sie. „Wir haben doch die nämlichen Bäume und bekommen nur kleine und saure Dinger, wie die Schlehen!“

„Das kommt davon, daß Ihre Bäume nicht geputzt werden und den Brand und den Schorf haben … hätt’ ich was dreinzureden, so was ließ ich nicht aufkommen!“

„Und wie schön die Frucht in dem Körbel geordnet ist! Die Weinblätter machen eine prächtige Einfassung, und die Astern, die dazwischen gesteckt sind, lassen erst recht sehen, wie duftig und blau die Früchte sind, es wär’ schade, wenn man sie herausnehmen wollt’!“

„Davor kann man helfe’! Behalt’ die Jungfer Nachbarin das ganze Körbche’ – aber jo das Körbche’ nicht, das könnt’ eine schlimme Bedeutung habe’ … wenn Sie ’s einmal nicht mehr braucht, kann Sie mir das Körbche’ über’n Zaun werfe’!“

„Das wär’ doch zu grob – ich werd’ Euch wohl einmal wieder hören, daß ich’s zurückgeben kann!“

„So ist es also der Jungfer nit zuwider, wenn sie mir begegnet?“

„Warum sollt’s mir zuwider sein? Ihr habt mir ja nichts zu leid gethan!“

„Und könnt’ der Jungfer auch nix zu leid thun, nit vor mei’ Lebe’! Ich hab’ nur gemeent, weil doch Ihr Vater und Ihr Bruder und die Bauern alle in der Gegend uns Pälzer nit leide könn’ … es könnt bei der Jungfer auch so sein! Und das freut mich, daß es nicht so ist, denn weeß Gott, die Bauern haben kee’ Ursach’, wir sind nit zu neiden, daß wir haben fortgemußt aus der schöne Palz!“

„ … Ihr seid also nit gern bei uns?“

„O wohl gern – aber das muß die Jungfer Einem nit übel nehmen, wenn man sich daran erinnert, es ist gar zu schön drüben über’m Rhein! Die Jungfer sollt’ nur einmal die schöne Wiese und Felder, und die Laubwälder mit denen prächtigen Eichen und Buchen sehn, und die Mandle und die Käste, die all’s im Freien wachse’, und die Weingarte mit den schönste Traube’ … sie sollt’ Augen machen!“

„Euer ganzes Herz muß noch dort sein, so verzückt redt Ihr davon!“

„Meine Gedanken reisen wohl all’s noch manchmal hinunter in die Palz – aber mei’ Herz ist nicht dort, das ist in der Dachauer Revier daheim!“

Das Mädchen kam aus der Verwirrung nicht heraus; welche Ausflucht sie auch versucht hatte, immer nahm das Gespräch schon nach wenigen Worten eine verfängliche Wendung. „Aber warum,“ sagte sie ausweichend, „seid Ihr Ueberrheiner daheim fort und zu uns gekommen?“

„Weil dort all’s zu viel Leut sind, und Grund und Boden ist einmal zu theuer. Drum gehn alle Jahr Viele, die keinen Platz und keine Arbeit mehr finden, über’s Meer nach Amerika; mein Vater aber hat gesagt, wir wollen lieber hinüber in Baiern, da is all’s noch Platz genug, und der König Max Joseph ist ein guter Mann und is auch ein Pälzerkind, und wir bleiben wenigstens auf dem lieben deutschen Erdboden. … Warum betrachtet die Jungfer meine Blus’ so besonders?“ unterbrach er sich selbst. „Es ist eine kommode Tracht und zur Arbeit gut …“

„Ich hab’ mir die feine Nähterei auf Eurem Gürtel betrachtet …“ Was bedeutet der Buchstab’, der eingenäht ist?“

„Das ist so Gebrauch bei uns: es ist der Anfangsbuchstab’ von meinem Namen – ich heiß’ Adrian …“

„ … Ein schöner Nam’ … es heißt Niemand so bei uns in der ganzen Gemein.“

„Für mich aber hat das A noch eine besondere Bedeutung: es heißt auch – Ameile …“

„Ameile? Was ist das?“

„Das ist der Namen von dem Mädle, das ich gern hab’ …“

„Ich glaub’, der Tyras meld’t sich,“ sagte das Mädchen, indem sie ihr Körbchen zu sich nahm, „ich muß fort …“

Adrian faßte sich ein Herz und hielt sie am Arme fest. „Bleib’ die Jungfer Nachbarin doch – der Hund hat sich ja gar nicht gerührt; ich möcht’ gar zu gern mit ihr von dem Mädle schwätze, das ich gern hab’ … von meinem Ameil …“

„Ameile …“ flüsterte das verlegene Mädchen, „das lautet recht schön, aber wir haben keine solche Heilige im Kalender …“

„O doch, doch! Es ist nur ein Schmeichelwörtle, eine Abkürzung … für Ihren Namen, Jungfer … Ameile ist bei uns Annemarie! “

„Ich muß wahrhaftig fort,“ rief das Mädchen und wollte sich losmachen, „es fängt schon an, dunkel zu werden …“ Adrian aber hielt sie fester, faßte ihre Hand und fuhr fort: „Findet die Jungfer, daß das gut lautet? Mir geht es auch so, das Herz geht mir aus, wenn ich den Namen höre … und wenn ich erst sagen dürfte: mein schönes, gutes, mein liebes Ameile! … O mach’ sich die Jungfer nicht los, ich muß es Ihr einmal sagen, wie ’s mir um Herz ist, daß Sie mir’s angethan hat im ersten Augenblick, wie wir vor anderthalb Jahren auf den Hof gekommen sind, daß ich Sie mit jedem Tag lieber bekommen hab’ und daß ich mich schon lange nach einer Gelegenheit sehn’, es Ihr zu sagen! Sie allein und keine Andere ist meine Ameile – was wär’ ich für ein glücklicher Mensch, wenn die Jungfer mir auch ein wenig gut sein könnte!“

Annemarie sah zu Boden; sie lächelte, und dennoch trat in ihrem Gesichte der finstere Zug hervor, der es hart und beinahe unheimlich machte. „Verlangt das net, Adrian,“ sagte sie dumpf, „es wär’ nur ein Unglück für uns alle Beide …“

„Ein Unglück? Und warum?“

„ – Weil mein Vater niemals seine Einwilligung dazu geben thät’ … Ihr wißt, er kann die Ueberrheiner nit ausstehen … er hat gar keinen andern Gedanken, keine andere Kümmerniß, als wie er Euch wieder aus dem Hofe bringen kann …“

„Wir haben ihm doch nie was zu leid gethan! Wenn er uns nicht im Hof haben will, warum hat er ihn dann verkauft?“

„Das will ich Euch sagen, Adrian, wenn ich auch selbiger Zeit, wie das geschehen ist, noch ein halbes Kind gewesen bin. Der Vater hat sich hart gehaust in den Kriegszeiten, dann hat ein paar Mal hintereinander der Schauer Alles in Grund und Boden hineingeschlagen, der Viehstall ist dazu gekommen … es ist ihm nichts übrig ’blieben, als den halben Hof zu verkaufen. Es hat sich auch gut getroffen, daß ihn ein Vetter gekauft hat, der hat ihm versprochen, er wollt’ ihm den halben Hof wieder ablassn, sobald er’s im Stand wär, ihn hinauszuzahlen. Und der Vater hat sich geschunden und geplagt, damit er das Geld zusammenbringen soll, und er hätt’ es wohl noch zusammenbracht, und der Vetter wär’ seinem Wort auch nit umgestanden – da ist er aber geschwind weggestorben, und die Erben und Befreund’ten haben nicht nach dem Vater gefragt und haben das Gut verkauft …“

„Gott sei Dank, so sind wir hereingekommen!“ rief Adrian.

„Und wollen auch drinnen bleiben und wollen es versuchen, gut freund zu werden mit dem Vater! Sollte es denn gar nicht möglich sein, ihn auszusöhnen? “

„Ich glaube ’s nicht,“ sagte sie mit traurigem Kopfschütteln, „der Vater ist gar streng und hart! Hätt’ er sonst Haus und Garten und Feld abgetheilt, als wenn eine Mauer dazwischen wär’? Der Stürzerhof muß wieder ganz sein werden – das ist sein einziges Trachten … eh’ er das aufgiebt, läßt er Alles zu Grund geh’n!“

„Ich kann mir’s nicht so gefährlich vorstellen,“ erwiderte Adrian. „Du bist so gut, Ameile, und Dein Vater sollt’ gar kein Fleckle habe, wo man ihm beikomme könnt’? Ich will’s doch versuchen, wenn ich nur erst weiß, wie ich mit Dir daran bin!… Lieb’s herziges Ameile … sag’, ob Du mich nicht auch ä Bißle lieb habe’ kannst?“

Annemarie wurde des Geständnisses, dessen Ahnung auf ihren Wangen brannte, durch den Hofhund überhoben, der laut bellend anschlug. „Ich muß fort,“ sagte sie, „der Vater kommt zurück …“

„Das ist der Vater noch nicht! Ist er nicht nach München hinein zum Octoberfest? Der meinige ist ja auch hin … bis das Pferderennen vorbei ist, wird’s immer viere, und unmittelbar darnach wird Dein Vater auch nicht aufgesessen sein … er kann noch nicht zurück kommen …“

„Ich bitt’ recht schön, Adrian, daß Ihr mich gehen laßt …“ bat das Mädchen herzlich; er aber hielt ihre Hand noch fester und [628] fuhr dringender fort: „Ich halt’ Dich nicht auf, Ameile, aber die Antwort auf meine Frage ist ja so kurz … oder wenn Du mir nicht so antworten willst, thu’s auf eine andere Weis’ … Du hast ein Nelkenstöckle mit wunderschöne rothe Blume am Fenster· in der Stub’ … gieb mir Eene davon! Im Hausplatz, wo die Welt mit Bretern verschlagen ist, daß wir nicht hinein können zu Euch, ist ein Spalt gerade über’m Schloß … ich steh’ oft davor, Ameile, weil ich Dich gerade sehn kann, wenn Du in der Küche am Heerde stehst. … Durch diesen Spalt gieb mir Antwort; ist’s Nein, so schiebe mir ein Nelkenzweiglein durch; ist’s Ja, so nimm Eine von den schöne’ feurige’ Blume’ … Willst Du, Ameile?“

Das Mädchen erwiderte nichts, sondern eilte durch die stark einbrechende Dämmerung dem Hofraume zu, von welchem Hundegebell immer lauter hörbar wurde. Adrian sah ihr einen Augenblick betreten nach, dann machte er sich daran, die losgegangenen Breter wieder an der Planke zu befestigen. „Ich wollte, der alte Stürzer hielte in seinem Eigensinn nicht fester als diese verrosteten Nägel,“ brummte er dabei, „dann wär’ Alles gut!“

Annemarie war hastig und ohne sich umzusehen, in der Wohnstube angekommen und hielt das Körbchen mit den Pflaumen und Blumen behutsam mit der Schürze bedeckt. Sie hatte kaum so viel Zeit gefunden, dem an der Kette lärmenden Hofhunde ein beruhigendes Wort zuzurufen, auf das er wedelnd in die Hütte kroch, und öffnete das in der Ofenecke befindliche altersbraune Wandschränkchen, um ihr Kleinod im obern Fache vor uneingeweihten und feindseligen Blicken zu verbergen. Hochaufathmend war sie eben damit zu Ende gekommen, als es von außen an’s halbgeöffnete Fenster pochte. Erschrocken schlug sie das Schränkchen zu und wandte sich nach dem Fenster, durch welches ein stämmiger Bursche von fast verwegenem Aussehn hereinlugte. Der runde niedrige Filzhut auf dem kurz geschorenen Haar und die rothe, statt der Knöpfe mit Silbermünzen besetzte Weste zeigten, daß er zu den eingebornen Bewohnern der Gegend gehörte. Er hatte die Jacke über die eine Schulter geworfen, während auf der andern der Lauf eines Gewehres sichtbar wurde. Das Gesicht des Burschen war schön, vielleicht schöner als das Adrian’s, aber es war etwas Kühnes und Wildes darin, was eher zurückschreckte, als anzog. „Was rennst denn, als wenn Dir der Kittel brennte, Mirl,“ rief er, „daß man Dich nicht erschreien und einholen kann?“

„Ich hab nichts von Dir gehört und gesehen,“ erwiderte das Mädchen kurz.

„Dann muß Dir schon bei dem kühlen Abend ein Fluß auf’s Gehör gefallen sein!“ höhnte der Bursche. „Was hast denn noch so spät im Garten zu schaffen gehabt?“

„Geht’s Dich was an, Melcher? Ich hab’ Bohnen gebrockt.“

„Bohnen gebrockt? Um die Zeit? Und an der Planken? Die Bohnen stehn ja auf der andern Seit’, so viel ich weiß! Das kommt mir ganz eigen vor, Mirl!“

„Ich glaube gar, Du laß’st Dir einfallen, mir aufzupassen! Und damit Du’s nur weißt … ich heiß’ Annemarie, nicht Mirl, ich wüßt’ nicht, warum ich mir meinen Namen sollt’ verhunzen lassen!“

„So? Das ist ja wieder was Neues! Hat Dich ja Deiner Lebtag noch kein Mensch anders geheißen als Mirl, und jetzt ist Dir’s auf einmal zu gering? Du solltest aber nit so reden, Mirl – Du weißt ja, wie ich gesinnt bin mit Dir!“

„Was ist’s dann? Hab’ ich Dir merken lassen, daß ich von derselbigen G’sinnung bin?“

„Das hast nicht gethan, aber Du hast mich doch merken lassen, daß es Dir nit zuwider ist … Das kannst nicht leugnen, Mirl! Soll’s mir jetzt gleich sein, soll mir nicht der Zorn aufsteigen, wenn ich seh’, daß ein Andrer …“

„Ach was!“ unterbrach ihn Annemarie unsicher, „wo sollt’ in der Einöd’ ein Andrer herkommen?“

„Man sollt’s freilich nit glauben, ich seh’s selber ein, daß es eine Dummheit ist, so was zu denken … und doch wollt’ ich darauf wetten, ich hätt’ vorhin an der Planken den Rheinschnaken bei Dir stehn sehn, den nothigen Ueberrheiner, der das Hemd übers Gewand tragen muß, weil er sich keinen Janker vermag ...“

„Ich hab’ Dir schon gesagt, Melcher,“ rief das Mädchen zornig, ich verbitt’ mir das Ausspioniren! Wenn’s nochmal geschieht, sag’ ichs dem Vater, und Du mußt aus dem Haus!“

„Hoho,“ entgegnete der Bursche, „pfeift der Wind aus dem Loch? Dann weiß ich, wie ich daran bin … dann sei nur froh, wenn ich dem Bauern nichts sag …“

„Zankt Ihr Zwei wieder einmal miteinander?“ rief ein Dritter dazwischen, ein Bursche in Bauerntracht, den die Aehnlichkeit des Gesichts auf den ersten Blick als Annemarie’s Bruder erkennen, ließ. Es waren ganz dieselben Züge, nur in männliche Formen übergetragen und mit stärkerem Hervortreten des finstern Ausdrucks um Mund und Augen. „Ihr exercirt Euch ein bissel früh ein auf den heiligen Ehstand!“

„Da bist bös auf dem Holzweg, Sepp!“ rief Annemarie, „so weit ist’s nit mit mir und dem Melcher!“

„Wirst schon so weit kommen, Schwester … kannst keinen bessern Mann finden, ich versteh’ mich drauf!“

„Kümmre Dich um Dich selber! Hast schon wieder den Stutzen auf dem Buckel? Willst nie gescheidt werden und das Wildschießen aufgeben? Laß Dich nit verleiten von dem Melcher, es ist noch einmal Dein Unglück! Wenn Dir einmal der Förster begegnet …“

„Dummheiten!“ rief Melcher dazwischen. „Dann kommt’s eben drauf an, bei wem’s zuerst knallt! Komm, Sepp, laß Dir nix einreden; wir vertragen die schönste Zeit mit dem öden Gered … ich weiß einen Platz droben im G’ramp (geräumter Schlag), wo noch der Sommerhaber steht. Ein Zwölfender wechselt alle Tag um die Zeit heraus … sollen wir unsern Haber ruhig abweiden lassen? Nein – ich will unsere Flur hüten, und was mir ins Gäu geht, das brenn’ ich nieder …“

(Fortsetzung folgt.)


Die geschichtlichen Helden der deutschen Dichter.
Nr. 1.
Maria Stuart.

Wir durcheilen die Gallerien, Säle und Corridore des schottischen Königspalastes, lassen die Bildnisse seiner längst modernden Herrscher unbekümmert auf uns herabschauen, achten wenig der Erläuterungen des Führers: hier tanzte Carl Eduard zum letzten Male auf schottischem Boden, oder: dies ist der Thronsaal, welcher zu den Levers Georg’s IV. hergerichtet wurde, und jene Zimmer bewohnte der französische Exkönig Carl X. in den dreißiger Jahren, und diese die Königin Victoria, wenn sie Holyrood gelegentlich zu ihrer Sommerresidenz erwählt. Warum hören wir nur halben Ohrs auf die Geschichte des düsteren Schlosses, das König David gegen die Mitte des zwölften Jahrhunderts gründete und die Engländer 1544 gänzlich niederbrannten? Warum interessirt es uns wenig, daß Jacob V. den Palast wieder herstellte und Cromwell ihn auf’s Neue zerstörte, bis unter der Regierung Carl’s II. das Gebäude wieder aus seinen Trümmern erstand? Warum – so müssen wir uns selbst fragen, so wenig Theilnahme für jene historischen Personen und Begebenheiten? – Warum befinden wir uns in diesem Schlosse mit seiner verblichenen Pracht und gefallenen Größe, seinen Räumen, die wenig Freude, aber viel Blut sahen – warum? – Weil auch eine Frau hier wohnte, die berühmt wurde durch ihre Schönheit wie durch ihr Unglück, die bestimmt schien, zwei Königskronen zu tragen, und unter einer Dornenkrone seufzte, deren Leben, von Leidenschaften und „der Parteien Gunst und Haß verwirrt“, den Stein wider sie erhebt, deren tragisches Ende aber Vergebung erringt. –

Der Name „Maria Stuart“ ist es, welcher mit einem nie verduftenden Hauche von Poesie aus verflossenen Jahrhunderten zu uns herüberklingt, der uns noch heute bewegt, so oft wir ihn nennen hören. Wie sollte er nicht hier, in Holyrood, uns erschüttern, hier, wo ihr Fuß einst wandelte auf denselben Fliesen, wo ihre Gestalt durch dieselben Thüren und Gemächer schwebte, wo sie liebte und irrte, wo sie büßte und verzweifelte und Rache

[629]

Maria Stuart und der schottische Königspalast Holyrood.
Originalzeichnung von Herbert König.
Boudoir der Königin.      Schloß Holyrood.      Bad der Königin.
Schlafzimmer.

[630] schwur den Mördern ihres „Rizzio“ ein Schwur, den sie treulichst erfüllte und der sie dem eigenen Verderben unaufhaltsam entgegenführte!

Daher unsere Hast und Eile, jene Gemächer zu betreten, von denen man uns schon in der Kindheit erzählte, daher unser Herzklopfen je näher wir ihnen kommen, bis der Führer stehen bleibt und mit lauterer Stimme ruft „Queen Mary’s Apartments!

Als Jacob V. nach der schimpflichen und bedeutungsvollen Niederlage bei Solway-moß von der Armee gänzlich verlassen und von seinen Erbfeinden, den Engländern, auf’s Aeußerste gedemüthigt worden war, ergriff ihn Verzweiflung. Es befiel ihn ein Fieber, und er starb am 14. December 1542 im Schlosse zu Falkland in einem Alter von 31 Jahren. Kurz vor seinem Tode vernahm er, daß ihm seine Gemahlin zu Linlithgow eine Tochter geboren habe; er brach dabei, gedenkend, daß die Krone von Schottland durch eine Enkelin von Robert Bruce an das Haus Stuart gekommen sei, mit Trauer in die Worte aus: „durch ein Mädchen ist sie gekommen, durch ein Mädchen wird sie wieder fortgehen!“ – Dieses Mädchen war Maria Stuart, die am 8. December 1542 geboren ward und somit in einem Alter von 6 Tagen zum Throne gelangte.

Von diesem Augenblicke an bildeten sich und traten zwei Parteien einander entgegen, welche sich mit der Person die Erbschaft der Maria Stuart streitig machten und sich, die eine auf Frankreich, die andere auf England stützten. Vor Allem war es englischerseits Heinrich VIII., welcher in einer heftigen, ja drohenden Weise die junge Königin für den Prinzen von Wales begehrte und zu diesem Zweck verlangte, sie möge in ihrem zehnten Jahre zu ihrer ferneren Ausbildung nach England gebracht werden. Die unmittelbare Folge davon war eine Reihe von Zwistigkeiten und blutigen Kämpfen, welche mit der Niederlage der nationalen Partei bei Pinkey endeten, so daß im Verein mit dem Regenten, dem Grafen Arran, die kluge und gewandte Königin Wittwe beschloß, Maria nach Frankreich zu senden und mit dem jungen Dauphin zu verloben. Dieser Vorschlag ward von Frankreich eifrigst angenommen, weil es darin das sicherste Mittel erblickte, durch eine unauflösliche Verbindung England in Schach zu halten. Niemand gewann aber mehr dabei, als der schottische Adel, dem durch die Entfernung der Maria Stuart und ihre Vermählung in einem fremden Lande die wilde Herrschaft erleichtert wurde.

So langte die kaum sechsjährige Maria unterm Schutze einer französischen Flotte und begleitet von ihrem natürlichen Bruder Lord James und vier ihrer Altersgenossen, den sogenannten vier Marien, wohlbehalten im Hafen von Brest an. Sie wurde nach St. Germain gebracht, wo in diesem Augenblicke der Hof residirte und König Heinrich II. sie wie seine Tochter aufnahm und behandelte.

Aus dieser Periode schreibt ein gleichzeitiger Schriftsteller über sie: „Maria Stuart war für ihr Alter sehr gereift. Sie war groß und schön. Ihre Augen verkündeten Geist und strahlten von Glanz. Sie hatte die zierlichsten Hände von der Welt. Ihre Stimme war sanft, ihr ganzes Aeußere edel und graziös, ihre Rede voller Leben, ihr Zauber gewaltig. Schon frühzeitig zeigte sie eine seltene Anmuth, so daß man sie lieben mußte und sie schon in ihrer Kindheit verführerisch fand.“ Sie wurde mit den Töchtern der Katharina von Medicis und unter den Augen der gelehrten Margaretha von Frankreich, Schwester Heinrich’s II., erzogen. Der Hof, in dessen Mitte Maria Stuart aufwuchs, war der prächtigste, geschmackvollste, lebensfroheste, aber nebenbei auch einer der leichtfertigsten von Europa. Hier waren die Frauen fortwährend mit Männern untermischt. „Hier,“ sagt Brantôme, „gab es eine Menge sterblicher Göttinnen, von denen eine immer schöner als die andere war.“ Da sich die Könige Maitressen hielten, so sollten ihre Unterthanen auch welche haben, und die, welche dies nicht thaten, hielten sie für Narren und Dummköpfe. In einer solchen Schule der Feinheit und Verdorbenheit bildete sich Maria Stuart, die zugleich frühzeitig die Gaben ihrer reichen und reizenden Natur durchblicken ließ. In ihrem zehnten Jahre setzte sie bereits durch die Reife ihres Urtheils in Erstaunen, im dreizehnten Jahre war sie schon so verschwiegen, daß sie die vertraulichen politischen Mittheilungen geheim hielt, die sie von ihrer Mutter empfing, und als sie sich ihrem fünfzehnten Jahre näherte, beeilte Heinrich II. ihre Vermählung mit dem Dauphin, welche auch ein Jahr darauf, am 24. April 1558, mit der größten Feierlichkeit in der Kirche Notre-Dame begangen wurde. Heinrich II. vergaß sich bei dieser Gelegenheit in seinem Freudenrausche so weit, die Dauphine das Wappen von England annehmen zu lassen, eine Unklugheit, durch welche er den furchtbaren Kampf zwischen ihr und Elisabeth entzündete.

Das eheliche Glück der jungen Gatten sollte von kurzer Dauer sein, denn schon nach zwei Jahren starb Maria’s Gemahl, der inzwischen als Franz II. König von Frankreich geworden war. Dieser plötzliche Todesfall vernichtete die schönsten Hoffnungen Maria’s. In einem Alter von achtzehn Jahren Wittwe, und Französin seit ihrem zwölften, fühlte sie den ganzen Verlust, den ihr der Tod zugefügt, indem er ihr nicht allein den Gemahl raubte, sondern sie auch von dem Throne Frankreichs herabführte, den nun der berüchtigte Karl IX. bestieg.

In tiefe Verzweiflung versunken, schloß sie sich mehrere Wochen in ihr Zimmer ein, wo sie außer den nächsten Anverwandten Niemand empfing. Mit düsteren Vorahnungen, denn sie liebte Frankreich und hatte ihr altes Vaterland fast vergessen, nahm sie die Aufforderung des schottischen Parlaments entgegen: unverzüglich in’s Königreich zurückzukehren. „Ich habe sie oft,“ sagt Brantôme, „diese Reise fürchten sehen wie den Tod, und sie wünschte hundert Mal lieber in Frankreich als einfache Wittwe zu bleiben, als die Regierung in ihrem wilden Lande übernehmen zu müssen.“

Am 14. August 1561 schiffte sie sich in Calais mit ihren drei Oheimen und vielen Adeligen ein. – Brantôme, der unter der Zahl der Edelleute war, die ihr nach Schottland folgten, hat uns über ihre Abreise eine rührende Erzählung hinterlassen, aus welcher wir Folgendes entnehmen: „Die Galeere war eben aus dem Hafen ausgelaufen, und es hatte sich eine leichte Kühlte erhoben, als man die Segel einzusetzen begann. Sie stützte sich mit beiden Armen auf das Hintertheil der Galeere an der Seite des Steuerruders, vergoß schwere Thränen, warf unausgesetzt ihre schönen Augen auf den Hafen und den Ort, von wo sie ausgefahren, und rief immer die traurigen Worte: Lebewohl, Frankreich, ich werde Dich nie wieder sehen! – bis es Nacht zu werden begann.“

Am Morgen des 19. August lief Maria Stuart im Hafen von Leith ein. Sobald man vernahm, sie sei gelandet, kam man ihr von allen Seiten entgegen, und der Adel empfing sie, um sie in den Palast ihrer Väter nach Edinburgh zu geleiten. Dieser herzliche Empfang rührte sie, ohne sie jedoch zu erheitern. Man hielt ein Pferd für sie bereit, hatte aber für die Damen und Herren ihres Gefolges nur kleine Klepper aus den Gebirgen. Als die Königin sie erblickte, fing sie an zu weinen und beklagte, daß dies nicht der Pomp, die Zurüstungen, die Pracht und die herrlichen Thiere von Frankreich wären. In solch bescheidenem Aufzuge kam sie in dem Palast von Holyrood an.

Am Abend versammelten sich die Bürger von Edinburgh unter ihren Fenstern, ließen sich auf ihren dreisaitigen Violinen hören und sangen Psalmen, um ihre Rückkehr zu feiern und ihre Freude zu bezeigen. Die Gesänge dieses düstern Cultus, der nicht der ihrige war, gesellten sich noch zu den melancholischen Eindrücken, welche Maria Stuart bei der Rückkehr in ein Land empfand, in dem sie sich fremd fühlte, dessen Gebräuche sie nicht angenommen hatte, dessen Glauben sie nicht mehr theilte.

Queen Mary’s Apartments!“ ruft also unser Führer.

Aus den Gemächern Darnley’s, die im erhöhten Erdgeschoß des nordwestlichen Thurms von Holyrood liegen, gelangen wir auf derselben Wendeltreppe, die am 9. März 1566 die Verschworenen überschritten, in die Zimmer der Königin. Es sind deren vier: das Audienzzimmer, das Schlafzimmer, das Ankleide- und Speisezimmer. Das Schlafgemach, noch in seinem Urzustande, diente der Königin zugleich zum Wohnzimmer. Die Wände sind mit Gobelins verziert (darauf der Sturz Phaëthon’s – ein bedeutungsvolles Omen), die Decke mit Emblemen, welche auf die schottischen Monarchen Bezug haben. Das Scharlachbett, welches nach damaliger Sitte fast in der Mitte des Zimmers steht, ist mit grünen Fransen und Quasten versehen und noch ziemlich gut erhalten. Hier schlief Maria als jugendliche Wittwe Franz des Zweiten – dann als Gemahlin Darnley’s und Bothwell’s – zum letzten Male in der Nacht des 5. Juni 1567 (nach der Schlacht von Carberry) – als sie von Lord Ruthven und Lindsay gewaltsam aus demselben gerissen und nach Loch-Leven gebracht wurde, um die königlichen Hallen von Holyrood nie wieder zu sehen. Neben diesem Scharlachbett steht noch der schmucklose Korb, in dem Maria das Kinderzeug für Jacob VI. von Elisabeth erhielt – jene Schatulle [631] ist mit einer Perlstickerei überzogen, einem Werke ihrer Hände – ebenso rührt jene Zeichnung, eine Landschaft darstellend, von ihr her. Unmittelbar neben dem Schlafzimmer liegt das supping-room (in Black’s picturesque Guide to Edinburgh „Boudoir“ genannt), durch eine Thür getrennt, die jetzt ein verblichner Tapetenvorhang zur Hälfte verdeckt – und hier wurde es vollbracht! –

Am Abend des 9. März 1566 hatte die Königin mit ihrer natürlichen Schwester, Lady Argyle, ihrem Geheimsecretair David Rizzio[1] (dieser mit bedecktem Haupte), dem Commandanten von Holyrood, und den Lairds Creich und Erskine in diesem kleinen Zimmer soupirt. Da rauscht der Teppich über jener Thür, und herein tritt Darnley – und, sich zur Königin setzend, legt er den Arm um ihre Taille und küßt sie zärtlich. Einen Augenblick später erscheint Ruthven, vollständig gepanzert, das Gesicht geisterbleich und abgespannt, als wenn er eben vom Krankenbett erstanden. Ihm folgen fest auf dem Fuße George Douglas, Faudonside und Patrik Bellenden, welche Dolche und Pistolen tragen. Maria Stuart, die finstern Pläne des Königs und seiner Verschworenen ahnend, fragt Ruthven, was ihn zu dieser ungewöhnlichen Stunde hierherführe und wer ihm erlaubt habe, bei ihr einzudringen. „Nicht Ihnen, Madame, diesem Rizzio gilt es, der die größte und abscheulichste Sünde begangen hat gegen die Ehre Eurer Majestät, gegen Ihren Gemahl den König, gegen Adel und Volk, gegen Schottlands Ehre.“ Und ohne sich um die Gegenreden Maria Stuart’s zu kümmern, ohne das Geschrei Rizzio’s zu beachten, der sich verzweiflungsvoll hinter die Königin verbirgt und sich an den Falten ihres Gewandts festklammert, hält Darnley die Königin umschlungen, während die Verschworenen den Unglücklichen durch das Schlafgemach zerren bis zur Treppe hinaus, ihn dort abschlachten und den durch sechsundfunfzig Wunden verstümmelten Leichnam dann durchs Fenster in den Schloßhof werfen.

Nachdem Alles vorbei, kehrt Ruthven zur Königin zurück und schenkt sich ein Glas Wein ein. „So ist’s also vollbracht?“ fragt sie ihn zitternd. – „Es ist, Madame, zu Ihrer und zu unserer Ehre!“ – „Nun denn,“ und Maria trocknet ihre Thränen ab und erhebt sich mit einem schrecklichen Zornesblick, „dieses Blut soll Einigen unter Euch theuer zu stehen kommen!“

Während dieses heimtückischen Attentats bewachten zweihundert Mann das Schloß, sowie auch auf Darnley’s Befehl alle Zugänge zu demselben verschlossen waren. Von Furcht und blinder Hast getrieben, diesen grausigen Ort zu verlassen, nahmen daher die Mörder ihren Ausweg durch ein Fenster – flohen sodann durch den Garten und retteten sich durch ein Wächterhaus, das sogenannte „Bad der Königin“. Bei der Reparatur dieses alten Hauses fand man noch einen kostbar eingelegten Dolch, von dem sich vermuthen läßt, daß er in jener Nacht ebenfalls als Mordwaffe diente und bei der so eiligen Flucht hier verloren wurde.

Maria Stuart aber blieb nach jener Nacht fast allein in Holyrood – allein mit ihrem Schmerz, mit ihrer Rache. Darnley! In dieser einsamen Nacht wurde Dein Tod beschlossen, in dieser Nacht wurde das letzte Fünkchen von Liebe und Mitleid für Dich ertödtet, und nur eine Regung gab es noch in Maria’s Brust: Rache – entsetzensvolle Rache. Er hatte nicht das Kind geschont, das sie schon seit sechs Monaten unterm Herzen trug – was sollte sie ihn schonen, den sie nie geliebt hatte, der immer ein feiger Schwächling gewesen und den sie von ihrer Todfeindin Elisabeth gleichsam aufgedrungen erhalten hatte!

Die Tragödie dieser Königin eilt nun nach jenem fürchterlichen ersten Acte mit unaufhaltsamen Schritten ihrem Ende zu.

Am 9. Februar 1567, in einer Sonntagsnacht, fliegt der kaum genesene Darnley mit dem Hause Robert Balfour’s in Kirk of Field bei Holyrood, in das man ihn der gesunden Lage wegen gebracht hatte, in die Luft. Am 15. Mai heirathet Maria, jede Rücksicht mit Füßen tretend, Lord Bothwell, nachdem sie sich scheinbar von ihm hatte entführen und die Scheidung von seiner Gattin gewaltsam bewerkstelligen lassen. In Knox’s, ihres unerbittlichen Gegners, Abwesenheit verkündigt der presbyterianische Geistliche Craig die Verlobung mit den Worten: „Ich nehme Himmel und Erde zum Zeugen, daß ich diese Ehe als ärgerlich und entsetzlich in den Augen der Welt verabscheue und verwünsche etc.“ Maria bleibt taub, dem wüsten und ehrsüchtigen Bothwell, dem Mörder ihres Gatten, reicht sie dennoch ihre Hand. Aber die Nemesis schläft nicht! Schon nach wenigen Wochen, nach der Schlacht Carberry, verläßt Bothwell als Flüchtling das Feld und seine junge Gemahlin – und diese zieht in Holyrood ein, voran das Banner, auf welchem die Ermordung Darnley’s abgebildet ist, als Gefangene der aufständischen Lords und des sie verhöhnenden Pöbels. – Jene vertrauten Liebesbriefe, die sie einst an Bothwell schrieb, und die später in den Händen Elisabeth’s die furchtbarsten Ankläger gegen sie werden sollten, indem sie deutlich die Mitwissenschaft von Darnley’s Ermordung bewiesen, übergab noch der fliehende Bothwell einem seiner Diener, der sie dem Commandanten von Holyrood einhändigen sollte. Dies geschah aber nicht – sondern sie wurden eine Beute ihrer Feinde.[2]

Maria war nun eine Gefangene. Von Holyrood wurde sie nach Schloß Loch-Leven abgeführt und dort in harte Gefangenschaft gesetzt, nachdem sie zu Gunsten ihres Sohnes Jacob VI. die Krone. niedergelegt hatte. Doch noch einmal schien ihr das Glück zu lächeln: vom jungen Douglas entführt, erklärte sie vom Schlosse Hamilton ihre Abdankung für erzwungen, brachte ein Corps von 6000 Mann zusammen – wurde aber vom Regenten Murray, ihrem natürlichen Bruder, beim Dorfe Langside gänzlich geschlagen. Vom Schlachtfelde entfliehend bat sie zu Carlisle Elisabeth um Schutz und eine persönliche Zusammenkunft; sie glaubte in England eines Zufluchtsorts gewiß zu sein, fand aber nur einen Kerker. – Man brachte sie nun von einem festen Schlosse nach dem andern in’s Innere des Landes. Ihr unkluges, stolzes Benehmen, erneuerte Fluchtversuche, die Anstrengungen der katholischen Parteien des Auslandes, namentlich des Herzogs von Alba, vor Allem aber ein Mordversuch auf Elisabeth selbst, beraubten sie der letzten Hoffnung und führten sie ihrem unerbittlichen Schicksal entgegen.

Am 18. Februar 1587, nach einer zwanzigjährigen Gefangenschaft, wurde sie in einem Saale des Schlosses Fotheringhay enthauptet. Maria starb mit Muth und heiterer Ergebung. Mit lauter Stimme und voll feuriger Zuversicht rief sie: „Mein Gott, auf Dich habe ich gebaut und übergehe meine Seele Deinen Händen.“ Sie glaubte, man würde sie nach französischer Sitte in aufrechter Stellung und mit dem Schwerte hinrichten. Die beiden Henker machten ihr den Irrthum bemerklich und halfen ihr das Haupt auf den Block legen, wobei sie fortwährend betete. Beim Anblick dieses kläglichen Unglücks bebte selbst der Henker und führte den Streich mit unsicherer Hand. Anstatt den Hals zu treffen, ließ er das Beil auf den Hintertheil des Kopfes fallen und verwundete die Königin blos, ohne daß sie gleichwohl zuckte oder eine Klage ausstieß. Erst bei dem zweiten Hiebe fiel der Kopf, den er mit den Worten zeigte (es waren mehr als zweihundert Personen anwesend): „Gott schütze die Königin Elisabeth – mögen so alle ihre Feinde umkommen!“ – Ein schwarzes Tuch wurde über die Ueberreste Maria Stuart’s geworfen. Das goldene Kreuz, das sie am Halse trug, die Rosenkränze, die sie am Gürtel hängen hatte, ebenso die Kleider, ließ man nicht den Henkern, aus Furcht, dieser theuere und verehrte Nachlaß möge dann als Reliquien dienen. Alle Blutspuren ließ man sorgfältig entfernen. In dem Augenblicke, wo man den Körper aufhob, um ihn in das Ceremonienzimmer des Schlosses zu bringen, wo er einbalsamirt werden sollte, bemerkte man den kleinen Lieblingshund Maria’s, der unter den Mantel gekrochen war und zwischen dem Kopfe und dem Halse seiner todten Gebieterin lag. Er wollte diesen blutigen Platz nicht verlassen und mußte mit Gewalt entfernt werden. Der Körper der Königin von Schottland wurde, nachdem man die Eingeweide herausgenommen und heimlich verscharrt hatte, ziemlich rücksichtslos einbalsamirt, in ein wachsgetränktes Leinentuch gehüllt, in einen kleinen Sarg gelegt und stehen gelassen, bis Elisabeth den Ort bestimmt, wo er beigesetzt werden sollte. Während mehrerer Stunden blieben die Thore von Fotheringhay geschlossen, und Niemand durfte hinausgehen, bis Heinrich Talbot, Sohn des Großmarschalls Shrewsbury, abgereist war, der der Königin Elisabeth den von Robert Beale aufgesetzten und von den vornehmsten Zeugen unterschriebenen Bericht überbrachte. Am Nachmittage desselben Tages verbreitete sich die Nachricht in London, dessen Einwohner den Tod [632] der Königin von Schottland mit ebenso fanatischen Freudenbezeigungen aufnahmen, als einige Monate vorher die Verurtheilung. Alle Glocken der Stadt wurden geläutet und in allen Straßen Freudenfeuer angezündet.


Zur Erläuterung unserer Zeichnung diene in Kurzem noch Folgendes: Der Kopf Maria Stuarts ist nach Sir John Watson’s Bildniß (auf dem Edinburger Schlosse befindlich) entworfen, welches er nach dem Originale des Italieners Furino copirte und welches die Königin darstellt als sie noch Dauphine von Frankreich war. Es gilt dieses Bild als eines der lieblichsten und wird fast allen Portraits, die von der unglücklichen Fürstin exisiren, bei weitem vorgezogen. Für seine Echtheit jedoch kann Niemand einstehen – und nach neuesten Erfahrungen um so weniger, als im April dieses Jahres in Edinburgh allein fünfundzwanzig Portraits Maria Stuart’s (nebst dem obigen) ausgestellt waren, von denen keins dem andern nur im Entferntesten glich.

Schloß Holyrood, von dem wir eine Totalansicht geben, liegt am östlichen Ende von Edinburgh. Hinter ihm erhebt sich der über 800 Fuß hohe Felsen „Arthus-Sitz“, auch Scottish-Lion genannt. Die Fronte des Schlosses, welches ein Viereck bildet, ist zu beiden Seiten mit eingeschnittenen Thürmen versehen, die dem Gebäude jenen kriegerischen Charakter verleihen, welcher die Geschichte Schottlands nur zu sehr kennzeichnet. Die Veränderungen, welchen das Schloß von Zeit zu Zeit unterworfen war, machen es schwierig, irgend einem Theile seine Entstehungszeit mit Gewißheit zu geben. Die Thürme am nordwestlichen Winkel, von Jacob V. erbaut, werden jedoch als der älteste Theil angenommen – denn von dem ursprünglichen Königsbaue David’s I. ist Nichts geblieben, als die völlig zerstörte Abtei auf der nördlichen Seite des Palastes, dessen mit schönen Anlagen geschmückte Umgebung noch heute zahlungsunfähigen Schuldnern ein Asyl bietet.

Links auf unserer Zeichnung sehen wir das „Boudoir der Königin“, in dem Rizzio überfallen wurde. Es ist sehr klein – seine Länge beträgt wenig über zehn, die Breite nicht über neun Fuß. Das verfallene Häuschen zur Rechten ist das sogenannte „Bad der Königin“, durch welches die Mörder flohen – den Schluß bildet das Schlafgemach mit der Tapetenthür im Hintergrunde, welche nach dem Boudoir führt.

Nur selten findet man diese denkwürdigen Räume menschenleer, und namentlich sind es Franzosen, welche die vorherrschende Anzahl der Besucher bilden. Es scheint, als wollten sie der schönen, unglücklichen Maria ein besonderes Weihopfer bringen, die auf kurze Zeit auch ihre Königin war. So weilte die greise Wittwe Louis Philipp’s hier, so jüngst Eugenie von Frankreich, – den Verfall alles Irdischen betrachtend – den Fall einer Königin betrauernd.

H. K.






Die geheime Agentur.

Ein Bild aus dem amerikanischen Geschäftsleben.

Es war im Jahr 1857, als die große finanzielle Krisis, welche später die ganze Welt erschütterte, sich wie eine Lawine, Alles mit sich fortreißend, über die Vereinigten Staaten ergoß. Die Ohio-Lebensversicherungs- und Credit-Gesellschaft, an deren sicherem Bestande damals Niemand zweifelte, eröffnete den Reigen mit einem Bankerott von zehn Millionen Dollars, Bank auf Bank folgte durch das ganze weite Land, die im Bau begriffenen Eisenbahnen blieben liegen, die alten, bis dahin gut rentirenden Schienenwege zahlten keine Dividende mehr, und der große Nordwesten, die Kornkammer der Welt, erlag fast der finanziellen Calamität und der Ueberspeculation. Eine andere Nation hätte in solcher traurigen Lage fast allen Unternehmungsgeist verloren, aber für den kräftigen amerikanischen Zweig des angelsächsischen Stammes war dieses Unglück nur ein neuer Sporn, um durch Anstrengung aller Spannkraft die Verluste wieder gut zu machen. Waren auch die Papiere und Banknoten entwerthet, war auch das Eigenthum im Werthe gesunken, waren auch Millionen durch Fallissements ruinirt, so war doch die schöpferische Kraft des unermeßlichen Bodenreichthums noch vorhanden; auf diese gestützt entschloß sich das thatkräftige Volk, die Schlacht des Lebens von Neuem zu schlagen und siegreich durchzuführen. Eine eigenthümliche Erscheinung war, daß viele Leute, welche bis dahin nur nominelle Christen gewesen waren, plötzlich fromm wurden und sogenannte prayer-meetings, öffentliche Betstunden besuchten, ohne freilich, wie die deutschen Pietisten, ihre Geschäfte dabei zu vernachlässigen. Bei solchen Zusammenkünften sah man die bedeutendsten Männer, Politiker, Richter, Aerzte und Andere im Verein mit gewöhnlichen Handwerkern sich vor dem Höchsten beugen und bessere Zeiten herabflehen. Bei Manchen mag wohl Heuchelei mit im Spiel gewesen sein, bei den Meisten aber kann man mit Sicherheit annehmen, daß sie von tiefen religiösen Gefühlen ergriffen waren.

Eine der traurigsten Erscheinungen in dieser folgenschweren Zelt war der Umstand, daß es sich bei Vielen herausstellte, wie sie ganz wagehalsig, ohne die Folgen zu berechnen, in’s Blaue hinein speculirt hatten, während Andere, von der allgemeinen Misère unmoralischen Gebrauch machend, diese Gelegenheit benutzten, ihre Schulden abzuschütteln. Es war ja außerordentlich leicht, sich unter diesem oder jenem Vorwande seinen Verpflichtungen zu entziehen. Konnte man ja doch sein festes oder bewegliches Eigenthum, wenn man unredlich dachte, gar leicht auf eine dritte Person, die im Einverständniß handelte, überschreiben lassen (transfer of property) und so den selbst bedrängten Gläubiger um seine Rechte betrügen. Gab es ja doch gewissenlose Advocaten genug, die zu solchen Manipulationen für gewisse Procente ihre Hand boten. Daß unter solchen Verhältnissen der bei weitem größere und bessere Theil der Geschäftswelt nach einem Mittel suchte, diesem fraudulenten Verfahren einen festen Damm zu setzen, um sich vor künftigen Verlusten zu schützen, ist leicht erklärlich. Wie nun die Angelsachsen stets das Princip festhalten: hilf Dir selbst, und nicht, wie die Deutschen im Gefühle ihrer Abhängigkeit, von den Behörden allein Remedur erwarten, so fanden sich bald ein paar unternehmende Köpfe, welche den leitenden Kaufleuten und Banken der großen Städte einen Plan vorlegten, der trotz mancher moralischer Bedenken im Ganzen Beifall fand. Gleichsam wie die großen Speditions-Gesellschaften Adams’, Fargo’s und American Express Company sich über das ganze Land verzweigen und fast in jeder größern oder kleinern Stadt Agenturen besitzen, so wollte man an allen Handelsplätzen geheime Officen errichten, deren Zweck es sein sollte, über die Verhältnisse der Geschäftswelt am Orte selbst und in der Nachbarschaft die genauesten Erkundigungen einzuziehen und zu registriren. Zu diesem Zwecke wurden vertraute Männer von New-York aus durch das ganze Land geschickt, welche den Auftrag hatten, überall die passenden Persönlichkeiten für das Unternehmen aufzusuchen, wie sich denn leider auch Geschäftsleute ohne Verdienst und Advocaten ohne Praxis in Menge zu diesen zweideutigen Agenturen gebrauchen ließen. Nicht lange darauf entstand dann in Empire City (New-York) eine Centralagentur ohne deutlich ausgesprochenen Namen der Firma, gewöhnlich Somebody’s secret office (eines gewissen Jemand Geheim-Bureau) von den Importeuren genannt, im Westen und Süden häufiger als Douglas und Co. bezeichnet. Um die Unkosten des Unternehmens zu decken, mußten alle Firmas je nach ihrer Bedeutung, wenn ihnen die geheimen Bücher der mysteriösen Agentur erschlossen werden sollten, einen Beitrag von 50–200 Dollars jährlich entrichten. Dafür hatten sie das Recht, wenn sie mit irgend einem Hause, auch in dem entferntesten Theile des Landes, in geschäftlicher Beziehung standen und über dessen Solidität Erkundigungen einziehen wollten, bei der nächsten Office von Douglas und Co. nachzufragen, die sich dann direct mit dem entsprechenden Zweige der Agentur in Verbindung setzte und mit umgehender Post dem Nachfragenden die nöthige Auskunft mittheilte. Daß das Geheimniß dieser lichtscheuen Manipulation auf das Strengste beobachtet wurde, geht daraus hervor, daß Jeder, der seinen Namen als Subscribent in die Bücher der geheimen Agentur eintragen lassen wollte, erst drei eingeweihte Bürgen seiner Schweigsamkeit und Discretion stellen mußte, ehe ihm die Art und Weise [633] des ganzen Verfahrens mitgetheilt wurde. Er erhielt dann eine kleine Karte, auf der ungefähr folgendes Schema stand:

A. Reich, tadellos sicher. 1) Er spielt.
B. Wohlhabend, sicher. 2) Er trinkt.
C. Schulden, aber reichliche Deckung. 3) Er liebt die Weiber.
D. Schulden und Deckung gleich. 4) Ist im Begriff, fein Eigenthum zu überschreiben.
E. Mehr Schulden als Deckung. 5) Er ist kränklich.

Bei Compagnongeschäften trat in diesen Bezeichnungen eine kleine Modification ein, außerdem wurden von Zeit zu Zeit die Zeichen gewechselt. Die Referenzen wurden nun von der Agentur auf folgende Weise mitgetheilt. Verlangte z. B. Peter Smith in Philadelphia Auskunft über John Brown in St. Louis, so erhielt er von der entsprechenden Agentur eine Karte, auf der einfach die fünf bezeichneten Buchstaben wie die fünf Ziffern standen, ohne die charakteristischen Zusätze. Diejenigen Buchstaben oder Zahlen, welche den Werth oder Unwerth des John Brown als Geschäftsmann und Bürger nach dem erstangeführten Schema markiren sollten, waren aber mit rother Tinte unterstrichen. Jedenfalls genügte diese Karte, um den Anfrager, falls der kurze Bericht correct und wahrheitsgetreu war, in seinen Handelsoperationen mehr oder weniger sicher zu stellen. War z. B. die Zahl 4 unterstrichen, so hatte derselbe nichts eiliger zu thun, als den etwaigen transfer of property, die Ueberschreibung des Eigenthums, auf legalem Wege zu sistiren, wenn er seine Schuldforderung decken wollte.

Wenn man nun das ganze Verfahren und die große Heimlichkeit des gefährlichen Institutes unbefangen betrachtet, so kann man bei dem ersten Blick nicht leugnen, daß dasselbe unter gewissenhafter Verwaltung der soliden Geschäftswelt eine anscheinende Garantie gegen den sich breitmachenden Schwindel bot, allein auf der andern Seite muß man wohl erwägen, daß gerade in dieser Heimlichkeit und Unverantwortlichkeit den Ansichten und den Privatleidenschaften mancher Agenten ein viel zu großer Spielraum gegeben wurde. Leute, die mit den Verhältnissen genau vertraut sind, wollen behaupten, daß der Impuls zu der ganzen Idee von einem New-Yorker Kaufmann ausgegangen sei, der früher in Deutschland als Beamter die geheimen Conduitenlisten, welche man noch heute in gewissen deutschen Staaten über die Angestellten zu führen pflegt, ausgearbeitet habe.

So verschieden nun auch die Urtheile der moralisirenden Geschäftswelt über Douglas und Co. sind, so kann man doch immerhin Einiges zur Entschuldigung anführen. Man denke sich den Fall, daß ein Haus in Boston mit einem Geschäftsmann in St. Paul ein vortheilhaftes Geschäft abschließen kann, aber darüber im Unklaren ist, ob derselbe seinen Verpflichtungen nachkommen kann oder will; das Haus in St. Paul ist dem Bostoner ganz unbekannt, auch hat letzterer in St. Paul keine Geschäftsfreunde, die ihm Aufschluß geben könnten. Was bleibt dann dem Bostoner, wenn er den erwarteten Gewinn sich nicht entgehen lassen will, weiter übrig, als bei der geheimen Agentur anzufragen, falls er seine 100 Dollars jährlich an dieselbe entrichtet? Amerika ist noch ein junges Land, neue Handelsplätze und Firmen schießen wie die Pilze aus der Erde, und neuetablirte Kaufleute, deren Namen man in den großen Emporiums der atlantischen Städte noch nicht kennt, reisen nach dem Osten und verlangen für ihre Einkäufe Credit. Wie ist es da möglich, die Principien des kaufmännischen Credits, wie sie im alten Deutschland bei wohlfundirten Häusern festgestellt sind, durchzuführen? Man müßte sich eben dazu bequemen, gar keine Geschäfte zu machen. Wenn nun der Kaufmannsstand in den Vereinigten Staaten überhaupt durch die Verhältnisse gezwungen ist, seine Waaren ohne diejenige Sicherheit, welche man in Europa fast immer beansprucht, dem Käufer zu verabfolgen, so kann man es ihm in mancher Beziehung nicht verdenken, wenn er nach Mitteln sucht, um sich vor Verlusten zu schützen, welche ihm durch den Leichtsinn oder bösen Willen Anderer zugefügt werden. Diesem Umstände hat es die geheime Agentur zu verdanken, daß dieselbe von einer so großen Masse Geschäftsleuten benutzt wird und dadurch in den Stand gesetzt ist, mehr oder weniger eine moralische Tyrannei über Viele auszuüben, wie sie denn auch nicht blos unter Schwindlern, sondern auch unter der bessern Classe, die heftigsten Gegner in Menge zählt. Es liegt ja tief in der menschlichen Natur, eine geheime Macht, welche eine auch nur geschäftliche Controle über uns prätendirt, zu hassen, und wenn wir ein Stück unseres Grundeigenthums veräußern, wer giebt ihr das Recht, den Verkaufspreis und die Bedingungen in ihre Bücher einzutragen, um einmal bei gelegener Zeit Gebrauch davon zu machen, wenn vielleicht ein früherer Geschäftsfreund es sich einfallen läßt, unsere Finanzen mit mißtrauischen Augen zu betrachten?

Da wir Amerika schon seit Jahresfrist verlassen haben, so können wir nicht wissen, ob Douglas und Co. noch ihre geheimnißvolle Thätigkeit fortsetzen. Vielleicht hat der unglückliche Bürgerkrieg auch der mysteriösen Agentur die Wurzeln abgehauen, was wir nicht im Geringsten bedauern würden, da sie unseres Erachtens mehr Schlechtes als Gutes gestiftet hat. Sie hat allerdings manche Verluste verhütet, manche Betrügereien aufgedeckt, aber sie hat auch durch die Spürnase ihrer Agenten und Advocaten die verborgensten Familiengeheimnisse mit Unrecht aufgedeckt und oft durch falsche Berichte den besten Credit ruinirt. Sie hat durch ihre ungesetzliche Einmischung die besten Leute zum Fall gebracht und durch die absichtlichen Lügen boshafter Werkzeuge Manchen bis zum Verbrechen getrieben.

Eben ein solches, welches mit teuflischer Bosheit in einer großen westlichen Stadt verübt wurde, war die Ursache, daß endlich die geheimen Machinationen der Agentur an die Oeffentlichkeit gezogen werden konnten; indessen waren die Beamten derselben zu schlau, um den Richtern und dem Volke mehr als einen flüchtigen Blick in das innere Getriebe ihres Systems zu gestatten. Die Umstände aber, welche sich an diesen vielfach besprochenen Fall knüpfen, sind zu interessant und werfen einen zu tiefen Schatten auf das amerikanische Geschäftsleben, als daß wir dieselben unsern deutschen Lesern vorenthalten könnten. Möge es uns daher vergönnt sein, in flüchtigen Skizzen, welche wir größtentheils dem Portefeuille eines angesehenen Advocaten entlehnten, das verderbliche Treiben und Thun von Douglas und Co. und die noch schrecklicheren Folgen davon zu beleuchten. –



In einer größern Stadt des Westens lebte Mr. Francis Hargrave, ein noch junger Mann von dreißig Jahren, der ein nicht unbedeutendes Droguengeschäft betrieb. Mit seiner Frau, die den Ruf einer koketten Weltdame besaß, schien er nicht im besten Einvernehmen zu leben, auch flüsterte man sich in die Ohren, daß die schöne Lucy die Huldigungen seines Buchhalters nicht fest genug zurückweise. Dafür war aber das einzige Kind seiner Ehe, ein schöner Knabe, Namens Harry, sein Augapfel, und wenn er ermüdet aus dem Geschäfte zurückkam, widmete er ausschließlich dem Kleinen seine Zeit.

Eines Tages kam Mr. Hargrave verdrießlich von einem Ausgang zurück; er war auf der Bank gewesen, um einige Wechsel, welche Mr. Cox, der Buchhalter, für gut acceptirt hatte, discontiren zu lassen; dort hatte man sich aber geweigert, weil die Aussteller angeblich nicht zahlungsfähig wären. Hierüber kam es nun zu einem heftigen Streit, weil Mr. Cox die Vorwürfe, welche ihm mit Recht oder Unrecht gemacht wurden, nicht auf sich sitzen lassen wollte. Jedenfalls hätte der Wortwechsel zwischen Beiden ernstere Folgen nach sich gezogen, wenn nicht zufällig Mrs. Hargrave im Laden erschienen wäre, um ihren Gemahl daran zu erinnern, daß er ihr das Versprechen gegeben habe, denselben Nachmittag mit ihr auszufahren. Dieser konnte dann nach amerikanischer Sitte nicht umhin, ihrem Wunsche nachzukommen. Seinen Aerger verschluckend verließ er mit seiner Frau die Office, um in den Wagen, der vor dem Hause hielt, einzusteigen, während Mr. Cox, in Gedanken versunken, sich anscheinend in seine Bücher vertiefte.

Als es sechs Uhr schlug, entfernten sich wie gewöhnlich die Clerks, ebenso der Porter, der vorher noch Alles, bis auf eine der Frontthüren, verschließen mußte. Als der Buchhalter sich allein sah, steckte er bei der zunehmenden Dunkelheit das Gas in der Office, sich selbst aber eine Cigarre an und sah von Zeit zu Zeit ungeduldig nach seiner Uhr, als wenn er Jemand erwartete. Es dauerte auch nicht lange, so erschien im Eingänge des Ladens eine lange Gestalt, die sich, vorsichtig zwischen den vielen Fässern und Kisten umhertappend, der Office näherte.

„Sieh da, Mr. Sharp, endlich!“ sagte Cox. „Nun, hat man den Counterfeiter (Fälscher) verurtheilt, und hat das Zuchthaus einen Candidaten mehr? Ich sollte doch meinen, die Bank hätte Beweise genug gehabt!“ fragte er neugierig.

„Ach nein,“ sagte der Angeredete, „die Sache nahm eine ganz andere Wendung, als der Staatsanwalt und ich, sein Assistent, [634] erwarteten. Wir hatten dem Director der Bank versprochen, unser Möglichstes zu thun, aber die Vertheidigung brachte Zeugen, die uns zwangen, ein nolle prosequi einzureichen.“

„Das muß besonders zugehen, wenn Mr. Sharp einen Angeklagten aus seinen Klauen läßt, zumal wenn er einem reichen Bankdirector dabei gefällig sein kann!“ bemerkte Cox.

„Hole der Teufel Mr. St., den Bankdirector! Hätte die Sache ruhen lassen sollen, wenn er selbst faule Fische hat. Aber wer hätte das ahnen können! habe ich doch selbst bei Douglas und Co. nachgefragt, ob die Bank solvent sei und keine Ursache habe, zweideutige Operationen zu treiben. Ich selbst habe in den Büchern nachgesehen, denn Sie wissen, daß ich so hin und wieder der geheimen Agentur kleine Dienste erweise. Die Auskunft war vollständig günstig.“

„Nun, wie ging denn das zu? Sollten sich der schlaue St. und seine Collegen wirklich die Finger verbrannt haben?“ fragte Cox, Sharp erstaunt ansehend.

„Ei, das hat wohl Nichts zu sagen; die haben großen Einfluß, und die Staatsanwaltschaft wird sie nicht beißen. Doch ehe ich den ganzen Hergang erzähle, erlauben Sie wohl, daß ich mich setze.“ Nachdem Mr. Sharp Platz genommen, fuhr er fort:

„Sie wissen, die Bank gab vor anderthalb Jahren neue Fünfdollarnoten aus, und der Graveur, welcher heute auf der Anklagebank saß, war der Verfertiger; die Noten waren vorzüglich gestochen und machten ihm Ehre. Da kam vor ungefähr sechs Monaten der alte St., der Bankpräsident, mit der Platte zu ihm und trug ihm auf, eine kleine Veränderung daran vorzunehmen, welche aber nur für die Beamten der Bank erkennbar sein sollte. An dem Buchstaben k, am Schlusse des Wortes „Bank“, sollte er ein unmerkliches Häkchen anbringen. Die von der veränderten Platte abgezogenen Noten sollten eine neue Serie zur bessern Controle der Ausgabe bilden. Smithson, der Graveur, unterzog sich der Aufgabe, obgleich er Verdacht schöpfte und seine Maßregeln danach traf. Indessen, da er doch nächstens nach Californien gehen wollte, erfüllte er den Auftrag, und die Bank soll für 100,000 Dollars von der veränderten Platte abgezogen und als gut ausgegeben haben. Vor drei Monaten erklärte man nun diese neuen Noten als gefälschte und weigerte sich dieselben einzulösen. Sicherlich hat die Nachricht von Smithson’s Tode, der nach seiner Ankunft in St. Francisco erfolgt sein sollte, dazu beigetragen, die Bank zu diesem Schritte zu verleiten. Die Detectives (geheimen Polizisten) wurden nun auf die Beine gebracht, eben weil man erwartete, daß jede Spur verwischt sei. Da fügt es sich so, daß der todtgeglaubte Smithson plötzlich zurückkommt. Er hatte nur am Panamafieber hart darniedergelegen, und die Aerzte dort hatten ihm gerathen, des Klimas wegen eiligst nach den Vereinigten Staaten zurückzukehren. Die Detectives arretiren seine Person und finden in seinem Gepäck einige Abzüge von der veränderten Platte, Beweis genug, um ihn in den Anklagestand zu setzen. Was sollte nun das Bankdirectorium thun? – Die erschwindelten 100,000 Dollars wieder verlieren, oder Smithson auf das Schärfste verfolgen? Sie kennen den alten Heuchler St., Cox, also werden Sie sich nicht wundern, wenn er das Letzte wählte. Vor der grand jury (Voruntersuchungs-Gericht) schwur er Stein und Bein gegen den Graveur und von der in seinem Auftrage erfolgten Abänderung der Platte hütete er sich wohl ein Wort zu sagen. Wer konnte anders der Schuldige sein als Smithson? und so thaten wir in der Staatsanwaltschaft unser Bestes, um ihn zu überführen, obgleich ich von Anfang an ahnte, daß falsches Spiel dahinter stecke. Schon glaubten wir ihn fest zu haben und so den alten St. und die Bank uns zu verpflichten, als durch unantastbare Zeugenaussagen die obenerwähnten Umstände zum Vorschein kamen.“

„Aber wie ging das zu?“ fragte Cox, „bei solchen Geschäftstransactionen pflegt man doch keine Zeugen zu haben, und der alte St. ist ein schlauer Fuchs.“

„Selbst der schlaueste Fuchs geht zuweilen in die Falle,“ bemerkte Sharp. „Sie müssen nämlich wissen, daß der alte St. so ziemlich taub ist, so daß man ihm in die Ohren schreien muß, um sich ihm verständlich zu machen. Diesen Umstand hatte Smithson benutzt und bei der Uebergabe der veränderten Platte und der Probeabzüge zwei Zeugen in das Nebenzimmer gestellt, die natürlich bei der lauten, im schreienden Tone geführten Unterhaltung jedes Wort verstanden. Es waren die beiden Deutschen, die unter seinem frühern Atelier einen Gewürzladen halten. Diesen Rath hatte ihm sein Freund, der junge Rechtsgelehrte George C. gegeben, als Smithson ihn über den kitzligen Auftrag zu Rathe zog, und das Datum des betreffenden Tages, wie die Stunde der Abgabe der Platte wurde genau markirt. Nicht blos die beiden Deutschen gaben ein vollständiges Entlastungszeugniß ab, sondern auch George C. selbst ließ sich als Zeuge einschwören, so daß die Staatsanwaltschaft gezwungen wurde, die Anklage fallen zu lassen.“

„Und nun wird Smithson den Spieß umdrehen und gegen die Bank klagen!“ meinte Cox.

„Das hat gute Wege, Freundchen, das corpus delicti, die veränderte Platte, wird schon verschwunden sein, da sie im Besitze von St. ist, und wer kann behaupten, daß die von der Bank für Counterfeit erklärten Fünf-Dollarnoten wirkliche Abzüge sind? Außerdem, wie kann ein armer Graveur gegen so einflußreiche Leute auftreten, zumal wenn wir es nicht wollen? Indessen dafür will ich schon sorgen, daß der Fall dem alten St. ein theurer Spaß wird. Sie wissen, Cox, daß solche Leute zuweilen sehr freigebig sind, wenn die Behörde zur rechten Zeit an Augenschmerzen leidet.“

„Also Sie fragten, bevor Sie den Fall in die Hand nahmen, bei Douglas und Co. nach, wie es eigentlich mit der Bank stände,“ bemerkte Cox, „und man sagte Ihnen Nichts von einer etwaigen betrügerischen Ausgabe von Noten?“

„Sir,“ lächelte Sharp listig, „Sie begreifen noch nicht die Politik der geheimen Agentur. Eben weil man wußte, daß die Bank durch die veränderte Platte 100,000 Dollars verdient hatte, gab man ihr ein günstiges Zeugniß.“

„Gott verdamme mich, das ist schlau,“ rief Cox und riß die Augen weit auf, „bei Douglas und Co. möchte ich wohl noch in die Schule gehen.“

Sharp stand bei diesen Worten auf, schaute aus der Office in den dunkeln Laden hinaus und fragte: „Sind wir ganz allein, Cox? Ist kein Lauscher da? Sie wissen, ich hatte versprochen, Ihnen heute Abend eine wichtige Mittheilung zu machen.“

„Mutterseelenallein, ich habe den Porter und die Clerks wie gewöhnlich um 6 Uhr nach Hause geschickt, und Hargrave ist mit seiner Frau ausgefahren, wird uns daher nicht überraschen. Lassen Sie hören!“

„Nun,“ sagte Sharp, „Douglas und Co. brauchen einen tüchtigen Unteragenten, der die Stadt L. hier genau kennt. Sie wissen, daß ich die Bücher der Recordersoffice (Registratur) regelmäßig für die Agentur nachsehe, und so habe ich bei derselben ein klein wenig Einfluß. Ich habe Sie daher als Vertrauensmann vorgeschlagen, und man hat mich beauftragt, mit Ihnen zu sprechen. Zugleich muß ich aber erklären, daß ich heute noch ein Probestück von Ihnen verlange, falls Sie darauf eingehen. Ich will Sie nicht überreden, das sei ferne von mir, aber ein so tüchtiger Geschäftsmann, wie Mr. Cox, verdient eine bessere Situation, als diese schlechte Buchhalterstelle.“

Cox, der diesen Antrag erwartet hatte, machte nichts desto weniger ein erstauntes Gesicht. „Also, Sie meinen, Sharp,“ sprach er, „daß ich einen guten Agenten abgeben würde? Was ist das aber für ein Probestück, wovon Sie sprechen?“

„Nichts Uebermäßiges,“ sagte Sharp, „wir verlangen Auskunft über Ihren Principal. Jones und Co. in New-York haben angefragt, ebenso ein Philadelphiahaus, das Sie als Buchhalter des Geschäfts wohl kennen werden.“

„O, Sie meinen George Bingham!“ unterbrach Cox, „wir schulden dem für 15,000 Dollars Farbewaaren, und Jones und Co. haben Noten im Betrage von 9000 Doll. von uns in den Händen.“

Sharp nahm eine Brieftafel heraus, um Notizen zu machen. „Es steht wohl überhaupt nicht besonders mit Hargrave?“ fuhr er fort, „heraus mit der Sprache! kein Mensch erfährt ein sterbendes Wörtchen davon. Hargrave selbst wird mit seinem Namen nicht in das Hauptbuch eingetragen, sondern nur unter einer bestimmten Nummer, zu der blos der Hauptagent den Schlüssel hat.“

Cox, der im Grunde seines Herzens den Principal haßte, dabei noch, wie oben angedeutet, für dessen Frau eine unreine Leidenschaft im Busen trug, versuchte zu erröthen, es gelang ihm aber nicht; dann sagte er zögernd: „Hargrave hat bis jetzt guten Credit im Osten gehabt, ist aber selbst sehr leichtsinnig im Creditgeben (Cox verleitete ihn dazu), so daß wir viele Außenstände in Missouri, Iowa, Wisconsin und Minnesota haben, die schwer collectirt werden [635] können. Doch so lange er von New-York aus nicht gedrängt wird, möchte Alles gut gehen. Erschüttert man dort aber seinen Credit, so muß die Boutique zusammenbrechen. Ich habe ihm erst neulich Milwaukie-Prairie du Chien-Bahnactien aufgeschwatzt, so daß er einen großen Theil seiner Baarfonds darin angelegt hat, und Sie wissen so gut wie ich, daß die Compagnie nächstens ein assignment. (Erklärung der Zahlungsunfähigkeit) machen wird. Dazu kostet sein Haushalt viel Geld, seine Frau ist sehr verschwenderisch.“

Sharp, der einige Bemerkungen notirt hatte, nickte beifällig und bemerkte höhnisch: „Ich weiß nicht, woher es kommt, daß ich diesen Hargrave nicht leiden kann. Als ich ihn vor einigen Jahren zum ersten Male sah, faßte ich gleich einen großen Widerwillen gegen ihn. Später hat er mich beleidigt, als er Thompson beredete, mir den fetten Proceß über das Irving’sche Eigenthum aus den Händen zu nehmen; seit der Zeit habe ich ihm Rache geschworen.“

Cox, der schon lange in den Fesseln der koketten und schönen Lucy lag und schon deshalb aus Eifersucht Hargrave zu stürzen suchte, an welchen Plan sich wohl allerhand Hintergedanken knüpften, verfehlte nun nicht, Sharp die allerkleinsten Details aus dem Geschäfte mitzutheilen, um den Hebel zum Ruin seines Principals anzusetzen. Erst in später Abendstunde trennte sich das würdige Paar, nachdem Sharp den Buchhalter gründlich über die Verpflichtungen und die Vortheile eines Agenten von Douglas und Co. instruirt hatte. –

Es dauerte nicht lange, bis allerhand nachtheilige Reden und Gerüchte über Francis Hargrave und sein Geschäft auftauchten; man wollte in Erfahrung gebracht haben, daß er in den kleinen Städten, welche sich damals am obern Mississippi entwickelten, zu viel Credit gegeben und dadurch bedeutende Summen verloren habe. Die Geschäftsnachbarn steckten die Köpfe zusammen und grüßten ihn nicht mehr so freundlich wie früher; ebenso verdrießlich war es für ihn, daß er gegen alle Erwartung durchfiel, als er sich zur Aufnahme in die Freimaurerloge gemeldet hatte. Hin und wieder gingen ihm anonyme Warnungen gegen seinen Buchhalter zu; indessen der Kaufmann, obgleich er im Geheimen eine gewisse instinctmäßige Abneigung gegen Mr. Cox hatte, dachte nicht daran, denselben zu verabschieden, weil er aus Grundsatz solche anonyme Briefe mißachtete. Außerdem, wie hätte er gerade jetzt, wo sich so viele unangenehme Verwickelungen einstellten, denselben entlassen können, da er ohne Cox’s Hülfe keinen klaren Ueberblick, der doch augenblicklich so nothwendig war, über seine Bücher haben konnte? Eines Tages kam ein alter Freund seiner Familie, der eben vom Osten zurückgekehrt war, zu ihm und sagte ihm im Vertrauen, daß man in New-York und Philadelphia ganz unerwarteter Weise über seine Solvenz ernstliche Zweifel hege. „Ich,“ sagte der alte Mann, „that mein Bestes diese zu bekämpfen. Sie wissen ja, Francis, ich habe es immer gut mit Ihnen gemeint, allein man zuckte die Achseln und meinte, Sie hätten in Wisconsin starke Verluste gehabt und schlechte Eisenbahnactien gekauft.“

Bei diesen Worten erblaßte Hargrave; wie konnte man dort wissen, daß er Milwaukie-Prairie du Chien-Actien gekauft und dabei bedeutend verloren habe? war doch das ganze Geschäft durch einen verschwiegenen Stockbroker (Börsenmäkler) geschlossen worden. Er hatte im Osten auf 3–6 Monate Zeit gekauft und hoffte, daß, da er vielleicht nicht im Stande sein würde, pünktlich auf den Termin die fälligen Noten einzulösen, bei seinem sonst so guten Credite seine Gläubiger keinen Anstand nehmen würden, ihm eine bedeutende Verlängerung der Frist zu gestatten, wie ja das bei sonst guten Häusern so häufig der Fall war. Jetzt sah er sich plötzlich von allen Seiten bedroht, indessen hoffte er durch Aufbietung aller Hülfsmittel und durch Einschränkung seines kostspieligen Haushalts noch den Sturm zu überstehen. Er dankte dem alten Freunde für die freilich sehr unwillkommene Nachricht, gab einige Aufträge im Laden und eilte nach Hause, um seiner Frau die Lage auseinanderzusetzen. Leider fand er dort schlechten Trost; die kokette egoistische Lucy, die wahrscheinlich schon früher von seiner gefährlichen Stellung unterrichtet war, erklärte ihm mit dürren Worten, wenn er nicht mehr im Stande sei, sie wie eine Lady zu erhalten, so werde sie lieber von ihm gehen, ein Scheidungsgrund müsse sich schon finden, und so wolle sie sich denn einstweilen unter den Schutz ihrer Freunde begeben. –

Diese Herzlosigkeit seines Weibes, das offenbar unter einem ihm feindlichen Einflusse stand, brachte bei Hargrave eine Gemüthsstimmung hervor, die ihn vollständig unfähig machte, seine Situation kaltblütig und richtig zu beurtheilen. Er nahm, wie es leider so häufig bei Amerikanern der Fall ist, zum Becher seine Zuflucht und befand sich in fortwährender Aufregung. Daß Mr. Cox diesen Umstand dazu benutzte, um das Geschäft seines Principals erst recht zu ruiniren und dasselbe, wie die Ratten das sinkende Schiff, im Angesicht der bevorstehenden Krisis zu verlassen, kann bei dem intriganten Charakter des Buchhalters nicht auffallen. – Hargrave war in seinem Kummer und bei seiner fast an Verzweiflung grenzenden Mißstimmung so weit gegangen, die Hilfe seiner Freunde zu verschmähen. Als diese sahen, daß Francis sich wirklich in großer Geldverlegenheit befand, daß er nicht im Stande war, Aufschub für seine Verbindlichkeiten im Osten zu erlangen, hatten sie ihm bereitwillig ihre Unterstützung zur Disposition gestellt. Die Amerikaner sind nämlich in dieser Beziehung viel aufopferungsfähiger, als die Deutschen, und dabei weit klüger und politischer. Wenn in Deutschland ein Geschäftsmann Unglück hat, so wird er erst recht untergepflügt und zu Boden getreten, so daß es ihm fast unmöglich gemacht wird, sich wieder hinaufzuarbeiten; in den Vereinigten Staaten ist dem nicht so, im Gegentheil suchen nicht allein die Freunde, sondern auch die Gläubiger dem augenblicklich Zahlungsunfähigen wieder aufzuhelfen. Man mag es Humanität oder Klugheit nennen, jedenfalls ist dem Schuldner dadurch die Gelegenheit gegeben, wieder emporzukommen und die alten Verbindlichkeiten zu erfüllen. So wäre das auch in diesem Falle geschehen, wenn Hargrave, der fast zu gleicher Zeit Frau, Kind und seine Stellung in der Geschäftswelt einbüßte, nicht den Kopf verloren und in seinem maßlosen Kummer oft mehr getrunken hätte, als er vertragen konnte.

(Schluß folgt.)




Der Rosenlaui-Gletscher.

Von E. A. Roßmäßler.

Wenn man Anfangs September – die schönste Reisezeit in der Schweiz – den Auftrag erhält, den Rosenlaui-Gletscher für die „Gartenlaube“ zu beschreiben, und man nicht zu jenen Magiern gehört, welche das Kunststück verstehen, etwas Niegesehenes Andern mit den anschaulichsten Worten zu schildern, wenn man im Gegentheil dabei die Feder in das reale Tintenfaß der glückseligen Erinnerung an den Reinsten der Reinen taucht – glaubt es mir, dann möchte man den Gänsekiel in tragende Schwingen, die moderne Stahlfeder in das moderne Stahlroß verwandelt wünschen, um sich am Orte die rechte Weihe zu holen.

Wie einmal von Norddeutschland her der Reisezug sich gewöhnt hat, ist Meyringen, gewissermaßen als Filial von Interlaken, für die Norddeutschen ein wichtiger Stationspunkt geworden. Im Hintergrunde des Unterhaslethals gelegen, ist gerade Meyringen durch den ausgesprochensten Schweizercharakter seiner Häuser ganz geeignet, sich zu einem Besuch in dem Allerheiligsten der hehren Alpennatur zu sammeln und von hier aus entweder durch das Oberhaslethal nach der Grimsel, oder über Rosenlauibad und große Scheideck nach Grindelwald hinab oder auf die Zinne des Faulhorns emporzusteigen.

Wir sind am thauigen Morgen kaum aus der Thür der behaglichen Pension Hotel des Alpes getreten, so betäubt und bestäubt uns der unterste der sieben hinter und übereinander liegenden Reichenbachfälle. Er ist der Bote des Rosenlaui-Gletschers, der sich über Hals und Kopf auf tiefausgewaschenen Schluchtwegen herabgestürzt hat, um uns mit einem Morgengruße zu seiner krystallnen Gletscherheimath einzuladen. Wir kommen, wir kommen! Noch einen Blick auf die still herabflatternden Silberbänder des Alpenbaches jenseit Meyringen, und wir suchen den steilansteigenden Pfad unter Buchen, umsäumt von den tief himmelblauen Glockenähren der Asklepiaden-Enziane.

Welch toller, tobender Ausgang des kurzen Lebenslaufs des wasserreichen Baches, der kaum drei Stunden weiter aufwärts seinen Lebensfaden aus tausend feinen Gletscherströmchen zusammenspann! [636] Mühsam arbeiten wir uns empor an den mittlern Fällen vorüber, deren Anblick wir uns zum Theil mit Centimen erkaufen müssen, denn die schweizerische Industrie hat die freien Alpenkinder hinter breterne Buden gesperrt. Von Matte zu Matte öffnen uns geöffnete Kinderhände die Zaunthore, man ladet uns ein, eine gefangene Gemse zu sehen, man bietet uns werthlose Bergkrystalle zum Kauf an – so kommen wir auf eine obere Stufe, wo es lange Zeit eben hingeht, fast immer dicht neben uns zur Rechten den in seiner Schlucht unsichtbar wühlenden Reichenbach.

Indem wir zwischen den Wipfeln der von den hohen Felsenwänden geschützten Fichten mit den Augen schon nach den Spitzen der Bergriesen suchen, in deren Nähe wir uns wissen, wollen wir uns einen klaren Blick über das Berglabyrinth zu verschaffen suchen, in dessen einer Gasse in der Richtung nach dem Knotenpunkte zu wir wandern. Vergessen wir dabei nicht, daß wir bereits über fünfthalbtausend Fuß hoch und nicht mehr in der staub- und dampfgefüllten Atmosphäre der Tiefebene sind, welche uns selbst geringe Fernen in einen grauen Schleier hüllt und das Nahe fern erscheinen läßt. Hier oben in der klaren durchsichtigen Luft erscheint das Ferne nah, und als wollte die Natur sich selbst verspottend necken, bestiehlt sie sich den nach dem Augenschein urtheilenden Menschen gegenüber um ein gut Theil der Größe ihrer Alpenwerke. Wir befinden uns unter der Botmäßigkeit des Schreckhornes. Dieses bildet den 12,568 Fuß hohen doppelspitzig aufragenden Mittelpunkt, von welchem strahlenförmig nach allen Himmelsgegenden hohe zackige Grate auslaufen. Zwischen diesen, wo sie sich von ihrem gemeinsamen Mittelpunkte abzweigen, lagern unübersehbare Schneewüsten, die Werkstätten, wo in allmählicher Stufenfolge aus dem Schnee das dichte, steinharte Eis der Gletscher bereitet wird, welche dann in den zwischen den Graten Herabreichenden Thalgassen abwärts wandern.

Zu diesem gewaltigen Ganzen, welchem Hugi eine Oberfläche von 36 Quadratstunden giebt, und von welchem zwölf Gletscher ersten Ranges ausstrahlen, gehört der Rosenlauigletscher, welcher zwischen dem Dossen-, Well- und Gstellihorn herabkommt und unterwegs noch den Gauligletscher aufnimmt, ehe er bei 4688 Fuß Seehöhe Halt macht und uns den Blick in sein zauberisches Innere erschließt. Was ist es, was die ungeheuere Eismasse zum Stillstand bringt? Ist es ein sich quer vorlegender Thalriegel oder eine Felsenschwelle unter seinem mächtigen Leibe? Beides würde ihn nicht hindern, seinen dämonischen Gang weiter zu gehen; über diese schreitet er leicht hinweg und an jenem würde er sich hoch emporbäumen und dann wie eine zähe Lava darüber weiterkriechen. Nicht so gewaltige Hindernisse sind es, was den nach Millionen Centnern zu messenden Eisstrom fesselt; es ist eine sanftere Gewalt, der linde Hauch der warmen Luft, was den Gletscher nicht aufhält – denn das wäre nur einem vorliegenden Berge möglich – nein, was ihn kosend in Wasser auflöst, daß er dahinschmilzt und den Alpenwald verschont, der vor seiner Bahn aufgeschossen ist.

Wir stehen nun am Fuße des Rosenlauigletschers, wie ihn unser Bild uns zeigt; es ist aber der Fuß nicht in dem Sinne, wie er dem Gletscher als einem Wanderer zukäme; auch Ende kann man nicht gut sagen, denn Ende ist der feste Punkt des Aufhörens, und hier ist von einem festen Punkte keine Rede. Es ist eben die Stelle, wo der Mächtige der genannten sanften Gewalt erliegt; was von ihm in das Bereich dieser Gewalt eintritt, wird von ihr vernichtet, oder besser aus der starren Eisform in die bewegliche Form des Wassers verwandelt, um als Gletscherbach, Reichenbach genannt, hinunter in das Thal der Aare zu eilen. Und tief sehen wir dazu den durstigen Schlund des Felsenbodens vor unseren Füßen geöffnet, die eiskalten Tropfen zu verschlucken, die hoch oben auf der Zinne der Alpen als trockener Hochschnee niederfielen.

Vor uns liegt einer der vielen Krystallpaläste, deren die Schweiz 608 zahlt. Rein wie kaum eines zweiten Gletschers Eis sehen wir es in tiefe Coulissen gespalten, aus deren Tiefen ein reines Ultramarin hervordämmert, während die vorderen Seitenwände aus Demanten gemauert scheinen. Kein Gletscher zeigt die Herrlichkeit des eisigen Gezimmers reiner, wie überhaupt der ganze Rosenlaui-Gletscher von einer Sauberkeit ist, von der wir an vielen anderen das Gegentheil finden und dadurch aus dem Himmel unserer Erwartung gerissen werden. Das Gestein und die Zerklüftungsweise der Uferfelsen, zwischen denen der Rosenlauigletscher herabsteigt, sind von der Art, daß ihm die Bürde und die Unzier des Moränenschuttes erspart sind. Der Unteraargletscher z. B., welcher rechtwinklig mit dem Rosenlauigletscher demselben Gebirgsstocke des Schreckhorns angehört, trägt auf seinem Rücken unermeßliche Lasten von Felsbrocken abwärts, die er unten abladet und durch sie und feineren Schutt arg verunreinigt wird. Nichts von alledem zeigt der vor uns liegende. In ungetrübtem Farbenkleide, von klarem Weiß bis zum tiefen Meergrün, ruht er in jungfräulicher Reinheit vor uns wie ein großes Haufwerk von Scherben eines zertrümmerten Krystallberges der Märchenwelt. Darüber lagern sich die duftigen Wolken des Morgennebels und dicht vor den Füßen des Eisgemäuers glüht die Alpenrose, ganze Flächen des von Feuchtigkeit gesättigten Waldbodens mit rosigem Schimmer übergießend.

Am Fuße eines Gletschers, und namentlich des der gesündesten Waldvegetation so nahe liegenden Rosenlauigletschers, kann man leicht über dem in imposanter Ruhe vor uns liegenden Ende den Anfang und den Verlauf vergessen, – muß man sich ausdrücklich daran erinnern, daß dieses juwelenblitzende Eis nicht hier an dieser Stelle sich bildete, sondern Tausende von Fuß abwärts eine meilenlange Thalgasse heruntergeflossen ist, und zwar in vielleicht ununterbrochen zu nennender innerer Wandlung; einen Stoffwechsel, dem thierischen ähnlich, in dem leblos genannten Reiche darstellend. Es ist darum vielleicht auf keinem Gebiete der auch dem Auge etwas bietenden Naturgeschichte ein so großer Unterschied zwischen dem wenn auch noch so entzückten, aber doch immer nur oberflächlichen Anschauen des Laien und dem sich vertiefenden Betrachten des Forschers, als auf dem Gebiete der Gletscherthätigkeit. Nichts macht dem flüchtigen Beschauer so sehr den Eindruck der kalten Todesruhe, als der in seiner Felsengasse eingeklemmte Gletscher, und doch ist nichts mehr als er ein Bild des beharrlichen Fortschritts, wenn man die Erscheinungen der Gletscherthätigkeit und deren gewaltige Werke genauer kennt.

Wenn man in der Schweiz und den übrigen, gleiche Alpennatur in ihrem Schooße bergenden Ländern des mittlern Europa sich in das überall ungefähr gleichbleibende Niveau der Gletscherfüße stellt, so steht man auf der Scheidelinie, von wo an aufwärts bis über die Schneegrenze hinaus ein ruheloses – oder höchstens während der stärksten Frostzeit gebändigtes - aber in seinen einzelnen Arbeitsmomenten unwahrnehmbares Drängen und Treiben stattfindet – abwärts aber, bis hinunter in die Tiefebene und auf dieser oft noch meilenweit wegwärts von dem Alpenfuße, für den Kundigen die unzweifelhaften Spuren davon sichtbar sind, daß wir vor undenklich langer Zeit – wenn wir damals uns aufgemacht hätten – den Fuß des Rosenlauigletschers unten in der Ebene hätten suchen müssen. Denn wer einmal die Moränen, die langen zusammengefrorenen Steindämme auf dem Rücken eines Gletschers, gesehen hat, der erkennt dann auch an vielen Punkten der savoyischen und lombardischen Ebene, wo sich diese an den Südfuß der Alpen anschließt, in ganz gleich beschaffenen Steindämmen – denen freilich der Eismörtel längst aus den Fugen schmolz – alte Moränen. Jetzt wenigstens, nachdem durch Charpentier, Venetz, Agassiz, Desor, Forbes und Andere die Natur und das Leben der Gletscher erforscht war, war es leicht, in diesen oft meilenlangen und stundenweit auseinanderliegend nebenander verlaufenden riesigen Schuttwällen die Alpenabkömmlinge zu erkennen und so in ihnen für die von der Erdgeschichte angenommene „Eiszeit“ ebenso sichere Belegstücke nachzuweisen, wie für eine ehemalige vulcanische Zeit im Herzen Europas die Lavaströme der Auvergne und Eifel die Belege sind.

Bevor man einmal mit eigenem Auge und Herzen sich in die Majestät der Alpenwelt versenkt hat, macht man sich gewöhnlich ein falsches Bild von ihr: man denkt sich gewöhnlich die äußersten in den Himmel aufragenden Spitzen von Schnee und Eis bedeckt. Es ist gerade umgekehrt. Der in jenen Höhen fallende Schnee, der als besondere Art vorhin Hochschnee genannt wurde, ist so trocken und feinkörnig, daß er an den steilen Felshängen der höchsten Alpenspitzen nicht haften kann und also von den Winden nur an deren Fußgestell in Schluchten und weiten Kesselthälern zusammengeweht wird, aus denen jene Spitzen als schwarze oder höchstens mit einigem Schneeweiß gefleckte Kegel aufragen. Man hat daher ein richtigeres Bild von der Schneeregion der Alpen, wenn man sich vorstellt, es sei über das tausendzackige Alpengebäude plötzlich eine schwere weiße Decke niedergefallen, in welche jene Spitzen und Zacken hindurchstechend Löcher rissen, so daß sie nun aus diesen hervorschauen, während sich die Decke den Thälern und Schluchten zwischen ihnen anschmiegte, und nur hier und da kleine Fetzen an den Flanken jener zurückließ.

[637]

Der Rosenlaui-Gletscher.
Nach der Natur aufgenommen von C. Heyn in München.

[638] Und um uns durch einen passenden Vergleich von der Natur der Gletscher im Großen und von ihrem Zusammenhang mit den Schneewüsten der Alpen ein recht anschauliches Bild zu machen – der thronenden „Jungfrau“ gerechtfertigt – so denken wir uns das schneebedeckte Alpenmassif des Berner Oberlandes als einen Rocken, von welchem die unerschöpfliche Fülle gleichzeitig an verschiedenen Punkten in den hundert Fäden der Gletscher die Thalgassen entlang hinabgesponnen wird. Denn auch ein Spinnen ist es zu nennen: wie sich unter der Hand der Spinnerin die aus dem Rocken gezogenen Flachsfasern immer mehr zum festen Faden verdichten, so verdichten sich unter dem Einfluß der Wärme die Anfangs losen Schneeflocken erst zum körnigen „Firn“ und dann allmählich zum festen Gletschereis, wie es eben in den azurnen Coulissen des Rosenlaui-Gletschers vor uns liegt und vor den am folgenden Tage nach uns Kommenden schon nicht mehr ganz dasselbe sein wird.

Ja, Gletscher und Alpenrose sind die Wahrzeichen des schönen Alpenlandes, bei deren Anblick wir an die unzerstörbare Zeugungskraft der freien Natur glauben müssen, die sie hier in ihren starren und blühenden, und von Zinne zu Zinne lebendig eilenden Wesen ebenso wie in der Brust des mannhaften Volkes bewährt.

Die Tropfen des Rosenlauigletschers rinnen dem Rheine vermählt durch die deutschen Fluren; die Alpenrose brachte der Schweizer beim deutschen Schützenfeste mit herab als Zeichen des Bündnisses mit dem einig und frei sein wollenden deutschen Volke.





Pavianhetze im Bogoslande.

Von Brehm.

Während meines ersten Aufenthaltes in Afrika war es mir gegangen, wie allen übrigen Reisenden, welche die Tropen kennen lernten. Beim ersten Anblick der Affen war das Jagdfeuer rege geworden und nach den ersten tödtlichen Schüssen war es so vollkommen erloschen, daß fortan die lustigen Gesellen der Höhe unbehelligt blieben. Es ist eine ganz eigene Sache mit der Affenjagd: auch der abgehärtetste Jäger kann den Gedanken nicht los werden, daß er durch die Tödtung eines Affen einen Mord begangen habe. Der sterbende Affe gebehrdet sich so menschlich, daß es einem eiskalt über den Rücken läuft, wenn man sich als Mörder desselben erkennen muß.

Ganz andere Gedanken wurden in mir wach, als ich gleich beim Eintritt in das Gebirgsland der Bogos von hoher Felswand hernieder das Gebell der Paviane hörte. Ich dachte gar nicht daran, jetzt mit Affen zu thun zu haben, sondern sah in der über hundert Stück starken Heerde nur eine ausrottungsreife Bande wüthender Thiere. Und dieses Gefühl hat sich nicht vermindert, sondern nur vermehrt. Ich will hier von unseren Jagden einen kurzen Bericht geben, vorerst aber das Wild, um welches es sich handelt, meinen Lesern vorstellen.

Der Pavian, welcher auf allen abyssinischen Gebirgen am häufigsten vorkommt, ist der „Hamadryas“ (Cynocephalus Hamadryas). Wie er zu dem Namen einer alten griechischen Baumnymphe gekommen ist, wissen die Götter. Etwas Weibliches hat er sicherlich nicht an sich, und die Alten, denen er sehr wohl bekannt war, haben ihm auch diesen Namen nicht zugemuthet. Der Hamadryas oder der Silberpavian ist ein ungeheurer Affe, wenn auch noch nicht so groß, als der durch Du Chaillu so hoch berühmt und berüchtigt gewordene Gorilla; aber ein altes Männchen von ihm giebt einem unserer stärksten Hunde nicht das Geringste nach. Er sieht viel stattlicher aus, als jeder Hund; ein Wolf namentlich erscheint neben ihm als ein dürres, ausgehungertes, armseliges Vieh, auch wenn er seine Zähne zeigen sollte; – denn diese Wolfszähne verschwinden gänzlich vor dem ungeheueren Gebiß des Pavian. Er trägt Reißzähne im Maule, welche fast mit denen des Löwen wetteifern; die unseres Bären übertreffen sie immer noch an Stärke. Es geht unserem Hamadryas wie manchem Menschen: so lange er das Maul nicht aufthut, hat er etwas sehr Würdiges. Der Kopf ist zu beiden Seiten sehr dicht, oben aber dünner behaart, die seitlichen Haarpartien stehen vom Gesichte ab, die obere ist niedergedrückt. So entsteht ein gar nicht unangenehmer Haarputz, den nach ihm sogar manche abyssinische Völkerschaften sich angeeignet haben. Vom Kopfe angefangen über den ganzen Hals und Rücken, die Schultern und Seiten des Leibes bis zu dessen Mitte hinweg verlängert sich das Haar zu einem dichten, schönen Mantel. Bei mittelalten Silberpavianen sind die einzelnen Haare 6–8, bei recht alten 10–12 Zoll lang. Der untere Theil des Leibes ist glatt behaart, das Gesäß nach Art seines Geschlechtes nackt und widerwärtig roth, aber am Schwanze, welcher beinahe körperlang ist, verlängert sich das Haar doch wieder, und an der Spitze bildet es eine dichte Quaste. Die Färbung ist ziemlich einförmig. Jedes einzelne Haar ist abwechselnd schwärzlich und gelblich, oder graulich und weißlich geringelt, und hierdurch entsteht entweder ein Kleid, welches wie Heu, oder aber ein solches, welches wie mattes Silber aussieht. In Afrika tragen nur sehr alte Herren einen etwas lichteren Mantel; die eigentlichen Silberpaviane sind Asiaten. Den Weibchen fehlt der Haarschmuck; sie sehen auch dunkler aus; die Jungen sind braun.

Unmöglich kann man sich ein jähzornigeres und gleichwohl wieder berechnenderes Thier denken, als diesen Pavian. In seiner Seele hat jede Leidenschaft Platz, und die unglaubliche Beweglichkeit des Affengeistes ermöglicht es ihm, blitzschnell von dem Einen zu dem Anderen überzuspringen. In diesem Augenblick fürchterlich wüthend, macht er in dem nächsten ein glattes, freundliches Gesicht, und nur das tückische Auge giebt noch ein Fältchen seiner versteckten Seele wieder. Unter den guten Eigenschaften verdienen wohl nur Muth und hingebende Liebe zu Seinesgleichen aufgeführt zu werden; alle übrigen Begabungen des Affen äußern sich mehr im schlechten, als im guten Sinne. Noch heutigen Tages verlieren viele Menschen durch ihn das Leben, namentlich Frauen und bezüglich Mädchen, welche mit ihm zusammenkommen, wenn sie, um Holz zu holen, die Bergwälder besteigen. Der Naturforscher Schimper, welcher seit etwa 28 Jahren in Abyssinien lebt, hat mir versichert, daß die Angriffe männlicher Affen auf weibliche Menschen keine Fabeln sind, und wer nur einmal so einen alten Affenvater in einer Thierschaubude betrachtet und gesehen hat, wie verschieden sich das Vieh benimmt, wenn ein bärtiger Mann oder eine schöne Dame ihm gegenüber steht, der glaubt Schimper schon.

Dem Jäger gegenüber ist der Hamadryas ein durchaus nicht zu verachtender Gegner. Sein Muth steigert sich oft zur Tollkühnheit; denn seine rasende Wuth, die hervorragendste Eigenschaft unter den schlechten, läßt gar nicht selten eine Berechnung vergessen, welche den Affen sonst so auszeichnet. Jedenfalls steht soviel fest, daß dem Hamadryas das Feuergewehr weit furchtbarer ist, als der ganze übrige Mensch, er möge sonst bewaffnet sein, wie er wolle. Dies zur nothwendigen Kenntniß derjenigen meiner Leser, welche gerade diesen Pavian, eine bei uns immer noch seltene Erscheinung, nicht ans eigener Anschauung kennen lernen.

Eines schönen Morgens also, ich glaube es war am 12. oder 13. März dieses Jahres (1862) stellte sich mir Freund Thoth in höchsteigner Person vor. Ich vernahm Töne vom hohen Berge herab, welche etwa wie „Kuk, Kuk“ klangen, d. h. mit dem fernen Bellen eines hochstimmigen Hundes ungefähr ebensoviel Aehnlichkeit hatten, als das vorgezogene Pavian- oder „Hundskopf“-Gesicht mit dem unseres treuesten Hausfreundes. Eiligst flog der Blick an den Bergen empor; aber ich sah Nichts, als die alten Felsstücken da oben, welche ungeordnet auf dem Kamme des Berges lagen. Das konnten doch keine Affen sein? Ich hatte mich getäuscht. Die Paviane mochten ein reichliches Frühstück genossen haben und saßen so still oben auf, neben und hinter wirklichen Steinblöcken, daß ich sie für Eins mit denselben hielt. Neue Ausrufe von ihnen regelten den Blick, und nun erkannte ich auch ohne Mühe ungefähr ihrer zwanzig bis fünfundzwanzig. Sie schienen ziemlich gleichgültig auf uns, die wir dem Zuge vorausritten, herabzublicken; nicht so gleichgültig aber schauten sie nach unseren Hunden, welche jetzt um die Thalbiegung herumkamen. Da wurde es oben lebendig, ein Grunzen, Quieken, Kreischen, Schreien, Bellen, und wer weiß, was sonst noch Alles begann; es war, als ob ein Rudel Wildschweine aufgestört die Stimmen seiner sämmtlichen Mitglieder erschallen ließe. Ein Affe nach dem anderen rückte von [639] hinten nach dem Bergeskamme vor und schaute sich die Gesellschaft unten an. Die Weibchen schienen bedenklich zu sein, eben wegen der Hunde, die alten Herren versuchten sie zu beruhigen, schlugen aber doch wüthend mit der einen Hand auf den Felsen aus, gleichsam zum Warnungszeichen für die Hunde, denen sie wahrscheinlich andeuten wollten, was geschehen würde, wenn sie es wagen sollten, den Frieden der Gesellschaft zu stören. Diese Affen waren einiger Vorberge wegen außer aller Schußweite; als wir aber um die nächste Wendung des Thales herumbogen und den Berg, welchen wir jetzt von vorn betrachtet halten, nun auch von hinten zu sehen bekamen, bemerkten wir zu unserer nicht geringen Ueberraschung, daß die eigentliche Hauptmenge der Heerde hier sich niedergelassen habe. Der Bergzug fiel hier senkrecht in das Thal ab, und an dieser senkrechten Wand saß auf schmalem Gesimse eine ununterbrochene Reihe von mindestens noch 120 Pavianen. Die waren höchstens 400 Fuß hoch über uns und lockten denn doch gar zu sehr zur Jagd; wenigstens aus ihrer behäbigen Ruhe wollten wir sie aufstören. Die Büchsen wurden vorgenommen und nach der Stelle gerichtet, wo die meisten Affen zusammensaßen. Ich hatte mir ein altes Männchen auserwählt, bemerkte aber schon beim Zielen, daß ich es schwerlich treffen würde, eben weil die Entfernung für unsere Jagdbüchsen immer noch eine zu große war.

Der Schuß donnerte durch das Thal, und sein Echo wurde, wie überall in dieser Schlucht, von hundert Felsen wiedergegeben; aber der vielfache Knall wurde von einem tollen Lärmen, welcher sich im Augenblick des Schusses erhob, so vollständig übertäubt, daß wir ihn selbst kaum hörten und von dem Echo entschieden Nichts vernahmen. Alle Laute, welche nur aus einer Raubthier- oder Schweinekehle herauskommen können, hallten von den Felsen herunter. Dabei quiekten die jüngeren fürchterlich, und die besorgten Mütter kreischten voll Mitgefühl laut auf. Aber es blieb’ nicht beim Schreien, Grunzen, Brüllen, Brummen und Quieken allein; sondern die ganze schöne Affenguirlande, welche an dem Felsen hing, kam noch in andere Bewegung. Die Kugel mochte wohl recht nahe neben dem ausgesuchten Männchen an den Felsen geklascht sein und diesem doch eine gewisse Achtung vor den Fremdlingen da unten eingeflößt haben; kurz, die ganze Kette setzte sich in Bewegung. Sie trat eine Flucht an, welche mir zum ersten Male klar machte, was Gebirgsteigen besagen will. So klettert doch kein Wiederkäuer! Ich sah wenige Tage später den berühmten Klippspringer, hier „Sassa“ genannt, seine Gemsenkünste mir vormachen; allein das war ein Spiel gegen den ernsthaften Weg, welchen jetzt die Affen zurücklegten. Das Felsengesims war vielfach unterbrochen, und die Hamadryadenreihe mußte oft aufwärts und dann wieder abwärts klettern oder umgekehrt. Diese Schwierigkeiten des Weges überwanden die Thiere mit einer Geschicklichkeit, welche nur noch durch ihre Kühnheit übertroffen wurde. Sie sprangen ohne Besinnen 10 bis 15 Fuß von einem Absatze der senkrechten Felswand zum andern; sie ruschten an derselben hinab, indem sie sich aufstemmten und Hände und Füße gleiten ließen, bis sie wieder einen Anhaltspunkt hatten, dann griffen sie augenblicklich zu und hoben den Körper, welcher, wie ich bei mehreren sah, durch die Wucht des Sturzes förmlich herumgeschleudert wurde, ruhig und gelassen wieder empor, als ginge der Weg auf ebener, gebahnter Straße dahin. Ehe ich noch die ganze Reihe hatte übersehen können, fiel ein Schuß aus dem Rohre meines Freundes und Begleiters, des Holländers Van Arkel d’Ablang. Er brachte eine geradezu lächerliche Wirkung hervor. Jeder Affe erfaßte augenblicklich nach dem Knalle die Felsenwände, als fürchte er, durch die Erschütterung herabgeschleudert zu werden. Dann ging die Flucht mit erneuter Eile weiter, wenn auch selbstverständlich nicht mit der Schnelligkeit, mit welcher Affen sonst flüchten können. Ein so kluges Thier bedenkt sich wohl auf Wegen, wo jeder Fehltritt unvermeidlich den Tod zur Folge hat. Wir luden unsere Gewehre von Neuem und feuerten noch vier oder fünf Schüsse ab, wie es schien, sämmtlich ohne Erfolg. Die Angst der Affen steigerte sich zuletzt zu wahrem Entsetzen, und vergeblich bemühten sich die alten Stammeshäupter, Ruhe und Ordnung unter ihre Schutzbefohlenen oder besser Sklaven und Sclavinnen zu bringen. Endlich war auch der letzte Affe hinter den Bergen verschwunden, und nur noch von fern her hörten wir das Knurren und Brummen zu uns hertönen. Wir bestiegen unsere Maulthiere wieder und ritten weiter.

Zu unserer nicht geringen Ueberraschung begegneten wir der Heerde zum zweiten Male und diesmal unter ungleich günstigeren Bedingungen als früher. In Folge der allgemeinen Aufregung wegen des vielen Schießens war im hohen Rathe der Alten beschlossen worden, die linke Thalwand mit der rechten zu vertauschen, und wir fanden die ganze Bande eben beschäftigt, den Uebergang zu bewerkstelligen. Ein guter Theil war schon drüben und brummte und grunzte im Gebüsch; die Hauptmasse jedoch war noch zurück. Jetzt war der rechte Augenblick für unsere Hunde gekommen; sie konnten ihren Muth zeigen. Augenscheinlich überrascht, betrachteten sie die fremdartigen Wesen; sie glaubten offenbar, es mit Geschwisterkindern irgend einer Hyäne oder eines sonstigen nächtlichen Schleichers zu thun zu haben, welcher mit unerhörter Frechheit bei hellem lichten Tage zu zeigen sich erkühne. Nur einen Augenblick stutzten sie; dann sprangen sie mit freudigem Bellen los und mitten unter die Herde. Aber sie wären eben so schnell zurückgekehrt, als sie hineilten, wenn – dies nur gegangen wäre. Zornfunkelnden Auges und unter wüthendem Brüllen hatten die Affen sie empfangen, und augenblicklich war ein Kreis um die Angreifer geschlossen. Noch schien man auf beiden Seiten ungewiß, was zu thun. Der Muth der Hunde war sehr abgekühlt worden. Sie sahen die fürchterlichen Gebisse in nächster Nähe und mochten doch wohl bedenken, daß ihre Zähne gegen jene Hauer nichts ausrichten könnten. Die Affen waren entschieden zu ungleiche Gegner, und ich begann schon für unsere Hunde zu fürchten, als diese mit einem Paar von jenen Sätzen, wie sie nur ein Windspiel zu machen im Stande ist, über einen ihrer Angreifer wegsprangen und, ohne von der ihnen schnell nachfolgenden Hand des nunmehr übermüthigen Feindes ergriffen zu sein, glücklich aus dem Kampfgewühl entrannen. Sie kehrten ziemlich kleinlaut zurück und ernteten von uns auch noch Schelt- und Schimpfworte wegen ihrer Feigheit.

Anfänglich versuchten wir vergebens, sie wieder auf die Affen zu hetzen; allein die Umstände änderten sich, und unsere Hunde schöpften neuen Muth. Sogleich nach zurückgeschlagenem Angriff nämlich waren die Hauptführer der Heerde vollends über das Thal weggegangen und außer einigen Schwachen und den anderen Starken, welche noch auf der linken Thalwand saßen, kein Streiter zu bemerken. Da wagte sich ein wahrscheinlich erst vor Kurzem der Beaufsichtigung der Mutter entwachsener Affenjüngling in das Thal hernieder, jedenfalls in der Absicht, den Vorausgegangenen nachzufolgen. Augenblicklich stürzten sich die Hunde auf ihn, und er hatte eben nur noch Zeit, einen herabgerollten hohen Block zu erklimmen, als seine Feinde bei ihm anlangten. Sie stellten ihn so vortrefflich, daß wir uns schon der Hoffnung schmeichelten, ihn in unsere Gewalt zu bringen, und uns soviel als möglich beeilten, auf dem Kriegsschauplätze nunmehr selbsthandelnd aufzutreten. Der doppelt geängstigte junge Affe schrie Zeter, gerade als ob er schon die Zähne der Hunde in seinem Balge verspüre. Wir kamen näher und näher. Unsere Hoffnung wuchs, und – dennoch wurde sie nicht erfüllt.

Stolz und würdevoll, ohne sich im Geringsten zu beeilen oder sich um uns zu kümmern, trat aus dem gegenüberliegenden Dickicht des rechten Ufers ein gewaltiger männlicher Hamadryas hervor. Langsam ging er über das Thal hinweg, ruhig an den Hunden vorüber, mit einem Satze war er oben beim andern. Dieser sprang voll Freude auf seinen Rücken, wurde aber durch eine sofort ihm gereichte Ohrfeige bedeutet, daß der alte Herr nicht gesonnen sei, ihn auch noch zu schleppen, und schmiegte sich nun nur noch ängstlich an seinen Beschützer an. Wir hätten diesen bequem erlegen können; aber für ein so muthvolles Thier hatten wir keine Kugel in unserer Büchse. Unsere Spannung war viel zu groß, als daß Jagdgedanken hätten aufkommen können. Wir mußten sehen, was der Affe beginnen würde; denn die Hunde standen noch immer unten am Felsblock. Unser Held handelte viel einfacher und verständiger, als wir gedacht hatten. Er stieg ruhig vom Felsblock herunter und ging wutschnaubend auf einen der Hunde los. Der prallte zurück; sein Schützling benutzte diesen günstigen Augenblick, war im Nu unten bei ihm, und nunmehr zogen beide ruhig, der Alte im Bewußtsein seiner gewaltigen Stärke, der Junge im Gefühl des ihm gewordenen Schutzes, über das Thal hinweg, und die Hunde standen verblüfft und hatten das Nachsehen.

Wir drangen nun zwar in das Dickicht ein und feuerten noch einige Schüsse nach dem einen und dem anderen, welcher sich sehen ließ; aber die Heerde war mittlerweile schon so weit an dem Berge hinaufgegangen, daß wir sehr bald von der Jagd abstanden.

Am zweitnächsten Tage kamen wir mit einer anderen Heerde [640] von Silberpavianen zusammen. Sie saßen hoch oben aus einer Felsenwand, bis zu deren Fuße wir, wenn auch nicht gerade mit Bequemlichkeit, emporsteigen konnten. Wir nahmen jetzt unsere Doppelbüchsen und kletterten bis zu geeigneter Schußhöhe an der Bergwand in die Höhe, suchten uns hinter einem Felsen einen ordentlichen Stand aus und begannen von hier aus zu feuern. Der Erfolg war, wenn man sonst will, ein glänzender; fast jede unserer Kugeln traf, aber leider stürzten die tödtlich getroffenen Affen oben auf der Felswand nieder, und die nicht tödtlich Getroffenen gingen noch so munter davon, als hätten sie gar keine Kugel erhalten. Wir gedachten, unsere getödteten Feinde nach beendigter Jagd abzuholen; aber dazu kam es auch diesmal nicht. Ein sehr starkes Männchen war entrüstet über unser Schießen auf den Rand der Felsplatte vorgekommen und hatte von dort ans neugierig und ergrimmt zugleich in die Tiefe hinabgesehen. Wir feuerten beide gleichzeitig, und einer von uns hatte getroffen; denn sofort nach dem Schusse ergriff der Affe krampfhaft mit beiden Händen Grasbüschel und versuchte sich an diesen emporzuziehen. Der Schmerz aber siegte, er glitt langsam nach der Tiefe hinunter. Ohne eigentlich zu fallen, behielt er die Richtung seines ersten Abwärtssteigens bei und kam so nach und nach an dem Felsen herunter, ging an uns vorbei und wandte sich dem Thale zu. In diesem Augenblicke brach oben auf der Höhe ein fürchterlicher Aufruhr los. Wenigstens zwanzig Affen rückten an den Rand vor, und jeder einzelne schlug wüthend mit der Hand auf den Felsen auf. Zugleich vernahmen wir unten von unseren zurückgelassenen Dienern ein lautes Geschrei, Hülferufen und bald darauf zwei Schüsse. Der verwundete Affe war bei hellem lichten Tage von einem Leoparden besprungen worden und hatte, unzurechnungsfähig und ziemlich wehrlos in Folge der erlittenen Verwundung, das Raubthier mit sich zur Tiefe hinabgeschleppt. Dort hatte der ägyptische Koch meines Freundes in augenscheinlicher Todesangst, „um sein Leben zu fristen,“ wie er sagte, die zweite Doppelbüchse seines Herrn ergriffen, nach beiden Bestien hingezielt, die Verzweiflung hatte seine Kugeln gelenkt, und Leopard und Affe lagen, als wir zur Tiefe kamen, getödtet unten im Thale. Dies Ereigniß freute uns so, daß wir die Leichen auf dem oberen Schlachtfelde gern liegen ließen und uns mit dem doppelt und dreifach angegriffenen und unserm Jagdgehülfen gegen unseren Willen begnügten. Beide wurden auf die darob im höchsten Grade entrüsteten Kameele geladen und bis zu dem für den Mittag erkornen Ruheplatz gebracht, woselbst wir sie abhäuteten. –


Blätter und Blüthen.


Authentisches über Mozart’s Don-Juan-Ouvertüre. Da in Nr. 37 dieser Blätter von R. in D. mit Recht das Märchen über die Entstehung der Don-Juan-Ouvertüre aus den Memoiren des Schauspielers Genast und aus dem vierten Theile des Werkes über Mozart von Jahn in Zweifel gezogen wird, so ist es wohl an der Zeit diese Unwahrscheinlichkeiten aus einer andern Quelle zu berichtigen: Mozart wohnte im Sommer und Herbst des Jahres 1787 bei den Duffel’schen Eheleuten, mit denen er in einem freundschaftlichen Verhältnisse stand (bekanntlich war Duffel ein ausgezeichneter Claviermeister und seine Gattin eine treffliche Sängerin), auf ihrer reizenden Besitzung Pertramke, die unweit des Augezder Thores auf einer Anhöhe gelegen ist. Drei Tage vor der Ausführung des Don-Juan war es, daß Mozart in dem dortigen Garten mit mehreren Bekannten sehr eifrig Kegel schob, ganz vergessend, daß die Ouvertüre noch nicht componirt sei. Da nahm ihn der ernstlich besorgte Duffel bei Seite, stellte ihm vor, daß es nun die höchste Zeit sei, an das Componiren der Ouvertüre zu denken, wenn die Aufführung der Oper an dem bestimmten Tage nicht ganz unmöglich werden sollte und Mozart gab ihm Recht und bat ihn, mit in sein Zimmer zu gehen. „Ich werde Ihnen drei Ouvertüren vorspielen, welche ich im Kopfe fertig habe,“ sagte er zu seinem Freund, „welche Ihnen am besten gefällt, die werde ich niederschreiben.“ – Die von Duffel gewählte schrieb er sogleich in Partitur nieder, und allerdings hatten die Abschreiber Mühe, mit dem Ausschreiben der Stimmen zur gehörigen Zeit fertig zu werden. Dies wurde von der Sängerin Duffel wörtlich mitgetheilt. – Die Oper kann also Wohl am 28. October, wie es auch in Mozart’s Tagebuche steht, fertig geworden sein; die Ouvertüre wurde demnach drei Tage vor der Aufführung geschrieben, denn diese ging am 4. November 1787 vor sich. Diese Mittheilung spricht auch Mozart von der Unbesonnenheit frei, daß er es gewagt habe, die Ouvertüre ohne alle Probe bei der ersten Aufführung der Oper prima vista spielen zu lassen. L. S.     




Berichtigung. In dem Artikel „Ein Leipziger Großhandelshaus“ (Nr. 37) hat sich eine Zahlenverwechselung eingeschlichen. 100,000 Fuchsfelle u. 100,000  Biberfelle sind der ungefähre jährliche Vertrieb des Leipziger Pelzhandels in dieser Branche, nicht aber der des Lomer’schen Etablissements allein.




An die Freunde der Gartenlaube!

Mit der heutigen Nummer meiner Zeitschrift lege ich den vielen Freunden derselben die erste Probe eines Beiblattes bei, das bestimmt ist, unter der Redaction Berthold Auerbachs, des bewährten Volksschriftstellers, eine nothwendige, zugleich aber auch schöne Ergänzung der Gartenlaube zu bilden. Wenn es der Gartenlaube bisher nicht vergönnt war, unmittelbar in die Fragen der Zeit belehrend und anregend einzugreifen, wenn die Fülle des gebotenen Stoffes sie bis heute meist verhinderte, den Aufgaben des innern und äußern Lebens eine fortlaufende und eindringliche Berücksichtigung zuzuwenden – und wenn namentlich in den letzten Jahren durch die Größe der illustrirten Auflage und deren zeitraubende Herstellung jede Gelegenheit zur schnellern und dadurch wirksamern Mittheilung der Zeitereignisse und deren anregenden Beleuchtung genommen wurde, so soll nunmehr durch die

Deutschen Blätter

diese Aufgabe unter der Leitung des genannten Volksschriftstellers in bestem Maße erfüllt werden.

Alle Fragen der Zeit also, sowohl die eines jeden Menschen in sich, in seinem Hause, in der Familie, in der Gemeinde, sowie die der Kunst und Literatur und des öffentlichen Lebens, sollen den Lesern der Gartenlaube in anmuthiger, knapper und an’s Herz greifender Weise dargelegt und klar gemacht werden. Politische Leitartikel und raisonnirende Polemik werden meine Freunde zwar nicht in dem kleinen Blatte finden, aber wo es gilt den Schmerz des Volkes und den Jammer des Einzelnen auszusprechen, wo es Pflicht wird den Anmaßungen der Gewalt von Oben oder Unten entgegenzutreten, da wird das Beiblatt so wenig schweigen, wie es das Hauptblatt gethan.

Ich biete hiermit den in so erhebender Weise stets treuen und anhänglichen Freunden meiner Gartenlaube kein großes und weitsichtiges Organ, wohl aber in gedrängter Form nach des Tages Mühen und Lasten eine innere Labung für Gemüth und Verstand, die ihnen hoffentlich mit jeder Woche eine stets willkommene Herzensfreude werden wird. Um aber auch den Aermsten meiner Leser die Anschaffung dieser Beigabe zu erleichtern, habe ich – für die Abonnenten der Gartenlaube – den Preis des Vierteljahrs auf nur

6 Ngr. 38 = Neu-Kr. österr. W. = 21 Kr. rhn.

gestellt, während Nichtabonnenten der Gartenlaube 12 Ngr. oder 76 Kr. zu zahlen haben. Selbstverständlich findet dabei kein Zwang statt, und steht es den Abonnenten vollständig frei, auf das Beiblatt zu abonniren oder nicht.

Versucht es also auch mit diesem Blättchen, und damit Gott befohlen.

Leipzig, Anfang October 1862. Ernst Keil. 


Um Ausfüllung des beiliegenden Bestellzettels ersucht
Die Verlagshandlung. 

  1. D. Rizzio aus Nizza kam mit der piemontesischen Gesandtschaft nach Edinburgh und trat anfangs als Bassist in das Quartett der Königin.
  2. Ueber die Echtheit dieser Briefe ist viel gestritten worden. Der gelehrte Buchanan aber, ein Zeitgenosse Maria’s, tritt schon deshalb für ihre Echtheit ein, weil er behauptet: Handschrift wie Styl der Briefe habe schon deshalb Niemand fälschen können, weil Maria Stuart eine der gebildetsten Frauen ihrer Zeit gewesen sei, die keiner ihrer Zeitgenossen weder in Schrift noch Ausdrucksweise hätte so leicht nachahmen können. Diese Briefe sind von Hugh Campbell herausgegeben worden.