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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[593]

No. 38.   1862.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Sophie Dorothea.

eine Hofgeschichte.

(Fortsetzung.)



6. Der Besuch.

Vor den Gemächern der Frau von Nassau, als erster Ehrendame, befand sich die Nacht hindurch ein Wachtposten, welcher aus jenen langen Cavalleristen rekrutirt wurde, die später Friedrich Wilhelm I. von Preußen, dem Vater des großen Fritz, als Modell seiner Leibhusaren dienen sollten. An diesem Abende war es der lange Jürge, ein ehrlicher Bauernsohn aus den Marken, welcher dies Ehrenamt versehen sollte.

Dieser Flügel des Schlosses schien schon in der vollständigsten Ruhe zu liegen, während der Erkerflügel des Prinzen, – welcher weit in den Park hineinragte und den man von den Corridorfenstern aus gerade vor sich liegen sah noch voll Leben und Lichter war. Die Lampe des Corridors brannte matt und träge, und der schwere Sommerregen, welcher klatschend an die Fensterscheiben schlug, erhöhte noch die gemüthliche Ungemüthlichkeit dieses Halbdunkels.

Die Schritte des langen Jürge wurden bald langsamer, bald schneller je nachdem er schläfriger wurde oder durch einen Donnerschlag aus seinem wandelnden Schlafe aufgeschreckt wurde – und hallten bald lauter, bald dumpfer durch den Gang. Endlich verstummte auch dieses Echo. Der lange Jürge hatte sich an die Thüre gelehnt und die Augen geschlossen. Das häufige Wetterleuchten blendete ihn augenscheinlich. Jetzt schreckte er wieder auf. Aber diesmal war es eine kräftige Hand, die ihn aus seinem Schlummer weckte.

„He – holla – wer – wer ist da?“

„Still, Jürge – erschrick nicht, ich bin’s.“

„Wer ich? – Sak… Ah, gräfliche Gnaden, Herr Philipp!“

„Ja, Jürge. Willst Du mir einen Dienst leisten?“

„Wie denn nicht, Herr Graf? – Sie wissen ja, mein ohler Vater hat bei Ihrer Frau Schwester Gräfin das Gnadenbrod - und ich bin doch bei Ihnen daheim aufgewachsen! Einen Dienst leisten? Tausend für Einen!“

„Gut. Vor Allem sage mir, ist heute Abend Niemand zu Frau von Nassau hineingegangen?“

„Halten zu Gnaden, Herr Graf, vor einer Stunde die Frau Prinzessin Durchlaucht.“

„Wie lange hast Du noch die Wache?“

„Noch eine Stunde.“

„Gut, Jürge. Jetzt höre. Du mußt mir auf eine halbe Stunde Deine Montur leihen und mich Deine Stelle vertreten lassen. Es soll Dein Schade nicht sein. Hier!“

Und der Graf zog einen wohlgefüllten Beutel aus der Tasche, welchen er dem langen Jürge vor die Augen hielt. Jürge kratzte sich mit der einen Hand hinter den Ohren, mit der andern rieb er sich den Rücken, und mit seinen Augen blickte er abwechselnd auf den Beutel und auf den Ausgang des Corridors.

„Aber wenn’s herauskommt, die Prügel, gräfliche Gnaden!“

„Es wird nicht herauskommen, Jürge. Und wenn auch. Was schaden einem starken Kerl, wie Dir, ein paar Liebkosungen des Haselstocks? Für jeden Hieb erhältst Du einen Ducaten. – Nun?“

Die Augen Jürge’s leuchteten. Bald aber verwandelte sich diese leuchtende Miene wieder in die alte Grimasse der Verlegenheit. Plötzlich fuhr er aus. Jürge hatte viel Mutterwitz – er hatte einen Ausweg gefunden.

„Halten zu Gnaden, Herr Graf,“ flüsterte er, „es ist wirklich unverschämt, was ich da fragen will, aber – weshalb verlangen Sie die Maskerade?“

„Es ist nur ein Scherz, Jürge.“

„Herr Graf!“ flüsterte der Lange mit seiner verschmitztesten Miene noch leiser. „Sie wollen zur Frau von Nassau, nicht? Und wollen, daß selbst ich nicht davon weiß? Ist’s so? Aber ich bin verschwiegen wie das Grab. Man kann mich zu Tode massacriren, so werde ich kein Wort davon ausplaudern! –Ich lasse Sie da hinein, sobald die Frau Prinzessin Durchlaucht herauskommt, und halte noch Wache, daß Sie Niemand überrascht.“

Königsmark zauderte, indem er das ehrliche und doch intelligente Gesicht des langen Jürge forschend betrachtete. Endlich sagte er mit seiner leisesten Stimme: „Ja, es ist so, Jürge. Dir kann ich vertrauen. Ich habe nothwendig mit der Nassau zu sprechen – ich will sie besuchen. Aber Du irrst Dich dennoch in einem Punkte.“

Jürge kicherte. „Und in welchem?“

„Die Kurprinzessin ist schon fort.“

„Ah! Halten zu Gnaden, Herr Graf …“

„Sie ist auf einem andern Wege nach ihren Gemächern zurückgekehrt – und Du siehst also, daß Du mich jetzt hineinlassen kannst,“ fügte er hinzu, indem er die Börse in die Hand des Soldaten gleiten ließ.

Der lange Jürge machte das längste Gesicht, welches man je an ihm gesehen hatte, und rangirte sich zur Seite. Der Graf legte die Hand auf die Thürklinke, drehte sie leise und trat ein.


[594] Sophie Dorothea befand sich, wie gesagt, bei ihrer Freundin, und die beiden Frauen sprachen angelegentlich mit einander. Das Licht der Lampe wurde durch einen farbigen Schleier gedämpft, die Vorhänge der Fenster waren herabgelassen. Frau von Nassau hielt ein Billet in der Hand, welches sie nun schon zum vierten Mal las.

„Nun, was sagen Sie dazu, Johanna?“ fragte Sophie, indem sie sich mit fieberhafter Ungeduld von ihrem Sitze erhob. „Was halten Sie von diesem Schreiben, welches ich heute in meiner Bonbonniere fand ? Halten Sie es für eine Falle, für einen Scherz oder für eine Gnade des Himmels?“

Frau von Nassau schüttelte das Haupt und las wiederholt die folgenden Zeilen:

„Die Herzogin von C. will ihrer Tochter die Mittel an die Hand geben, zu ihr zurückzukehren. Ein Abgesandter derselben wird heut Abend zwischen der achten und neunten Stunde in den Gemächern der Frau von Nassau erscheinen.“

„Nun?“ fragte Sophie.

Frau von Nassau schüttelte den Kopf. „Dieser Brief ist keine Falle,“ sagte sie, „denn was könnte die bezwecken? Es ist auch kein Scherz. Es ist also ganz einfach ein Avertissement, welchem Folge zu leisten Sie recht thaten, Durchlaucht.“

„Sie glauben also, daß wir den unbekannten Abgesandten empfangen sollen?“

„Gewiß.“

„Aber …“

„Und was fürchten Sie, Prinzessin? Ich denke wohl, Sie haben Alles zu gewinnen und Nichts mehr zu verlieren.“

„Aber sind wir hier auch sicher, Gräfin?“

„Unbesorgt, Durchlaucht. Sie wissen ja, wie sehr dieser Flügel des Schlosses gemieden wird, während die Appartements des Kurfürsten um die Abendzeit Alles, was im Schlosse lebt und athmet, anziehen, wie der Magnet das Eisen.“

„Oder wie das Licht die Motten,“ flüsterte Sophie.

„Also Muth, Muth!“

„O wie mir das Herz pocht, Johanna! Ich wage kaum zu glauben, daß ich noch einmal so glücklich sein sollte, aus diesen Fesseln befreit zu werden! Der Gedanke, meine gute Mutter, mein liebes Celle, meine grünen Wälder, mein liebes Gärtchen wiederzusehen, macht mich trunken vor Freude! O, ich dachte schon, daß auch meine Mutter mich verlassen habe, da ich auf meine vielen Briefe keine Antwort erhielt – aber jetzt – jetzt –“

„Jetzt soll sich endlich Ihr Schicksal entscheiden!“ lächelte die Nassau, indem sie auf die Pendeluhr blickte. „Die Zeit ist da, und ich will meinem Wachtposten den Befehl geben, den unbekannten Abgesandten … Ah!“

Die beiden Frauen wandten sich zugleich um, denn ein leises Geräusch wurde an der Thüre hörbar.

„Herr von Königsmark!“ rief Sophie halb erstaunt, halb zürnend, während die Nassau einen Schrei der Ueberraschung ausstieß.

Königsmark näherte sich mit seinem reizendsten Lächeln der Prinzessin und beugte ein Knie vor ihr.

Sophie wich einen Schritt zurück und machte eine Bewegung der Ungeduld. „Sie hier, Herr von Königsmark? Welche Kühnheit oder welche Unverschämtheit! Was wollen Sie hier? Was suchen Sie hier? Entfernen Sie sich auf der Stelle!“

Philipp streckte flehend die Hände nach ihr aus. „Hören Sie mich! hören Sie mich, Prinzessin!“ rief er. „Es ist nicht der Graf von Königsmark, der leichtsinnige Abenteurer, welcher vor Ihnen kniet, es ist ein ergebener Freund und Diener, welcher bereit ist, Ihnen sein Leben, sein Blut zu weihen!“

„Mein Herr!“

„Leben! Blut! Das sind große Worte, werden Sie sagen. Aber hier sind sie an ihrer rechten Stelle. Eine Ergebenheit, die man Ihnen hier an diesem Hofe beweist, ist gefährlich – ein Dienst, den man Ihnen leistet, kann tödtlich werden …“

„Genug, genug, mein Herr!“ rief Sophie. „Enden Sie diesen unzeitigen Scherz. Sie suchen wohl ein neues Abenteuer und wollen mich in Ihrer unverschämten Eitelkeit zur Heldin desselben machen? Noch einmal, entfernen Sie sich!“

Königsmark faltete flehend seine Hände. „Hören Sie mich, Prinzessin, und stoßen Sie mich nicht so von sich! Sind Sie denn so reich an treuen, ergebenen Herzen, daß es Ihnen auf eins mehr oder weniger nicht ankommt? Sind denn Ihre Freunde so zahlreich?“

Sophie lächelte bitter. „Freund!“ rief sie. „Ich sollte einen Freund haben!“

Königsmark antwortete nicht, aber er faltete seine Hände, und aus seinen Augen sprach so viel Hingebung, Liebe und Mitleid, daß das Herz der armen Fürstin diese stumme Sprache verstand und sie verwirrt den Blick senkte.

„Ach!“ sagte sie mit einem Seufzer der Verzweiflung und der Bitterkeit. „Spielen wir keine Komödie, Graf, und entfernen Sie sich!“

„Eine Komödie?“ rief Königsmark. „Eine Komödie, Madame? – Ah, Sie wollen mir also nicht glauben? Sie hassen mich, weil ich ein leichtsinniger Gefährte Ihres Gemahls, ein berüchtigter Lebemann bin, nicht wahr? – – Sie glauben nicht daran, daß dieses Leben hinter mir liegt. Als ich Sie neulich erhaben und zürnend gleich einer Rachegöttin vor mir stehen sah, als ich den Schmerzensschrei und die Anklage hörte, die Ihr armes, gequältes Herz dem Prinzen in’s Gesicht schleuderte, da wurde es klar in mir und um mich. Der falsche Schimmer und der trügerische Glanz, welcher meine ganze bisherige Umgebung schmückte, verschwand. Die Nichtigkeit und die Abgeschmacktheit dieses ganzen Treibens stand plötzlich in ihrer ganzen Nacktheit vor meinen Augen. Ekel und Ueberdruß erfüllten mich, und unter all den Truggestalten dieses Hofes erschienen Sie mir als die einzige und echte Majestät. Und seitdem habe ich kein anderes Sehnen, kein Streben mehr, als Ihnen zu dienen und Ihnen mein ganzes Dasein zu weihen! Mein Gott, was soll ich Ihnen denn noch sagen, daß Sie mir glauben?!“

Die Prinzessin lächelte bitter. „Nein,“ sagte sie. „Nein, ich glaube an kein Mitleid mehr!“

„Ah!“ rief Königsmark, indem er in wilder Aufregung die Arme ausbreitete und sich halb erhob. „Sie wollen nicht an mein Mitleid glauben? Nun, dann glauben Sie an meine Liebe!“

Sophie stieß einen Schrei aus und wandte ihm ihr drohendes, zürnendes Antlitz zu.

„Ja, an meine Liebe!“ wiederholte der Graf immer aufgeregter. „Nicht diesen bösen, zürnenden Blick! Es ist weder eine Komödie, die ich hier spiele, noch eine Beleidigung, die ich Ihnen anthun will! Ich weiß wohl, daß ich das Erste und das Zweite alltäglich in den Gelagen debitirt habe, die meine Sinne berauschten und mein Herz betäubten – und Sie glauben jetzt wohl, daß Philipp von Königsmark keiner wahren Liebe mehr fähig ist? –Aber meine Seele hat sich frei gemacht von den Banden des Leibes, und mein Herz ist erwacht aus seinem Todesschlafe, und ich liebe! – Ich kam an diesen Hof, um hier Zerstreuung und Intriguen zu finden oder, falls solche fehlten, dergleichen zu schaffen. Ich warf mich mit geschlossenen Augen und geöffneten Armen in den Strudel der Ausschweifungen, welche an diesem Hofe um so infamer sind, als sie sich in den Schooß der äußerlich ehrenwerthesten Familien flüchten und unter dem Deckmantel eines fürstlichen Wappens oder einer geistlichen Würde ausgeführt werden. Mein ganzes vergangenes Leben war ein Rausch gewesen, dessen hundertfältige Variationen mich in einem ewigen Verlangen, in einem ewigen Durste erhielten, den Nichts zu stillen vermochte. Aber ein solcher Rausch kann nicht ein ganzes Leben hindurch dauern: es kommt immer ein Augenblick, wo der Mann erwacht und wo dem verwöhnten Gaumen keine Pikanterie, dem verkohlten Herzen keine Wollust, der versumpften Seele kein Raffinement des Vergnügens mehr munden will – das ist dann die Blasirtheit. Dann wendet man den trüben, suchenden Blick nach einer höheren, reineren Sphäre – das Herz schreit nach Liebe, nach wahrer, heiliger Liebe, und die Seele lechzt nach einer Seele, welche uns zu erheben vermag –! Und hat man dann ein solches Wesen, eine solche Seele gefunden, dann ist man gerettet! Die Statue wird ein Mensch, und es giebt da keinen Aufenthalt, keinen Widerstand mehr. Man athmet mit den vollsten Zügen die neue, reine Liebesluft ein, man schlürft mit dem sehnsüchtigen, trunkenen Auge die Strahlen der neu erstandenen Lebenssonne ein, man begehrt, man fühlt, man lebt, man liebt! – Und so erging es mir. Ich sah Sie, Prinzessin – Sie, die Reine, die Heilige, mitten in dem Sumpf meiner Umgebung – ich sah Sie in Ihrem erhabenen Zorne, in all Ihrer Würde und Majestät, als Sie mich neulich von sich wiesen geblendet – schloß ich mein Auge, denn [595] ich konnte den Glanz Ihres Blickes nicht ertragen. Sie nannten mich einen Elenden, und ich senkte das Haupt. Ich preßte mein Herz mit beiden Händen, um das Pochen desselben zum Schweigen zu bringen. Ich verlachte mich selbst, ich versuchte es sogar, Sie zu hassen, aber Alles war vergebens. Ich liebe Sie! Ich liebe Sie! Ich liebe Sie!“ Und halb lachend, halb weinend griff Königsmark nach der Hand der Prinzessin.

Sophie Dorothea zog sie rasch zurück, ehe noch seine bebenden Lippen dieselbe berühren konnten. Aber ihre zürnende Miene verschwand, ihr helles Auge ruhte fast mitleidig auf diesem schönen, jungen Manne, welcher da vor ihr kniete. Etwas wie ein Lächeln spielte um ihre Lippen, und eine Thräne glitzerte in ihrem Auge. Dann wandte sie sich rasch ab und trat einen Schritt zurück. „Fort!“ rief sie, indem sie ihr Antlitz mit ihren weißen, zarten Händen bedeckte. „Fort! fort!“

Ein Zittern lief über den Körper des Grafen. „Sie stoßen mich von sich?“ rief er mit dem dumpfen Tone der Verzweiflung. „Sie glauben mir nicht?“

„Ja! ja!“ rief sie mit einem Schrei des Jammers. „Ja, ich glaube Ihnen, Philipp! Aber sehen Sie denn nicht, daß Sie mit Ihren Worten selbst einen unausfüllbaren Abgrund zwischen uns gebracht haben? Warum mußten Sie mir von Liebe sprechen?! Ich glaube Ihnen, daß Sie mein Freund sind, ich weiß, daß Ihr ritterliches Herz noch edler Gefühle fähig ist, ich glaube Ihnen, daß Sie, gerührt von meinem Jammer und meiner Verlassenheit, Ihr Blut für mich vergießen würden – o ich glaube es! Ich weiß und fühle es! – Aber Sie haben von Liebe gesprochen, Unglücklicher – von Liebe! Und ich darf Sie nicht länger anhören, ich darf Sie nicht wiedersehen, ich darf Ihnen nicht danken!“ – Und indem sie sich mit einem halberstickten Schluchzen abwandte, flüsterte sie fast unhörbar: „Ich bin ja kein Weib wie andere Weiber, Philipp -– ich bin die Gemahlin des Prinzen Georg und trage eine Krone an der Stelle des Herzens!“

Königsmark stieß einen Schrei des Entzückens aus. „O wenn’s nur das ist!“ rief er strahlend in seiner Hoffnung und in seiner Liebe, „dann ist ja Alles gut! Es ist kein Liebhaber, welcher vor Ihnen kniet, Prinzessin, es ist nur ein Freund, ein ergebener Freund! Meine Liebe für Sie ist keine Beleidigung, kein Verlangen, kein niedriges, menschliches Gefühl, es ist ein Cultus, es ist eine Religion! Nie will ich auch nur die Spitze Ihrer Finger oder den Saum Ihres Kleides berühren, wenn ich Ihnen nur dienen und Sie von fern anbeten darf! Glauben Sie denn, daß ich selbst das Heiligenbild zerstören würde, welches ich in Ihnen verehre? Ich liebe Sie ja nicht mit den Sinnen, ich liebe Sie mit dem Herzen! Ich liebe Sie wie einen Strahl der ewigen Allmacht, der mich aus meinem Todesschlafe geweckt hat - wie einen Engel, der mich auf schneeigen Fittigen in höhere Sphären trägt! Mein ganzes Sehnen, mein Streben soll darin bestehen, Ihnen zu dienen. Die verfolgte, unglückliche Frau will ich beschützen, und diese gute That soll meine ganze Vergangenheit auslöschen! Stoßen Sie mich nicht von sich, Prinzessin, denn wir würden dann Beide verloren sein!“

Sophie richtete sich langsam auf, reichte ihm mit einem himmlischen Lächeln ihre Hand und flüsterte: „Mein Freund!“

Königsmark sandte einen Blick der Liebe und der Dankbarkeit zu diesem milden Antlitz empor und drückte einen heißen Kuß auf ihre Hand, welcher wie ein feuriger Strahl bis in ihr Herz drang und in den kleinsten Fibern ihres Körpers nachzitterte.

In diesem Augenblicke trat Frau von Nassau – welche bisher lauschend an der Portiere gestanden hatte – einen Schritt näher. „Sie wollen unserer Fürstin dienen, Herr Graf?“ sagte sie. „Dann ist also das, was Sie uns in ihrem Billete gemeldet haben, keine Fanfaronnade?“

„Sie stehen irgendwie in Verbindung mit meiner Mutter?“ fragte Sophie.

Königsmark neigte das Haupt. „Noch ehe Sie mich gewürdigt haben, Ihr Freund zu heißen, Prinzessin, habe ich alle Schritte gethan, um Ihnen zu dienen. Sie haben neulich geäußert, Ihr ganzes Sehnen und Streben gehe dahin, diesen Hof zu verlassen und in ihr väterliches Schloß zurückzukehren. Dieser Wunsch soll erfüllt werden.“

Sophie stieß einen leisen Schrei aus. „Ist es möglich, Graf? Sie vergessen, daß der Kurfürst und mein Gemahl nie ihre Einwilligung geben werden – ihrer Ansicht nach ist eine freundschaftliche Trennung unmöglich. Oder sollte Ihr Einfluß auf Georg groß genug sein, um …“

„Wir brauchen ihre Einwilligung nicht!“ unterbrach sie Königsmark. „Sie entfernen sich heimlich aus Hannover, und einmal in Celle, an der Seite Ihrer Mutter, wird sich der Kurfürst wohl hüten, Sie mit Gewalt zurück zu holen. Sie entfliehen ganz einfach.“

„Eine Entführung!“ stammelte Frau von Nassau.

„Nein,“ flüsterte Sophie mit einem unaussprechlichen Blicke auf Königsmark, „eine Flucht. O, Sie geben mir das Leben wieder, Graf! Endlich hat also meine Mutter eingewilligt, dieses Mittel zu ergreifen, welches ich ihr schon so oft vergebens vorschlug! Endlich erhört sie meine erfolglosen Bitten, die ich in so vielen Briefen wiederholte! Aber wie kam es, daß Sie zu ihrem Bevollmächtigten, just Sie …“

Königsmark lächelte bitter. „Nicht jene Briefe waren es, Prinzessin, welche Ihre fürstliche Mutter dazu bestimmt haben, denn keiner derselben gelangte an seine Adresse.“

„Wie??!“

„Es ist, wie ich Ihnen sage. Der Kurfürst ist gut bedient. Jene zahlreichen Briefe, worin Sie all den Jammer Ihres Herzens und die Verzweiflung Ihrer Seele in den Busen einer Mutter ausschütteten und welche Sie durch geheime Boten absandten, wurden auf Befehl Ernst August’s aufgefangen, ehe sie noch die Grenzen der Stadt passirt hatten, und dienten Ihrem Schwiegervater als Amüsement in seinen Mußestunden. Einst sandte er einen dieser Briefe dem Prinzen Georg, als wir uns eben mitten in einem Gelage befanden, und da – “

Sophie Dorothea hatte sich hoch aufgerichtet, und die Leichenblässe ihres Antlitzes machte einer Purpurröthe Platz. Ein verächtliches Lächeln spielte um ihre zitternden Lippen. „Genug, Herr Graf,“ sagte sie. „Wenn aber meine Mutter keinen jener Briefe erhielt, wie kam es …“

„Das ist ganz einfach. Ich schrieb an meine Schwester, die Gräfin von Löwenhaupt, und schilderte ihr Alles, was ihr zu wissen nöthig. Sie benachrichtigte Ihre fürstliche Mutter von den hiesigen Zuständen und von Ihrem Entschlusse zu entfliehen. Die Fürstin von Celle erwartet Sie. Alles ist bereit. Uebermorgen um diese Zeit wartet ein Wagen an dem dritten Thore des Parkes. Sie halten sich mit Frau von Nassau bereit, besteigen den Wagen und in kurzer Zeit sind Sie außerhalb der Stadt. In der Villa Walden erwarte ich Sie und bringe Sie wohlbehalten nach Celle. Sind Sie mit dem Plane einverstanden, Prinzessin?“

Sophie wandte sich zu ihrer Freundin und umarmte sie weinend. „Wir sollen heim, Johanna! Hörst Du wohl? Heim! Ob ich einverstanden bin, lieber Graf! Und Sie fragen noch? Was wage ich denn dabei? Im schlimmsten Falle vertausche ich ein Gefängniß mit dem andern. Auf übermorgen also! – Aber jetzt eilen Sie, Graf. Auf Wiedersehen! Man könnte die Schildwache wechseln.“

Königsmark drückte einen Kuß auf die Hand der Prinzessin, verneigte sich leicht vor Frau von Nassau und eilte nach der Thür.

„Ist Alles ruhig, Jürge?“ fragte er, ohne die Portiere zu erheben.

„Ja!“ gröhlte es von draußen.

Nun erst öffnete er die Thüre und schlüpfte in den Corridor, während Sophie und Frau von Nassau ängstlich lauschend in der Mitte des Zimmers standen.



7. Combinationen.

Das kleine Spiel des Kurfürsten hatte begonnen. An den Spieltischen saßen nebst dem Kurfürsten und der Prinzessin Sophie Dorothea die Gesandten der auswärtigen Höfe und einige Kammerherren und Ehrendamen. Georg, welcher das Spiel haßte, hatte sich mit einigen Intimes in einen Winkel der Orangerie zurückgezogen und ließ die Chronique scandaleuse der letzten Tage die [596] Revue passiren. Frau von Platen und die Gräfinnen von Hauenstein und Prausil waren die Königinnen dieses kleinen Cercle.

„Es ist, wie ich Ihnen sage, Madame!“ versicherte der schöne Major Hurtig. „Eine geheimnißvolle und räthselhafte Geschichte.“

„Räthselhaft wohl, aber nichts weniger als geheimnißvoll!“ lachte Frau von Hauenstein. „Was ist nur der tugendhaften Nassau eingefallen, sich einen Liebhaber anzuschaffen?“

„Ich dachte bisher immer, sie vergöttere ihren Gemahl in aufrichtiger Treue!“ meinte Georg. „Uebrigens ist es ein göttlicher Scherz! Der alte Nassau, welcher alle Scandalgeschichten des Hofes an den Fingern herzuzählen weiß, welcher Niemanden schonte und Niemandem Etwas schenkte, ist nun selbst der passive Held einer Chronik!“

„Unbezahlbar!“ jubelte der brünette Colonel Illisch.

„O!“ meinte die Hauenstein. „Wir werden ihm das Gift tropfenweise zumessen, wie er es uns so oft gethan! Zum Glück ist er jetzt an’s Spiel gefesselt, wir wollen also eine kleine Verschwörung gegen seine Gemahlin organisiren, um ihn zur Verzweiflung zu treiben.“

„Wie boshaft!“ lächelte der schöne Hurtig, indem er seinen blonden Schnurrbart strich.

„Vor allem aber müssen wir wissen, ob die Nachricht auch authentisch ist!“ rief Frau von Platen, indem sie dem Prinzen einen bedeutungsvollen Blick zuwarf. „Monsieur Hurtig theilt uns ein interessantes Abenteuer mit, welches sein Kammerdiener entdeckt zu haben glaubt. Kann sich aber dieser nicht einen Scherz erlaubt haben?“

Der schöne Hurtig unterbrach sie mit einer protestirenden Handbewegung. „Mein Lorenz lügt nie! Und übrigens sind seine Angaben so unglaublich, daß sie wohl wahr sein müssen!“

„Und sie lauten?“ fragte die Gräfin.

„Also, es ist, wie ich bereits zu erzählen die Ehre hatte,“ begann Hurtig. „Mein Lorenz war gestern Abend eben damit beschäftigt, die Rouleaux meines Salons herabzulassen, dessen Fenster bekanntlich in den Garten fuhren – als er plötzlich durch die Scheiben eines Corridorfensters zwei Gestalten erblickte, welche angelegentlich mit einander zu conversiren schienen. Lorenz würde diesem Umstände natürlich gar keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt haben, wenn er nicht in der einen Gestalt einen Leibsoldaten, in der andern aber einen reichgekleideten Cavalier erkannt hätte. Was konnten die Beiden mit einander zu verhandeln haben? Endlich sah er, wie der Cavalier eine Thüre öffnete und durch dieselbe verschwand – durch eine Thüre, welche jedenfalls in ein Damengemach führt, da der westliche Flügel, von dem wir sprechen, nur von den Damen des Hofes bewohnt wird. Lorenz zählte die Fenster des Corridors und war bald überzeugt, daß es Frau von Nassau sein müsse, welche den Besuch des Cavaliers empfangen habe, der beiläufig eine Stunde bei ihr verweilte.“

„Und die Züge des Cavaliers hat Lorenz nicht wahrgenommen?“ fragte Jllisch.

„Nein.“

„Hatte er auch an seiner Kleidung nichts Auffallendes?“ fragte der Prinz.

„Ebensowenig. Er trug nach Lorenz’ Aussage einen dunklen Rock, orangegelbe Achselschleifen …“

Frau von Platen machte eine Bewegung der Ueberraschung. „Wie?!“

„Bah!“ lachte Georg. „Glauben Sie den Cavalier an seinen Achselschleifen zu erkennen? – In der That, welcher Cavalier trägt gewöhnlich gelbe Achselschleifen? Außer dem alten Herrn von Herbst …“

Aber die Platen zerknitterte mit beiden Händen die Spitzen ihres Kleides, indem sie einen durchdringenden Blick auf Frau von Nassau warf, welche hinter dem Stuhle Sophiens stand und ihrer Freundin manchmal einen leisen Rath in Bezug auf das Spiel in’s Ohr flüsterte. „Er!“ murmelte sie für sich. „Er sollte diese Wachspuppe lieben? Fünfunddreißig Jahre und eine Halskrause – unmöglich! Und doch muß er’s sein.“

„Jedenfalls steht fest,“ meinte Georg, „daß die Nassau ihrem Gatten untreu ist – und diese Neuigkeit ist köstlich! Wir wollen sie vollständig ausbeuten! Ich will Ihnen einen Vorschlag machen, meine Herren. Da morgen im Allerheiligsten der keuschen Göttin wahrscheinlich wieder Schäferstunde gehalten wird, so wollen wir um die Abendstunde im Garten Schildwache machen und, sobald der mysteriöse Cavalier bei Frau von Nassau eingetreten ist, vor den Fenstern derselben ein kleines Ständchen arrangiren. Auf diese Weise wird der Scandal public und unauslöschlich und wir rächen uns sowohl an dem boshaften Nassau, als auch an der prüden Gräfin. Aber dazu brauchen wir einen Anführer! Ein Scherz ohne Philipp ist ein Souper ohne Champagner! Wo ist Philipp? He, Königsmark!“

„Er hat sich heute noch gar nicht sehen lassen,“ meinte Frau von Hauenstein, indem sie ihre Blicke durch den Saal gleiten ließ.

„Wo zum Teufel mag er stecken?“ rief Jllisch. „He, Königsmark!“

Frau von Platen zuckte mit einem spöttischen Lächeln die Achseln. „Wenn Herr von Königsmark verschwunden wäre,“ sagte sie, „welch’ ein entsetzlicher Verlust würde das sein!“ Dann nahm sie den Arm der Hauenstein und flüsterte ihr in’s Ohr: „Machen Sie mit mir eine Tour durch den Saal, Gräfin, und äußern Sie weder in Worten noch in Mienen Erstaunen über das, was ich Ihnen jetzt laut erzählen werde.“

Die Hauenstein warf einen verwunderten Blick auf Frau von Platen, nichtsdestoweniger aber nahm sie ihren Arm, und die beiden Damen machten eine kleine Ronde, indem sie sich den Spieltischen näherten. Indem sie an der Prinzessin vorbeigingen, sagte die Platen laut, indem sie ein angefangenes Gespräch fortzusetzen schien und dabei ihre Augen unter den halbgeschlossenen Lidern hervor fest auf die vier Partner des Spieltisches richtete: „Aber die Wunde des Grafen ist doch nicht tödtlich? Dieses Duell kam so unerwartet! Armer Königsmark!“

Ein leiser Schrei tönte vom Tische her. Es war nicht Frau von Nassau, welche denselben ausgestoßen hatte, sondern Sophie, deren bebenden Hand die Karten entglitten waren.

„Pardon! Ich bin so ungeschickt!“ sagte Frau von Nassau, indem sie sich beugte und dabei beinahe mit Frau von Platen zusammenstieß, welche sich wie alle Umstehenden beeilte, die verstreuten Karten zu sammeln und der Prinzessin zu überliefern. „Entschuldigen Hoheit, daß ich Sie gestoßen!“

„Es hat nichts zu sagen!“ lächelte Sophie Dorothea mit blutlosen Lippen, indem sie ihrer Freundin einen dankbaren Blick zuwarf – und die Karten aus der Hand der Platen empfing.

„Ah!“ murmelte diese, indem sie sich am Arme der Hauenstein vom Tische entfernte. „Ich wußte wohl, daß es die Prinzessin sei, die ihn liebt! O, wir Frauen täuschen uns nie – darum also haßte ich sie so sehr!“

In diesem Augenblicke ertönte die Stimme des Prinzen Georg aus dem Kreise seiner Freunde: „Da ist er ja! Philipp! Komm!“

In der That trat Königsmark soeben in den Saal. Seine linke Hand ruhte auf dem Griffe seines zierlichen Galanteriedegens, und seine Rechte strich einige widerspenstige orangegelbe Schleifen glatt, welche von seinen Schultern flatterten.

Ehe er aber noch den Cercle des Prinzen erreichte, hatte sich Frau von Platen demselben schon genähert und flüsterte ihm hastig zu: „Kein Wort von dem Abenteuer zu Königsmark, Prinz. Er ist der Held desselben!“

Georg unterdrückte mit Mühe ein lautes Gelächter und flüsterte seinen Gefährten ein ersticktes „Pst!“ zu, indem er auf die orangegelben Schleifen des Ankommenden deutete.


(Schluß folgt.)


[597]
Der Hessen Volkstribun.

Friedrich Oetker.

Wer kennt nicht den beharrlichen Kampf, den ein kleines Volk im Herzen Deutschlands seit einer Reihe von Jahren für sein angestammtes Verfassungsrecht kämpfte? Welchem Vaterlandsfreunde füllte sich nicht mit Schmerz und doch auch mit Stolz die Brust, so oft der Name „Kurhessen“ genannt ward? Wer aber die Leiden und Kämpfe dieses kleinen Landes beobachtet hat, dem ist auch der Name des Mannes nicht unbekannt, der dort als Vorkämpfer steht und in dessen Person wir die Eigenschaften, die wir an dem hessischen Stamme bewundern, gleichsam in höchster Potenz geeinigt erblicken, der Name Friedrich Oetker. Wir sind überzeugt, daß sein Bild und eine kurze Darstellung seines Lebens jedem Deutschen, der die Helden im geistigen Kampfe seines Volkes ehrt, willkommen ist.

Friedrich Oetker ward am 9. April 1809 zu Rehren, einem Dorfe in der Grafschaft Schaumburg, geboren, wo der Vater abseits des Orts eine kleine Mühle besaß. Sein Unterricht bis zum 16. Lebensjahre fiel den Dorfschulmeistern anheim. Im 17. Lebensjahre wurde für ihn der Besuch des damals vortrefflichen Gymnasiums zu Rinteln möglich, und Ostern 1831 bezog er zum Studium der Rechtswissenschaft die Universität Marburg.

Im Frühjahr 1835 trat Oetker zu Kassel in den Vorbereitungsdienst ein. Um diese Zeit waltete dort Hassenpflug noch in seiner ersten Periode als Minister und machte den Versuch, Oetker für die Regierungspartei zu gewinnen. Bald mußte er jedoch gewahr werden, daß an der Charakterstärke Oetker’s jede Verführungskunst scheitere. Von da an galt Oetker für eine „verdächtige“ Persönlichkeit; und als er im Jahre 1837 um eine Anwaltsstelle sich bemühte, erklärte ihm Hassenpflug rundweg, „daß er ihn nicht zum Anwalt machen werde.“ Erst als Hassenpflug bald darauf abtrat, wurde Oetker seinem Wunsche entsprechend zum Anwalte bestellt, jedoch auch jetzt nur „provisorisch“, d. h. auf beliebigen Widerruf; ein bis dahin in Kurhessen unerhörter Fall.

An den politischen Kämpfen der damaligen Periode nahm Oetker keinen offenen Antheil. Erst mit dem Umschwunge des Jahres 1848 begann für sein Leben eine neue Epoche. Zunächst wurde seine provisorische Anstellung als Anwalt in eine definitive verwandelt. Das war der einzige Anspruch, den er damals für sich an den Staat machte. Außerdem widmete er sich von jetzt an ganz der freien Presse, mit deren Macht er in jene bewegte Zeit einzugreifen begann. Nachdem von ihm gleich in den ersten Märztagen mehrere Flugblätter erschienen waren („Blättchen, weil ich noch kein Blatt habe“), gründete er die „Neue Hessische Zeitung“, in welcher er mit Entschiedenheit die Grundsätze der constitutionellen Partei vertrat und namentlich das neue Ministerium bei dem begonnenen Ausbau der Verfassung im Sinne der Märzverheißungen unterstützte. Als Mitredacteur seines Blattes gewann er den geistvollen, feurigen, mitunter jugendlich übersprudelnden Adam Pfaff.

Innerhalb der constitutionellen Partei nahm Oetker bald eine bedeutende Stellung ein. Die Bürger Kassels wählten ihn zum Mitglied ihres Stadtraths, die Schaumburger Städte bei den im [598] Herbst 1848 stattfindenden Neuwahlen zu ihrem Vertreter auf dem Landtag. Auch hier vertrat Oetker die nämlichen Grundsätze wie in der Presse. Consequenter Ausbau der Verfassung, andererseits strenges Festhalten am Recht und strenge Bewahrung der Rechtscontinuität waren die Principien, für die er focht.

Aber freilich konnte der Umstand, daß Oetker auf diese Weise für Ordnung und Recht eintrat, nicht hindern, daß ihm auf der andern Seite die bittersten Feinde erwuchsen. Die Rücksichtslosigkeit, mit welcher er die Jämmerlichkeit vormärzlicher Zustände rügte und auf deren Abstellung drang, hatte ihn namentlich in Hofkreisen tief verhaßt gemacht. Ein sichtliches Zeichen hiervon trat bereits im Jahre 1849 hervor in der Herausforderung, die Oetker von einem Manne zuging, der bei einem Kunstinstitute eine hohe Stellung einnahm und als dem Hofe sehr ergeben galt, aber wegen seines Verhaltens gegen einen jüngern Künstler in der „Neuen Hessischen Zeitung“ heftig angegriffen worden war. Der Zweikampf fand statt mit glücklichem Ausgang für Oetker.

Im Jahre 1850 begann auf dem von Parteien durchwühlten Boden die Ernte der Reaction zu reifen. In Voraussicht hiervon sandte sie ihren großen Schnitter, Hassenpflug, nach Kurhessen. Sofort veränderte die constitutionelle Partei ihre Frontstellung, und an der Spitze der neuen Fronte stand wiederum Friedrich Oetker. Offen erklärte er in der Kammer, daß zwischen dem Lande und diesem Ministerium nur ein „Krieg auf Leben und Tod“ sein könne. Auch sein Blatt griff unablässig das Ministerium an. Mehrere wider ihn erhobene Anklagen endigten mit Freisprechung.

Es kann nicht die Aufgabe sein, hier die Einzelnheiten der nun sich entwickelnden Krisis und ihres traurigen Ausgangs darzustellen. Sie sind bekannt genug. Die fingirte Steuerverweigerung, der mattgesetzte Kriegszustand, die Bundesexecution, die Schlacht von Bronnzell, die Strafbaiern – an diese Worte knüpfen sich für jeden Deutschen unauslöschliche Erinnerungen.

Als Oetker sein Blatt mit allen Mitteln des Gesetzes vergeblich vor dem Untergang, mit dem der Kriegszustand dasselbe bedrohte, zu retten versucht und deshalb in Gotha eine Presse engagirt hatte, von wo aus er dasselbe erscheinen ließ, wußte der Verdruß der Gegner endlich keinen andern Ausweg, als offen gegen die Person gerichtete Gewalt. Eines Tages drang einer der „treugesinnten“ Offiziere mit Soldaten in die Behausung Oetker’s ein und führte ihn gefänglich in das Castell ab. Zwar fand sich kein Gericht, welches den Verhafteten eines Vergehens hätte schuldig sprechen mögen. Aber er blieb verhaftet, ungeachtet von den Civilgerichten dringend seine Freilassung begehrt wurde. Endlich, als dem inneren Wirrwarr durch das Abschiedsgesuch der Officiere ein jähes Ende bereitet war, als die hessischen Truppen von Kassel wegzogen, um den einrückenden Preußen auszuweichen, ließ man Oetker eben so unmotivirt frei, als man ihn vier Wochen früher ohne Abschiedsgrund in Haft genommen.

Bald wurde nun der Kampf ein hoffnungsloser. Als Preußen zurückwich, galt es nicht mehr die Sache, sondern nur noch die Ehre zu retten. Die Redacteure der „Neuen Hessischen Zeitung“ harrten aus, bis die Baiern vor Kassels Thoren standen. Da wichen auch sie der Gewalt. Oetker begab sich zunächst nach Braunschweig, bald darauf aber, als auch von dort seine Auslieferung begehrt wurde, auf freien englischen Boden, nach Helgoland.

Hier lebte er mehrere Jahre, für ihn keine glücklichen. Auf geringe Mittel beschränkt, oft von Krankheit heimgesucht, bedurfte er der ganzen Energie seines Geistes, um auszuharren. Seine Beschäftigung fand er in dem Studium der Insel und ihrer Bewohner. Die Frucht dieser Studien war sein im Jahre 1855 erschienenes Werk „Helgoland“, das beste, was über die berühmte Insel geschrieben ist, und wofür ihm später die Universität Tübingen die Doctorwürde ertheilte. Im Herbst 1854 siedelte Oetker nach Brüssel über. Hier gaben ihm Studien auf dem Gebiete des belgischen Volkslebens den Stoff zu einer Reihe von Aufsätzen, die in deutschen Zeitschriften (Gartenlaube, Westermann’s Monatsheften, Morgenblatt etc.) nach und nach erschienen; ein Schriftchen über den Sprachenstreit ward 1857 in’s Vlämische, 1858 in’s Französische übersetzt.

In Kurhessen waren währenddeß die Verhältnisse langsam weitergeschritten. Nach vierjähriger Dauer hatte man den Kriegszustand eingestellt. Hassenpflug war vom Schauplatz abgetreten, und Oetker durfte ungefährdet in die Heimath zurückkehren.

Wirklich erschien er im Sommer 1856 wieder in Kassel. Aber die Zustände traten ihm jetzt noch so hoffnungslos entgegen, daß er in das glücklichere Belgien zurückeilte, seine dortigen Bestrebungen wieder aufnehmend, und zu dem Ende abwechselnd in Brüssel, Gent, Ostende und Brügge lebend. Erst nach einigen Jahren begann in Deutschland wieder ein neuer Morgen zu tagen. Von Preußens Thron war das Wort erklungen: „Die Welt muß wissen, daß Preußen das Recht schützt.“ In raschen Schlägen hatte der italienische Krieg die Macht Oesterreichs erschüttert, aber zugleich andererseits unverkennbare Gefahren für Deutschland wachgerufen. Ueberall begann der deutsche Volksgeist die Schwingen mächtig zu regen. Und inmitten dieser Verhältnisse wußte der Bundestag nichts Besseres zu thun, als seinen Ausschuß einen Bericht erstatten zu lassen, nach welchem der Umsturz der kurhessischen Verfassung verkündet und das Werk Hassenpflug’s gekrönt werden sollte.

Das hessische Volk glich einem Angeklagten, den man auf nichtigen Vorwand in den Kerker geworfen und auf Leben und Tod processirt hatte. Auf der Folterbank des Kriegszustandes hatte der designirte arme Sünder fast Alles zugestanden, was seine Kerkermeister von ihm verlangten. In seiner jahrelangen Haft war er still und geduldig geworden, und hatte davon zu sprechen verlernt, daß die ganze wider ihn verübte Procedur nichts als ein einziges großes Unrecht sei. Jetzt sollte sein Urtheil gefällt, seine Verurtheilung ausgesprochen werden. Da erhob sich der Angeschuldigte noch einmal mit seiner letzten Kraft und betheuerte seine Unschuld. Das waren die Stimmen, die, als der Bundestagsbericht bekannt wurde, aus Kurhessen durch alle unabhängigen Blätter Deutschlands flogen. Anfangs zaghaft und schüchtern, erhoben sie sich doch bald zu einem muthvolleren Tone, als ringsum alle Stämme Deutschlands ihre Theilnahme bewiesen und die Hoffnung sich zeigte, daß Preußens Regierung, in richtiger Erkenntniß ihrer Pflichten für Recht und Ehre, die Sache des hessischen Volkes zu der seinigen machen werde.

Was aber auch auswärts und von Einzelnen im. Lande selbst geschehen mochte, nimmer konnte Kurhessen hoffen, sein Recht wieder zu erlangen, wenn nicht das gesammte hessische Volk sich aufraffte, um gegen die Vollendung des Unrechts kräftig anzukämpfen. Wie aber sollte das geschehen? Die altbewährten Helden der Volkssache waren aus dem Lande getrieben, alt geworden oder gestorben, und wer etwa noch zurückgeblieben, war durch hundert Bande gefesselt. Niemand, so schien es, war vorhanden, der in dem Kampfe gegen eine übermächtige Regierung die Führerschaft übernehmen könne.

Da erschien Friedrich Oetker wieder auf dem Schauplatz. Ohne Weib und Kind, fast ohne Bedürfnisse, frei lebend von seiner Feder und mit einem politischen Muthe ohne Gleichen, war er der rechte Mann, um den Kampf im Lager des Feindes selbst aufzunehmen. Schon bei dem ersten Morgengrauen einer besseren Zeit hatte Oetker von Brüssel aus in verschiedenen deutschen Blättern das Schicksal seines Heimathlandes in Erinnerung gebracht. Als aber dort die Verfassungsfrage wieder brennend zu werden begann, hatte er rasch seine Thätigkeit in Belgien abgebrochen und war über Paris und Frankfurt nach Kassel zurückgekehrt, wo er im August 1859 eintraf. Es war dies die Zeit, wo in Kurhessen die ersten öffentlichen Kundgebungen zu Gunsten des alten Verfassungsrechts mittelst Vorstellungen hier stattfanden, welche die Stadträthe zu Kassel, zu Hanau und Eschwege an den Kurfürsten richteten. Auch bereitete sich bereits ein Beschluß der zu Kassel versammelten Stände in gleichem Sinne vor. Aber alle diese Schritte standen doch nur vereinzelt da, eine Frucht höherer Intelligenz der größeren Städte, während in den tieferen Schichten des Volkes, zumal auf dem platten Lande, das rechte Verständniß der Lage vielfach noch fehlte.

Um die Mitte November – gerade in den Tagen, wo ganz Deutschland sein Schillerfest feierte, welches freilich in Kassel zu einem Volksfeste nicht werden durfte – erschien in der kurfürstlichen Residenz ein neues Tageblatt, „Hessische Morgenzeitung“ genannt. In gemessener, aber offener und entschiedener Sprache vertrat dasselbe die Ansicht, daß die Beseitigung der Verfassung von 1831 ein jeder Rechtfertigung entbehrendes Unrecht sei, welches nur durch vollständige Wiederherstellung gesühnt werden könne. Als Redacteur eines Blattes von so entschiedenem Tone gab sich Oetker kund, und in der That, da saß er, der Hessen treuer Volkstribun, in einem kleinen Stübchen mit erborgten Geräthen, [599] von der einfachsten Kost sich nährend, oft von körperlichen Leiden gestört, ohne jede sonstige Lebensfreude nur dem einen Gedanken lebend, und schrieb und schrieb, und Alles, was er schrieb, haftete wie scharfe Harpunen in dem Fleische der Gegner. Mit unerbittlicher Logik wies er nach, was unter dem Hassenpflug’schen System aus dem Lande geworden. Mit bitterem Sarkasmus legte er die ganze Abscheulichkeit der Vilmar’schen Doctrinen an den Tag. Das war eine Sprache, wie man sie seit Jahren in Kurhessen nicht mehr gehört hatte. Schnell war das wohlfeile, populär geschriebene Blatt in Tausenden von Exemplaren über das ganze Land verbreitet und wurde von Bürger und Bauer begierig verschlungen. Es war eine unendliche moralische Erfrischung für das hessische Volk, daß endlich einmal das Recht wieder Recht genannt und dem Unrecht die heuchlerische Larve vom Gesicht gezogen wurde. Mehr aber noch wirkte das Blatt durch das Beispiel politischen Muthes, womit es auftrat, und durch die thatsächliche Beweisführung, was man selbst einer solchen Regierung gegenüber im Bewußtsein seines guten Rechtes wagen könne.

Wie die Bewegung lawinenartig heranwuchs, ist bekannt, und ebenso bekannt ist es, daß dies Alles den Bundestag nicht hinderte, in der Sitzung vom 22. März 1860 für die definitive Beseitigung der Verfassung von 1831 zu stimmen; und die kurhessische Regierung glaubte hiernach eine neue Verfassung unterm 30. Mai 1860 verkünden zu dürfen. Aber die Bewegung war bereits zu tiefgehend, als daß damit die Sache beendigt gewesen wäre. Dreimal mußte das Volk Kurhessens nach der neuen Verfassung zur ständischen Wahl schreiten, und dreimal stellte es der Regierung eine Kammer gegenüber, welche fast einstimmig es ablehnte, sich als die rechtmäßige Vertreterin des Landes anzuerkennen.

Alle diese Schritte wurden theils vorbereitet, theils begleitet und gestützt von der „Morgenzeitung“. Ohne das Verdienst Anderer um die hessische Sache gering anschlagen zu wollen – wir brauchen blos beispielsweise die Namen Nebelthau und Ziegler zu nennen – muß daher die Wirksamkeit Oetker’s ohne Zweifel hier als die bedeutendste anerkannt werden.

Sehen wir auf den inneren Charakter der von Oetker verfolgten Richtung, so war solche durchweg von der Festhaltung des strengsten Rechtsstandpunktes bestimmt. Während Andere noch schwankten, in welchem Maße man Wiederherstellung des alten Verfassungsrechts beanspruchen solle, und nicht abgeneigt waren, in dieser Beziehung politisch zu markten, vertrat Oetker von Anfang an mit Entschiedenheit die Ansicht, daß zunächst das volle Recht wieder herzustellen und erst dann dasjenige, was etwa in der Verfassung von 1831 bundeswidrig, auszuscheiden sei. Aus diesem Gesichtspunkte betonte er auch stets die Nothwendigkeit, eine neue Ständeversammlung zunächst nach dem Wahlgesetz von 1849 zu berufen, weil er nur hierdurch den nothwendigen Rechtszusammenhang gewahrt fand. Dieser Standpunkt, der anfangs Manchem zu ideal erschienen, ist gleichwohl im Laufe der Zeit der allgemeinere geworden und hat sogar schließlich, und auf die unseren Lesern noch vor Augen schwebende höchst überraschende Manier, den Sieg errungen.

Groß war natürlich in gewissen Kreisen das Aergerniß, daß Oetker, der vernichtet Geglaubte, wieder auftrat. Es fehlte nicht an Lust, sich seiner durch einen Gewaltstreich zu entledigen. Aber man fand nicht den Muth dazu. Man beschränkte sich deshalb auf alle nur möglichen kleinen Maßregelungen. Aber hier war Oetker gerade der Mann, um mit köstlichem Humor seinen Widersachern die Spitze zu bieten. Wurde sein Blatt vor der Ausgabe polizeilich confiscirt, so hatte er an der Stelle des beanstandeten einen zweiten Artikel schon im Drucksatz bereit, und anstatt des confiscirten Blattes erschien nach einer Stunde ein neues. Als der Nationalverein verboten wurde, machte er bekannt, daß er Beiträge zwar nicht mehr „für den Nationalverein“, wohl aber „zu guten Zwecken“, oder „zur beliebigen Verwendung“ anzunehmen im Stande sei; und nun flossen unter diesen Titeln die Geldsendungen der Vaterlandsfreunde in seine Hände. Als er polizeilich befragt wurde, was er mit diesen Geldern anfange, erfreute sich die Polizei der aufklärenden Antwort: „er wolle sich das noch reiflich überlegen.“ Wurde er, wie dies oftmals geschah, wegen Preßvergehen angeklagt, so benutzte er die Freiheit der Vertheidigung, um seine Gegner mit einer Lauge beißenden Spottes zu überschütten. Als dem ersten Drucker der Morgenzeitung im Verwaltungswege die Concession entzogen wurde, war bereits ein zweiter engagirt, der den Druck ungestört fortsetzte. Als der zweite fiel, trat ein dritter an seine Stelle. Freilich war diese Concessionsentziehung eine Maßregel, gegen welche auf die Länge der Zeit nicht aufzukommen war. Oetker sah sich daher genöthigt, in seiner Zeitung auf alle eigenen Artikel über die vaterländische Sache zu verzichten und sich auf den Abdruck von Artikeln auswärtiger Blätter zu beschränken, und selbst diese durfte er oft genug nur lückenweise zu bringen wagen. Aber nun ließ er selbstständige Flugblätter auswärts drucken und diese seine „Rathschläge und Winke“, „Wünsche und Vorschläge“ etc. neben der „Morgenzeitung“ deren Lesern zugehen, und sie wurden nur um so eifriger gelesen, als die Regierung auch diesen Mittheilungen ein Verbot entgegensetzte. Von den gegen ihn erhobenen Anklagen hatten die meisten eine Freisprechung, einige freilich auch eine Verurtheilung zu Geldstrafen zur Folge, die in höchster Instanz mitunter zu nicht ganz unbedeutenden Summen aufstiegen.

Wo möglich noch größer, als der Haß seiner Feinde, erzeigte sich aber die Hochachtung und das Vertrauen seiner Freunde und Mitbürger. Als im Laufe des vergangenen Jahres der Bürgerausschuß zu Kassel zu ergänzen war, ging aus allen Wahlabtheilungen der Bürgerschaft der Name Friedrich Oetker’s in erster Linie fast einstimmig hervor, ein Act, dessen Bedeutung um so weniger zu verkennen war, als vorauszusehen war, daß die Wahl wegen regierungsseitig versagter Bestätigung ohne Erfolg blieb. Zahlreiche Beiträge „zu guten Zwecken“ wurden vertrauensvoll in seine Hände gelegt, damit es der von ihm vertretenen Sache nicht an Geldmitteln fehle. Da aber auch bekannt wurde, daß Oetker selbst während seiner politischen Thätigkeit sein kleines Vermögen, welches er als Anwalt erworben, zugesetzt habe und nur noch auf geringe Mittel beschränkt sei, unternahmen einige Freunde streng geheim eine Sammlung; und binnen Kurzem waren sie in der Lage, ihm ein Ehrengeschenk von beinahe 7000 Thalern zur Bestreitung seiner persönlichen Bedürfnisse zu überreichen. Bei seiner Erkrankung im Sommer 1861 beschenkten ihn Kasseler Frauen mit einem prachtvoll gestickten Ruhesessel. Und bei den Festessen, welche die beiden letzten Male bei Wiederkehr des Jahrestags der Verfassung von 1831 zu Kassel und Hanau stattfanden, wurden unter den Toasten keine lebhafter begrüßt, als die auf den Namen „Friedrich Oetker’s“ ausgebrachten. Die Auszeichnungen, welche ihm nach dem endlichen Verfassungssieg, in Folge der Mobilmachung Preußens, zu Theil wurden, die Ehrenbürgerrechte, seine mehrseitige Wahl in die Kammer und dergl. sind unseren Lesern bekannt.

Leider wohnt der starke Geist, dem alle diese Huldigungen gelten, nicht in einem gleich starken Körper. Asthmatische Beschwerden, welche ihn von früher Jugend auf gepeinigt, hatten sich durch die Anstrengungen der letzten Jahre so gesteigert, daß die Aerzte für den Winter 1861 zu 1862 ihm dringend einen Aufenthalt im Süden anriechen. Oetker ging in die südliche Schweiz. Seine Hauptaufgabe war ohnehin erfüllt, und in die Redaction seines Blattes hatte er schon zu Anfang des Jahres Dr. Wippermann, einen Sohn des früh verstorbenen Märzministers, mit aufgenommen. Gegenwärtig steht er wieder daheim fest auf dem Boden seiner Kämpfe und seines Siegs, für jeden neuen Kampf allezeit gerüstet und sattelfest.

Friedrich Oetker ist in jeder Beziehung ein seltener Mann. In seinem strammen Wesen, welches durch einen hindurchlaufenden humoristischen Zug seinen Gegnern oft noch unbequemer wird, birgt sich ein edler, durchaus reiner Charakter. An literarischer und politischer Begabung mögen Andere in Deutschland ihn erreichen; an Lebendigkeit des Rechtssinnes, an Muth und Entschlossenheit, an zäher Beharrlichkeit und eisernem Festhalten eines einmal erfaßten Zieles, an völliger Hingebung seiner Person für die Sache des Vaterlandes wird nicht leicht Einer es ihm gleichthun. Möge dem hessischen Volke die Freude gegönnt sein, in ihm noch lange einen seiner größten Wohlthäter verehren und ihm den reinsten Volksdank bethätigen zu können, ihm und sich zu Ehren.



[600]

Ein Besuch in einer Heilanstalt für Geistesschwache (Idioten).

Es war an einem schönen Frühlingstage voll Frische, blauen Himmels und Sonnenschein, als ich nach zwei Jahren wieder in jener prächtigen Lindenallee, welche aus Berlin vom Schönhäuser Thore nach Pankow führt, vor dem zierlichen eisernen Gitter stand, hinter dem der Spaziergänger, der den Park und das Schloß von Schönhausen besuchen will, seit einigen Jahren mitten in einem sorgsam gepflegten Garten ein Idiotenhaus erblickt. Aber wie war das hier anders geworden seit den zwei Jahren, daß ich nicht hier war! Das Haus war gewachsen, in die Länge und Breite, und hatte einen ganz neuen Rock bekommen von mattgelber Farbe mit grünen Fensterstreifen und architektonischem Zierrath, der ihm ganz vortrefflich stand. Und links, da stand ein zierliches Schweizerhaus mit Balcons und Gallerien und weit vorspringendem Dach mit allerlei Schnitzwerk, und auf dem Thürmchen desselben drehte sich lustig eine Wetterfahne im Morgenwinde, unter der vier lange eiserne Arme mit großen eisernen Buchstaben die vier Himmelsgegenden bezeichneten. In einem Gehege neben dem Schweizerhause sprangen Hirsche und Rehe. Wird denn hier jetzt Hochwild gehegt, wie in den Parks reicher und vornehmer Leute? Ich zog mit einem kräftigen Ruck die Klingel. Laut und hell klang der Ton durch die ländliche Stille, welche auf Flur und Garten lag, auf dessen zierlich eingefaßten Beeten die ersten Frühlingsblumen sproßten und mit ihren bunten Köpfchen neugierig aus der schwarzen Erde zum blauen Himmel aufblickten. Bald erschien hinter einer der großen Spiegelscheiben ein bekanntes Gesicht und blickte in den Garten, es war das herzliche und wohlwollende Gesicht des Directors der Anstalt, der schon nach einigen Minuten vor mir stand, das Thor öffnete und mir mit einem herzlichen Willkommen die Hand drückte. „Wie lange habe ich Sie nicht gesehen!“ rief er, „wo sind Sie überall gewesen in diesen zwei Jahren! In Italien – bei Garibaldi! erzählen Sie!“

„Sachte, sachte, Director,“ unterbrach ich ihn, „später werde ich Ihnen von Garibaldi erzählen, so viel Sie wollen, aber sagen Sie mir, wie das zusammenhängt: Hier ist Alles verjüngt und verschönert. Und gebaut haben Sie, Schweizerhäuser mit Gallerien und Balcons!“

„Es enthält die Korbmacher- und Tischlerwerkstätten für meine Zöglinge; Sie erinnern sich, vor zwei Jahren waren diese Werkstätten weit von hier, in einem jener neuen Häuser.“

„Ich weiß, ja, ich weiß; aber wirklich, ich habe mich nicht geirrt, da sind ja Hirsche und Rehe in jenem Gehege. Sie scheinen eine Menagerie anlegen zu wollen!“

„Sie wissen ja, wenn Sie das nicht Alles bei Garibaldi oder auf den nordfriesischen Inseln vergessen haben, daß die geistige Entwicklung der Idioten nur durch Cultur der Sinne möglich ist; deshalb habe ich eine Menge Hausthiere angeschafft, Tauben, Hühner, kalekutische Hähne, Hunde, auch eine Hirschkuh und ein Reh. Alle diese Aeußerlichkeiten sind in der geistigen Entwicklung der Unglücklichen von Bedeutung.“

„Und auch den Hügel hier hinten im Garten haben Sie umgewandelt. Das ist ein hübsches Rondeau geworden, mit einem schönen Dach, wie ein kolossaler chinesischer Sonnenschirm!“

„Ja, diese Verwendung des Raumes erschien mir so praktischer. Hier auf dem Hügel unter dem chinesischen Sonnenschirm wird nun im Freien gespeist, auch der Unterricht wird hier in der schönen Jahreszeit ertheilt. So können die Kinder während des ganzen Tages im Freien bleiben.“

Da trat ein Mann aus dem Hause und schritt auf uns zu. Er schien hoch in den fünfziger Jahren zu sein, eine kräftige Gestalt, mit verlebtem Gesicht von mattgelber Farbe und kurz geschnittenem blonden Haar; in seinen großen blauen Augen zuckte zuweilen ein Blick, der dem Beobachter über seinen Gemüthszustand keinen Zweifel lassen konnte. Er trat zu uns heran.

„Wer ist der Mann?“ flüsterte ich dem Director zu, „wohl auch einer von Ihren Pensionären?“

„Ah, ich werde die Herren vorstellen,“ erwiderte der Director, „der Herr Baron von X. aus Russisch Polen, erst seit einigen Monaten hier. Er glaubt, daß seine Familie ihn verkauft hat, um ihn auf die Festung zu bringen und ihn seiner Güter zu berauben. Er hat sich bei der letzten Revolution in Polen betheiligt –“

„Nein, ich habe mich gar nicht betheiligt, das sagt man mir nur nach, ich bin ein treuer Unterthan meines Kaisers,“ unterbrach der Mann den Director in einem etwas gereizten Tone, „aber dennoch bin ich ein großer Verbrecher, und ich bin nicht würdig, in der Gesellschaft von guten Menschen zu sein.“

Wir waren die Stufen hinangestiegen, welche auf den kleinen Hügel hinaufführten, und setzten uns auf die Bank unter den großen hölzernen Sonnenschirm. Der Baron zögerte uns zu folgen. „Setzen Sie sich doch zu uns, Herr Baron,“ rief der Director, „kommen Sie her. Rauchen wir eine Cigarre zusammen!“

Der Baron sah uns zweifelnd an. Wieder zuckte das irrsinnige Lächeln in seinen Augen. „Nein,“ rief er, „ich bin ein schwerer Verbrecher und bin nicht würdig, neben guten Menschen zu sitzen.“

„Aber so kommen Sie doch,“ rief ich, „in meiner Gesellschaft brauchen Sie sich nicht zu geniren; ich bin auch ein Verbrecher, habe auch Revolution gemacht und habe schon mehrere Jahre auf der Festung gesessen in Casematten mit dicken Mauern und hinter Gitterfenstern, also kommen Sie und setzen Sie sich!“

Da blickte der Baron mich mißtrauisch an. „Ich habe es ja schon gesagt,“ erwiderte er, „ich bin kein Verbrecher, wie Sie, ich bin auch kein Republikaner, ich war immer ein treuer Unterthan meines Kaisers.“ Dann wandte er sich ab und ging nach dem Hühnerhofe.

„Lassen Sie ihn gehen, Sie haben es jetzt mit ihm verdorben. Von der Revolution darf man mit ihm nicht sprechen,“ sagte der Director und zündete sich eine Cigarre an; „an die letzte polnische Revolution knüpfen sich alle seine fixen Ideen. Sie wissen, mein Haus dient auch als Asyl, wo ich ausnahmsweise auch einen Irrsinnigen aufnehme, der ruhig ist. Ich habe deshalb dort oben im zweiten Stock auch drei Fenster mit dünnen eisernen Traillen versehen lassen. Hr. v. X. ist aus Warschau gebürtig und besitzt große Güter in Polen. Während der Revolution im verflossenen Jahre brachte einer seiner Schwiegersöhne einen sehr compromittirten polnischen Edelmann, der von der russischen Polizei verfolgt wurde, glücklich mit seinem Gespann über die preußische Grenze. Der Mann wurde denuncirt und zu zwei Jahren Festung verurtheilt, und die russische Regierung ließ zur Strafe eine Summe von hunderttausend Rubel auf seine Besitzungen eintragen. Die Sache afficirte Hrn. v. X., den Sie hier sehen, so, daß sich bei ihm Spuren des Irrsinns zeigten. Uebrigens hat er sehr stark gelebt, Sie sehen es ihm auch an, so daß die Krankheit, wie hier die Aerzte meinen, auch wohl schon in seinem Körper war und die Gemüthserschütterung nur der Anlaß zu derselben war. Seine Heilung ist sehr zweifelhaft. Im Allgemeinen ist er sehr ruhig, nur dann und wann widersetzt er sich. Er hat einen eigenen Diener zu seiner besondern Aufsicht und Aufwartung. Seine Behandlung wird mir dadurch sehr erleichtert, daß er sich einbildet, ich wisse Alles, was er thue, und könne Alles machen, was ich wolle, nötigenfalls Regen und Sonnenschein, Frühling und Winter.“

„Wie viel Idioten haben Sie denn jetzt in Ihrer Anstalt?“

„Gegenwärtig? Es sind 36 im Hause. In den drei Jahren, daß die Anstalt besteht, hatte ich 50 Zöglinge?“

„Was sind denn die muthmaßlichen Gründe der Idiotie bei den jetzt anwesenden Zöglingen?“

„Sie wissen, ich pflege die Krankheitsgeschichten, soweit sie zu erforschen sind, die Elternverhältnisse und die Entwicklung der Zöglinge vor der Aufnahme in die Anstalt mit möglichster Genauigkeit in meinem Anstaltsjournal zu verzeichnen. Sie können sich die Bücher oben in meinem Zimmer nachher ansehen. Bei Einem hatte die Mutter während der Schwangerschaft eine längere Seereise gemacht, während der sie in hohem Grade seekrank war. Ein Anderer hat lange Zeit am Bandwurm gelitten. In einem Falle werden als Ursache die vielerlei Krankheiten angegeben, die er in der frühesten Kindheit zu überstehen hatte und die seine Entwicklung hemmten, bei einem Andern soll der Mangel an Nahrung bei der Amme schuld sein. Einer wurde ganz gesund geboren, erkrankte im zweiten Lebensjahre am versteckten Scharlach und bekam nach der Genesung ein Nervenfieber, das einen noch andauernden nervösen Kopfschmerz hinterlassen hat. Bei Einem ist als muthmaßlicher Grund der Idiotie die seit Generationen herrschende Sitte der Verheirathung unter den nächsten Verwandten angegeben. Die [601] Familie besitzt große Güter, und um diese zusammenzuhalten, finden nur Verheirathungen unter den nächsten Verwandten statt. Es prägen sich hier fast bei allen Familiengliedern bestimmte Krankheiten aus. So z. B. haben Alle ohne Ausnahme schwache Augen, zwei Brüder sind ganz blind, zwei befinden sich zur Zeit im Irrenhause, und der Eine ist hier in der Anstalt. Es ist vorgekommen, daß in dieser Familie bei zwei Generationen die Krankheitssymptome gänzlich fehlten, bei der dritten traten sie desto stärker auf.“

Wir standen auf und stiegen den Hügel hinab. Aus dem Hause schob eine ältliche Frau einen offenen Korbwagen in den Garten, mitten in den warmen Sonnenschein hinein. In dem Wagen saß ein erwachsener junger Mensch, in eine warme, wollene Decke gehüllt, auf dem Kopfe eine blaue Mütze mit glänzend schwarzem Schirm und einem breiten, rothen Streif. Auf dem übrigens regelmäßig gebildeten Gesicht lag ein stupider, halb thierischer Ausdruck; wie der warme Sonnenschein ihn berührte, blökte er einige Male, wie ein Schaf blökt.

Wir traten an den Wagen hinan. Er grinste uns mit einem thierischen Lachen an. Er schien uns doch zu bemerken. Die Wartefrau stand neben ihm. Sie wollte ihm die blaue, rothberänderte Mütze zurechtsetzen. Auf einmal erhob er ein lautes Geschrei und verzerrte das Gesicht, als wenn er heftig in Zorn geriethe. Der ganze Anblick war höchst widerlich.

„Aber er scheint doch Empfindung zu haben, Director,“ rief ich, „interessirt ihn die Mütze?“

„Ja, die Mütze gefällt ihm, auch zeigt er Spuren von Zuneigung für seine Wartefrau. Aber damit ist sein Geistesvermögen auch zu Ende.“

Ich machte eine Bewegung mit der Hand, als wenn ich die Wartefrau schlagen wollte. Und wieder verzerrte sich das Gesicht des Unglücklichen in heftigster Weise, und wieder stieß er das thierische Geheul aus, nur noch in stärkerer und heftigerer Weise.

„Aber warum bewegt er denn die Hände nicht bei seinen Zornausbrüchen?“

„Arme, Füße und Hände sind äußerst schwach. Die Fälle, wo mit der Idiotie große Schwäche in den Händen, Armen und Füßen verbunden ist, sind sehr zahlreich. Er muß gefüttert werden, wie ein Kind, kann nicht gehen und nicht stehen; um ihn in eine andere Lage zu bringen oder um ihn aufzurichten, muß er in die Höhe gehoben werden. Er hört sehr schwer, sieht aber ziemlich gut, wie Sie bemerken; was ihm zu essen und zu trinken gegeben wird, scheint ihm ganz gleichgültig zu sein.“

Da stieß der Kranke von Neuem das thierische Geheul aus. Es klang jetzt wie das Blöken einer Kuh. Der Anblick war äußerst widerlich. „Director,“ sagte ich, „lag nicht eine Humanität in dem spartanischen Gesetze, verkrüppelte und lebensunfähige Kinder in den Eurotas zu stürzen?“

„Kommen Sie, gehen wir in das Haus und hören Sie sich den Unterricht an, vielleicht werden Sie dann anderer Meinung. Sie sollen Idioten sehen, welche Violine spielen, welche lesen und schreiben, welche recht hübsche Korbmacher- und Tischlerarbeiten anfertigen. Vielleicht finden Sie das spartanische Gesetz dann doch nicht so human!“

Wir traten in ein Zimmer zu ebener Erde. Eine große Landkarte von Europa hing an der Wand, gegenüber stand eine schwarze Holztafel auf einem Gestell, auf dem sie hinauf und hinab geschoben werden konnte. Ein großer Tisch stand in der Mitte des Zimmers. Um den Tisch saßen und standen ein halbes Dutzend Kinder, im Alter von ungefähr sechs bis zwölf Jahren, alle höchst ordentlich und sauber gekleidet. Im Zimmer war das hübsche, junge Mädchen, welches ich am Fenster gesehen hatte. Sie beaufsichtigte die Kinder so lange, wie der Director abwesend war. Er hatte gerade Sprachunterricht gegeben, in dem ich ihn durch meinen Besuch unterbrochen hatte. Als wir in die Thür traten, standen einige von den Kindern auf, kamen uns entgegen und begrüßten uns mit der allen Idioten eigenen Vertraulichkeit. Ein blonder Knabe in dem Alter von ungefähr neun Jahren war sehr unbändig. Er tobte im Zimmer umher, schrie, ohne daß irgend ein Laut verständlich war, und warf sich dann wieder zur Abwechselung zur Erde. Der Knabe war erst seit einigen Wochen in der Anstalt. Die erste Zeit’ seines Aufenthalts war dazu verwendet worden, ihn über die unterste Stufe des thierischen Daseins, auf der er stand, als er gebracht wurde, hinweg zu bringen. Er war höchst unsauber und aß Alles, was ihm vorkam, ohne Maß und Auswahl, Erde, Blätter, Schmutz und Steine.

„Aus diesem rein thierischen Dasein habe ich ihn nun herausgebracht,“ sagte der Director, „er ißt und trinkt jetzt in menschlicher Weise, und sehen Sie ihn einmal an, wie ordentlich und reinlich der Junge aussieht. Noch leidet er an der Eigenschaft, an der die meisten Idioten leiden; er ist entsetzlich träge. Er hat einen ordentlichen Widerwillen gegen jede Bewegung und Thätigkeit. Da, hebe einmal die Mütze auf.“

Als der Knabe die Mütze auf der Erde liegen sah und den Befehl erhielt, sie aufzuheben, erhob er ein wahrhaft widerwärtiges Geschrei. Der Ausdruck von Widerwillen und Trägheit vermischte sich in diesen thierischen Tönen. Erst nach wiederholtem strengem Befehl hob er mit dem größten Widerwillen und unter fortwährendem Geschrei die Mütze auf. Das Experiment, einen Stuhl auf eine andere Stelle zu setzen, ging in ganz ähnlicher Weise vor sich.

„Nicht war, es geht passabel?“ sagte der Director. „Als er kam, warf er sich nieder, wo er stand. Sie sehen, er thut das noch zeitweis. Er hatte nicht den Muth, sich zu setzen; er lag auf der Erde, bis er fortgetragen wurde. Der Knabe ist jetzt auf dem besten Wege. Warten Sie, ich wollte gerade, als Sie kamen, mit ihm die erste Sprachübung vornehmen. Ich kann das gleich thun. Das Kind soll das „A“ aussprechen lernen.“

Dann setzte er sich auf einen Stuhl an den Tisch, und den Knaben vor sich auf den Tisch selbst. Nun sprach er ihm das „A“ vor, so deutlich, so prägnant wie möglich, und befahl ihm, den Buchstaben nachzusprechen. Bei jedem Aussprechen des Buchstaben machte er die Mundstellung so prägnant, wie es anging. Zehn Versuche schlugen fehl. Endlich sprach der Knabe den Buchstaben nach, und wiederholte ihn dann wohl zehnmal.

Wir gingen nun in ein nach der Vorderseite des Hauses belegenes Zimmer. Es war groß, luftig und hoch. Es wehte darin eine reine und frische Luft. Auf vier Bänken saßen einige zwanzig Kinder, im Alter von sechs bis vierzehn Jahren, alle höchst reinlich und sauber gekleidet. Auf allen Gesichtern war ihr geistiger Zustand in mehr oder weniger deutlichen Zügen zu lesen. Einer der Lehrer der Anstalt war gerade mit dem Unterricht beschäftigt. Die Kinder waren mit wenigen Ausnahmen dieselben, welche ich vor zwei Jahren hier gesehen hatte. Da saß das dicke, häßliche Mädchen, welches damals unaufhörlich weinte, ihr gegenüber ein hübscher, blonder Knabe von vierzehn Jahren, welcher, wenn man ihn nach seinem Namen fragte, nie den Baronstitel vor demselben zu nennen vergaß. Seine adlige Abkunft war die einzige Erinnerung, welche er aus seinen frühern Verhältnissen mit in das Idiotenhaus gebracht hatte. Das dicke, häßliche Mädchen weinte nicht mehr, es war ganz manierlich geworden, gab mir die Hand und antwortete auf jede Frage, welche der Director an sie richtete, mit Verständniß und in deutlicher Aussprache. Baron Fritz war während der zwei Jahre in der Ausbildung seiner geistigen Fähigkeiten weit fortgeschritten. Er legte mir sein Schreibebuch vor. Er hatte nicht allein eine leserliche, sondern sogar eine hübsche Handschrift erworben. Ich dictirte ihm einen kurzen Satz. Er schrieb ihn ohne Fehler in reinlicher und schöner Form nieder. Dann las er mir einige Sätze vor. Er las in der That richtig und ohne Anstoß. Die meisten von den Kindern hatten Lesen und Schreiben erlernt. Ich ließ mir sämmtliche Schreibebücher vorlegen. Keine Handschrift war so deutlich und so zierlich, wie die des Baron Fritz, aber jede war leserlich und reinlich. Der Director veranstaltete ein kleines Examen. Eines nach dem Andern sprachen die Kinder ein Gebet, ein Gedicht oder eine Reihenfolge zusammenhängender Sätze. Mit mehreren wurde eine kleine Unterhaltung über einen leicht faßlichen Gegenstand geführt. Meistenteils war der Ideengang logisch; sehr selten erfolgte eine verkehrte oder nicht in den Zusammenhang passende Antwort. Noch nicht zwei Jahre waren verflossen, als ich in derselben Stube dem ersten Anschauungsunterricht beiwohnte, wo den Kindern, um ihre Sinne zu cultiviren, Bilder mit bunten Farben, welche Menschen, Thiere und Häuser vorstellten, vorgelegt wurden, wo sie häufig, wenn ihnen das Bild einer Katze vorgelegt wurde, auf die Frage: Was ist das? – „ein Vogel“ oder „der Prediger“ antworteten. Und jetzt, nach zwei Jahren, hatten sie Schreiben und Lesen gelernt, und der größte Theil von ihnen verstand die an sie gerichteten Worte und antwortete in eingehender und verständiger Weise, wenn auch zwischen Frage und Antwort zuweilen eine Minute des Nachdenkens erforderlich war. Und vor drei Jahren! Da standen sie fast alle auf der untersten Stufe [602] der rein thierischen Existenz, auf der ich vor einer Viertelstunde den tobenden und trägen Knaben in der Spielclasse gesehen hatte, den der Director das „A“ sprechen lehrte. Es schien mir oft momentan unbegreiflich, das; der kleine „Baron Fritz“ vor drei Jahren noch Steine und Erde gegessen und sich unter thierischen Lauten auf der Erde gewälzt halte.

Es war zwölf Uhr. Der Schulunterricht war zu Ende. Die Kinder liefen sämmtlich nach dem hinter dem Hause befindlichen Garten. Wir traten noch für einige Minuten in die Werkstätten, welche zu ebener Erde in dem hübschen Schweizerhause lagen. Es war eine Korbmacher- und eine Tischlerwerkstätte. In jeder waren mehrere Knaben in dem Alter von vierzehn bis sechszehn Jahren unter der Aufsicht von zwei Meistern beschäftigt. In der Tischlerwerkstätte wurde die letzte Hand an eine recht gut gearbeitete Gartenbank gelegt, ein Gartentisch stand bereits fertig da. In der Korbmacherwerkstätte war ein äußerst zierlicher Kinderwagen fertig geworden. Kein Meister hätte sich seiner zu schämen brauchen. Mehrere von den hier arbeitenden Zöglingen sollten nächstens die Anstalt verlassen, um als Gesellen bei einem Meister einzutreten und sich selbst ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Der Garten bot, als wir nach dem Hause zurückkehrten, einen sehr lebendigen Anblick. Alle Kinder spielten und tummelten sich in demselben umher. Einige der größern machten Uebungen an einem Klettergerüst und an einem Barren. Die Uebungen zeugten von Kraft und Geschicklichkeit der Glieder. Auf der kleinen Treppe, welche nach dem Rondeau hinaufführte, stand ein junger Mensch von einigen zwanzig Jahren, vor sich ein Notenpult, eine Violine in der Hand. Seine Gesichtszüge hatten einen unverkennbar thierischen Ausdruck; er gehörte zu den häßlichsten Zöglingen der Anstalt. Seine Stellung war gebückt. Neben ihm stand der Musiklehrer der Anstalt. Er spielte mit ziemlicher Fertigkeit nach dem Notenblatt einen Walzer, und ein Dutzend Kinder tanzten fröhlich vor ihm herum nach dem Takte der Musik. Selten griff er falsch, der Bogenstrich war ziemlich rein. Ich sah erstaunt das Schauspiel an. „O, er kann noch andere Sachen spielen, lassen Sie ihn Etwas aus einer Oper vortragen,“ rief der Director, und nun wurde dem armen Idioten ein anderes Notenblatt hingelegt, und er spielte mit nicht zu leugnender Fertigkeit einige leichtere Piècen ans dem Don Juan.

Eine Klingel ertönte. Es war der Ruf zum Mittagessen, und nach einigen Minuten saßen sämmtliche Zöglinge in den beiden Zimmern, wo ich sie erst hatte unterrichten sehen, an weiß gedeckten Tischen, um ihr Mittagsmahl einzunehmen. Die Frau des Directors, welche der ganzen ökonomischen und häuslichen Einrichtung der Anstalt mit ungemeiner Sorgfalt und Ausdauer vorsteht, und das hübsche junge Mädchen präsidirten bei Tisch. Alle Kinder saßen, die Servietten vorgesteckt, ruhig an ihren Plätzen, aßen allein und selbstständig und schienen ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihre Teller gerichtet zu haben, auf denen eine kräftig zubereitete Fleischbrühe umhergegeben wurde. Zwei Kinder sprachen an beiden Tischen nacheinander das Tischgebet, alle anderen falteten die Hände. Warm und hell blickte die Mittagssonne durch die hohen Fenster in den Saal. Wer hier eintrat, ohne zu wissen, wo er sich befand, konnte unmöglich auf den Gedanken kommen, daß fast alle diese armen Kinder noch vor kaum drei Jahren auf der tiefsten Stufe körperlicher und geistiger Entwickelung gestanden hatten.

Ich glaube meine Schilderung des Idiotenhauses nicht besser schließen zu können, als mit den Worten eines edlen Menschenfreundes, des Pastors Disselhof, Predigers an der Diakonissenanstalt zu Kaiserswerth am Rhein, in seinem Aufruf für arme Idioten. „Jedes Uebel,“ sagt er, „woran die Menschheit leidet, ist Gegenstand der Forschung geworden, und man hat Mittel und Wege gesunden, um es zu heilen und zu verbessern. Die Krankheiten des Auges, des Ohres, der Zunge, des Fußes haben ihre eigenen Heilmethoden; der Verstümmelte, der Kranke, der Wahnsinnige haben ihre Zufluchtsstätten; nur die unterste und schlimmste Classe – die Blödsinnigen – wurden bisher übersehen eben weil man nicht an die Möglichkeit dachte, etwas für sie zu thun. Doch dies Vorurtheil ist nun glücklich widerlegt, die Versuche der jüngsten Tage sind mit Erfolg gekrönt, um die Idioten der geistigen Verdumpfung zu entziehen, und es ist eine hohe Pflicht für jeden Menschenfreund, kräftige Hand an’s Werk zu legen.“ [1]

Möge auch meine Schilderung des Idiotenhauses bei Berlin in dem gelesensten Blatte der Erde, in der „Gartenlaube“, dazu beitragen, das Interesse für die unglücklichen Idioten rege zu machen und zu einem thatkräftigen Handeln anzufeuern!

G. R.




Ein Colporteur.

Skizze aus einem italienischen Tagebuche.
Von G. St.[2]

Es war in den letzten Tagen des März vorigen Jahres, da ich früh am Morgen in Mailand die Post besteigen wollte, die mich über Lodi nach Bologna führen sollte, als ich, in den großen Hof tretend, worin der Wagen zur Abfahrt bespannt wurde, zwei Knaben wahrnahm, die bei einem Manne in schlichter Kleidung standen. Er war reisefertig, von mehr kleiner als mittler Statur, etwas hager; von den Knaben mochte der eine fünfzehn, der andere dreizehn Jahre alt sein. Der Mann reichte, als ich eben herzukam, dem ältern die Hand; dieser machte eine Wendung mit dem Gesicht nach mir zu; ich sah eine Thräne über die Wange hinabrollen. Offenbar nahm ein Vater von seinen Kindern Abschied. Thränen erregen Mitgefühl, zumal die eines Kindes, wenn man selbst die seinigen daheim verlassen hat. Also trat ich der Gruppe näher und fragte den Vater, was die Knaben während seiner Abwesenheit in Mailand thun würden. Da langte der Mann aus einem gefüllten Koberchen, das er übergehängt an der Seite trug, ein kleines Buch hervor und reichte es mir mit den Worten: „Sie sollen solche Bücher in der Stadt verkaufen, wie ich nach Toscana und an die Grenzen des Kirchenstaats reise, um sie dort zu vertreiben.“ Ich warf einen Blick in das Büchlein; es war ein Neues Testament in italienischer Sprache mit französischer Uebersetzung daneben. „So sind Sie Protestant?“ sagte ich. „Nein,“ erwiderte er, „weder Protestant, noch Katholik, noch Calvinist, sondern Christ, ein biblischer Christ.“

Er verabschiedete sich dann von seinen Kindern und bestieg mit mir denselben Wagen, in dem sich noch ein junger Mann, wie ein Bauernbursch in kurzer Jacke, zu ihm hielt, von gutmüthigem, ehrlichem Gesichtsausdruck. Wir saßen zu sechs oder acht Personen in der Diligenza. Als ich nun einige Zeit mich still den Gedanken über jene Aeußerung und die Reisezwecke des Mannes mir gegenüber überließ, griff derselbe abermals in seinen Kober und reichte mir „zur Kürzung der Zeit und zur Belehrung“, wie er sagte, ein anderes Buch von mäßigem Umfange dar. Es trug den Titel: „La Confessione, saggio dommatico-storica di L. de Sanctis riveduto ed accresciuto dall' autore. Torino 1858“, d. i. „Die Beichte, ein dogmatisch-historischer Versuch von L. de Sanctis, durchgesehen und vermehrt vom Verfasser. Turin 1858.“ Der Verfasser, fügte mein Reisegefährte bei, sei ein gelehrter Geistlicher, der früher in Rom gelebt habe, dort aber seiner freisinnigen religiösen Ansichten halber verfolgt, in Turin ein Asyl gefunden und nun in reger schriftstellerischer Thätigkeit es sich zur Aufgabe gestellt habe, Italien über die Mißbräuche der Kirche, die unerträgliche Gewaltherrschaft [603] seiner Geistlichkeit, die Irrthümer der päpstlichen Lehrstücke aufzuklären und durch Darstellung der wahren, läutern Bibellehre eine Reinigung des christlichen Glaubens anzubahnen.

Die allgemeinen Angaben wurden durch die dargereichte Schrift selbst vervollständigt, an der mit jeder Seite, die ich weiter las, mein Interesse wuchs. Laut der Vorrede zu der neuen Auflage, die ich in der Hand hatte, ist das Büchlein in vielen Auflagen reißend schnell vergriffen worden, und die Nachfragen danach mehren sich noch immer. „Ich habe,“ sagt der Verfasser über sich selbst, „für’s Volk geschrieben, und das Volk hat mich begriffen; jene (die Gegner) haben für die Theologen geschrieben, und unsere Theologen sind meist Leute, denen Vernunft unmöglich beizubringen ist; daher ist der beste Weg, sich nicht um sie zu kümmern. Das Wort Gottes und nicht der Menschen, das ist unsere große und sichere Regel des Glaubens und der Religion.“ – Hiernach folgt ein Vorwort, „An die Italiener“ überschrieben. „Euch, meine Brüder des Vaterlandes ,“ – so beginnt es – „widme ich diese kleine Arbeit. Religion und Vaterland sind die zwei Gedanken meines Lebens; in Italien diese zwei Gedanken zu einigen und in Fleisch und Blut zu verwandeln, ist die Aufgabe, wozu jeder gute Bürger die Hand anlegen muß, der weiß, daß der Mensch weit erhaben ist über das Thier, daß er sowohl eine Seele zu retten hat, wie ein Vaterland zu vertheidigen. Die Gottesleugner, die Libertins und die aus der Religion einen Handel machen, sind immer die Geißel des Vaterlandes gewesen. Jesus Christus, der göttliche Wohlthäter der Menschheit, hat sein Evangelium des Friedens in die Welt gebracht, um die Menschen auf Erden im Voraus die Seligkeit kosten zu lassen, welche er seinen Erwählten im Himmel vorbereitet hat. Aber Unberechtigte bemächtigten sich der göttlichen Urkunde, die Christus dem Volke gelassen, und gaben sie für ihr ausschließliches Besitztum aus“ u. s. w.

Ohnerachtet aller rücksichtslosen und schneidenden Schärfe in der Sache selbst trennt de Sanctis doch die Personen davon und ist jeder Aufreizung gegen diese letzteren zuwider. „Italiener!“ ruft er aus, „laßt uns nicht einer Nation der Exzesse und der Vergewaltigungen nachahmen. Die Päpste haben uns zu Slaven gemacht; wir, liebreich, wie es sich für Christen ziemt, wollen ihren usurpierten Thron in Staub verwandeln, aber mit christlicher Milde lassen wir in Frieden ihre Personen; wir werden hinlänglich gerächt sein, wenn wir sie erröten und sich verkriechen sehen.“

Um die Wärme, ja Gluth zu begreifen, welche die ganze Schrift durchweht, muß man die Lebensgeschichte des Mannes kennen, der sie verfaßt hat. Er beschreibt sie selbst noch in dem Anruf an die Italiener; er erzählt, auch er sei ein Glied des Clerus gewesen, gegen welchen er jetzt schreibe, und der das Evangelium verdrehenden Kirche; aber noch habe nicht der erste Milchhaarflaum am Kinn gesproßt, da er, ein Jüngling von lebendiger Einbildungskraft, das geistliche Habit in gutem Glauben genommen habe, dadurch erfolgreicher dem Evangelium, der Humanität, dem Vaterlande dienen zu können. Bald genug sei er jedoch aus dem Irrtume erwacht. Während die asiatische Cholera in Italien wütete, versah er die ganze Zeit 1835–37 den Dienst in den Spitälern von Genua und Rom, „die einzige glückliche Zeit seines vergangenen Lebens“. Lange schon hatte er das Priestertreiben durchschaut, aber dies offen zu bekennen, wie er es später getan, hatte er den Muth noch nicht; er sah sich in die schreckliche Alternative versetzt, entweder in die Hände der Inquisition zu fallen oder das theuere Vaterland zu verlassen; in keinem von beiden Fällen konnte er seinen Landsleuten nützen. Er schlug einen Ausweg ein, blieb im Vaterlande und beschäftigte sich mit populärem Predigen, um das Volk sittlich zu bessern und es zu befähigen, die evangelische Wahrheit zu vernehmen. Die Galeerensträflinge, die Gefangenen, die Soldaten, die untern Volksclassen waren die Gegenstände seines Apostelamtes, die Unglücklichen und Schlichten schienen ihm der fruchtbarste Boden, um die evangelische Saat auszustreuen.

Obgleich er mit Vorsicht zu Werke ging, vermochte er doch nicht den Luchsaugen der Inquisition zu entgehen. Ohnerachtet er selbst, unfreiwillig vom Papst Gregor XVI. als Qualificator bestellt, Mitglied der obersten Inquisitionsbehörde von Rom war, konnte er doch einem Proceß und einer Verurtheilung als Verbreiter unehrerbietiger Gesinnungen gegen den Papst, den er nicht für den Statthalter Christi halte, und als italienischer Tendenzen verdächtig nicht entgehen. Auf eine anonyme Anklage, ohne ihn zur Vertheidigung zuzulassen, sollte er seines Amtes als Parochus entsetzt und aus den römischen Staaten verwiesen werden. Nicht auf Antrag des Vertheidigers des Beklagten, der ein Priester war, sondern weil sich der Fiscal, ein Laie, einer so schimpflichen Procedur widersetzte, wurde ihm Gehör verschafft; er hatte nicht die Feigheit zu leugnen, aber auch nicht den Muth, mit seiner Ueberzeugung bestimmt hervorzutreten, sondern weil er gegen die Anklage seine Hingebung und Unermüdlichkeit in der Amtsführung geltend machte, wurde das Urtheil dahin abgeändert, daß ihm unter Androhung schwerer Strafen untersagt ward, ferner wie bisher zu reden, und daß er auf zehn Tage in einem Jesuiten-Convent eingesperrt bleibe. Als er dann den neuen Papst Pio IX. an der Spitze einer Revolution und das Volk mit fanatischem Enthusiasmus ihm folgen sah, erkannte de Sanctis deutlich, daß das kein Anfang sei, in Italien das reine Evangelium und die heilige Religion der Väter wiederherzustellen, und so verließ er mit Thränen in den Augen das theuere Vaterland, brachte seiner religiösen Ueberzeugung das Opfer, sein Amt, seine Ehren, seine Titel, seine Freunde, Eltern aufzugeben und in ein freiwilliges Exil zu gehen.

Er begab sich nach Malta; hier hat er ein offenes Bekenntniß für das Evangelium abgegeben, die Gründe, warum er aus der päpstlichen Kirche ausscheide, in einem Briefe an seinen frühern Superior und in vier Briefen an den Cardinal-Vicar des Papstes veröffentlicht, in einem Journal die Lehre des Evangeliums, die Irrthümer der römischen Kirche, die Geschichte ihrer Päpste dargestellt und nachgewiesen, daß Italien nicht glücklich werden könne, ohne die alte Religion seiner Väter, das reine Evangelium, wieder einzuführen. Weil ihm aber solche Veröffentlichungen zu ungenügend und für das Bedürfniß seiner Landsleute zu langsam erschienen, griff er nun, ermuthigt durch einen frommen Verein, einzelne besondere Verirrungen der römischen Kirche an, worunter die Beichte die erste Stelle einnimmt, daher er mit dieser die Reihe seiner kleinen Tractate begann.

So läßt sich ohngefähr der Verfasser in seinem Vorworte vernehmen, aber Alles viel kräftiger, feuriger ausgeführt, so daß es unmittelbar jedem Italiener an das Herz greifen muß. Die Abhandlung selbst ergeht sich in elf Capiteln über alle religiösen, gesellschaftlichen und politischen Nachtheile und über das historische Unrecht des von der päpstlichen Kirche dem Christenthum aufgedrungenen Ohrenbeichtwesens. In einem schwungvollen Schlußwort vertheidigt sich der Verfasser endlich gegen den Vorwurf der Apostasie, gegen den Verdacht der Bestechung oder daß er seine Landsleute zu dem Bekenntniß eines Luther, Calvin, der englischen, deutschen, genfer Kirche bekehren wolle; nur zu der reinen Lehre des Evangeliums, wie die heiligen Apostel es gepredigt haben, sollen sie zurückkehren.

Dies ist in Kurzem der Inhalt des merkwürdigen Buches, welches Niemand aus der Hand legen wird ohne das Gefühl, daß hier ein Mann voll heiligen Eifers, erleuchteten Verstandes und von der glühendsten Liebe zu seinem Vaterlande und für das Wohl, besonders geistige Wohl seines Volkes die Feder geführt hat. Mag Alles, was hier gesagt wird, längst auch von Andern gedacht und geschrieben worden sein: in dieser Form, so eingehend in die Quellen und doch so faßlich und anziehend selbst für den schlichten Verstand, so scharf und schlagend in seinen Beweisführungen, so aus der Lebenpraxis heraus gesprochen, ist es ein in seiner Art einziges Meisterstück, das zudem durch die persönlichen Thaten und Geschicke des Verfassers einen besondern Reiz und Nachdruck erhält. Daß ein solches Buch in Italien geschrieben ward, wo bis dahin dem kirchlichen Despotismus viel minder gefährliche Schriften auf dem Index der verbotenen Bücher standen und jede Regung kritischer Forschung in Schrift, Wort, ja fast Gedanken dem schwersten Bann unterlag, daß es nahe den Grenzen des Kirchenstaates im Postwagen mir dargeboten werden konnte und Tausende von Lesern und Käufern fand: das ist selbst ein Ereignis; und würde für sich allein schon Zeugniß geben von dem gewaltigen Umschwung, seitdem Piemont einer gesetzmäßigen Freiheit die Bahn gebrochen hat. – Ich konnte das Buch nicht wieder zurückgeben; trotz der Gefahr, in welche mich sein Besitz in den päpstlichen Staaten bringen konnte, kaufte ich es.

Während ich mich immer mehr in die Lectüre vertiefte, war das Männchen, welches es mir dargeboten hatte, alsbald in eine lebhafte Unterhaltung mit den anderen Reisenden gerathen. Auch sein jüngerer Begleiter gab bedachtsam, wenngleich etwas schwerfällig

[604]

Die verunglückte Niederfahrt des Regenti’schen Luftballons am 17. August 1862.
Originalzeichnung von Burger in Berlin.


in der Rede, gelegentlich sein Wort mit drein. Denn es ist eine wohlthuende Wahrnehmung, die sich mir überall aufdrängt, daß die Menschen ohne Rücksicht auf Standesunterschiede in Italien zuthunlicher zu einander sind und, wie sie ein Zufall zu einander führt, auch bald in heiterer oder ernster Gesprächigkeit zusammen verkehren. Die Unterhaltung, die ich jetzt, selbst schweigend, mit anhörte, war ernster Art. Den Platz in der Ecke des Wagens mir links gegenüber hatte ein Mann eingenommen von großer Gestalt und wohlhäbigem Ansehen, mit einem Ausdruck von Gravität im gutgenährten Gesicht. Er hatte beim Einsteigen ein Bündelchen junge Maulbeer-Setzlinge neben sich gestellt, woraus ich, wie sich später ergab, richtig schloß, er sei ein begüterter Grundbesitzer.

An ihn vorzugsweise richtete mein evangelischer Apostel seine Rede, die mit ruhiger Würde Erwiderung fand. Jener begann damit, wie doch die Geistlichen jetzt so ganz anders dahergingen, als einstmals Jesus und die Apostel; die Bischöfe und Cardinäle führen in prächtigen Carossen, der Papst habe eine glänzende Hofhaltung, reiche Pfründen und Klöster gewährten üppigen Lebensgenuß, wogegen die Apostel, arm und sich nährend von ihrer Hände Arbeit, unter Entbehrungen jeglicher Art die Welt durchzogen hätten, Petrus, als dessen Nachfolger der Papst gelte, ein einfacher Fischer gewesen wäre, ja der Herr selbst nicht gehabt hätte, wohin er sein Haupt legte. Der Grundbesitzer nahm den hingeworfenen Fehdehandschuh auf: jetzt seien ganz andere Zeiten, als die der Apostel, und wie Alles fortgeschritten, nicht in der Einfalt des Alterthums verblieben sei, bedürfe auch die Kirche, die nicht zurückbleiben dürfe, einer den Verhältnissen der Gegenwart entsprechenden Repräsentation; die Geistlichen, die ihre festen Gemeinden hätten, könnten nicht von Stadt zu Stadt mehr umherziehen, gleich den Aposteln. Dies letztere gestand der Piemontese – denn das war der Colporteur – zwar zu, dadurch werde aber nicht, entgegnete er, der Luxus, die Hoffahrt, die Ueppigkeit und die ausschließliche Gewalt der Cleriker in Sachen der Religion gerechtfertigt, wobei er sein Neues Testament aus dem Koberchen langte und einige schlagende Stellen in italienischer Uebersetzung vorlas. Dann ging er auf die Vergebung der Sünden über und die Seelenmessen, die man bezahlen müsse nach ganz verschiedenen Taxen, so daß die Erlösung vom Geldbeutel abhängig gemacht würde, die Reichen gegen die Armen im Vortheil wären, während das Evangelium nur Reue des Herzens und bußfertigen Sinn als Bedingungen zur Erlangung des ewigen Heiles bezeichne und die heiligen Apostel eine Rechtfertigung durch den Glauben lehrten.

Als aber der Gegner sich auf die Autorität der Kirchenväter [605] und Concilienschlüsse berief, nahm jener abermals sein Neues Testament hervor, mit einem Griff hatte er die Stelle zur Hand, daß Gott, der Vater, alle Menschen als seine Kinder mit gleicher Liebe umfasse, Matth. 11, 28.: „Kommt zu mir,“ (nicht zum Papste oder einem andern Menschen, schaltete er ein, sondern zu Christus) „die ihr mühselig und beladen seid, so will ich euch Ruhe schaffen;“ Röm. 8, 24–28, und andere Sprüche, indem er immer stark betonte: „das sagt das Evangelium, das ist der Wille des Herrn selbst, so sprechen die heiligen Apostel, so redet der heilige Geist.“ Und so ging es von einem Glaubenssatz zum anderen; es war immer Bild und Gegenbild, Satzung des Papstthums und Lehre der Schrift einander gegenüber gestellt, und was auch immer der Vertheidiger für Einwendungen machen mochte, der evangelische Prediger in Handwerkerkleidung war immer schlagfertig mit seiner Widerlegung bereit; man sah, jegliche Controvers war ihm schon im voraus bekannt, die treffendsten und schlagendsten Bibelstellen hatte er gegenwärtig, und wenn ihm ja einmal eine nicht sogleich beifiel, so supplirte sie sein bedächtiger jüngerer Gefährte. Der Grundbesitzer vertheidigte seinen Standpunkt in ruhigem, nie versagendem Rede- und Gedankenfluß, den ich bewundern mußte, denn auch die Gabe der Wohlredenheit scheint eine Mitgift des schönen Italiens an seine Bewohner zu sein; aber entgegen der Begeisterung, die unter den grauen Locken des kleinen Mannes hervor aus dessen Antlitz und den leuchtenden Augen strahlte, gegen den Strom feuriger, in einzelnen Momenten wahrhaft hinreißender Beredsamkeit, die, aus einem glühenden Herzen kommend, sich aus seinem Munde ergoß, konnte der Vertheidiger nicht aufkommen.

Ich werde nie das Bild dieses italienischen Colporteurs vergessen, wie ihm Lächeln und Wohlwollen um die Lippen spielte, die Siegesgewißheit im Angesicht leuchtete und seine ganze Gestalt gehoben ward, wenn er sein Neues Testament hoch empor dem Widerpart entgegenhielt und immer auf dem Grunde des geoffenbarten Wortes seine Keulenschläge gegen die Ausartungen und Mißbräuche des Papstthums führte. Es waren Scenen der apostolischen Zeit, die ich mit zu durchleben glaubte. Auch im Aeußerlichen konnte der piemontesische Sendbote des Evangeliums mit Paulus, dem Teppichweber, wohl verglichen werden, dem noch dazu sein Timotheus nicht fehlte. Die Macht aber, welche die zugänglich gewordene, in die Landessprache übertragene Bibelübersetzung auf die Gemüther übte, versetzte nicht minder in Luther’s Zeit. – Die übrige Reisegesellschaft nahm für und wider, jeder nach seinem Vermögen, Theil; etliche Stunden blieben Alle in der Diligenza über denselben Gegenstand in geistiger Erregung, bis an der letzten Station vor Lodi der Grundbesitzer den Wagen verließ, zwar ohne sich eines der neuen Bücher anzueignen und ohne für die reformatorischen Ideen gewonnen worden zu sein, aber sichtbar mit der Erkenntniß von der Ueberlegenheit des Gegners und daß er ihn nicht zu widerlegen vermochte. Täusche ich mich nicht, so sind bei den Uebrigen Eindrücke von dieser Unterhaltung zurückgeblieben, die sich nicht, wenigstens nicht bei Allen, gänzlich wieder verwischen werden.

Auf der noch übrigen kurzen Strecke, die wir beisammen waren, erzählte mir der Zeuge des Evangeliums mancherlei Einzelnheiten über die Verbreitung des gereinigten Glaubens, für den schon 15 bis 20 Kirchen im Piemontesischen erbaut oder im Bau begriffen seien; auch der Anfeindungen und Intriguen der Geistlichen gedachte er, ohne daß er sich aber in seiner rührigen Geschäftigkeit dadurch beirren lasse. Voll gutes Muths und Gottvertrauens, kein Miethling, sondern als ein vom Geiste getriebenes Rüstzeug betrieb er sein nicht gefahrloses Geschäft. – Ich konnte mir nicht versagen, in Lodi, wo unsere Wege sich trennten, den wackern Mann und seinen Gefährten durch ein gemeinschaftliches Mahl zu stärken; ein warmer, inniger Händedruck – ich hätte ihm um den Hals fallen mögen – und wir schieden von einander, ob auch Deutscher und Italiener, doch verbunden als Bruder in gleicher Liebe und Hoffnung des ewigen Heils.




Vorlesungen über nützliche, verkannte und verleumdete Thiere.

Carl Vogt in Genf.
Nr. 6.
(Schluß.)
Das Ende des Käferprocesses und desses Nutzanwendung – Der Korn- und Holzbohrer – Der Maikäfer und sein Leben – Die Gefährlichkeit der Engerlinge – Maikäfer als Dünger – Mittel gegen Maikäfer – Einige andere Käfer – Die Larve des Todtenkäfers und die Krankheitsgeschichte einer Frau und eines Hypochonders.

Dieser Beschluß wurde am 29. Juni gefaßt, am 24. Juli machte der Advocat der Einwohner eine Eingabe, die dahin ging, „es möge dem Richter gefallen, im Falle daß die Vertheidiger die ihnen gemachten Anerbietungen nicht annehmen wollten, seine Schlußanträge zu genehmigen,“ in denen er verlangte, „daß besagte Vertheidiger gehalten sein sollten, augenblicklich aus den Weinbergen der Gemeinde sich zurückzuziehen, und daß ihnen unter strengen Strafen verboten sein solle, sich künftighin in dieselben einzuschleichen.“ Der Advocat der Käfer verlangte eine Frist zur Stellung seiner Gegenanträge und am 3. September, wo die Verhandlungen wieder aufgenommen wurden, erklärte er, die Bedingungen durchaus nicht annehmen zu können, da die angebotene Localität gänzlich unfruchtbar sei und durchaus nichts producire, wovon seine Clienten sich nähren könnten. Damit hatte einstweilen die Geschichte ein Ende; denn nach Ernennung von Sachverständigen, welche die Localität untersuchen sollten, waren die Käfer böswilliger Weise verschwunden, ohne je wieder in solch zerstörender Weise aufzutreten.

Sie könnten vielleicht glauben, meine Herren, daß der Proceß, dessen Gang ich Ihnen eben skizzirt habe, eine Ausnahme darstelle, welche für die Intelligenz unserer savoyischen Nachbarn kein allzu rühmliches Zeugniß ablegen dürfte. Sie würden sich indessen in dieser Annahme sehr irren. In jenem merkwürdigen Zeitalter, in dessen Bornirtheit man uns so gerne wieder zurückführen möchte, wo man den gewöhnlichen Menschen zum Thier herabwürdigte und andererseits das Thier dem Menschen gleichstellte, waren Processe gegen Thiere etwas ganz Alltägliches, und die geistlichen Behörden wetterten mit Bannflüchen und Verdammungsurtheilen gegen die Thiere nicht minder, als gegen die Menschen, und nur mit dem Unterschiede, daß erstere schon eine Stufe weiter gekommen schienen in der Erkenntniß, indem all’ diese Excommunicationen auch nicht den mindesten Einfluß auf ihr ferneres Gebahren übten.

Ein naher Verwandter des Rebenstichers ist der Kornbohrer, der schwarze Kornwurm, der Kornkäfer oder Getreiderüßler (Calandra granaria), ein kleines, langgestrecktes Käferchen, kaum von der Größe eines Flohs, mit langem Bruststücke, verkümmerten Unterflügeln und so harten Flügeldecken, daß sie beim Zertreten knirschen. Ein merkwürdiges Thierchen, das durch seine Zerstörungen auf dem Kornboden schon manchem Kornwucherer, aber auch manchem ehrlichen Manne einen bedeutenden Strich durch die Rechnung gezogen hat und wieder einmal so recht auffällig den Beweis liefert, wie schädlich jene kleinen Feinde werden können, sobald sie in Menge erscheinen. Das Leben des Kornkäfers beschränkt sich auf ein einziges Getreidekorn. In dieses schiebt der Käfer, der den Winter in halber Erstarrung in Ritzen und doppelten Böden der Speicher, in Stroh oder in Spreu zugebracht hat, am Beginne des Frühjahrs sein Ei, indem er das Korn an dem Keime oder an der haarigen Spitze anschneidet. Nach zehn bis zwölf Tagen kriecht die dicke, weiße, braunköpfige, fußlose Larve aus dem Ei und höhlt nun nach und nach das Korn aus, indem sie alles Mehl verzehrt und nur die Kleie und ihren Unrath darin läßt. Dann verpuppt sie sich, und nach etwa vierzig Tagen, also im Juli, erscheinen die jungen Käfer, die sich alsbald begatten und so bis zum Spätherbste eine zweite Generation hervorbringen. Der erwachsene Käfer selbst nährt sich nur vom Mehl des Korns, das er mit seinem Rüssel anschneidet und aushöhlt.

Ein einziger Kornkäfer kann also nicht viel schaden. Aber Millionen erscheinen und erzeugen Milliarden, und am Ende wird [606] es in dem angesteckten Getreidehaufen wie in einem Bienenstocke: die den Insecten eigenthümliche Wärme häuft sich so an, daß man sie mit der Hand fühlt. Hohe, luftige Getreideböden und Speicher, häufiges Umschaufeln und Werfen, große Reinlichkeit und Vertünchung aller Ritzen mit frischgelöschtem Kalk im Beginne des Frühlings dürften die besten Mittel zur Beseitigung des Käfers sein.

Hinsichtlich der übrigen Rüsselkäfer, die im Raps, in Kirschkernen und Haselnüssen, in den Apfelblüthen, in den Baumschulen, in Kirschen, Pflaumen und den Schossen der Obstbäume, man kann fast sagen in allen unsern Nutzgewächsen hausen, verweise ich auf die landwirtschaftlichen Bücher, die freilich oft mit vielen Verwechslungen der Arten die Lebensweise behandeln und meist mit ziemlich unverständigen Vorbeugungs- und Zerstörungsmitteln sich plagen, die im Ganzen ebensoviel nützen, als die Bannflüche des Mittelalters.

Ich erwähne nur die Holzbohrer (Xylophagi), die Borkenkäfer (Bostrichus), Stutzkäfer (Scolytus), Bastkäfer (Hylesinus), die in Splint, Bast, Rinde und Holz theils selbst bohren, theils dort ihre Eier ablegen und durch ihre Larven, namentlich in den Waldbäumen, oft entsetzliche Verwüstungen anrichten, die niedlichen Bockkäfer (Cerambyx) mit den langen Fühlhörnern, von welchen ich persönlich wohl ein langes Capitel erzählen könnte, da ich schon seit Jahren mit einer ihrer Larven im Kriege lebe, die in dem Marke der Schossen meiner Zwergbirnbäume bohrt und dieselben zu unförmlichen Knollen anschwellt, welche später abbrechen und eine glatte kreisrunde Narbe lassen. Die Art, welcher sie angehören, zu bestimmen, ist mir freilich bis jetzt noch nicht möglich gewesen, da ich vergebens dem erwachsenen Insecte nachgejagt habe.

Den Maikäfer (Melolontha vulgaris) aber, diesen bekanntesten aller Käfer, der in allen Ländern Europas das Spiel der Jungen und der Aerger der Alten ist, dürfen wir uns wohl ein wenig näher betrachten. Er erscheint bekanntlich, je nach der Witterung, in Süddeutschland und der Schweiz häufig schon in der Mitte April, wo er aus tiefen Erdlöchern hervorkriecht, die besonders in sandigen Gegenden sich oft in ungeheuerer Menge finden und die weit genug sind, daß man mit dem Finger in die Oeffnung eindringen kann. Tief in der Erde lag der Maikäfer schon betäubt und bewegungslos seit dem Herbste, und nicht selten findet man deshalb beim Umstechen im ersten Frühjahre lebendige Maikäfer, welche indeß nur wie im Traume die Glieder bewegen und auch in der Stube kaum zu regerem Leben erwachen. An lauen, warmen Abenden kommen die Käfer hervor, fliegen auf Bäume und Gesträuche und fressen namentlich in der Nacht Blätter und Knospen fast aller baum- und strauchartigen Gewächse ohne Unterschied ab, mit Ausnahme wohl des Birnbaumes, der Nußbäume und der echten Kastanien, die sie erst dann angreifen, wenn alles Uebrige kahl abgefressen ist. An lauen Abenden fliegen sie umher; – Tags über, namentlich beim Aufgange der Sonne, hängen sie fast erstarrt an den Zweigen und lassen sich dann leicht herabschütteln. Das Männchen, das sich durch die größeren Fühlhörner auszeichnet, bringt sein Leben höchstens auf 14 Tage, das Weibchen, das für die Eier sorgen muß, auf einen Monat. Da aber nicht alle Maikäfer zu gleicher Zeit aus der Erde hervorkommen, so kann die Flugzeit häufig über zwei Monate, ja selbst länger sich hindehnen.

Nach der Begattung sucht das Weibchen einen geeigneten, am liebsten leichten, sandigen Boden, in welchen es ein Loch, oft wohl bis zu einem halben Zoll Tiefe bohrt, um darin seine Eier bis zu dreißig und mehr abzulegen. Bald nach dieser Operation stirbt es, häufig in dem Loche selbst. Die jungen Larven kriechen vier bis sechs Wochen später, also im Juni oder Juli, aus dem Ei. Gelber Kopf mit starken, scharfgezähnten Kiefern, gekrümmter, weißgelblicher Leib, lange, gelbe Beine, schmutziger, sackförmiger Hinterleib, durch welchen der dunkelgefärbte Koth durchschimmert, charakterisiren diese Larven hinlänglich, die allgemein unter dem Namen der Engerlinge bekannt sind. Während der Dauer des ersten Sommers halten sich die aus einem Eierhaufen gekrochenen Engerlinge noch ziemlich zusammen und suchen sich in der Nähe des Nestes zu ernähren. Im Herbste kriechen sie tiefer in die Erde, häuten sich und zerstreuen sich dann mehr im zweiten und dritten Jahre, an dessen Ende sie ihre völlige Größe erreichen.

Während dieser Zeit sind die Engerlinge ein fürchterlicher Feind fast aller Gewächse, von deren Wurzeln sie sich nähren. Wenn als ihre Lieblingsnahrung Salat, Kohl, Rüben, Bohnen, Hanf, Flachs, Getreide, Erdbeerwurzeln, Gras, Kartoffeln und Zwiebeln genannt werden; wenn außerdem erzählt wird, daß sie zolldicke Wurzeln der Waldbäume, besonders der jungen Tannen, mit Leichtigkeit durchschneiden und ganze Baumschulen und Rosenpflanzungen, wie ich selber aus eigener schmerzlicher Erfahrung bestätigen kann, durch das Benagen der Wurzeln zerstört haben: so möchte ich wissen, was denn am Ende noch übrig bleibt, das ihrer Gefräßigkeit nicht anheim fiele. Der leichte und humusreiche Boden meines Gartens, der ziemlich tief liegt und ausnahmsweise von der daneben strömenden Arve sogar überschwemmt wird, ist ein wahrer Tummelplatz für Engerlinge, und es wird kein Beet umgestochen, ohne daß einige Dutzend derselben herausgeworfen würden. Schon mehrmals bin ich Zeuge gewesen, daß saftige Pflanzen oder Verbenen, die ebenfalls keine Verwundung vertragen können, in dem Augenblicke ihr Haupt neigten, in welchem ich sie betrachtete, wo ich dann mit der Handschaufel leicht die Ursache des plötzlichen Verwelkens in einem großen Engerlinge an das Tageslicht förderte, der soeben die Wurzel an dem Halse angebissen hatte. Die starken, hornigen Kiefern sind äußerst scharf und können empfindlich kneipen. Ich werde niemals das Entsetzen vergessen, womit einer meiner kleinen Jungen, der dem Gärtner beim Umgraben des Beetes gefolgt war, einen Engerling anschaute, der sich dergestalt in seinen Finger eingeklammt hatte, daß es einige Mühe kostete, ihn wieder loszumachen.

Im Spätherbste, wenn der Frost in die Erde dringt, senken sich die Engerlinge auch tiefer in die Erde hinab, um sich zu häuten und dann im Frühjahre wieder der Oberfläche sich zu nähern. Im dritten Herbste aber gehen sie am tiefsten und zwar, wenigstens nach unseren Erfahrungen, schon im Spätsommer oder Frühherbste. Tief in der Erde verpuppen sie sich, und nach vier bis sechs Wochen erscheint der Käfer, der, wie früher bemerkt, den Winter über in der Erde bleibt.

Es dauert demnach drei volle Jahre, von einem bis zum vierten Maimonat, bis die Nachkommen eines Maikäfers wieder an der Oberfläche erscheinen. Von dieser Lebenszeit haben sie sechs Monate in halber Erstarrung unter der Erde, einen Monat fressend und liebend über der Erde als vollkommene Insecten zugebracht, sechs Wochen als Eier, sechs Wochen als Puppe, so daß also von dem ganzen 36 Monate betragenden Lebenscyclus 26 Monate als Engerlinge verlebt werden.

Leicht begreiflich ist es nun, daß solche Jahre, in welchen einmal die Maikäfer besonders begünstigt erschienen und also in großer Menge sich zeigten, auch noch lange Zeit hindurch ihren Einfluß durch dreijährige Perioden wahrnehmen lassen. Setzen wir den Fall, daß dieses Jahr gerade ein Maikäferjahr sei, so werden die äußerst zahlreichen Käfer, welche in diesem Jahre 1862 erscheinen, auch außerordentlich viele Eier legen, sehr viele Engerlinge und also in drei Jahren wieder sehr viele Käfer erzeugen. Das sind dann die Flugjahre, die Maikäferjahre, über deren Folge man freilich noch nicht ganz einig ist, denn für Franken hat man eine vierjährige Periode aufstellen wollen, während in der Schweiz und Frankreich die Periode gewiß dreijährig ist. Merkwürdiger Weise gehört sogar die Schweiz zwei verschiedenen Systemen an, indem die Ostschweiz ihr Flugjahr mit dem benachbarten deutschen Gebiet, die Westschweiz dagegen mit Burgund und dem östlichen Frankreich gemein hat. Fast bereue ich, dies gesagt zu haben – wer weiß, ob nicht eines Tages das annexionslustige Frankreich sogar die Maikäfer als Grund für die Zugehörigkeit unserer Westschweiz anrufen wird! Man hat schon schlechtere Gründe vorbringen sehen!

Indessen darf man auf diese Flugjahre nicht unbedingt zählen und muß wohl bedenken, daß besondere Umstände ihre Zeit durchaus verändern können. Mehrere feuchte, naßkalte Jahre hinter einander können die Larven und Puppen tödten und in ihrer Entwicklung stören, also ein Flugjahr von seiner Häufigkeit zu minderem Maße herabdrücken – besondere Witterungsumstände können im Gegentheile die Entwicklung begünstigen, die Feinde der Maikäfer beeinträchtigen und so ein gewöhnliches Jahr für eine lange Zeitperiode zum Flugjahre erheben.

Wie dem auch sei, so viel ist gewiß, daß manchmal die Zahl dieser Thiere in’s Ungeheuerliche anwächst und daß die Frage entsteht – nicht, wie man Centner davon sammeln, sondern was man mit den Gesammelten anfangen soll. Hühner und Schweine können die Massen nicht mehr bewältigen und fressen sich einen Ekel daran; aus dem Wasser retten sie sich; das Zerstampfen ist auch [607] ekelhaft und nicht ausführbar, wenn sie scheffelweise eingeliefert werden, und sie in Erdlöcher vergraben, heißt den Fisch in’s Wasser werfen, um ihn zu ersäufen. Ich habe im Canton Bern die Verwaltungsbehörden einiger Orte förmlich rathlos gesehen, bis man endlich auf den Gedanken kam, eine Oelstampfe zu miethen und darin die Maikäfer zerstampfen zu lassen, die dann später einen ganz vortrefflichen Dünger abgeben. Leider habe ich die Menge von Simri, wie man dort das kleinste Getreidemaß nennt, zu notiren vergessen, die man nur in Thun, wo ich mich damals gerade aufhielt, gegen einen Centime per Simri ablieferte – es grenzte an’s Fabelhafte! Wenn man aber bedenkt, daß am 18. Mai 1832 Abends 9 Uhr die mit sechs Pferden bespannte Diligence zwischen Gournay und Gisors gezwungen wurde, umzukehren, weil ein ungeheurer Schwarm von Maikäfern ihr entgegenkam, der die Pferde scheu machte – wenn man bedenkt, daß im Mai 1841 die Brücken über die Saone in Macon an einigen Abenden nicht passirt werden konnten wegen der Maikäferschwärme, welche die Luft erfüllten: so begreift man die ungeheuren Zerstörungen in Garten, Feld und Wald, welche diese Thiere zuweilen anrichten.

Die Mittel, welche man gegen die Maikäfer vorgeschlagen hat, sind meistens vollkommen unzureichend bei größeren Verheerungen, und im Allgemeinen kann man sie nur gegen das vollkommene Insect richten, indem der Engerling unter der Erde, besonders in solchen Gegenden, wie Wiesen und Waldbüsche, wo der Boden nicht aufgerissen wird, vollkommen entgeht, während in Gärten und Feldern Spaten und Pflug ihn doch einigermaßen an die Oberfläche bringen. Und da muß man denn sagen, daß die Abschaffung der Brache in der neueren Landwirthschaft und das mehrfache Umwerfen des Bodens von Zeit zu Zeit auch den wesentlichsten mittelbaren Vortheil durch Zerstörung der Larven bringt. Man sehe nur, wie emsig alle rabenartigen Vögel, wie Krähen, Dohlen und Stahre, dem Pflug folgen, rechts und links pickend und mit wahrer Wollust die fetten Engerlinge aufzehrend, die in den Schollen zappeln; wie Rebhühner und kleinere Vögel nach der Entfernung des Pflügenden in dem frischgewendeten Erdreich umherscharren: und man wird sich auf’s Neue überzeugen, wie segensreich für den Landmann dieses häufige Umstürzen des Bodens ist.

Wie aber in Wiese und Wald dem Engerling beikommen, dem selbst starker Frost nichts schadet und der sogar vierwöchentlicher Ueberschwemmung der Wiesen ungefährdet widersteht? Ich kenne in der That nur ein einziges Mittel, und das ist die Vervielfältigung des Maulwurfes! Die Frage stellt sich meines Erachtens leicht: Was kostet mehr – die zeitweise Umarbeitung der ganzen Wiese und der an Graswuchs erlittene Verlust, oder das Umrechen der Maulwurfshügel, das man im Frühjahr etwa einen Monat lang wiederholen muß? Hat man die Frage mit Soll und Haben berechnet, so wird man wissen, was man zu thun hat.

Gegen den Maikäfer selbst ist aber am Ende nichts Anderes hülfreich, als vom Staate begünstigtes Ablesen der Käfer, das am besten frühmorgens bei Sonnenaufgang geschieht, wo die Insecten noch starrsüchtig sind und beim Schütteln herabfallen. Denn die Feinde, welche die Käfer haben, und wohin alle insectenfressenden Vögel gehören, haben nicht dieselbe Periodicität in der Entwicklung und können auch bei größter Anstrengung den übermäßigen Anforderungen, welche die entsetzliche Käfermenge an sie stellt, nicht im Entferntesten genügen. Die Maßregeln aber, die getroffen werden müssen und die hauptsächlich darin bestehen, daß man für das eingelieferte Maß Maikäfer eine gewisse Summe bezahlt, müssen von dem Staate aus getroffen werden, da das Uebel ein allgemeines ist und nicht bloß einzelne Striche oder Districte, sondern weite Länderstrecken betrifft. Was hilft es z. B., wenn eine Gemeinde auf ihrem Gebiete Käfer sammeln, die benachbarte dagegen sie ungestört walten läßt? Was hilft es uns Genfern, selbst im ganzen Gebiete des Cantons die Käfer sammeln zu lassen, wenn unsere französischen Nachbarn, die wir nach allen Richtungen hin in einer Stunde begrüßen können, nicht gleiche Maßnahmen treffen? Vor einigen Jahren sah der nur eine Stunde von Genf gelegene Salève im Mai nicht grün, sondern braun aus, und bei einer Excursion dorthin hörten wir in dem niedrigen Walde ein Rauschen wie von niederfallendem Gewitterregen, was von den Millionen Maikäfern herrührte, welche die letzten Knospen der Gesträuche abfraßen. Glaubt man, diese Schwärme seien nicht auf Genfer Gebiet gekommen, und ihre Nachkommen würden die Grenzpfähle der Republik respectiren?

Die Zahl der übrigen schädlichen Käfer ist zu groß, als daß ich sie alle nur anführen könnte. Da sind die Schnellkäfer oder Springkäfer, Schmiede (Elater), die mittelst eines eigenthümlichen, an der Brust angebrachten Apparates sich in die Höhe schnellen, sobald man sie auf den Rücken legt, und deren unter dem Namen der Drahtwürmer bekannte steife Larven, namentlich in nördlichen Gegenden, dem Getreide empfindlichen Schaden zufügen; die breiten schwarzen Stinkkäfer oder Aaskäfer (Silpha), die sich hauptsächlich von Aas nähren, deren Larve aber unter den jungen Rüben und Runkelrüben viel Schaden anrichtet; die Glanzkäfer (Nitidula), welche die Blüthen des Rapses angreifen und die inneren Organe verzehren, sodaß dieselben keinen Samen tragen; die Speck- und Pelzkäfer (Dermestes), deren steifbehaarte Larven uns so empfindlichen Schaden in unseren Vorräthen und Winterkleidern zufügen, und endlich die Mehlkäfer (Tenebrio molitor), deren Larven, Mehlwürmer genannt, vorzugsweise im Mehl, in der Kleie und im Brode hausen. Da die Nachtigallen die Mehlwürmer aller anderen Nahrung vorziehen, so ist das Züchten von Mehlwürmern in solchen Städten, wo man barbarischer Weise Nachtigallen in Bauern hält, ein kleiner Nebenverdienst für Bäcker und Müller; sonst aber sind die gelben, harten Larven mit ihrem schwarzen Unrathe höchst unangenehme Gäste in den Mehlkästen. Die Larven der verwandten Küchenkäfer (Tenebrio culinaris) und Todtenkäfer (Blaps mortisaga) leben im Mulm und Kehricht unreinlicher Häuser. Vor einigen Jahren wurden mir einige dieser Larven gebracht, welche eine an einer organischen Magenkrankheit leidende Frau ausgebrochen haben sollte. Die Frau behauptete steif und fest, sie habe die Würmer im Magen gehabt, und diese seien die Ursache ihrer jahrelangen Krankheit. Der Arzt schien nicht abgeneigt, dieser Ansicht beizupflichten, und ich hatte ziemliche Mühe, ihn zu überzeugen, daß die Würmer nicht in dem Magen gelebt haben könnten, sondern im Gegentheile aus den Ritzen des Fußbodens zu dem leckeren Mahle, welches ihnen das Erbrechen bot, hinzugekrochen sei. Es fiel mir dabei die Geschichte jenes Hypochonders ein, der nach der Weise jener Leute mit großer Aufmerksamkeit seine tägliche Leibesentleerung untersuchte und eines Tags voll Schrecken seinem Arzte einige haarige Würmer brachte, die ihm als Ursache seiner Unbehaglichkeiten im Unterleibe galten. Der Arzt erkannte sogleich die behaarten Larven des Diebskäfers (Ptinus fur) und überzeugte sich bei genauerer Untersuchung, daß eine ganze Colonie dieser Käfer in dem schadhaft gewordenen Polster des Leibstuhls hauste, von wo aus sie in das Gefäß gefallen waren.

Der schwarze, stinkende Todtenkäfer (Blaps mortisaga), der nächtlich in den Wohnungen herumschleicht und den man zuweilen in der Küche antrifft, wenn Kranken in der Nacht etwas zubereitet werden soll, gilt ebensowohl für eine Vorbedeutung des Todes, wie der halsstarrige Klopfkäfer (Anobium pertinax), den man auch die Todtenuhr genannt hat und dessen leises Klopfen im Holze, worin er bohrt, dem Picken einer Taschenuhr gleicht. Indem aber der Käfer dieses thut, denkt er viel weniger an den Tod, als an das zukünftige Leben, welches er selber erwecken will: mit diesem Klopfen lockt er sein Weibchen.




Blätter und Blüthen.


Das Manna der Israeliten. Für Jung und Alt liegt ein eigenthümlicher Reiz in den biblischen Erzählungen, denn sie sind ja meistens unsere ersten Nachrichten über die Geschichte längst entschwundener Zeiten, die uns deshalb wie Nebelbilder in einem magischen Lichte erscheinen, mit Menschen und Verhältnissen, himmelweit verschieden von denen der Gegenwart. Dazu gesellt sich nun noch der Nimbus des Wunderbaren, das Walten einer unsichtbaren höheren Macht, und nun vollends noch die eigenthümliche gemüthliche Darstellungsweise! Da darf es denn nicht auffallen, wenn sich diese ersten Eindrücke bis in unser hohes Alter in ungeschwächter Lebhaftigkeit zu erhalten pflegen. Mich hat immer die Geschichte der Auswanderung des jüdischen Volkes aus Aegypten und sein an Abenteuern reicher Eroberungszug nach Palästina am lebhaftesten interessirt, mit dem beständigen Hervortreten eines höheren Schutzes, eine wahre israelitische Odyssee. Als nun noch das Manna der Apotheke dazu kam, war ich erst recht für eine Wüstenreise enthusiasmirt.

Da kam aber nun die leidige Aufklärung und streifte mit rauher Hand [608] den romantischen Duft ab, als der Unterricht in der Naturkunde anfing, manches der zahlreichen Wunder, die sich im Verlauf der langen Wüstenreise ereigneten, auf bekannte Naturgesetze zurückzuführen. Durch diese veränderte Anschauungsweise mußte natürlich in mir das Verlangen rege gemacht werden, auch über andere bis dahin noch dunkle Ereignisse gleiche Aufklärung zu erhalten. Ich wurde da mit hoher Achtung erfüllt für den Verstand und die Wissenschaft des Heerführers Moses, und staunte über die Weisheit der ägyptischen Priester, denen er seine Bildung verdankte.

Mit der klaren[WS 1] Erkenntniß sah ich zusehends die poetische Anschauung schwinden, der Wachtelregen wurde auf die kurze Wanderzeit dieses Vogels beschränkt, und auch das Manna fiel nicht in Menge vom Himmel herab, sondern mußte an den Zweigen eines Strauches mühsam abgelesen werden. Seezen hat nämlich an den Zweigen der gallischen Tamariske, die in dem Wady el Araba häufig wächst, jenem Thale, durch welches (wahrscheinlich vor dem vulcanischen Ausbruche, der Sodom und die benachbarten Städte zerstörte) einst die Gewässer des Jordan sich in den Meerbusen von Akaba ergossen, kleine Mannakörnchen entdeckt, die noch jetzt von den dortigen Beduinen eingesammelt werden; ihre Menge ist aber so gering, höchstens im Jahre etwa 500 Pfund, daß dieses Manna als Nahrungsmittel für ein ganzes Volk gar nicht in Betracht kommen kann, sondern bei ihnen nur die Stelle unserer Confitüren vertritt.

Neuerdings, im Jahre 1857, hat Unger, ein Deutscher, auf eine Flechtenart, Lecanora esculenta, aufmerksam gemacht, die in den meisten Wüstenthälern von Kleinasien, Arabien, Persien, der Tatarei, der Krim und der algierischen Sahara etc. ungemein häufig wächst. Sie wird, weil sie auf dem sandigen Boden nur locker aufsitzt, leicht durch den Wind von den Hügeln herabgeweht, und bedeckt in den Vertiefungen dann den Boden oft weithin mehrere Zoll hoch. Den Schafen dient sie als willkommene Nahrung, die Menschen bereiten aus ihr Brod. – Unger fand den Geschmack dieses Manna angenehm süßlich und mehlartig, fast wie ein Gemenge von Milch und Mehl. Die meisten anderen Flechten, die besonders im hohen Norden in Zeiten des Mangels als Nahrung für Menschen und Thiere dienen, zeichnen sich durch einen unangenehm bitteren Beigeschmack aus. – Mit diesen von Unger angegebenen Eigenschaften stimmt auch die biblische Erzählung überein, daß die Israeliten das Manna sammelten, um daraus Brod zu backen, wozu das Tamariskenmannna Seezen’s, als eine Art Zucker, sich keineswegs eignet.

Schon im Jahr 1828 legte Thenard der Académie des sciences in Paris Proben der nämlichen eßbaren Flechte aus Algerien vor, ohne dabei an das Manna der Israeliten zu denken; sie heißt in Arabien Takaout, in Algerien Oussch el ard (Excrement der Erde) und besteht aus höchstens erbsengroßen, zusammenhängenden, rundlichen Körnern von gelblichgrüner Farbe und weißlich mehligem Ueberzuge. Den Geschmack beschreibt er als schwach stärkeartig mit einem Beigeschmacke, ähnlich den Champignons. Im heißen Wasser schwillt sie auf, mit Milch, Butter und Salz gekocht, schmeckt sie zart und angenehm. Mir scheint durch diese Entdeckung unseres Landsmannes die Frage nach dem Manna der Israeliten außer Zweifel gestellt.

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Bei der heutigen Illustration der Luftschifffahrt haben wir lediglich auf die Schilderung unseres verehrten Mitarbeiters in Nr. 37 hinzuweisen. Die Scene ist vom Künstler genau nach den persönlichen Angaben des Herrn Dr. Pitschner entworfen und für unser Blatt gezeichnet worden.




Für Wilhelm Bauer’s „Deutsches Taucherwerk“

sind ferner (bis zum 8. September) eingegangen: 5 Thlr. vom Montagskränzchen und einigen Freunden in Hanau; 1 fl. rhn. von L. v. St. in Lorsch; 2 Thlr., ges. im Keller des Raths zu Schleiz, durch Ed. Haller; 4 Thlr., ges. beim Stiftungsfest der Gesellschaft „Sanssouci“ in Zeulenroda; 3 Thlr. von L. H und J. B. in Zittau; 5 Thlr. vom Gewerbe- und Volkswirthschaftlichen Verein zu Delitzsch, durch J. F. Schumann; 10 Ngr., von S. und R.; 1 Thlr. 24 Ngr. Ergebniß eines Boule in Simon’s Restauration zu Glauchau (Motto: „Gott sei mit Dir!“) durch Th. Moritz; 24 Thlr. von einer kleinen Gesellschaft deutscher Bäcker in St. Petersburg beim Kegelschieben gesammelt, durch V. J. Schmiedekampf das.; 1 Thlr. 10 Ngr. ges. beim zweiten Stiftungsfeste der Hofmann’schen Riege; 1 Thlr. von Dr. Alex. Friedleben in Frankfurt a. M.; 2 Thlr. durch Aug. Kr. und E. R. in Görlitz; 1 Thr. 15 Ngr. von einigen Turnern Braunschweigs, durch E. Felsing; 3 Thlr. auf dem Tauffeste eines kleinen Deutschen, gesammelt von dessen Pathen in Sommerfeld; 4 fl. 30 Xr. österr. W. von einem Lesekränzchen (Motto: „Möge die untere Herrschaft im Meere für das deutsche Volk einst eine Oberherrschaft zur See werden!“); 5 Thlr., ges. von der Gesellschaft Jenensia in Jena, durch die Redaction der Blätter von der Saale (Aug. Neuenhahn) in Jena; 7 Thlr. ges. unter den Mitgliedern des Gewerbevereins in Arnstadt, durch B. Leupold; 5 fl. 15 Xr. rhn. vom Turnverein zu Mühlberg bei Karlsruhe, durch H. Stemmemann; 20 Thlr. 2½ Ngr., zweite Sendung der von der Expedition der Volkszeitung in Berlin veranstalteten Sammlung; die Expedition der Volkszeitung nimmt auch ferner Beiträge entgegen; 2 Thlr. von einem Scatkränzel in den Drei Fischen zu Hirschberg; 1 Thlr. ges. auf einem Spaziergang des Turnclubs zu Hannover, durch B. Thomas; 3 Thlr. 10 Ngr von einer fröhlichen Gesellschaft auf Noack’s Weinberge durch den Gesangverein zu Senftenberg in der Niederlausitz; 2 fl. rhn. von Mitlesern der Gartenlaube zu Reichenbach (baier. Pfalz), durch F. Braun; 5 Thlr. vom Gewerbeverein zu Roßwein, 1 Thlr. von H. Voigtländer und 2 Ngr. 5 Pf. von P. B. das.; 10 Ngr. von Frl. B. in Gotha; 2 Thlr. 25 Ngr. aus Neusalza in Sachsen; 81/5 Thlr. Beitrag einiger Flensburger Turner; 1 Thlr. von einigen Lesern der Gartenl. in Ortrand und Heinersdorf, durch K. Müller; 1 Thlr. von mehreren Secundanern des Gymnasiums zu Wittenberg; 2 Thlr. 21 Ngr. vom Gewerbeverein zu Hohnstein bei Stolpen; 2 Thlr. 5 Ngr. 1 Pf., ges. bei einem Faß Bier durch S.; 2 Thlr. 12 Ngr. ges. von J. Th. Stettner in Lindau; 3 Thlr. 15 Ngr. bei einer Erdbeerbowle gesammelt durch Paul A. in Berlin; 8 Thlr. vom Gewerbeverein zu Oschatz, durch den Vorstand Osk. Förster das.; 134 fl. rhn. (und zwar 20 fl. vom Singverein, 14 fl vom Gewerbeverein, 62 fl. 16 Xr. Ertrag einer Production der Liedertafel der Herkulaner und des Turnersingvereins, 8 fl. Extrabeitrag der Herkulaner, 5 fl. 24 Xr. Beitrag der Turner-Exkneipe Krähwinkel und 24 fl. 20 Xr. Beiträge Einzelner) durch den Singverein zu Fürth, insbes. S. Frhrr. von Haller, Rechtsrath, als Vorstand, und Herrm. Knapp als Cassirer des Singvereins.

Die Summe dieser (20.) Quittung beträgt 130 Thlr. 18 Ngr. 1 Pf., 142 fl. 15 Xr. rhn. und 4 fl. 30 Xr. österr. W.

Im Auftrag des Central-Comités: Ernst Keil. 




Berth. Auerbach’s
Volkskalender für 1863.
Mit Bildern nach Originalzeichnungen
von
W. v. Kaulbach und Paul Thumann.
Preis 121/2 Ngr.

Auerbach’s Volkskalender nimmt auch in diesem Jahre unter allen Kalendern den ersten Rang ein. Er bringt von Männern der Wissenschaft, der Kunst und des praktischen Lebens eine der Blüthe und Bildung Deutschlands würdige Nahrung. Die künstlerischen Illustrationen gereichen dem Büchlein eben so sehr zur Zierde, als sie angenehme Unterhaltung bieten. Er enthält diesmal:

Ein Kalendarium mit 12 Monatsbildern von Kaulbach. – Joseph und Benjamin. Eine Erzählung vom Herausgeber. Mit Illustrationen von P. Thumann. – Ueber Bekleidungsstoffe. Von R. Virchow. – Ein Friedenssoldat. Nach den Mittheilungen eines oberdeutschen Officiers an den Herausgeber des Kalenders. Mit Illustrationen von P. Thumann. – Das deutsche Reich vor 100 Jahren. Ein Rückblick. – Lederherz. Aus den Erinnerungen des Pfarrers vom Berge (illustrirt). – Betrachtungen eines Genesenden. Von B. Sigismund (illustrirt). – Deutschland und die Umwälzungen in der Kriegsmarine. Von K. S. – Der Zahn im Munde. Von Dr. J. L. – Die Deutschen im gegenwärtigen amerikanischen Kriege. Von Reinhold Solger in New-York. – Verschiedene Freiheitskämpfer. Eine Erzahlung von Gottfr. Keller. Mit Illustrationen von P. Thumann. – Franz v. Roggenbach, der badische Minister. Charakteristik und Biographie von B. M. Mit Bildniß. – Anmerkungen aus dem Zeit- und Menschenleben: 1. Selbstständigkeit der Schule, gegenüber der Kirche. 2. Der fechtende Handwerksbursche. 3. In Civil. – Die Sonnenhöhe des Jahres 1862. Ein Brief vom deutschen Schützenfest in Frankfurt a. M. (illustrirt.)

Verlagsbuchhandlung von Ernst Keil in Leipzig. 




Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das dritte Quartal, und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Leipzig, im September 1862.

Ernst Keil. 



Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wir werden nächstens schon einen mehr pädagogisch eingehenden Artikel über diesen Gegenstand aus der Feder des Herrn Doctor Herz bringen, der bekanntlich im Buschbade bei Meißen in Gemeinschaft mir seiner geistreichen, auch als Erziehungsschriftstellerin bekannten Gattin eine Anstalt für Blödsinnige leitet, die bereits mehrere Male in der Presse große Anerkennung fand.
    D. Red.
  2. Der Verfasser dieses Artikels ist ein ebenso verdienter als hochgeachteter Universitätslehrer, dessen gediegene Denkungsart ihn vor dem Verdachte sichert, als ob er gegen die katholische Kirche einen Angriff beabsichtige. Die angeführten Thatsachen sprechen deutlich genug dafür, daß er sowohl, wie de Sanctis, nur gegen die Auswüchse des italienischen Pfaffenthums ihre Lanzen einlegen. Wir erinnern an die letzten Wort des sterbenden Cavour: „Pater! Pater! Freie Kirche im freien Staat!“
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: laren