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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[497]

No. 32.   1862.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Zwei Welten.

von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)


Zedwitz schien einige Secunden seine innern Regungen niederzukämpfen. „Sie betrachten eben nur die Dinge mit dem Gemüthe, Frau Mutter, und ziehen danach Ihre Schlüsse!“ sagte er dann, während sich eine völlig kalte Ruhe über sein Gesicht legte. „Hugo hätte sehr viel wieder ausgleichen können, wenn er ruhig nach Berlin zurückgegangen wäre und sich dem Gerichte gestellt hätte, wie es jeder Mensch von reinem Gewissen gethan haben würde. Statt dessen zog er es, seinem ganzen zerfahrenen Wesen nach, vor, durch eine Flucht nach Amerika jede Ausgleichung unmöglich zu machen und seine ganze Zukunft unrettbar zu ruiniren. – Es ist nicht vor Allem die letzte Angelegenheit, die mich dem jungen Menschen entfremdet, es war seine ganze vorhergehende Vergangenheit,“ setzte er mit starker Betonung hinzu, „wenn auch seine Chefs geglaubt haben, mir durch ein freundliches Urtheil über ihn einen Trost zu geben. Und daß ich nun einem Manne, der ihm geholfen hat seinem ganzen bisherigen Verfahren die Krone aufzusetzen, nicht besonders günstig sein kann, ist allerdings verständlich – obgleich die Schlüsse, die ich daraus über Römer’s eigenen Charakter gezogen, den Hauptantheil daran tragen. Mit dem Sohne, der mir seine ganze Zukunft, die ich mit allen erdenklichen Opfern erst für ihn geschaffen, vor die Füße geworfen, bin ich fertig, das wissen Sie, Frau Mutter, also bitte ich Sie, seinen Namen nicht mehr gegen mich zu erwähnen!“ – Es war ein großer, tief ernster Blick, welcher jetzt den Sprechenden aus den Augen der Dasitzenden traf und ihn fast zu beunruhigen schien; nach einer augenblicklichen Pause aber fuhr er mit einem Zuge von leichtem Spott um den Mund fort: „Im Uebrigen, liebe Mama, nimmt mich die augenscheinliche Aenderung Ihrer Ansichten einigermaßen Wunder. Waren Sie nicht selbst Meßner’s eifrigste Freundin und unterstützten seine Werbung, während ich mich wenigstens nie entsinne, ein so lebhaftes Interesse für den jungen Römer bei Ihnen bemerkt zu haben? Hielten Sie nicht selbst Helene’s Zukunft durch den Charakter und die Aussichten des Erstern für am meisten gesichert?“

In dem feinen Gesichte der alten Frau stieg es auf wie ein leises Abendroth. „Sie zwingen mich durch Ihren Angriff, wieder Dinge zu berühren, die Sie nicht gern zu hören scheinen,“ erwiderte sie, wie in einer leichten Erregung. „Ich sagte Ihnen, daß ich nicht zum zweiten Male einer ernsten Neigung entgegentreten würde, wenn sie auch meine liebsten Wünsche vereitelte, und eine solche hat sich, wahrscheinlich erst durch Ihre starre Abweisung alles kindlichen Vertrauens, zwischen unserer Helene und dem jungen Kaufmanne herausgebildet. Ich habe ziemlich sichere Anzeichen davon, wenn ich mich auch der Angelegenheit völlig fern gehalten habe. Sie werden mir vielleicht vorwerfen, daß ich das Urtheil des Kindes hätte leiten sollen, ehe es so weit kam. Sie selbst aber, Herr Sohn, haben auch mir durch den Fall mit Hugo das rechte unbedingte Vertrauen der Mädchen entzogen. Sie sehen mich befremdet an, aber es giebt nichts Natürlicheres. Ich habe mir selbst erst in den letzten Wochen klar gemacht, was sich indessen die Mädchen längst selbst gesagt: daß Ihre Stimmung gegen den Sohn kaum zu der bewiesenen Schärfe hätte gelangen können, wenn unser guter Director, als Gegner der jetzigen modernen Richtung, Ihrem Mißfallen an Hugo’s Ansichten nicht noch die rechte Unterstützung geliehen hätte; ich selbst bin völlig unter dem Einflüsse von Meßner’s wohlthuenden Ueberzeugungen gewesen, die mich noch heute zu seiner aufrichtigsten Freundin machen; aber als ich die Wirkungen derselben auf Ihr Verfahren gegen Hugo wahrnahm, der sich doch zuletzt nichts als eine jugendliche, vielleicht unbedachte Lebens-Auffassung hat zu Schulden kommen lassen; als ich herausfühlte, wie die Mädchen, in Folge der hier stattgehabten Scene gegen mich, die sie als eine offene Freundin des Schuldirectors kannten, verschlossener wurden: da ging ich mit mir selbst zu Rathe, wie es Jeder thun sollte, Herr Sohn, der das beste Glück, die Harmonie und Befriedigung in seiner Häuslichkeit, von sich weichen sieht. Ich erkannte, daß wir alten Leute selbst, als wir noch jung waren, unsere eigenen Anschauungen gehabt und oft genug in Opposition zu unsern Eltern gelebt hatten, daß gerade die intelligentesten Kinder die rebellischsten sind, und daß das jüngere Geschlecht für neue Anschauungen, sollten sie auch irrthümliche sein, empfänglich sein muß, wenn die Welt nicht stillstehen soll, daß Unduldsamkeit und starres Festhalten am eigenen Willen die unglücklichsten Mittel sind, um ein Kind seinen Irrthümern zu entreißen. Und unsere Kinder, Herr Sohn, sind eine eigenthümliche Mischung von Vater und Mutter; Sie vermögen sie mit offener Liebe zu Allem zu bringen, während eine Strenge, die ihnen ungerechtfertigt erscheint, ihr Herz erstarrt. – Wollen Sie nun,“ fuhr die Sprecherin, den im Eifer der Rede gerade aufgerichteten Oberkörper langsam wieder zurücklegend fort, „einen Zwang gegen Helene durchführen und die Verantwortung dafür auf sich nehmen, so kann ich nichts dagegen thun; ich habe Ihnen nur die Gründe über die Aenderung meiner Ansichten, wie Sie es nennen, mittheilen wollen.“

Auf dem Gesichte des Geheimraths hatten sich abwechselnd stille Ungeduld, halbunterdrückter Unmuth und eine Andeutung von bitterm Spotte während der Rede gezeigt. „Ich weiß nicht, liebe Mama,“ sagte er jetzt mit einem gezwungenen Lächeln, „wer Ihnen die Materialien zu Ihrer jedenfalls beredten Darlegung geliefert [498] hat; ich mochte Ihnen aber sagen, daß man nicht so alt geworden ist, wie ich, ohne gewisse Grundsätze zu festen Haltpunkten für sich gemacht zu haben, welche man nicht so beliebig nach einer ihnen entgegenstehenden Ansicht ändert. Und einer dieser meiner Grundsätze heißt, daß, so lange die Kinder noch in der Obhut und in dem Brode des Vaters leben, sie diesem, der sie genauer kennt und sie besser zu berathen weiß, als sie sich selbst, zu gehorsamen haben. Das Kind aber, welches diese natürliche Gegenpflicht für die Opfer und die Verantwortlichkeit des Vaters von sich weist, scheidet sich von ihm und hat nirgends mehr das Recht eines Kindes zu beanspruchen, denn es ist contractbrüchig an dem heiligsten Uebereinkommen geworden, welches die Natur selbst geschaffen. Sie mögen Helenen, die noch am wenigsten befähigt ist, ihr eigenes Heil zu beurtheilen, diesen von mir festgehaltenen Grundsatz mittheilen; ich bin indessen ohnedies überzeugt, daß sie sich ruhig ihrem Besten fügen wird, sobald nur nicht ungehörige Einwirkungen für das Gegentheil stattfinden. Und hiermit, Frau Mutter, lassen Sie uns diesen Gegenstand als abgethan betrachten; Herr Römer soll von mir selbst das Nöthige erfahren.“

Er neigte sich leicht und verließ das Zimmer. Die Großmutter lehnte den Kopf zurück, faltete die Hände und blickte in den trüben Abend hinaus; kaum aber waren die Tritte des Geheimraths verhallt, als sich die Nebenthür öffnete und Marie fast geräuschlos hereintrat, einen Stuhl an dem kleinen Arbeitstische unweit der alten Dame einnehmend. „Soll ich nach Licht klingeln, Großmutter?“ unterbrach sie nach einer Weile das Schweigen.

Die Angeredete fuhr wie aus einem Traume auf. „Wo ist Helene?“ fragte sie.

„Sie macht noch einen Gang durch den Garten,“ war die ruhige Antwort.

„Jetzt?“ fragte die Andere und sah dem Mädchen aufmerksam in’s Auge. Marie antwortete nur durch einen bittenden Blick. „O, drücke ein Auge zu, Großmutter, sie hat ja so offen zu Dir gesprochen,“ sagte sie dann halblaut, „Römer darf nicht in das Haus, und was soll sie denn thun, wenn sie ihn einmal sehen und nicht zu noch unpassenderen Mitteln greifen will?“

Die alte Frau schüttelte mit einem leisen Seufzer den Kopf. „Ich darf dem in dieser Weise nicht nachsehen und muß mit dem Mädchen reden. Es wird sie Niemand zu einer Heirath zwingen, die ihr zuwider ist, aber sie darf auch dem Willen des Vaters nicht so fast unter seinen Augen Hohn sprechen. Ist ihre Neigung echt, so muß sie stark genug sein, um abwarten zu können, bis eine bessere Sonne darüber aufgeht; auf dem jetzigen Wege aber kann ihr kein Heil erwachsen – sie sollte den Vater kennen!“

Marie horchte plötzlich auf. „Das ist Meßner, der mit dem Vater spricht,“ sagte sie; „schicke jetzt nicht nach Helenen, Großmutter, es wäre sonst, als geschähe es seinethalber, ich werde auch liebenswürdig sein und Deinen Freund unterhalten!“

„Wenigstens werde ich sie nicht vor einem Dienstboten bloßstellen, denke aber dafür zu sorgen, daß ein derartiges Rendez-vous das letzte ist!“ erwiderte Jene und erhob sich wie in einem kurz gefaßten Entschlusse. „Ob aber der Director Deiner Unterhaltung Stand halten wird?“ setzte sie mit einem halben Lächeln hinzu.

„Warum nicht, Großmutter?“ fragte das Mädchen, rasch den Kopf hebend, „ich denke, es wird eben nur auf mich ankommen! Wir haben vor Zeiten schon einmal recht gut mit einander gestanden – das war, ehe er so süß wurde und zum Heile seiner Carriere sich an die alten Damen hielt. Wenn ich mir jetzt freilich zuweilen denke, was doch für ein tüchtiger Fond in dem Manne steckt, den er um etwas rascheren Vorwärtskommens willen verbirgt und für eine Schönrednerei opfert, wie er daneben fremden Ansichten sich unterwirft, als habe er keine eigenen, so kann ich gar nicht anders, als ihn dafür recht gründlich hassen und ihn unverblümt meine Herzensmeinung fühlen lassen. Indessen vermag ich mich wohl auch ein Viertelstündchen zu beherrschen, wenn es nöthig ist, und ihn innerlich nur zu beklagen!“

Die alte Frau sah das Mädchen mit einem großen eigenthümlichen Blicke an, als sei plötzlich ein ganz neuer Gedanke in ihr aufgestiegen; dann aber, als Schritte im Corridor hörbar wurden, nickte sie leicht und sagte: „So unterhalte ihn, bis ich zurückkomme!“ und verschwand dann in der Seitenthür, welche zu ihrem Schlafzimmer führte.

Marie hatte kaum das Ohr wieder horchend dein Corridor zugewandt, als sich dort die Thür rasch öffnete und, von einem der Dienstmädchen mit brennender Gesellschaftslampe gefolgt, der Schuldirector eintrat. Er warf einen raschen Blick durch das Zimmer und schien sichtlich unangenehm berührt, als er nur die sich erhebende Marie erblickte. Diese indessen ging ihm leicht entgegen.

„Wir haben soeben von Ihnen gesprochen, Herr Director,“ sagte sie, „und ich habe behauptet, daß Sie eine kurze Zeit auch einmal mit mir vorlieb nehmen würden. Großmutter wird bald wieder hier sein!“

Er sah auf, als überrasche ihn die Freundlichkeit ihres Tones. „Sie wissen, Fräulein Marie, daß mich Ihre Gesellschaft immer nur glücklich gemacht hat!“ erwiderte er gehalten, mit einem leichten Forschen in ihre Augen blickend, als traue er der Harmlosigkeit ihres Ausdrucks nicht ganz.

„Immer?“ fragte sie lächelnd, und ein Zug von halber Schalkhaftigkeit legte sich um ihren Mund, der ihrem Gesichte einen ganz neuen Reiz verlieh. „Wenn Sie Geduld zu einem kurzen Geplauder mit mir haben, so will ich schon völlig befriedigt sein!“ setzte sie hinzu und zog einen Stuhl nach dem von der Lampe erleuchteten Tische; Meßner folgte mit einer leichten Verbeugung ihrem Beispiele, aber zwischen seinen halb zusammengezogenen Augen stand es wie eine unbestimmte Unruhe. – – –

Eine Viertelstunde vorher war ein junger Mann um das Haus gebogen, da wo sich der Seitenflügel desselben an die hohe Gartenmauer anschließt, welche die eine Seite einer engen, todten Nebengasse bildet, und hatte dort eine kleine unverschlossene Pforte aufgedrückt. Die Schneeflocken fielen leise und dicht in der hereinbrechenden Dämmerung und hatten bereits die entblätterten Bäume, die Beete und Kieswege mit einer weißen, dünnen Schicht überdeckt; der Gang von Weinlaub indessen, welcher sich an der Mauer entlang nach dem Hause zog, zeigte noch den vollen Schmuck seiner Blätter, und hierher wandte sich der Eingetretene mit einigen raschen Schritten, als wolle er sich gegen jeden zufälligen Blick aus der Umgebung decken. Als er, hinter der Laubwand fortschreitend, die Nähe des Hauses erreicht, da wo sich die Weinranken emporwanden, um die beiden nächsten Fenster des obersten Stocks zu umschlingen, hob er zwei kleine Steinchen von dem geschützten Boden auf und ließ sie durch die nächste Lücke des Laubes hinauf nach den Scheiben fliegen. Der dadurch hervorgebrachte Laut war kaum hörbar gewesen, dennoch antwortete nach Kurzem ein leises Klopfen gegen eines der Fenster. Der junge Mann stand lauschend, mit den Augen die übrigen Fenster, die dem Corridor des obern Stocks Licht gaben, überfliegend. Bald ward behutsam die vom Hause nach dem Garten führende Thür geöffnet, und nach einem vorsichtigen Blicke heraus huschte eine feine Mädchengestalt aus dem sich zunächst bietenden Wege nach dem Weinlaubgange hinüber. Im gleichen Augenblicke meinte der Lauschende eine dunkele Gestalt an einem der Corridorfenster zu bemerken; die Dämmerung wie der fallende Schnee ließen ihn aber kaum unterscheiden, ob er recht gesehen, und in der nächsten Secunde streckten sich ihm die beiden Hände des Mädchens entgegen. „Sieh, Fritz, ob ich nicht fest an Dir halte, trotz aller Hindernisse und Gefahr!“ sagte sie halblaut und mit fliegendem Athem.

Der junge Römer hatte in voller Inbrunst Helene’s Hände gefaßt. „Ach, ich weiß es, Du bist mein starkes Mädchen geworden,“ versetzte er mit einer Stimme, die wie unter Bewunderung und Rührung zitterte, „und ich -– ich kann so wenig thun! Ist es denn wahr, was ich schon in der Stadt gehört,“ fuhr er erregt fort, „daß Deine Verlobung mit Meßner erfolgen soll, sobald seine Ernennung zum Regierungsrath da ist? Sieh, Helene, jetzt vermöchte ich es doch nicht mehr zu ertragen!“

„Ich weiß nichts davon, und die Stadt ist immer besser unterrichtet als wir selbst,“ erwiderte sie, ihre Finger fest um die seinen schließend; „vielleicht glaubt der Vater mich zwingen zu können, wenn Alles seinen Willen nachspricht; aber,“ fuhr sie, den Kopf hebend, fort, während in dem milden Rehauge ein leuchtender Strahl voll Energie aufblitzte, „ich habe Dir gesagt, Fritz, daß ich mich nicht zwingen lasse. Ich hätte vielleicht nicht die Kraft zum Widerstande gefunden, wenn nicht die Sache mit Hugo gekommen wäre, wo ich erkannte, daß der Vater kein anderes Gefühl kennt, als für sich selbst, wenn Du nicht offen an mich herangetreten wärest, daß ich völlig klar über mich selbst wurde – jetzt aber sei ruhig, Fritz, er zwingt mich nicht, und das habe ich auch schon der Großmutter klar und bestimmt gesagt. Was nachher kommen wird, überlassen wir dem lieben Gott; ich weiß, daß Du [499] nicht mehr thun kannst, als fest an dein Worte halten, das wir uns gegeben!“

Sie standen Beide Aug’ in Auge, die Hände eng in einander verschlungen, ohne Worte und doch in dem schweigenden in einander Versunkensein beredter, als es Worte hätten ausdrücken können – da tönte ein harter Tritt neben ihnen, und erschrocken fuhr Römer empor. Er blickte in das feste, zornig leuchtende Auge des Geheimraths.

„Ich glaube nicht, Herr Römer, daß Ihr Weg hierher durch mein Haus geführt hat,“ begann dieser kalt und scharf, „indessen ersparen Sie mir durch Ihre Gegenwart die Mühe einer Zuschrift. Geh’ in Dein Zimmer, Helene!“ wandte er sich in dem Tone eines bestimmten Befehls nach dem Mädchen.

Helene’s Ueberraschung hatte sich nur durch ein kurzes Aufzucken verrathen, dann aber war ihr Auge groß und unverwandt auf dem Sprechenden haften geblieben. Die verschlungenen Hände des Paars hatten sich unwillkürlich gelöst, aber um so fester umschloß jetzt ihre Rechte, die an ihrer Seite hinabgesunkene Linke des jungen Mannes, als wolle sie es sein, die ihn halten und schützen werde. „Vater, ich habe Herrn Römer eingeladen, mich hier zu sprechen,“ sagte sie mit völlig gemäßigter Stimme, wenn sie auch ein leises Beben der Erregung darin nicht unterdrücken zu können schien, „und Du wirst mich nicht bloßstellen und wegschicken wollen, wie ein kleines Kind – ich glaube vertreten zu können, was ich gethan!“

Zedwitz warf einen schnellen Blick, wie überrascht von ihrer Redeweise, auf das Mädchen und sagte dann finster: „Gut, so magst Du selbst hören, was ich diesem Herrn hier zu sagen habe.“ Und sich mit steifer, eisiger Miene gegen den jungen Kaufmann wendend, fuhr er fort: „Ich glaube, Herr Römer, Ihnen bereits so deutlich ausgedrückt zu haben, wie es unter gebildeten Menschen Sitte ist, daß ich Ihre Besuche in meinem Hause nicht wünsche, und meine, ich hätte Ihnen auch die darauf bezüglichen Gründe deutlich genug angedeutet. Für einen Mann vom einfachsten Ehrgefühl wäre dies hinreichend gewesen, um ihn wenigstens den Bereich meiner Wohnung meiden zu lassen. Sie aber scheinen darin anderer Ansicht zu sein, und so zwingen Sie mich, Ihnen zu sagen, daß ich jedem ähnlichen Versuche zur Bethörung eines jungen Mädchens, das noch kein eigenes Urtheil über das, was seiner Zukunft frommt, haben kann, so begegnen werde, wie ich es jedem gewaltsamen Eindringling in mein Haus gegenüber thun würde!“

Römer war geisterhaft bleich geworden, auf seinen Lippen zuckte eine Entgegnung, die nur des Endes der Rede zu warten schien; Helene aber drückte wie besänftigend seine Hand und trat einen Fuß breit vor, als wolle sie ihn gegen jedes harte Wort decken.

„Und was denn dann, Vater, wenn Du nun so weit gehst?“ sagte sie ruhig, kaum daß Zedwitz geendet. „Du selbst hast mich gezwungen, ihn außer dem Hause zu sehen; nun wirst Du mich je härter Du bist, immer weiter treiben, denn wir haben uns das Wort gegeben, nicht von einander zu lassen. Du hast die Mutter von Dir gestoßen, bis Gott sie erlöst, Du hast Hugo verstoßen, der nichts verbrochen, bald wirst Du wohl auch mich verstoßen – warum hast Du denn nur Deinen harten Willen, Vater,“ fuhr sie fort, und es klang, als dränge sie die plötzlich aufsteigenden Thränen zurück, „und nicht auch ein Theilchen Liebe für uns, die Dich so lieb haben möchten, wenn sie nur dürften –?“

Es war ein seltsamer, unheimlicher Ausdruck, der während der letzten Worte in das Gesicht des Geheimraths getreten war. Er legte die linke Hand um den Arm der Tochter, daß diese unter seinem Griffe zuckte, und wies mit der rechten gebieterisch nach der Gartenpforte. „Gehen Sie, Herr!“ rief er, „damit ich mich nicht vergesse; mit dieser hier will ich dann fertig werden!“ Römer aber, wie in einer plötzlichen Angst sich selbst vergessend, wandte sich ihm nur näher.

„So kann ich nicht gehen, Herr Geheimrath,“ erwiderte er, „thun Sie mir mir nach Ihrem Belieben, aber geben Sie Helenen frei, die ich nicht so zurücklassen kann!“

Die nächste Bewegung des alten Beamten wurde durch eine Hand unterbrochen, die sich plötzlich auf seinen Arm legte. Die Großmutter stand neben der Gruppe. „Lassen Sie mich dies ordnen, Herr Sohn, wenn Sie nicht noch ein Stadtgespräch haben wollen,“ sagte sie bestimmt und legte zugleich ihren Arm um das Mädchen, das sich bei ihrem ersten Laute in krampfhaft ausbrechendem Weinen an ihre Brust geworfen hatte. „Sie, Herr Römer, versprechen mit Ihrem Worte als Ehrenmann, daß Sie nie und unter keinen Umständen mit unserer Helene wieder heimlich zusammentreffen wollen; dagegen verspreche ich Ihnen, daß sie zu keiner Verbindung gezwungen werden soll, gegen welche sie sich sträubt!“

Sie hielt dem jungen Manne gerade ausgestreckt die kleine magere Hand entgegen, und dieser erfaßte sie, wie in plötzlicher innerer Bewegung seine Lippe darauf drückend. „Ich verspreche es!“ sagte er mit halber Stimme.

„So verlassen Sie uns also, Herr Römer – und Du, Kind, gehst nach Deinem Zimmer.“

Das Mädchen schnellte von der Brust der Sprecherin auf, nach der Hand des jungen Mannes fassend. „Leb wohl, Fritz!“ rief sie, „und was auch kommen mag – unser Wort gilt!“ Dann drehte sie sich entschlossen weg und schritt rasch, ohne zurück zu blicken, dem Hause zu. Römer verneigte sich in trübem Schweigen gegen die Zurückgebliebenen und wandte sich nach der Pforte, die ihn eingelassen und sich jetzt bald hinter ihm schloß.

Zedwitz hatte in starrer Unbeweglichkeit die kurze Scene an sich vorübergehen lassen und rührte sich auch nicht, als die alte Dame sich jetzt nach ihm wandte. „Ich habe versprochen, daß das Kind zu keiner Heirath gezwungen wird,“ sagte sie in mildem Tone. „Sie werden mein Wort nicht zu Schanden werden lassen, Herr Sohn!“

„Ich glaube meine Handlungen selbst bestimmen zu dürfen,“ erwiderte er, und seine Stimme klang heiser, wie unter einer zurückgehaltenen Erregung; „die augenblickliche Rücksicht aber, die ich auf Ihr Erscheinen genommen, legt hoffentlich mir selbst keine Verpflichtung auf!“

„So sage ich Ihnen,“ versetzte sie den Kopf hebend, während ein leises Roth innerer Bewegung in die feinen welken Züge trat, „daß Sie mit eigener Hand Ast um Ast mit all dem blühenden Leben daran, das Gott zu Ihrem Segen geschaffen, von Ihrem Lebensbaume brechen, daß Sie dastehen werden in Ihrer Einsamkeit ein kahler, schutzloser Stamm, der nicht einmal das Mitgefühl wird ansprechen dürfen. Denn Gott in seiner Weisheit hat die elterliche Liebe zur Controle der elterlichen Macht geschaffen, damit diese nicht zur Tyrannei werde, und wer kein Herz für das eigene Kind hat, von dem wendet sich wieder jedes Herz als einem ungerechten Gewalthaber –“

Ein rascher Schritt des Geheimraths, der diesen ihr dicht gegenüber brachte, unterbrach ihre Worte. „Und wer sagt Ihnen, alte Frau,“ begann er langsam, als überwinde er mühsam einen innern Druck, „daß nicht in mir die Liebe zu meinen Kindern stärker und mächtiger lebt, als in alle den weichen, schwachen Weiberherzen, die dem Kinde ein spitzes Messer in die Hand geben, nur weil es danach verlangt?“

Sie standen Beide zwei Secunden schweigend Auge in Auge. „So möge Gott diese Liebe aus ihrem ummauerten Grabe auferstehen und an’s Licht treten lassen, ehe es zu spät ist!“ erwiderte sie dann fast feierlich und wandte sich mit geneigtem Kopfe langsam dem Hause zu.

Zedwitz sah ihr einen Moment mit zuckenden Augenbrauen nach, dann ging er in seinem gewöhnlichen festen Schritte nach der Pforte in der Mauer und schob dort die Riegel vor. –

Während dieser ganzen Scene hatte in dem Empfangzimmer der Großmutter ein wunderliches Gespräch stattgefunden.

Meßner hatte sich auf Marie’s Einladung dieser gegenüber niedergelassen, aber seine Augen konnten es nicht verbergen, daß seine Seele völlig auf der Wache war, als sei er des Friedens, der sich in dem ruhigen Lächeln des Märchens spiegelte, nicht sicher.

„Könnten Sie mir wohl eine Gewissensfrage mit Vertrauen beantworten, Herr Director?“ fragte Marie jetzt, nach einer seitwärts liegenden Arbeit greifend, während um ihren Mund wieder der frühere Zug leichter Schalkhaftigkeit spielte.

„Eine Gewissensfrage – und mit Vertrauen?“ erwiderte Meßner, seine Mienen zu einer Art komischer Bedenklichkeit verziehend, „das sind zwei inhaltsschwere Worte auf einmal. Wollen Sie mir nicht erst sagen, Fräulein, wo ich dieses gewünschte Vertrauen hätte erlangen können?“

„Ei, wäre denn dieses Wort zum ersten Male zwischen uns gefallen?“ erwiderte sie, leicht von ihrer Arbeit aufsehend, und vor ihrem klaren Auge, das seinen Blick voll in sich aufnahm, trat ein schwaches Roth in sein Gesicht.

[500] „Und wenn es früher auch gefallen wäre,“ erwiderte er, augenscheinlich unsicher, wie ihr Verhalten gegen ihn zu deuten, „sind denn während dem nicht alle Bedingungen dafür zerstört worden?“

Sie blickte ihn einen Moment in ruhigem Ernste an. „Sie haben Recht, und ich habe es oft aufrichtig bedauert,“ versetzte sie, „dennoch möchte ich Ihnen meine Frage gern vorlegen.“

„Sagen Sie nur offen, Fräulein Marie, und ich werde Ihnen glauben,“ entgegnete er nach einer kurzen Pause, in welcher er einen forschenden Blick in das Gesicht des Mädchens geworfen, „gedenken Sie ernst mit mir zu reden, oder mich in gewöhnlicher Weise als bequemen Gegenstand für Ihre Satire zu betrachten?“

Sie schüttelte mit einem unwillkürlichen Lächeln den Kopf. „Sie sind nie ein Gegenstand meiner Satire gewesen,“ versetzte sie, „nur vielleicht Ihre gelegentlichen Worte und Handlungen, von denen ich doch einigermaßen beurtheilen konnte, wie wenig sie in Ihrem eigentlichen Wesen wurzelten – oder soll ich annehmen, Herr Meßner,“ fuhr sie plötzlich ernst werdend fort, „Ihre frühere Weise, sich zu geben, sei die unwahre gewesen?“

Er rückte unter ihrem Blicke unbehaglich auf seinem Stuhle. „Sie beginnen Ihre eigenthümlichen Räthsel wieder, Fräulein,“ sagte er, „und so dürften wir wohl kaum zu Ihrer Frage gelangen.“

„Gut, Herr Director, hier ist sie,“ erwiderte sie rasch, „und nun zeigen Sie mir, wo ich die Wahrheit bei Ihnen suchen soll! – Lieben Sie denn meine Schwester wirklich,“ fuhr sie halblaut, aber mit voller Betonung der einzelnen Worte fort, „daß Sie trotz aller Umstände, die Sie kennen müssen, auf einer Verbindung mit ihr bestehen? Helene ist in vieler Beziehung noch ein halbes Kind, das Ihnen doch geistig kaum genügen kann; dazu werden Sie wissen, daß sie durch eine andere Neigung gefesselt wird und daß, wenn der Vater durch einen Zwang Ihren Wünschen nachkäme, sie Ihnen nichts als eine zerbrochene Jugend und ein feindseliges Herz zubringen könnte!“

Meßner hatte bei den ersten Worten der Frage wie in einer plötzlichen peinlichen Empfindung den Kopf gehoben, auf seinen Lippen zuckte die Absicht zu einem raschen Unterbrechen der Sprecherin, aber der große, offene Blick des Mädchens schien ihn in der Ausführung zu lahmen.

„Lassen Sie mich Ihnen noch zwei Worte sagen und dann reden Sie so ohne Rückhalt, wie ich,“ fuhr sie fort, seine Antwort mit einer ernsten Neigung ihres Kopfes zurückbannend. „Sie suchen eine Frau, durch deren Familien Verbindungen Sie die nöthige Unterstützung zu einer raschen Carriere erhalten; Sie haben gesehen, daß der Einfluß unseres Vaters bereits seine Wirkung für Sie erprobt hat, und so wollen Sie Ihre Beziehung zu ihm festknüpfen. Warum denn nun aber deshalb den Frieden eines jungen Mädchens zerstören und damit vielleicht eine Vergeltung in Ihrem häuslichen Leben heraufbeschwören, die jeden erreichten äußerlichen Vortheil überwiegt? Giebt es denn nicht andere Persönlichkeiten, die Ihnen schon jetzt aufrichtig ergeben sind und Ihren Zwecken, welche Sie jetzt durch eine Heirath fördern wollen, völlig genügen würden?“

Es war ein wunderbar eindringlicher Blick, der jetzt auf dem Schulmanne ruhte. Dieser hatte mit leicht zusammengepreßten Lippen, als ergebe er sich in das Unvermeidliche, die Worte hingenommen. Bei der letzten Frage aber hob er in sichtlicher Verwunderung langsam den Kopf, und als er Marie’s hellem Auge begegnete, ging es wie eine plötzlich aufsteigende Vermuthung durch seine Züge, die auf’s Neue ein leichtes Roth in seine Wangen trieb. „Und wollten Sie mir eine solche Persönlichkeit nennen, die mir so aufrichtig ergeben ist, daß sie an Helene’s Stelle treten würde?“ fragte er langsam, während sein Blick sich in eigenthümlicher Spannung aus ihr Gesicht heftete; fast schien aber der Ausdruck seines Auges, sowie die hörbare Bedeutung, welche der Sprechende in seine Frage legte, das Mädchen zu befremden.

„Ich meine die Großmutter,“ sagte sie, „die sicher in irgend einer Weise für Ihr Interesse wirken würde –“

„Die Großmutter –!“ wiederholte er, wie einen Augenblick völlig verblüfft; dann aber blitzte sein Auge in tiefem Unmuth auf, und er erhob sich rasch. „Ich wußte es ja, daß Alles nur auf eine neue Verhöhnung ausgehen würde!“

Marie schien einen Augenblick über die Wirkung ihrer Worte betroffen, dann aber brach sie plötzlich, wie zu einem Verständniß kommend, in ein klingendes Lachen aus. „Halt, Herr Director!“ rief sie, gleichfalls ihren Sitz verlassend, „das ist ein Mißverständniß; zur Frau habe ich Ihnen wahrlich die Großmutter nicht empfehlen wollen – und,“ fuhr sie fort, während sie unwillkürlich, wie um sein Gehen zu hindern, die Hand auf seinen Arm legte, „ich bitte Sie, mein aufrichtiges Wort zu nehmen, daß ich nicht daran gedacht, Sie in irgend einer Weise zu beleidigen.“

Er kehrte sich nur halb nach ihr. „Sie haben mich nicht beleidigen wollen,“ sagte er finster; „wer war es denn aber, die mir systematisch das Haus Ihres Herrn Vaters zu verleiden suchte, die für jedes meiner Worte einen Stachel und für jede meiner Handlungen eine höhnische Auslegung hatte? – Ja wohl,“ fuhr er erregter fort, sich voll nach ihr wendend, „es gab eine kurze Zeit, Fräulein, wo das Wort Vertrauen zwischen uns fiel, wo ich in Ihrer Seele zu lesen glaubte, wo sich Gedanken in mir bildeten, die sich in Ihnen selbst wiederzuspiegeln schienen – was hat Ihnen denn jetzt das Recht gegeben, einen Mann, der einem Weibe gegenüber keine Waffe hat, zum Spielzeug Ihrer Laune, zum Opfer Ihrer Zunge zu machen, sich als eine Feindin mir gegenüber zu stellen, der ich niemals etwas zu Leid gethan?“


(Fortsetzung folgt.)



Ein Pirschgang auf Elephanten in den östlichen Hängen des Felsengebirges von Abyssinien.

Bruchstück aus einem Briefe Sr. Hoheit des Herzogs Ernst von Coburg an einen Bekannten.


Wenn der Jagd- und Naturfreund die Ueberschrift sieht, so schüttelt er wohl erstaunt mit dem Kopfe und kann vielleicht den Ausruf nicht unterdrücken: Wie kommen Elephanten in die Felsengebirge? – und trotzdem sind sie da. Es ist eine Eigenthümlichkeit jenes großen Gebirgsstocks, der sich gen Osten bis beinahe dicht an das rothe Meer zieht, nach Norden von den großen Wüstenstrecken der Habab begrenzt wird, nach Westen in die Niederungen der Barka ausläuft und nur nach Süden mit den Gebirgsländern von Hamassen zusammenhängt, daß er in einem regelmäßigen Turnus von Elephantenheerden besucht wird. Diese bevölkern aber nicht, wie es wahrscheinlicher wäre, die Thäler und Hochebenen, sondern nehmen hauptsächlich an den höchsten und rauhesten Gebirgsabhängen ihren temporären Aufenthalt.

Drei bis vier Mal im Jahre wechseln sie ihre Stände und stehen sehr wahrscheinlich mit der großen Menge jener Thiere in Verbindung, welche in den niedern Gegenden Central-Afrika’s ähnlich herumwandern und sich, nach den Berichten Vogel’s und der wenigen mit ihm in jene Länder vorgedrungenen Europäer, zu Herren derselben gemacht haben.

Die Gebirge, von denen die Rede ist, bestehen zum großen Theil aus grobkörnigem Granit und Glimmerschiefer und erheben sich bis zu einer Höhe von ungefähr 9000 Fuß. Eine dichte Vegetation bedeckt sie, welche nach der Höhe des Standpunktes fortwährend wechselt und an den obersten Spitzen sogar europäische Sträucher und Pflanzen hervorbringt. Die Tropenvegetation, von der hier die Rede ist, ist jedoch nicht zu verwechseln mit der von Amerika und Asien, denn sie trägt einen ganz anderen Charakter. Dem äußern Anschein nach könnte dieses Gebirge mit einem Theil von Oberösterreich und vielleicht mit den bairischen Alpen verglichen werden. Bis auf den Gefrierpunkt soll der Thermometer nie herabsinken, und sogar auf den höchsten Höhen empfindet man die Strahlen der glühendsten Sonne jener Zone. Zwei Sommer und zwei Winter bringt jedes Jahr, und Gewitter erfrischen das ganze Jahr hindurch die Luft.

Schon als wir den zweiten Tagemarsch, das enge Mensathal verfolgend, die Samhara im Rücken hatten, wurden zum allgemeinen Erstaunen die ersten Spuren eines Elephanten gefunden und zwar dessen Losung. Die Augen der eifrigen Nimrods leuchteten, und so groß auch die Freude war, so stieg doch in einem Jeden von uns der Zweifel auf, ob wir nicht einer Täuschung unterlägen

[501]

Auf der Elephantenjagd in Abyssinien.
Nach der Natur aufgenommen von Robert Kretschmer.

[502] – denn wie sollten, nach unserer Ansicht, Elephanten in diese Gegend kommen? – Beim weiteren Vorrücken trat jedoch Gewißheit über die Erscheinung ein. Ueberall lagen Zweige und junge Bäume geknickt umher, und sogar einige Fährten wurden im lehmigen Sandboden gefunden.

Als wir am dritten Tagmarsch jedoch die Mensahochebene betraten, verloren wir jene Spuren wieder, und es erschien uns wahrscheinlich, daß nur eine Abtheilung Elephanten quer das Mensathal überschritten habe. – Da wir mehrere Tage in Mensa verweilten und die näher liegenden Gebirge mit unermüdlichem Eifer pirschend durchstreiften, so wurden wir bald mit den Eigenthümlichkeiten oben erwähnter Elephantenzüge bekannt. Auch versicherten uns Eingeborene, daß in wenig Wochen jene merkwürdigen Thiere in der nächsten Nähe von Mensa selbst einen kurzen Aufenthalt nehmen würden. Genauere Nachrichten waren nicht zu erlangen, da sich kein eigentlicher Elephantenjäger in jener Gegend auftreiben ließ und die spärliche Bogosbevölkerung im Allgemeinen sich nicht mit Jagd abgiebt. Erst als wir Mensa verlassen und den Aimsaba überschritten hatten, trafen wir durch Zufall in Keren einen Elephantenjäger, der sich uns nur aus dem Grunde anschloß, um unseren in Mensa zurückgebliebenen Arzt über ein langjähriges Leiden zu consultiren. Diesem Zufall allein verdankten wir die Möglichkeit, mit jenen Ungeheuern in nähere Berührung zu kommen.

Nach Mensa zurückgekehrt, erhielt S. von mir den bestimmten Auftrag, die weiteren und ihm bekannten Gebirge zu durchsuchen, um über den jetzigen Aufenthalt der Elephanten womöglich Kunde zu erlangen. Bald kehrte er mit der freudigen Nachricht zurück, in der Entfernung von wenigen Meilen, an den steilen Hängen des Beit Shakhan, eines der höchsten Berge dieser Gegend, drei Trupps Elephanten gesehen zu haben, welche, sich ruhig äßend, wohl schwerlich die Gegend sobald verlassen dürften. Sofort wurde ein Jagdzug beschlossen. Meine Wenigkeit, mein Neffe Hermann S. und mein deutscher Jäger sollten den Vortrab bilden, um die Stellung der Elephanten auszumachen und darnach den Plan zum Angriff zu entwerfen. Mein zweiter Neffe, Eduard, mit dem englischen Consul, dem holländischen Baron und einem zweiten Elephantenjäger, den wir jetzt zufällig unter den Maulthierführern entdeckten, sollten uns etwas später folgen und an einem bestimmten Punkt mit uns zusammentreffen. Einige Lebensmittel nahm einer unserer deutschen Diener und ein Eingeborener auf ihren Rücken. Die übrige Gesellschaft der Jäger war theilweise unwohl, theilweise trauten sie nicht dem zweilfelhaften Unternehmen.

Um drei Uhr Morgens, beim herrlichsten Mondschein, brachen wir auf und stiegen ununterbrochen, nur einzelnen Wild- oder Elephantensteigen folgend, bis gegen neun Uhr aufwärts. Wir mußten die das Mensathal begrenzenden Berge überschreiten, um eine andere Gebirgskette zu erreichen. Nach einem kurzen Halt gewannen wir noch am Mittag die Höhen des Beit Shakhan, wahrscheinlich die Spitze des Merraraberges, die wir zwischen 8- und 9000 Fuß schätzten. Von hier aus wollte S. die Elephanten gesehen haben. Die Aussicht war allerdings weit genug. Ein Panorama lag vor uns, wie ich es nur an wenig Orten Tyrols und der Schweiz getroffen habe. Ein unabsehbares Meer grüner und brauner Berge in den schönsten und weichsten Formen, und doch auch wieder scharf gezeichnete Felsspitzen in pittoresken Gestalten vorstreckend, bot sich unseren Blicken im wunderbarsten Gemisch. In weiter Ferne nach Osten bezeichnete ein goldener Streif die Fluthen des rothen Meeres, nach allen übrigen Himmelsrichtungen reihten sich Gebirge an Gebirge, meist von gleicher Höhe. Wenn auch keine Elephanten getroffen werden sollten, so war das schwierige Besteigen jener Alpen schon hinreichend durch die unbeschreibliche Aussicht belohnt, deren wir uns hier zu erfreuen hatten. Ein kleiner Imbiß stärkte sowohl uns, als die jetzt mit uns vereinigten Freunde. Die Sonne war glühend, dennoch erfrischte uns ein kühler Luftzug, und ausgestreckt im hohen Gras, schwelgten wir in den Genüssen der Natur.

Da trotz des schärfsten Beobachtens mit unsern besten Gläsern nirgends an den Abhängen jene grauen Ungethüme zu entdecken waren, und ich schon stark zu zweifeln begann, ob nicht die ganze Erscheinung der Elephanten vielleicht eine Mythe sei, so schickte ich mißmuthig die beiden Elephantenjäger ab, um an tiefer liegenden Felshängen, die wir vermöge der Schatten und der eigenthümlichen Verschiebung der dortigen Gebirgsformation nicht gut übersehen konnten, nach unserem Wild zu forschen. Auf ein verabredetes Zeichen sollten wir dann der Richtung, welche die Jäger genommen hatten, folgen.

Es mochte wohl zwischen 2 und 3 Uhr sein, als ein für uns kaum hörbarer Ton das Ohr des uns begleitenden jungen Eingebornen traf. Wie eine Schlange schnellte die nackte schwarze Gestalt aus dem Gras empor, und die heftigste, sich in den wunderlichsten Gesten kundgebende Aufregung bewies uns, daß ein Zeichen von unten gegeben sei. Rasch wiederholte er einen pfeifend gellenden Schrei, der nun auch, von der leichten Alpenluft getragen, aus einem fernen, abgrundähnlichen Thalkessel zu unseren Ohren heraufdrang.

Wie mit einem Zauberschlag sprangen auch wir jetzt auf die Füße und griffen zu unseren Büchsen. Die reizende Aussicht war, wie die Müdigkeit, für uns verschwunden, die Sonnenstrahlen erschienen nicht mehr heiß, und ohne weiter zu überlegen, was eigentlich geschehen solle und was das Zeichen bedeute, trabte die ganze Gesellschaft über Steinblöcke und durch Dick und Dünn der Tiefe zu, aus der in abwechselnden Zwischenräumen das schon vorher gehörte Zeichen wiederholt wurde.

Der junge Mensaner, mit Schild und Speer an der Spitze, führte den Zug, und da ihn weder Kleidung noch seine Corpulenz am Laufen hinderten, so fiel er in ein wahrhaft gefährliches Tempo, für das nur die jüngsten Beine geschaffen zu sein schienen. Der englische Consul und unser deutscher Provisionsträger blieben bald zurück. Wir Uebrigen hielten aber, wie eine gute Meute Hunde, zusammen. Erst nach anderthalb Stunden trafen wir die beiden Elephantenjäger. Nur einige Hundert Schritt folgten wir ihnen und sahen schon, zum allgemeinen Entzücken, auf der gegenüber liegenden Bergwand, zwischen dem Gestrüpp und unter alten Enphorbienbäumen, Elephanten ruhig ihr Diner verspeisen. Auch in weiterer Entfernung gewahrten wir mit dem Glas einen größeren Trupp Elephanten an einem anderen Bergeshang.

Hier hätte nun ein Kriegsrath gehalten werden müssen, um, wie verabredet, vorher die Jagd zu besprechen. Hierzu ließen uns die aufgeregten Eingeborenen aber keine Zeit. S. ergriff mich beim Arm, schüttelte mich, als ob es gälte, Aepfel von einem Baume zu schütteln, wies mit grimmigen Geberden auf die unten äßenden Elephanten und riß mich mit sich fort. Hermann und mein Jäger folgten, während der andere Wilde Eduard und den Baron aufhielt, um in einer andern Richtung mit ihnen zu verschwinden. Wir konnten nur so viel entnehmen, daß die Jäger beabsichtigten, mich und Hermann pirschend an einen Elephanten zu bringen, während die anderen Herren an einem sicheren und gezwungenen Wechsel aufgestellt werden sollten. Später bewies sich meine Annahme als richtig.

Vorwärts ging es nun wieder in vollem Lauf durch Aloe, Cactus und Mimosen. Bald waren die ohnehin defecten Hemden und Beinkleider zerrissen, und die glühende Sonnenhitze badete uns im Schweiß. Mit einem Male hielt der Jäger an, schnitt mir ein wüthendes Gesicht und klopfte mit dem Lauf seiner riesigen Muskete auf meine Schuhe. Sein Wunsch war augenscheinlich der, von jetzt an die Pirsche – wie er ging, barfuß fortzusetzen. Aus meinen ebenso grimmigen Mienen und bezeichnenden Gestikulationen mochte er jedoch wohl entnehmen, daß die Sohlen unserer Füße nicht, wie die seinen, für Dornen und scharfe Steine geschaffen seien, und weiter ging es, eine Lehne hinab, durch einen ausgetrockneten Sturzbach hindurch und drüben einen steilen Graben hinauf. Wir folgten genau, in dem sonst undurchdringlichen Dickicht, den Windungen der kleinen Pfade, welchen die Ungethüme, sich vor uns äßend, augenblicklich getreten hatten. Noch eine Weile, und wiederum ging es eine Wand hinunter, und in langen Sätzen wollten wir eben die Felsen eines zweiten Sturzbaches überschreiten, als wir auf fünfzig Schritt vier Elephanten unter uns denselben Bach kreuzen sahen. Athemlos hielt Alles still. Ich riß meine Büchse an die Backen und wollte eben den größten der Elephanten auf’s Korn nehmen. Da fiel mir der Jäger in den Arm und machte solche furchtbare Grimassen, daß ich nicht anders glauben konnte, als er halte es noch für zu weit.

Die Elephanten, welche schlecht äugen, gingen unter uns vorüber. Kaum waren sie aber aus der entgegengesetzten Wand verschwunden, als das Rennen unmittelbar auf ihrer Fährte wieder begann. Hiernach schien es die Absicht des Jägers zu sein, die Thiere einzuholen und mit den letzten auf wenige Schritte zusammen zu kommen. Die Leidenschaft hatte uns Alle erfaßt und jeglicher [503] Ueberlegung der drohenden Gefahr, in der wir uns befanden, beraubt. Kaum mögen acht Minuten vergangen gewesen sein, als wir, der vermeintlichen abwärts führenden Spur in langen Sprüngen von Fels zu Fels folgend, mit dem vordersten der Elephanten auf drei Schritt zusammentrafen. Die Thiere hatten einen auf uns zurück führenden Pfad eingeschlagen. Noch einen Schritt weiter, und wir wären sämmtlich verloren und zu Brei getreten gewesen.

Mit kühner Geistesgegenwart erfaßte der Jäger den Augenblick, und indem er einen gellenden Schrei ausstieß, stürzte er sich – gleich wie der Schwimmer von einem Springbret in das Wasser – von dem erhöhten Standpunkte etwa zehn Fuß tief in ein wildes Cactusdickicht hinein. Zum Besinnen hatten wir auch keine Zeit und machten fast instinctmäßig, den sicheren Tod vor Augen, das Manöver nach. Auf das Furchtbarste zugerichtet, drückten wir uns, wie ein Kitt Hühner unter einer Krautstaude, hinter einen Granitblock. Die Elephanten hatten, durch die wunderbare Erscheinung erschreckt, selber eine Bewegung halbrechts gemacht, dergestalt, daß sie uns schräg abwärts, in einer Entfernung von vielleicht zehn bis fünfzehn Schritt, jedoch ohne im Geringsten flüchtig zu sein, die Flanke zeigten.

Der Augenblick zum Handeln war gekommen. Der Jäger, Hermann und ich waren mit einem Sprunge beinahe zu gleicher Zeit auf dem Felsen, der uns gerettet, die Büchsen flogen an die Backen, und vier Spitzkugeln bohrten sich hinter das riesige Gehör des Ungethüms, Der Elephant war tödtlich getroffen. Er hielt an und stieß jenen durch Gordon Cumming so wohl beschriebenen Schmerzenston ans, und wäre die Lage nicht so mißlich gewesen, so hätten wir ruhig sein Verenden abwarten können. Hier galt es aber augenblickliche Vernichtung, und mit Büchsen à la Lefaucheur bewaffnet, ward es uns eine Leichtigkeit, in wenigen Minuten gegen vierzehn Kugeln dem schon wankenden Koloß hinter Blatt und Gehör zu senden.

Ein zweiter Elephant, durch das Schießen beunruhigt, kreuzte den Verwundeten. Auch er erhielt von Hermann eine Kugel auf das Blatt, welche ihm ebenfalls jenen Schmerzensschrei entlockte, aber nur dazu zu dienen schien, seine Flucht zu beschleunigen. Unser erstes Opfer schwankte noch einige Male, indem es sich langsam herumdrehte, hin und her. Da erhielt es aus der Muskete unseres Jägers, die vorher fünf Mal versagt hatte, den letzten Gnadenschuß durch’s Herz. Das Thier stürzte mit einem furchtbaren Getöse und rollte – wie ein Hase auf einem gefrorenen Abhang – die Bergwand wohl 500 Schritt hinunter, Bäume und Felsen vor sich her wälzend. – Die Straße, die sein Körper beschrieben hatte, glich einem jener Lawinenstreifen, die man so oft im Hochgebirge auf der Gemsjagd antrifft. Mit einem Freudengeschrei jagten wir dem verendenden riesigen Thiere in den Abgrund nach, wo wir es tief unten, zwischen zwei Granitblöcken eingeklemmt, noch gewaltig mit seinen Füßen arbeitend, liegen sahen. Wir wären auch unvorsichtig genug gewesen, den letzten Felsenabhang augenblicklich hinabzuklettern, wenn uns nicht S. mit Gewalt daran verhindert hätte. Er zeigte zugleich auf einen herbeieilenden jungen Elephanten, der den Tod seiner Mutter zu rächen wohl hinlänglich Kraft besessen hätte.

Wir waren wieder in einer schwierigen Stellung, halb hängend, halb sitzend, halb liegend an der Felslehne; Hermann sogar auf einem isolirten Steinblock kauernd, von dem er wohl hinab, aber nicht wieder zu uns herauf konnte. Ich eröffnete das Feuer auf das jüngere Thier und brachte es mit den beiden ersten Kugeln, auf etwa zwanzig Schritt wohl auf’s Blatt gezielt, zum Niederknieen. Wüthend raffte es sich aber wieder auf und stürzte über Wurzeln und Felsblöcke gerade auf Hermann los. Zu seinem Glück befand sich dieser aber auf seinem precären Sitz zu hoch, um niedergerannt werden zu können, und gerade hoch genug, um die tödtliche Kugel dem Thier in den Schädel zu jagen, welches auch augenblicklich verendend zusammenbrach.

Die That war vollendet, die höchste Aufregung vorüber, und die letzten Strahlen der glühend untergehenden Sonne beschienen dieses wilde und für einen Waidmann hochentzückende Bild. In wenigen Minuten standen wir auf dem riesigen Leib des alten, indeß verendeten Elephanten, und Ermüdung und Anstrengung hatten uns beinahe sprachlos gemacht. Bald kamen auch Eduard und der Baron herbei. Sie hatten zu tief gestanden, und die übrigen Elephanten mochten wohl von ihnen Wind bekommen haben, denn auch in diesen Gebirgen, wie in den Alpen, zieht in der Sonne der Wind von unten nach oben. Was sollte nun geschehen? Die Dunkelheit brach plötzlich herein, wie es in den Tropen gewöhnlich ist; wo waren wir hingekommen, wo sollten wir Obdach, wo einen Tropfen Wasser finden? Endlich nach langem Suchen fand sich eine grüne Pfütze, aus der getrunken wurde, und auf einer Felswand ein kleines Plateau, auf dem wir die Nacht zubringen konnten. Die wenigen Lebensmittel, nur für ein Frühstück berechnet, wären bald verzehrt, und es galt nun ein Feuer, zum Schutz gegen die überall herumstreifenden Raubthiere, anzuzünden und Aeste abzuhauen, um ein provisorisches Lager herzustellen.

Wir waren eben damit beschäftigt, als wir zu unserem Schrecken den Deutschen vermißten, der etwas weniges Zwieback und unsere Röcke trug. Seit Nachmittag sollte er schon von unserer Spur abgekommen sein; was war aus ihm geworden? Schüsse wurden abgefeuert, die Eingeborenen abgesandt; es ward gerufen, geblasen, und erst später entdeckte ihn Einer der Leute durch einen reinen Zufall, wie er hinter einem Busch, von Hunger und Ermüdung erschöpft, fest schlief. Er wurde an’s Feuer gebracht, und nun erst war unsere Freude vollkommen, da die Sorge um jenen in solcher Wildniß vermißten armen Teufel keine geringe gewesen.

Ein schwerer Schlaf bemächtigte sich bald der glücklichen Jäger, aus dem sie erst durch den eisigen Thau und die ersten Strahlen der bald warm genug herunter brennenden Sonne geweckt wurden. Hungrig ward der Rückweg angetreten; aber so schnell auch am vergangenen Tag die Strecken zurückgelegt worden, so langsam schritten wir jetzt vorwärts und erreichten erst spät am Nachmittag wieder unser Lager in Mensa. – Doch was sind Ermüdungen und Entbehrungen gegen die Freuden eines solchen Jagdtages!




Ein Gang durch eine Zuckerfabrik.

Die Zuckerfabrikation hat in der neuesten Zeit einen bewundernswerthen Grad der Vollkommenheit erreicht und wenn Sie mich durch eine Zuckerfabrik begleiten, sollen Sie wirklich Wunder sehen.

Hier vor dem ansehnlichen Gebäude, das durch Einfachheit und Größe die Fabrik verräth, halten in langen Reihen die Wagen, die die Rüben aus den Miethen auf den Feldern heranfahren. Dort waren sie durch starke Bedeckung mit Erde vor Frost, durch geschickte Ventilation vor starker Erhitzung und Fäulniß geschützt. Auf Beides ist Rücksicht zu nehmen, denn die gefrorene Rübe giebt zähe, lange Säfte, die angefaulte ist zuckerärmer und steckt auch die gesunden Rüben an.

Die wohlerhaltenen Rüben wandern jetzt in den Rübensaal. Hier und da springt eine Rübe, die etwas hoch fiel, wie Glas in Stücke. Das sieht der Fabrikant gern, dies kurze, prallige Gewebe verräth Gesundheit und Reichthum. Drei Arbeiter tragen die Rüben in Körben zur Waschtrommel, die von Champannois den Namen führt. Ein langer, hohler Cylinder mit Lattenwänden dreht sich langsam in einem großen Kasten mit Wasser. In dem Cylinder ist eine Schraube, und diese befördert die oben eingeworfenen Rüben an’s andere Ende der Trommel. Hier erscheinen sie vollkommen von Erde und Schmutz gesäubert, und wir haben Gelegenheit die Rübe genauer zu betrachten. Wir haben gute Waare vor uns; die kurze, etwa 2 Pfund schwere Rübe ist fast ganz weiß, nur ein kleiner Theil des Kopfes ist gefärbt, und schnell läuft sie nach unten in eine Spitze aus. Dies sind Hauptvorzüge. Der gefärbte Theil der Rübe enthält fast keinen Zucker, er ist über der Erde gewachsen und muß weggeschnitten werden. Durch gehörig tiefe Ackerung erreicht man eine fast ganz in der Erde bleibende Rübe. Diese darf nicht die Form der Möhre haben, eher kann sie birnförmig sein, sie darf sich nicht theilen, denn in den Winkeln haftet die Erde sehr fest und birgt Steinchen, die nachher den Maschinen verderblich werden. Wollten wir die Rüben genau studiren, dann würden wir sehr bald auf den Gedanken kommen, daß diese so verschieden gestalteten Früchte wohl Glieder verschiedener Familien seien. Und so ist’s in der That, der Spielarten sind Legion, die aber von fünf Haupttypen sich ableiten lassen.

[504] Man unterscheidet diese als französische, Quedlinburger, schlesische, sibirische und Imperial-Rübe.

Der Rübensaal birgt weiter nichts. Große Haufen Rüben, die, wie sie kommen, so verschwinden, und die Waschtrommeln; die gewaschenen Rüben fallen in ein Faß der Danaiden. Aber wo bleiben sie? Wir öffnen eine kleine Thür und treten in einen Raum, in welchem unser Auge vergeblich nach einem Ruhepunkte sucht. Alles ist hier in Bewegung! Millionen der stärksten Schallwellen durchjagen die Luft, wir hören kaum unser eigen Wort. Rechts im Hintergründe dreht sich ein kolossales Schwungrad, das einer Maschine von 40 Pferdekräften angehört, die große Triebfeder alles dessen, was wir vor uns sehen, was hier mit unaufhaltsamer Eile sich abspinnt. Ueber hundert Hände regen sich in munterer Geschäftigkeit, und Alles strebt einem Ziele nach. Zwischen all dem Gebrause, Getöse, Klappern und Zischen hören wir die Töne eines Volkslieds, das, von Mädchen und Männern gesungen, den Takt angiebt, nach dem die Bleche klappern. Platz, ein Wagen! der führt uns auf unsere nächste Umgebung zurück.

Aus Eisenblech gefertigt wird er auf kleinen Rädern schnell fortgeschoben. Jetzt steht er, in einem Fenster erscheint ein Beamtengesicht, winkt, einige Rüben zu, einige zurück – gut! – der Wagen rollt von der Brückenwage und eilt fort. Die Rüben sind gewogen, genau 5 Centner wiegt man in solchem Kasten auf einmal, und der Steuerbeamte notirt die Zahl der Wagen und die Zeit, in der sie auf einander folgen. Er erlaubt uns einen Blick in sein Buch, alle 4 Minuten wägt er einen Wagen, in 24 Stunden 1400 Centner, gewiß eine schöne Zahl, die im Laufe eines Jahres zu der Summe von 250,000 Centnern heranwächst. Doch ehe die Rüben gewogen werden, hat man sie geköpft, sie fielen durch die Wand auf ein Caroussel, das sich langsam dreht, und an welchem etwa 10 Frauen mit einem Bret vor der Brust und einem langen scharfen Messer in der Hand stehen. Diese schneiden den gefärbten Kopf weg; ist derselbe nämlich auch nicht ganz zuckerleer, so enthält er doch so wenig Zucker, daß er die Steuer nicht tragen könnte. Ueberdies enthält er Gährungsstoff; er fällt und wird bei Seite geworfen.

Die versteuerten Rüben – sie haben zum großen Jammer der Fabrikanten 1/4 Thlr. à Ctr. gezahlt – fahren an die Reiben. Ein Cylinder, etwa 2 Fuß lang und von 1 Fuß Durchmesser, dreht sich etwa 1200 Mal in der Minute um sich selbst, er ist mit scharfen Sägeblättern dicht besetzt, so daß er allenfalls einem riesigen Igel gleicht. Ganz komisch sieht es aus, wie abwechselnd zwei Stücken Eisen, die an Gelenkstangen befestigt sind, diesem Cylinder Verbeugungen machen. Dabei nähern sie sich und entfernen sich und bei jeder Näherung fassen sie eine Rübe, auch wohl deren zwei und drücken sie gegen den Cylinder. Im Nu ist die Rübe zermalmt, verschwunden, nicht der kleinste Rest ist übrig geblieben, und der Poussoir (so heißt das Eisenstück) entfernt sich wieder. Das geht so riesig schnell, daß zwei Reiben sich nicht übereilen, um den ganzen Bedarf an Rübenbrei zu liefern. Dieser erscheint vorn als feine, breiige, weiße Masse – weiß aber nur auf Momente. Die Rübe, die lebendige Wurzel hält sich, bleibt unverändert, der Brei jedoch erliegt fast augenblicklich dem Einfluß der Luft, er wird röthlich, braunroth, endlich schwarz. Und mit diesem Farbenwechsel hält gleichen Schritt die Umwandlung des Zuckers; der Verlust lauert hier in jeder Secunde. Und doch will Alles seine Zeit haben; der Saft soll gewonnen werden!

Vor den Pressen steht ein langer eiserner Tisch, an diesem einander gegenüber sieben Paar Mädchen. Zwischen jedem Paar liegt ein Haufen eiserner Bleche, daneben große wollene Beutel. Die Mädchen fassen einen solchen Beutel, ein Knabe schüttet in den geöffneten ein kupfern Gefäß voll Brei, schnell ist dieser im Beutel vertheilt, der Beutel durch Umschlägen geschlossen, mit dem Mangelholz geebnet, und ein Arbeiter nimmt Blech und Beutel vom Tisch und schichtet sie in den hydraulischen Pressen. So schnell dies geht, so viel Brei 28 geübte Hände „packen“ können, es geht doch noch zu langsam. Verfolgen wir den Brei weiter. Ist eine der 10 hydraulischen Pressen gefüllt, so läßt man sie wirken. Erst geht die Platte schnell in die Höhe, der Stoß schwindet mehr und mehr, und der Saft fließt in Strömen ab. Ist dies eine Zeit lang so gegangen, so hört eine der beiden Pumpen, die die Presse treiben, auf zu wirken, und nun arbeitet die eine langsam fort, bis der Saft ganz ausgepreßt ist. Während der Zeit war die benachbarte Presse schon geleert und wieder gefüllt; sobald man die erste „abstellt“, beginnt die andre zu arbeiten. Von den 10 Pressen sind also nur immer fünf im Gange.

Die Bleche kehren zurück zum Tisch, die Beutel, die nun einem Bogen Pappe gleichen, werden in’s „Masseloch“ geworfen, dort entleeren sie Kinder und befördern sie in die Wäsche, wo sie so vollkommen gereinigt werden, daß aus ihnen ablaufendes ausgerungenes Wasser selbst auf einen Porzellanteller klar erscheint.

Wie viel Händearbeit gehört zu dieser Art der Saftgewinnung, welch Capital steckt in den Pressen, in den Beuteln! Und doch ist die Ausbeute nicht rühmenswerth. Ein und ein halb Procent Zucker bleibt in der Masse, und das will viel sagen bei 250,000 Centner von etwa 12 Procent Gehalt! Diesen Uebelstand fühlt man empfindlich genug und sucht ihm abzuhelfen. Das Pressen ist jedenfalls die roheste Methode, den Saft zu gewinnen, sie kann nie zum Ziel führen. Besser ist das Auswaschen, wo man eine Säule Rübenbrei langsam vom Wasser durchsetzen läßt. Wie oben das Wasser zufließt, fließt unten der Saft ab, und fast zuckerfrei bleibt die Masse zurück. Indeß liefert diese Methode doch sehr dünne Säfte, und es scheint, als werde sie mit Recht verdrängt von der sogenannten Centrifugalmethode. Hier dreht sich in einer großen, senkrecht stehenden Trommel eine etwas kleinere mit nicht geringerer Geschwindigkeit als die Reiben. Die senkrechte Wand der kleinen Trommel ist siebartig durchlöchert und trägt inwendig noch ein starkes Drahtgewebe. In diese Trommel fällt der Brei, durch Centrifugalkraft vertheilt er sich aufrecht an dem Sieb und in einigen Secunden ist er saftleer, ja fast trocken. Mit wenig Wasser hilft man nach und erzielt eine Masse, die kaum 1/2 Procent Zucker enthält. Die zahlreichen Vorzüge dieser Methode liegen auf der Hand, und mit Recht findet sie mehr und mehr Eingang. Die unappetitliche Handarbeit ist fast ganz verbannt.

Der auf eine oder die andere Weise gewonnene Saft ist röthlich bis braun, durchaus trübe, etwa wie Blut, und färbt sich immer dunkler. Daraus soll nun weißer Zucker gemacht werden! Fünf große kupferne Kessel stehen zu seiner Aufnahme bereit. Jeder Kessel faßt etwa 1200 Quart. Schnell füllt sich dieser eine, und während nun der andere gespeist wird, geht mit dem Inhalt des ersteren eine höchst wunderbare Veränderung vor sich. Mit eingesenktem Thermometer erhitzt man durch Dampf, der zwischen den beiden Böden des Kessels strömt, den Saft auf 63–65° R. möglichst schnell, schließt dann das Dampfventil und schüttet in den Saft bereitstehende, soeben aus 10–12 Pfd. Kalk bereitete Kalkmilch, rührt stark durch und läßt dann mit wenig zuströmendem Dampf ganz langsam, ungestört den Saft bis zum Siedepunkt sich erhitzen. In diesem Augenblick durchbricht die dicke, graue Schlammdecke, welche bisher den Saft bedeckte, plötzlich eine Welle goldgelber Flüssigkeit, aber schnell schließt sich das Ventil, man wartet einige Minuten, öffnet dann ein im Boden des Kessels angebrachtes Rohr, und – rheinweinheller Saft, goldig klar, strömt daraus hervor. Was ist da geschehen? – Der Kalk ist der Wundermann, er hat Alles, was nicht Zucker heißt, an sich gezogen, hat es unlöslich gemacht und als Schlamm abgeschieden. Dieser schwimmt nun als zähe Masse auf dem Saft. Leider ist dieser Ausspruch nicht vollkommen wahr, Alles scheidet der Kalk nicht ab, und was er unangetastet läßt, das bedingt eben den großen Verlust, den die Industrie erleidet. Salze und einige dem Eiweiß ähnliche Körper bleiben gelöst und sind auf keine Weise ganz zu entfernen. Aber immerhin ist der Gewinn ein außerordentlich großer, und hätten wir keinen Kalk, so hätten wir wahrscheinlich auch keinen Zucker, wenigstens nicht zu den heutigen Preisen.

Da hinter den „Scheidepfannen“ regt sich’s auch noch und führt eine unsaubere Existenz. Es sind die Schlammpresser, welche in leinenen Beuteln den Schlamm vom Saft befreien und dadurch einmal Saft, andrerseits eine Masse gewinnen, welche außer Kalk großentheils die Stoffe enthält, die zum Wachsen der Rübe so wesentlich sind. Als sehr gesuchter Dünger wird deshalb der Schlamm aufbewahrt.

Der geklärte Saft hat sich inzwischen in einem verschlossenen, in der Erde stehenden Kessel gesammelt. Im ferneren Verlaufe der Fabrikation muß er viele unter einander stehende Gefäße passiren, man muß ihn deshalb jetzt sehr hoch heben und zwar bis unter das Dach der Fabrik. Dies geschieht einfach durch Dampfdruck. Drei Atmosphären Ueberdruck würden den Saft nahe an 90 Fuß heben, man hat also nichts nöthig, als in den geschlossenen Kessel auf die Oberfläche des Saftes Dampf zu leiten. In [505] dem zweiten Rohr, welches am Boden des Kessels beginnt, steigt der Saft; wir aber steigen vier Treppen in die Höhe und sehen hier oben in der „Saturation“ den Saft wieder, wie er eben in kupferne Gefäße fließt. Durch den auf 100° erhitzten Saft leitet man hier Kohlensäure, die durch Verbrennung von Coaks bereitet wurde. Dies hat folgenden Zweck. Der in den Scheidepfannen zugesetzte Kalk ist theils verbraucht zur Fällung schädlicher Stoffe, ein Theil aber ist mit dem Zucker verbunden als Zuckerkalk gelöst geblieben. Diesen zu entfernen, ist die Aufgabe der Saturation, und sie wird durch Kohlensäure erreicht, da diese den Zuckerkalk zersetzt und kohlensauren Kalk als Schlamm abscheidet. Durch Absetzen und systematisches Abzapfen klärt man den saturirten Saft, um ihn in den Verdampfpfannen sogleich bis zu einer bestimmten Concentration abzudampfen. Hier in diesen großen Kesseln, in denen der Saft so lebhaft kocht, erkennen wir aber die „blanke“ schöne Flüssigkeit der Scheidepfannen nicht wieder. Eine fast braune, wenigstens dunkelgelb gefärbte Brühe läuft er aus den Verdampfpfannen auf die Filter. Diese sind die größten Helfer des Fabrikanten. Dem Beinschwarz oder der Knochenkohle dankt er Alles, und man verwendet deshalb die größte Sorgfalt auf dieselbe. Unten im Gährlocal können wir erstaunliche Mengen davon finden, wie sie mit Wasser übergossen, nach dem Gebrauch gereinigt wird. Gährung und Fäulniß reichen sich die Hand und zerstören alle organischen Stoffe, die die Kohle dem Saft entzogen hatte. Ein Zusatz von Salzsäure löst den aufgenommenen Kalk, die so weit gereinigte Kohle sehen wir dann sorgfältig gewaschen, indem sie wiederholt durch reines, stetig fließendes Wasser gezogen wird, endlich sehen wir sie in eisernen geschlossenen Cylindern geglüht, in denselben abgekühlt und so zu neuem Gebrauch wieder bereit. Bei allen diesen Operationen giebt es Abfall, der als werthvoller Dünger verkauft wird, trotzdem aber ist der Verbrauch der Kohle ein so bedeutender, daß ihr Preis den des Zuckers mit bestimmt. Darum dürfen wir diese schwarzen berußten Männer, die „die Filter packen“ und „abtragen“, die die Kohle waschen und glühen, nicht geringschätzend ansehen; von ihrer Treue in der Arbeit hängt sehr viel ab.

Das etwa 12 Fuß hohe Filter ist gepackt, mit Kohle gefüllt, ein Strom heißen Wasser fließt dann zunächst hindurch, die Kohlen anzufeuchten. Würde man dies verabsäumen, so liefe man Gefahr, einen verbrannten Saft zu erhalten, denn die Hitze, die bei Berührung des Saftes mit trockner Kohle auftritt, steigert sich oft bis zur Rothgluth.

Ist nun der Saft filtrirt, so begrüßen wir ihn wieder als Dünnsaft in seinem goldenen hellen Kleide; ja wir haben die Freude, diesen oft wasserhell ablaufen zu sehen. Man sieht ein, daß nun Alles gethan wäre, könnten wir plötzlich das Wasser entfernen. Dies geht aber leider nicht so schnell, wie es sich wünschen läßt. Man muß kochen, und das kann man nur bei erhöhter Temperatur, und diese hohe Temperatur kann der Zucker, können die andern im Saft enthaltenen Stoffe durchaus nicht vertragen, vollends nicht, wenn ungehindert die Luft den kochenden Saft berührt. Darum ist es ein großer Fortschritt in der Zuckerfabrikation, daß man gelernt hat, bei Abschluß der Luft und bei niedriger Temperatur zu kochen. In geschlossenen Gefäßen und bei vermindertem Luftdruck wird dies ausgeführt. Luftpumpen arbeiten kräftig, saugen den aus dem Saft sich entwickelnden Dampf ein und verdichten ihn mit Hülfe von kalten: Wasser. Die Heizung geschieht durch Dampf wie überall. So ist es denn gelungen, den Saft einzukochen, ohne ihm sehr zu schaden; schöne Apparate gestatten überdies ununterbrochenes Kochen, hier fließt dünner Saft ein, dort verläßt „Dicksaft“ den Apparat. Freilich ist er etwas gebräunt, aber diese Bräunung ist unvermeidlich. Man filtrirt ihn dafür noch einmal und zwar über neue Kohlen, während der Dünnsaft, was ich vorher nicht erwähnte, jedesmal nur auf solche Kohlen fließt, über welche schon Dicksaft gegangen ist.

Bis hierher haben, fast könnte man es sagen, die Maschinen ohne Menschenhülfe gearbeitet; wie in einem wohlgeordneten Organismus floß der Saft durch Röhren und Gefäße, und jedes Glied des Ganzen erfüllte seinen Zweck, der Arbeiter hatte nur Hähne zu öffnen und zu schließen, kaum ist in einer guten Fabrik Weiteres zu schaffen. Jetzt aber tritt der Meister ein. In dieser glänzenden kupfernen Hohlkugel von 6 Fuß Durchmesser kocht er den Dicksaft „auf Korn“. Man nennt den Apparat fälschlich das Vacuum, aber leer ist er ja nicht, leer ist nichts, man arbeitet nur, zu demselben Zweck wie vorher, unter vermindertem Luftdruck. Bei etwa 4 Zoll Barometerstand kocht der Saft nicht über 56° und kocht so lebhaft, daß in überraschend kurzer Zeit der Zeitpunkt gekommen ist, wo „das Korn sich bildet“. Nun stellt der Zuckersaft einen Syrup dar, von dem ein Tropfen zwischen Daum- und Zeigefinger zu einem Faden von bestimmter Länge sich ausziehen lassen muß. Füllt man dann den Zucker aus Kästen, so krystallisirt er in einigen Tagen und wir haben Rohzucker oder Farin, erstes Product; kocht man aber weiter, so erscheinen sehr bald kleine Krystalle wie Flimmer an dem Glase, welches zur Beobachtung in der Wand des Apparats eingefügt ist. Die Krystalle wachsen schnell, eine honigartige, breiige Masse bildet sich, und an einer leicht anzustellenden Probe sieht man den Augenblick, wo das Gut die Gahre hat, wo schnell das Kochen unterbrochen werden muß. Dabei hat es der Meister ganz in seiner Gewalt, feinkörnigen Zucker zu locken oder grobkörnigen. Höhe der Temperatur, schnelles oder langsames Kochen und ein wohl abgemessener Zusatz heißen Dicksaftes sind die Mittel, mir denen er jedes gewünschte Korn herstellen kann. Was er kochen wird, ist größtentheils abhängig von der Mode!

Das fertige Gut verläßt das Vacuum und wird in die Blechformen gefüllt, in denen es zu den Broden erstarrt, die nicht weiß, wohl aber gelb bis braun aussehen. Wie die nun weiß machen?

Das ist nicht schwer, denn die Farbe sitzt nicht in den kleinen Krystallen, sondern nur in dem Syrup, der zwischen diesen sich befindet. Man stellt also die gefüllten Formen auf-Gestelle, zieht den in der Spitze befindlichen Pfropfen und läßt ablaufen, was ablaufen will. Der „grüne Syrup“ sammelt sich von all den tausend Broden und wird dann wieder verkocht; was von diesen Broden abläuft, liefert ein drittes Product, dieses ein viertes, und dieses endlich ein fünftes. Zwischen den beiden letzten aber liegt ein rundes Jahr, unten im Syrupslocal können wir die großen Cisternen sehen, in denen das vierte Product langsam krystallisirt. Was dann noch flüssig bleibt, ist bis heute für die Fabrikation verloren.

Unsere Brode sind nun vollständig abgelaufen, und man „deckt“ sie nun, d. h. man giebt ihnen einen Aufguß einer starken Lösung weißen Zuckers in Wasser. Diese weiße Lösung, die „Deckkläre“, verdrängt allen gelben, noch an den Krystallen haftenden Syrup, allmählich wird das Brod von dem Boden nach der Spitze hin weiß, endlich ist auch diese vollkommen entfärbt, und das Brod ist „nett“. Dann setzt man es auf die „Rutsche“, man verbindet nämlich die Spitzen der Blechformen mit einem System von Röhren und dieses mit der Luftpumpe. So werden Hunderte von Broden auch vom letzten „weißen Syrup“ befreit, und triumphirend zeigt Ihnen der Fabrikant kunstgerecht auf einer Hand „das nette Brod“.

O. D.




Jungmann und der Sieg von Eckernförde.

Von Bernhard Endrulat.

Am 24. März d. J. feierten wir den 14. Jahrestag der Erhebung Schleswig-Holsteins gegen die dänische Vergewaltigung. Wir begingen ihn in ernster Trauer über die leidenschwere Gegenwart des uns so theuren Landes, aber auch voll feuriger Wünsche für seine Wiederauferstehung. Tags darauf schloß ein Mann für immer seine Augen, der unter den vielen tapfern Kämpfern für das Recht und die Freiheit der deutschen Herzogthümer einer der tapfersten gewesen war, und ohne allen Zweifel derjenige unter ihnen, dem das Glück einmal wenigstens den gebührenden Lohn für sein Verdienst nicht hat vorenthalten wollen.

Zu Hamburg, in einem Hause der Böckmannsstraße, in der freundlichen, stillen Vorstadt St. Georg, verschied am 25. März nach längerem Leiden im Alter von 47 Jahren Eduard Jungmann, Officier der Artillerie, Major der vormaligen schleswig-holsteinischen [506] Armee. Eine stattliche Schaar von früheren Kriegsgefährten geleitete den entschlafenen Cameraden zur letzten Ruhestatt.

Es wird eine Zeit kommen, in der die früheren Angehörigen des tapfern schleswig-holsteinischen Heeres alle dahingegangen sind, und dann wird die Alles verschlingende Zeit einen Namen nach dem andern auslöschen, – über einen aber wird sie nichts vermögen, über den Namen Eduard Jungmann! Denn so lange noch zwischen Elbe und Königsau ein deutsches Wort erklingt, so lange sich deutsche Knaben mit erglühenden Wangen und pochendem Herzen von den Großthaten ihrer Väter gegen den tückischen, verhaßten Landesfeind erzählen lassen, so lange die blauen Wellen der Ostsee an die grünen Ufer von Angeln und Schwansen schlagen, so lange wird man singen und sagen von dem großen Siegestage von Eckernförde, und wird in Ehren denjenigen halten und nennen, dem die deutsche Nation das glänzende Blatt in ihrer Geschichte verdankt. Das ist aber eben der jetzt dahingeschiedene Major Jungmann.

Auf dem Grabe des Helden – er schlummert auf dem Jacobi- Kirchhofe östlich von Hamburg, wenige hundert Schritte von der holsteinischen, das heißt jetzt so viel wie dänischen Grenze entfernt – soll sich ein steinernes Denkmal erheben. Möge es ein recht stattliches, seiner würdiges werden! Die folgenden Zeilen aber möchten das Andenken an den Verstorbenen und an seine große Kriegsthat in recht vielen deutschen Herzen auffrischen und erneuern; dann tragen sie zugleich auch vielleicht zu jenem andern Gedächtnißmale mit bei! –

In einem Armeebefehle des Oberbefehlshabers der schleswig-holsteinischen Armee, Generals von Bonin, datirt vom 24. März 1849, hieß es:

„In der Nacht vom 26. auf den 27. März ist der Waffenstillstand – (es war der zu Malmoe am 26. August 1848 von Preußen mit Dänemark abgeschlossene) – abgelaufen, und kann von da ab der Eröffnung der Feindseligkeiten entgegengesehen werden. Am 27. früh wird auf allen armirten Küstenbatterieen die deutsche Flagge aufgezogen.“

Sie wehte denn auch auf den beiden Strand-Batterien, welche den Eingang in den Hafen von Eckernförde vertheidigen sollten. Verweilen wir einen Augenblick in diesen Werken, um ihre Besatzung und ihre Ausstattung kennen zu lernen.

Es war die 5. schleswig-holsteinische Festungs-Batterie, welche am 18. März in Eckernförde eingetroffen war, um die Besetzung der dortigen Küstenvertheidigungswerke zu übernehmen. Ihr Befehlshaber war der Hauptmann Jungmann, der erst am 9. März in den Herzogthümern eingetroffen und einige Tage nachher in ihre Dienste getreten war. Eduard Jungmann war im Jahre 1815 im Großherzogthum Posen geboren worden; 1832 trat er in die preußische 5. Artillerie-Brigade ein und ward in ihr 1835 zum Lieutenant ernannt. Nachdem er sich zehn weitere Jahre in seiner Waffe, so weit es nur immer der Friedensdienst gestattete, ausgebildet hatte, folgte er dem Rufe des türkischen Sultans, der zur Reorganisirung seiner Armee eine Anzahl preußischer Officiere und Unterofficiere von der Regierung sich erbeten hatte, und ging nach Constantinopel. Hier bekleidete Jungmann zu Anfang 1849 den Posten des Commandeurs der Batterien auf der europäischen Seite des Bosporus. Wiewohl diese seine Stellung eine wohlbefriedigende, aussichtsvolle war, so gab er sie dennoch auf und eilte, jenem geheimnißvollen Zuge folgend, der den zu einer wichtigen That Erkorenen gerade an den Platz führt, an dem zu wirken das Schicksal ihn bestimmt hat, nach Schleswig-Holstein. Von General v. Bonin, der Jungmann als Hauptmann der Artillerie anstellte, erbat er sich den exponirtesten Punkt des Landes zur Vertheidigung und erhielt so den Befehl über die Eckernförder Strandbatterien.

Der ihm untergebene Truppentheil schien auf den ersten Blick nicht gerade tüchtig zu besonderen kriegerischen Leistungen. Vor Allem hatte der Batterie-Chef keinen einzigen Officier als Gehülfen und Stellvertreter neben sich, sondern die zunächst im Commando auf ihn folgten, waren Unterofficiere, der Feldwebel Clairmond und der Unterofficier Theodor Preußer, freilich, wie der Verlauf der Dinge zeigte, zwei Männer, die ihren Posten auf’s Beste ausfüllten und der Epauletten würdig waren wie nur Einer. Außer noch zwei Unterofficieren und 5 Bombardieren bestand Jungmann’s Mannschaft dann aus 80 Kanonieren, von denen die Hälfte Rekruten waren, die noch nie ein Geschütz abgefeuert hatten. Aber auch die Uebrigen waren nach den Begriffen der Militärs von der alten Schule Neulinge von noch unvollendeter Ausbildung; dienten sie doch erst seit dem verflossenen Herbst oder höchstens Sommer, also wenig länger als ein halbes Jahr, und das bei der schwierigsten Waffe! Nur zwei Mann, der Feldwebel Clairmond und ein Bombardier Dietrich, waren Artilleristen von längerer Dienstzeit.

Aber vielleicht waren die Verschanzungen bei Eckernförde von so vorzüglicher Einrichtung und Ausstattung, daß selbst eine des Krieges so wenig kundige Schaar, wie die, als welche wir ihre nunmehrigen Vertheidiger kennen gelernt haben, in ihnen siegen mußte? O nein, nicht im Geringsten! Die Eckernförder Vertheidigungswerke waren Alles in Allem nur zwei winzige Schanzen. Die eine, die sogenannte „Südbatterie“, lag etwa 500 Schritt von den südlichsten Häusern der Stadt zwischen der nach Kiel führenden Chaussee und dem Strande. Ihre Brustwehr war stark, aber niedrig, ihre Rückseite mit Palissaden geschlossen und durch ein Blockhaus von freilich sehr leichtem Bau vertheidigt. Ihre Bewaffnung bestand aus vier achtzehnpfündigen Kanonen. Zur Aufnahme einer Infanterie-Bedeckung befand sich oberhalb der Chaussee, im Rücken der Schanze, eine Redoute. In der „Südbatterie“ commandirte der vorhin genannte Unterofficier Preußer, ein junger stattlicher Mann von 23 Jahren, ein geborener Schleswig-Holsteiner, der sich seinen Aufgaben mit Verständniß, Eifer und Hingebung unterzog.

Am Nordrande der Eckernförder Bucht, von der eben geschilderten Batterie in gerader Linie 3600 Schritt entfernt, eine halbe Stunde von der Stadt, lag auf einer niedrigen, sich nur wenige Schritte weit in’s Meer erstreckenden Landspitze die zweite Schanze, die „Nordbatterie“. Sie war von ganz ähnlichem Bau wie die erste, enthielt aber sechs Geschütze, nämlich zwei Vierundzwanzigpfünder, zwei Achtzehnpfünder und zwei vierundachtzigpfündige Bombenkanonen. Hier hielt sich Hauptmann Jungmann selbst gewöhnlich auf; in seiner Abwesenheit vertrat ihn Feldwebel Clairmond. Von den achtzehnpfündigen Kugelkanonen, die den größeren Theil der Geschütze, sechs unter zehn, bildeten, verdient noch angeführt zu werden, daß sie zu einer etwaigen Vertheidigung der Rendsburger Festungswälle für nicht mehr brauchbar erachtet und deshalb von denselben entfernt worden waren! Es war ein Glück, daß Hauptmann Jungmann vor der Wiedereröffnung der Feindseligkeiten noch einige Tage zur ungestörten Verfügung hatte, in denen er seine Werke in einen so guten Zustand, wie es die Verhältnisse nur irgend erlaubten, versetzen und seine junge Mannschaft im Schießen nach dem Ziel üben konnte. Auch nach Ablauf des Waffenstillstandes blieb er noch einige Tage vom Feinde unbehelligt.

Das Jahr 1849 zeigte bekanntlich zum zweiten Male das schmachvolle Schauspiel der Scheinhülfe, welche die deutschen Regierungen den Herzogthümern leisteten. Diesmal war der preußische General v. Prittwitz dazu ausersehen, die traurige Rolle zu spielen, die ihm zwar den Dank seines Monarchen für so viel sein eignes Selbst- und Ehrgefühl verleugnenden Gehorsam eintrug, die ihm aber sicherlich auch die Verurtheilung der Geschichte und die Verachtung der Nachwelt zuziehen wird. General v. Prittwitz hatte in seiner Eigenschaft als Reichsfeldherr geschworen: „er verpflichte sich, bei dem ersten Angriff der Dänen, sei es zu Wasser, sei es zu Lande, Alles daran zu setzen, die feindliche Armee mit einem Schlage, wenn auch mit dem Bajonnet an den Rippen, zu vernichten;“ – wir wissen, wie er seinen Eid gehalten hat! Zum Glück hatte die Reichsarmee, die durch ihr Auftreten im Jahre 1849 an allen Jammer, alle Schmach erinnerte, die einst mit diesem Namen verbunden gewesen waren, zur Avantgarde das kleine, aber allzeit schlagfertige und begeisterte schleswig-holsteinische Heer unter Bonin’s Commando. Hier galten keine andern Rücksichten, als die auf den Erfolg der heiligen Sache, der man diente, und auf die eigene militärische Ehre. Hier griff man an, hier siegte man, und als man endlich unterlag, geschah es zu unsterblichem Ruhme.

Die schleswig-holsteinische Armee war es denn auch, die sich schon am 3. und 4. April in Sundewitt und an der Grenze dieser Landschaft mit den Dänen gemessen hatte, ehe sie hier von Reichstruppen abgelöst wurde und weiter gegen Norden vorrückte, Gegen die danach im Sundewitt befindlichen Truppen nun beabsichtigte der Obergeneral der dänischen Armee, v. Krogh, einen entscheidenden Schlag zu führen. Der Angriff sollte am 5. oder 6. April stattfinden und durch eine Diversion im Rücken der deutschen [507] Truppen unterstützt werden. Um diese auszuführen, erhielt am 4. April der Commandeur-Capitain Paludan, Befehlshaber des Linienschiffs „Christian VIII.’, von seinem Vorgesetzten, dem Chef des dänischen Ostseegeschwaders, Garde, die Ordre, sich noch am Abende dieses Tages oder am 5. frühmorgens mit seinem eigenen Schiffe, mit der Fregatte „Gefion“, Capitän Mayer, den Dampfern „Hella“ und „Geyser“ und drei Transportschiffen, welche eine Abtheilung Landsoldaten an Bord führten, in den Eckernförder Hafen zu begeben, dort an mehreren Stellen Truppen zu landen, so viel Lärmen wie möglich zu machen, zu zerstören, was sich an Werken und Kriegsmaterial vorfände, und sodann sich wieder zurückzuziehen.

Die Absicht der Dänen, durch diese Unternehmung im Rücken der im Norden stehenden deutschen Truppen diese zu beunruhigen und ihr General-Commando zur schleunigen Entsendung von Truppen nach dem scheinbar bedrohten Südosten zu verführen, war eine von vorn herein gescheiterte. Denn zur Deckung der Küste, welche die Dänen unbesetzt wähnten, befand sich in der Gegend zwischen Eckernförde und Kiel bereits eine ganze aus Reichstruppen gebildete Brigade unter dem Oberbefehl des Herzogs Ernst von Sachsen-Coburg-Gotha, dessen Hauptquartier, Gettorf, nur etwa anderthalb Meilen von der erstgenannten Stadt entfernt war. Gegen diese Macht aber die Landung zu erzwingen und einen erfolgreichen Kampf mit ihr zu bestehen, dazu war die Anzahl der feindlichen Landungstruppen viel zu gering, um so weniger konnte von einer Beunruhigung des im Norden stehenden großen Heeres durch diese Diversion die Rede sein. Das Höchste also, was das feindliche Geschwader hätte erreichen können, wäre eine Zerstörung der beiden Strandbatterien gewesen, ein Ergebniß, das bei der ungeheuren Uebermacht der Schiffe an schwerem Geschütz als ein ganz natürliches erschienen wäre und der schleswig-holsteinischen Waffenehre auch nicht den geringsten Makel hätte aufheften können. Der den Schleswig-Holsteinern dadurch zugefügte materielle Verlust aber wäre ein, wenn auch immer zu beklagender, doch nach dem Wiederabzuge des Feindes leicht zu ersetzender gewesen.

Doch es sollte ganz, ganz anders kommen, glücklicher, als die kühnste Phantasie eines Patrioten zu träumen gewagt hätte, und daß es so kam, dazu trugen günstige Umstände allerdings viel bei, aber es bleibt in erster Linie doch stets das unsterbliche Verdienst Jungmann’s und seiner durch ihn zu unerhörtem Muthe und heldenhafter Ausdauer begeisterten Mannschaft. Es war am späten Nachmittage des 4. April, als das feindliche Geschwader in die Mündung des Eckernförder Meerbusens einsegelte und eindampfte. Es bestand aus fünf Schiffen, die wir zuvörderst näher bezeichnen wollen. Da war vor Allem das stolze Linienschiff „Christian VIII.“ Es war erst vor Kurzem vollendet worden und hatte erst am 31. März die Rhede von Kopenhagen unter dem Jubel von Tausenden und aber Tausenden der Bewohner der Hauptstadt, die dem majestätischen Schiffe eine glorreiche Rolle in dem Kriege gegen die Insurgenten bestimmt glaubten, verlassen. Es führte auf den beiden Seiten 84 Geschütze und 8 am Spiegel und in den Kajüten, im Ganzen also deren 92, und zwar vom schwersten Schiffscaliber, Kugelkanonen, die 24 Pfund Eisen schleuderten, und Bombenkanonen, welche Hohlgeschosse vom Durchmesser einer 60- und 80pfündigen Kugel warfen. Da war ferner die Fregatte „Gefion“, ein durch seinen schlanken, zierlichen Bau ausgezeichnetes Fahrzeug, die Perle der dänischen Marine, 54 Kanonen tragend, 48 auf den Seiten, 6 am Spiegel und in den Kajüten. Drittens erschien die Corvette „Galathea“ von etwa 40 Kanonen, und endlich die beiden Dampfer „Hekla“ und „Geyser“, ersterer mit 7, der andere mit 6 Geschützen versehen. So konnten also von dänischer Seite gegen die zehn Geschütze der beiden Strandbatterien fast 200 Feuerschlünde verwendet werden!

Der Wind war am Abend des 4. und in der darauffolgenden Nacht zu stark, als daß der feindliche Befehlshaber schon jetzt an die Ausführung seiner Aufgabe hätte gehen können. Sein Geschwader ankerte daher, nachdem das vorderste Schiff, die „Galathea“, durch einen Schuß aus der wachsamen Nordbatterie zurückgewiesen worden war, außerhalb der Schußweite der schleswig-holsteinischen Kanonen. In den Batterien herrschte die regste Thätigkeit und die gespannteste Aufmerksamkeit. Den Kampf mit dem Feinde aufzunehmen, wie übermächtig dieser auch war, dazu war Hauptmann Jungmann von Anfang an fest entschlossen. Zu einem solchen hatte er ja die Gelegenheit sehnlichst herbeigewünscht, auf ihn hatte er die Seinigen vom ersten Tage seiner Befehlführung an vorbereitet, und war es denn unmöglich, zu siegen, so wollte er dem Feinde vorm Untergange wenigstens noch so viel Schaden wie möglich zuzufügen. Jungmann’s Gesinnung ward von allen seinen Untergebenen getheilt, waren sie doch Alle Kinder des Landes, das in den Dänen die Todfeinde seiner theuersten Interessen kennen und hassen gelernt hatte. So wurden denn während der Nacht mit dem größten Eifer alle nur noch irgend wünschenswerthen Vorbereitungen und Vorsichtsmaßregeln getroffen. Die Bedeckungsmannschaft in den Infanterie-Redouten, aus Abtheilungen des 3. schleswig-holsteinischen Reserve-Bataillons bestehend, ward um eine ganze Compagnie verstärkt, um eine etwa gelandete feindliche Macht von nicht allzugroßer Stärke zurückschlagen zu können; ein großer Theil der Kanoniere wachte an den Geschützen die Nacht hindurch; auf den Ofenrosten lagen, fast durchsichtig wie Wachs, die glühenden Kugeln bereit. Von halb vier Uhr des folgenden Morgens an stand Alles, zum Kampfe gerüstet, an den schußfertigen Geschützen.

Der 5. April, der nun angebrochen, war Gründonnerstag, – wenn man abergläubisch sein wollte, kein Glückstag für Dänemark. Denn am Gründonnerstag des Jahres 1801, damals den 2. April, war es gewesen, daß Admiral Nelson die dänische Flotte vor Kopenhagen schlug und dadurch der dänischen Marine, die da wähnte, eine der ersten Europas zu sein, den ersten empfindlichen Stoß versetzte. Auch der Name Christian war für ein dänisches Schiff kein gutes Omen. Zwei Schiffe wenigstens, die ihn vordem in der dänischen Marine geführt hatten, hatten kein gutes Ende gefunden: das eine war im Kattegat mit Mann und Maus untergegangen, das andere wurde in der Schlacht vor Kopenhagen vernichtet. Verhängnißvoller als alle diese schlimmen Vorbedeutungen aber war es, daß die Witterung dieses Tages den dänischen Absichten keineswegs günstig war. Der Ostwind wehte gerade in den Eckernförder Busen hinein. Sollten die Schiffe genöthigt werden, sich aus ihm wieder zu entfernen, so konnte dies nur durch Laviren geschehen, unter feindlichem Feuer keine leichte Aufgabe. Paludan glaubte jedoch, Angesichts der winzigen Vertheidigungsanstalten der verachteten Insurgenten, nicht im Entferntesten, daß es dazu kommen könne. Er beschloß also, gemäß dem ihm gewordenen Befehle zu verfahren.

Bis 6 Uhr Morgens war bei den feindlichen Schiffen keine Bewegung zu bemerken gewesen, um diese Stunde aber wurden die Anker gelichtet, die Segel entfaltet und das ganze Geschwader steuerte gegen die Nordschanze heran. Welch’ ein Augenblick! Laut- und athemlos standen die Kanoniere an ihren Geschützen, das Auge gespannt auf den Feind gerichtet, das Angesicht bleich vor Uebermüdung und innerer Aufregung. Sie wußten, daß von ihrer Seite an kein Aufhören zu denken war; wenn also der Feind nicht etwa andern Sinnes wurde und wieder umkehrte, so war der Kampf, der zu entbrennen im Begriff stand, ein solcher, der nur durch die Vernichtung des einen oder des andern Theils beendet werden konnte. Endlich waren die Schiffe nahe genug herangekommen, daß man hoffen konnte, sie mit den Geschützen der Batterien zu erreichen, und sofort ward Kugel auf Kugel den schwimmenden Burgen entgegengesandt. Manche von ihnen schlug krachend in die Planken oder Rippen der Fahrzeuge ein oder durchlöcherte die Segel, aber die weitere Annäherung des feindlichen Geschwaders konnten sie nicht verhindern.

In wenigen Minuten waren „Gefion“ und „Christian VIII.“ bis auf etwa 800 Schritt an die Nordschanze herangekommen, da verkürzten sie ihre Segel und legten sich ihr mit den Breitseiten gegenüber. Plötzlich quoll weißer Rauch aus den Kanonenluken, Feuerströme folgten hinterher, ein furchtbares Krachen, und herangeheult kam die erste Lage des eisernen Hagels. Die schweren Geschosse hüpften stäubend auf den Häuptern der Wellen heran, wühlten sich in den Sand des Ufers ein, drangen erschütternd tief in die Brustwehren der Batterien, flogen drüben hinaus in das hinter ihr liegende Gehölz, in dem sie Stämme und Aeste zerschmetterten – aber kein einziges drang in das Innere der Schanze. Unverletzt stand die ganze Mannschaft froh aufathmend da. Unverletzt stand auch der Befehlshaber, Hauptmann Jungmann, da, und doch hatte gerade er sich mit fürchterlicher Verwegenheit der fast unvermeidlich scheinenden Todesgefahr ausgesetzt. Als die feindliche Breitseite gelöst wurde, hatte er frank und frei oben auf der Brustwehr gestanden, und als die schweren Eisenbälle herangesaust kamen, grüßte er sie in ritterlicher Haltung mit dem gezogenen [508] Säbel. Erst als die letzten vorübergeflogen waren, stieg er von seinem gefährlichen Standpunkte unter dem Jubel seiner Mannschaft herab. Es war das eine Handlung gewesen, die mit einer frevelhaften Herausforderung des Schicksals, als welche sie auf den ersten Blick erscheinen könnte, nichts zu schaffen hatte, sondern die aus den edelsten Beweggründen und den klügsten Absichten entsprungen waren. Jungmann und seine Leute waren Neulinge im feindlichen Kugelregen, er selbst seiner Mannschaft erst seit wenigen Wochen bekannt. Da galt es, ihnen ein Beispiel von Muth und Todesverachtung zu geben, sie durch die bewiesene eigene Tapferkeit zu einer gleichen zu begeistern, und überdies ihnen Vertrauen zu ihrem Anführer, Achtung vor seinen kriegerischen Eigenschaften einzuflößen. Jungmann’s Absicht wurde vollkommen erreicht. Nicht ein einziger Fall von Verzagtheit ereignete sich während des ganzen fürchterlichen Kampfes, wohl aber wären zahlreiche Proben von Unerschrockenheit, Todesverachtung und hochherziger Selbstaufopferung zu berichten. Hier nur einige davon.

Kurz nach Beginn des Gefechts war die auf dem Blockhause wehende schwarz-roth-goldene Fahne von den feindlichen Geschossen herabgerissen worden. Unter Jungmann’s persönlicher Unterstützung ward sie mitten im heftigsten Kugelregen von dem Premier Lieutenant Schneider des dritten Reservebataillons, dem Bombardier Wommelsdorf und dem Kanonier Böttcher wieder aufgepflanzt. Als mehrere Kanonen der Nordbatterie bereits demontirt waren und eine der letzten noch brauchbaren durch eine feindliche Kugel ebenfalls umgestürzt wurde, rief Jungmann dem Geschützführer zu: „Bombardier Dietrich! In drei Minuten das Geschütz wieder schußfertig, und Sie sind Unterofficier!“ Der wackere Mann arbeitete mit seinen Kanonieren, der einschlagenden Bomben und Kugeln nicht achtend, mit fast übermenschlicher Anstrengung, und siehe da, schon in zwei Minuten stand das Geschütz wieder! Einmal war die Pulverkammer der Nordschanze auf’s Aeußerste bedroht. Zwei sechzigpfündige Bomben waren in ihre Decke eingeschlagen und hatten das Erdreich bis auf die Balkenlage ausgeworfen; ein einziger in’s Innere dringender Funken hätte eine Explosion herbeigeführt, die Alles vernichtet haben würde. Da schützte Feldwebel Clairmond mit äußerster Lebensgefahr die entblößte Pulverkammer durch darauf gewälzte Schanzkörbe, Faschinen, Balken und dergleichen, und rettete so die ganze Nordbatterie vor sicherem Untergänge. –

Der Angriff der beiden riesigen Fahrzeuge auf die winzige Schanze dauerte mit unverminderter Heftigkeit schon länger als vier Stunden, ohne daß es ihnen gelungen wäre, das Feuer der Batterie anders, als höchstens hin und wieder auf einige Minuten zum Schweigen zu bringen. Wohl aber hatten die Schiffe bereits beträchtliche Beschädigungen an Rumpf, Masten, Segeln und Tauwerk erlitten, und Todte und Verwundete gab es an beider Bord schon in Menge.

Freilich entsandten die schwimmenden Festungen auf einmal zwanzig, ja vierzig und mehr Geschosse, aber Dank der heftigen Wellenbewegung, die selbst bei dem sorgfältigsten Richten das Treffen des kleinen Ziels sehr schwierig machte, blieben die meisten derselben unschädlich; hatte die Batterie doch erst bei der fünften feindlichen Lage 1 Todten und 3 Verwundete. Die Schleswig-Holsteiner dagegen erwiderten das Feuer zwar mir mit einzelnen Schüssen, die in dem furchtbaren Gebrüll der feindlichen Feuerschlünde verklangen, aber sie standen auf festem Boden und hatten ein verhältnismäßig großes Ziel vor sich. Mehr aber noch als diese günstigen Umstände trug die ihnen eigene Kaltblütigkeit, einer der Hauptzüge ihres Volkscharakters, der sie gerade zu Artilleristen wie geschaffen erscheinen läßt, zum Erfolge bei. Ruhig, sorgfältig ward jedes Geschütz gerichtet, im rechten Augenblicke jedes abgefeuert, und so kam es, daß nur wenige Kugeln fehl gingen. Am verhängnißvollsten wirkten die glühenden Kugeln, mit denen von etwa 8 Uhr Morgens an geschossen worden war. Schon um 9 Uhr ward an Bord des Linienschiffs Brandgeruch verspürt und weißer Qualm entstieg dem Raume, ohne daß man den Sitz des Feuers hätte ermitteln können.

Inzwischen hatte sich – es war gegen 11 Uhr – der Ostwind stärker erhoben und die beiden Schiffe genöthigt, tiefer in den Hafen hineinzugehen. Dadurch kamen sie nun auch in den Bereich der Geschütze der Südschanze, deren Befehlshaber, der Unteroffizier Preußer, nicht säumte, das Feuer auf sie zu eröffnen, während die Nordbatterie jetzt ihre beiden 84 pfündigen Bombenkanonen spielen lassen konnte.

Uebrigens standen um diese Zeit die braven Schleswig-Holsteiner schon nicht mehr allein im Kampfe. Herzog Ernst von Sachsen-Coburg-Gotha war auf die Kunde von dem Gefechte mit einem Theile seiner Brigade nach Eckernförde vorgerückt, hatte die Infanterie-Bedeckung der Schanzen durch das reußische Bataillon verstärkt und eine nassauische Feldbatterie zur Unterstützung des Artilleriefeuers herbeibeordert. Zwei von den acht Geschützen derselben waren bereits eingetroffen, hatten in der Nähe der Nordschanze Aufstellung genommen und griffen sogleich mit in das Gefecht ein. In diesen Anordnungen des Herzogs liegt sein Verdienst um den Erfolg und sein Antheil an der Ehre des Tages. Tapfer und deutsch, wie er war, lag auch ihm an der Vernichtung des Feindes; darum ließ er Jungmann nicht allein gewähren, sondern er unterstützte ihn, soviel in seinen Kräften stand. Ein anderer Reichsgeneral, der wie Prittwitz den Krieg mit Rücksicht auf die Strömungen in der Diplomatie und gebunden an geheime Instructionen führte, würde sicherlich zur rechten Zeit eingeschritten sein, um nicht einer Schaar von Revolutionären einen Triumph über die regulären Streitkräfte eines legitimen Königs zu gönnen.


(Schluß folgt.)





Schweizer Pensionen und Pensionaire.

Von E. Kossak.

In seinen Jugendjahren, im Zustande der größten Empfänglichkeit für jenen geistigen Nahrungsstoff, mit welchem der Mensch bis zum vierundzwanzigsten Lebensjahre systematisch genudelt wird, um das nöthige wissenschaftliche Fett für seinen späteren Verbrauch als Staatsbeamter anzusetzen, thut man ihn in allen Fällen, wo Familie und Haus nicht im Stande sind, das nöthige Material herbeizuschaffen, in eine Pension. Später, wenn er seine Pflicht gegen das Oberhaupt seines Landes genügend erfüllt hat und seine Dienste bei abnehmenden Kräften nicht mehr der Höhe des ihm bisher gezahlten Salairs entsprechen, läßt man eine verhältnißmäßige Verminderung desselben eintreten, kennzeichnet ihn im günstigsten Falle durch ein Ordensbändchen unscheinbarster Art und thut ihn abermals in Pension.

Beide feierliche Acte, eine so geringe Aehnlichkeit sie auch für den leichtfertigen Beobachter zu haben scheinen, gehen doch aus dem Bestreben hervor, für die Wohlfahrt der menschlichen Genossenschaft zu sorgen und brauchbare Rekruten für den Dienst in Krieg und Frieden, in der Armee der Büreaukratie, in der Kirche und Schule herbeizuschaffen und auszubilden, sowie die Invaliden und Veteranen zu entfernen und ihr Leben zu fristen. Als charakteristisches Merkmal dieser beiden Pensionirungsarten darf der Umstand gelten, daß sie gewöhnlich vor sich gehen, ohne daß die davon Betroffenen befragt, ja daß sie meistens bei Jungen und Alten wider ihren Willen über sie verhängt werden.

Davon abweichend, obgleich auf der Idee der Erhaltung des Individuums für den Staat oder die Gesellschaft beruhend, besteht eine mittlere Gattung der Pensionirung in der zeitweiligen Entfernung des durch amtliche Dienstleistungen und geistige Anstrengungen, oft auch durch Mißhandlungen der Vorgesetzten oder Uebelstände des städtischen Lebens ermüdeten und geschwächten Sterblichen aus seiner gewöhnlichen Lage, und in der Versetzung an einen anmuthigen Ort und in eine möglichst sorgenfreie Lage. Diese Pensionirung pflegt aus der freien Wahl des gequälten Individuums hervorzugehen und zu den Lichtblicken im modernen Sclavenleben gerechnet zu werden. Sie findet statt, wenn dasselbe auf der Höhe des Lebens und der Casse, der Sommer aber in seiner Blüthe steht. Da zur Stärkung des Geistes und Leibes Alles darauf ankommt, den directen Gegensatz der gewöhnlichen Lebensweise, des landschaftlichen Aufenthaltes und selbst der staatlichen Verfassung zu wählen, empfiehlt sich allein das höchste Gebirgsland

[509]

In der Nußbaumallee von Interlaken.
Originalzeichnung von H. Jenny.


Europa’s, die Schweiz, in der alle erforderlichen Bedingungen sich vereinigen, zur Aufnahme der nach Erholung lechzenden Pensionäre des civilisirten Welttheiles. Als eine Republik von großer Toleranz vereinigt sie die feindlichsten Parteien in ihren Cantonen und gewährt ihnen sämmtlich durch die Reinheit ihres politischen Dunstkreises, durch die Abwesenheit aller ansteckenden Miasmen und die friedliche Bürgerlichkeit ihrer Wohnstätten auch Gelegenheit zu moralischer Erfrischung. Wir sehen daher nicht allein die gequälten Kasten der monarchischen Staaten, sondern auch hoch- und höchstgestellte Personen, Minister, Prinzen, ja selbst Könige, zeitweilig ihren Aufenthalt in der Schweiz, wenn auch eben nicht in den für gewöhnliche, nicht mit blauem Blute versehene Creaturen bestimmten Pensionen wählen und eine Reihe von Bädern in der Fluth der allgemeinen Gleichheit des herrlichen Landes nehmen.

Das verständige Volk der Schweizer ist sich der Wichtigkeit seiner Mission gar wohl bewußt. Die Natur hat ihm die schneeigen Berggipfel, die blauen Seen, die blühenden Matten und stäubenden Wasser in weisem Vorbedacht als ein nationalökonomisches Hülfsmittel gegeben, und es war von jeher eifrig bestrebt, nach der Vorschrift der Bibel mit seinem Pfunde zu wuchern.

Begeben wir uns sofort an den Hauptort des europäischen Pensionssystems, wo wir am leichtesten seine hauptsächlichen Grundzüge kennen lernen werden; versetzen wir uns auf dem Feenteppich des Zauberers aus Tausend und eine Nacht unmittelbar nach Interlaken, in das Paris der Pensionen.

Zwischen dem Thuner und Brienzer See, am linken Ufer der Aar, hat die Natur im Verlaufe vieler Jahrhunderte ein Stück Land trocken gelegt, wie es in ähnlicher Anmuth kaum noch einmal zwischen der Nordsee und dem Mittelmeere gefunden werden dürfte. Aus dem üppigen Wiesengrund, den riesige Nußbäume beschatten, blicken tiefdunkele Vorberge, grüne Alpen, kahle Felsgipfel und zuletzt die weißen Gipfel der Jungfrau, aus dem Hintergrunde des Brienzer See’s ragen die Sustenhörner empor, allerlei malerisches Steingezack begrenzt den Horizont gen Westen, nur die Nordseite wird durch eine hohe steile Felswand gegen alle rauhen und nachtheiligen Winde geschützt. Was Himmel und Erde Süßes und Liebliches uns zu schenken vermögen, findet sich an dieser Stätte [510] beisammen, Wärme und Wohlgerüche, Klarheit und herrliche Farbenspiele in der Luft, Kühle und Reinheit der Luft. Der Ort gleicht einer stummen Einladung an den Menschen, sich hier niederzulassen, alle seine vergangenen Leiden zu vergessen und in Anschauung der herrlichen Natur sich auf sein ursprüngliches besseres Selbst zu besinnen. Diese Vereinigung der glücklichsten Umstände erklärt, weshalb die pensionsbedürftigen Creaturen sich von jeher gerade nach Interlaken hingezogen fühlten.

Wenn in den nordischen Landen in den Gärten der großen Städte die Gurke und an den Abhängen der Alpen die duftende Erdbeere heranreift, wenn das Parlament in London vertagt ist, und der arbeitsscheue Bundestag von seinen Auftraggebern aus Frankfurt a. M. in die Ferien entlassen wird, wenn bei den erschöpften Gerichten alle Processe nothgedrungen eine Unterbrechung erleiden müssen und nur das heilige Recht des Wechsels unverkümmert bleibt, wenn alle Diplomaten, Minister und Generäle gleich Fliegen und Mücken umherschwärmen, der fleißige Arbeiter aber die Früchte des Feldes im Schweiße seines Angesichts einzuheimsen beginnt: dann strömt das von den Anstrengungen der Wintersaison, von der Arbeit an den Actentischen, in den Studirstuben, am Wechseltisch, durch das Gerede von den Tribünen aufgeriebene Volk in Interlaken zusammen und sucht seine Kräfte in dem unvergleichlichen Thalgrunde zu erneuern. Die Mitglieder der verschiedenartigen Kasten und Rangclassen entledigen sich weislich ihrer Abzeichen, die Uniformen werden abgelegt, die Ordensbänder aus den Knopflöchern gelöst, die Reiterstiefeln mit Sporen von den Füßen gezogen, die martialischen Schnurrbärte, da sie nicht mehr unglücklichen Philistern, Portiers und Hausknechten in Hotels Schrecken einzuflößen brauchen, auf ein menschenähnliches Maß reducirt, Säbel und Galanteriedegen, Epauletten und Schärpen läßt man zu Hause; sämmtliche Pilgrime zu den Schweizer Pensionen suchen sich einen Anstrich von bürgerlicher Gleichheit, von bescheidener Anspruchslosigkeit zu geben und, wenn irgend möglich, das, was sie in der Wirklichkeit vorstellen, unter einer unscheinbaren oder gewinnenden Maske zu verbergen. Der Präsident des Criminalgerichts bedeckt sein buschiges, von graublonden Haarbüscheln umwölktes Haupt mit einem grauen oder braunen Schützenhütchen, um welches sich ein breites grünes Band schlingt; der bejahrte Banquier kleidet sich in eine leichtsinnig nach englischem Muster anfertigte Reisetracht, wie sie beurlaubte Officiere auf Reisen anzulegen lieben, Rock, Hose und Weste Grau in Grau oder Colorit dünner Milchchocolade; der vergilbte, fast schon der Bücherlaus verfallene Professor Ordinarius sucht für Geld und gute Worte eines Gemsbartes habhaft zu werden und befestigt ihn an seinem Calabreser; Obristlieutenants christlicher Staaten bekleiden sich mit rothen Garibaldihemden; Jedermann strebt nach einem poetischen, den Alpen entsprechenden Anhauch und sucht seinen alltäglichen bürgerlichen Beruf dahinter zu verbergen.

Der weise Schweizer leidet in dieser Hinsicht an keiner krankhaften Neugierde, seine Beamten lassen die Ankömmlinge ohne peinliche Beschnüffelung der Pässe und des Gepäcks über die Grenze, der Hausbesitzer fragt nicht nach Namen und Stand, sondern gestattet tolerant genug seinem Gaste, sich nach Belieben in die Fremdenliste zu schreiben; nur in einem Punkte soll der Tourist sich legitimieren können: im Achsenpunkte. Sein Geldbeutel muß mit dem nöthigen Vorrathe von Napoleonsd’or, Franken und Rappen versehen sein, von welcher letzteren, bekanntlich in Billon geprägten Scheidemünze, nach den jüngsten philologischen Untersuchungen, der neuerdings sehr in Aufnahme gekommene Ausdruck „berappen“ stammt. Die ganze Ebene zwischen den genannten beiden Seen ist mit „Phalansterien“ bedeckt, deren Anblick im ersten Augenblicke den großen Socialisten Fourier in Erstaunen versetzen müßte. Ob diese Anstalten nun Villen, Hotels, Pensionen oder Chalets genannt werden: sie sind sämmtlich von Angehörigen europäischer Staaten bewohnt, die sich der naturphilosophisch entworfenen schweizerischen Hausordnung gefügt und ihre persönlichen Angewohnheiten und Liebhabereien ganz an den Nagel gehängt haben. Nur zwischen den Pensionen selber bestehen hinsichtlich der Abstammung, der Sprache ihrer Insassen, der Preise und Hausgebräuche einige Unterschiede; einmal in eines dieser Institute einrangirt, hat sich Jeder seinen bestimmten Gesetzen zu fügen, oder das Haus zu verlassen und ein ihm zusagenderes Unterkommen zu wählen. Im Innern der Phalansterien oder Pensionen werden keine Unterschiede mehr gemacht. Nachdem die Koffer von dem Dache des Omnibus abgeladen und die nothwendigen Präliminarverhandlungen zwischen dem Besitzer des Hauses und seinem Pensionär beendet worden sind, scheidet Letzterer aus der bisherigen Welt. Die Aufhebung der irdischen Ungleichheit, wie sie sich in den sibirischen Bergwerken, in den Zuchthäusern und im Grabe von selbst einfindet, wird in den Pensionen in voller Absichtlichkeit auf die liebenswürdigste Weise vollzogen. Man läßt dem Gaste zwar seinen Namen, aber in dem Wirthschaftsbuche des Pensionsvorstehers ist er nur eine Nummer. Von Seinesgleichen unterscheidet er sich höchstens durch eine bessere Flasche Wein, durch eine Nachmittags genossene halbe Tasse Kaffee, durch etwas mehr Leibwäsche, durch zwei Lichte; größere Excesse in Ehrgeiz und Luxus kann ein Pensionär kaum begehen. Auch insofern gleicht er dem gezwungenen Bewohner eines Zellengefängnisses, dem von seinem Ueberverdienste höchstens die Anschaffung eines Härings erlaubt wird. Er hat keine Stellung mehr in der Gesellschaft; er steht nur noch auf der Liste seines Pensionsinhabers. Der Tag seiner Ankunft bestimmt allein über seinen Platz an der Mittagstafel. Und wenn er der Ministerpräsident des Königs von Dahomey, der Großadmiral der hannöverschen Flotte, ja wenn er ein Mitglied des preußischen Herrenhauses wäre: ist er erst am Donnerstag Morgen eingetroffen, so erhält er seine Stelle unterhalb des dritten Tenoristen von der Oper angewiesen, der sich schon seit Mittwoch Abend im Hause befindet. Der am längsten im Hause anwesende Pensionär behauptet stets den Vorsitz bei Tafel, und jeder Tag des Aufenthaltes hebt den Gast auf der Staffel empor. Bei einem solchen System kann selbst ein Junge von 18 Jahren sich zum Alterspräsidenten emporschwingen. Auch außer dem Hause herrscht vollkommene Gleichheit, wie aus der Zeichnung unseres Künstlers auf das Deutlichste hervorgeht. Die geschätzten Vierfüßler der Gegend werden ihres Nutzens wegen den Einwanderern nicht nachgestellt und dürfen sich gleichfalls der Promenade bedienen. Von jenen peinlichen Brunnenvorschriften in deutschen und französischen Bädern, die den Landmann und seine jüngeren Angehörigen, den Hund und die Tabakspfeife ausschließen, findet sich keine Spur. Die herrliche Nußbaumallee von Interlaken gehört Allen, dem italienischen Vetturin, der seine Rückfracht über die Alpen, und dem kleinen Schweizerbuben, der einen Käufer für den eingefangenen Hirschkäfer oder die große Ligusterraupe sucht, durch deren Anblick er den vorübergehenden Damen Krämpfe verursacht, dem abgezehrten Schwindsuchtscandidaten und dem fetten Consul aus Smyrna, der Pariser Lorette und dem armen Fischer vom Thuner See, dem kleindeutschen Prinzen und dem nicht amnestirten Flüchtling, der hier an jedem Morgen mit dem apanagirten Vetter seines gestrengen Landesherrn zusammentrifft und schwermüthige Betrachtungen über die Langmuth der Vorsehung anstellt.

Exclusive Festlichkeiten, bei denen Ehrgeiz und Großthuerei zum Vorschein kommen können, werden nicht veranstaltet, ebenso wenig sind gewisse moderne Vergnügungen erlaubt, die in den deutschen Gauen sogar noch zum guten Tone der Gesellschaft gehören. Die Prytanen in Bern haben sich in ihrer väterlichen Weisheit der beabsichtigten Anlage eines „Alpenbänkchens“ widersetzt, auf das sich einige strebsame Schüler des großen Fazy aus Genf schon gefreut hatten. Die ehrwürdigen Väter der Schweiz hielten es der moralischen und leiblichen Gesundheit ihrer Gäste für zuträglicher, dem Genuß der Ziegenmolken, als dem der Roulette und Trente et Quarante obzuliegen, und verscheuchten die Gauner aus dem friedlichen Thale. Gewiß ist es besser, wenn die Sparpfennige der Touristen von Europa in die Hände der Wirthe, Führer, Kutscher, Pferdeknechte, Träger und Sennen, als in die der Croupiers aus der Schule Blanc’s und Benazet’s übergehen. Geistig aufregende Beschäftigungen werden auch sonst kaum begünstigt. Hat sich der Pensionär nicht mit einem Büchervorrath schon von Hause her versehen, die Bibliothek von Interlaken vermag nur die mäßigsten Ansprüche zu befriedigen. Interlaken darf nicht zu einer Spielhölle, einem Cur- oder Badeorte gemacht werden; nach der Intention der Schweizer soll es nach wie vor die erste aller Sommerfrischen des Continents bleiben. Die eiserne Consequenz des Pensionssystems wird es trotz der zunehmenden Strömung der reichen und vornehmen Gesellschaft hoffentlich dauernd vor ihren Plagen bewahren.

Die Grenzen der Schweiz sind weit ausgedehnt, und aus allen vier Weltgegenden strömen in den warmen Sommermonaten die Flüchtlinge der monarchischen Staaten in die Pensionen der Republik. [511] Haben doch selbst die gegenwärtig von dem Druck der Regierungslasten befreiten italienischen Fürsten, z. B. die Herzogin von Parma, die dargebotene Wohlthat nicht verschmäht. Wir wissen nicht gewiß, ob sie sich gerade in „Pension“ gethan hat, aber sie wohnte wenigstens einen ganzen Winter hindurch in dem am Züricher See gelegenen Hotel Baur. Ein Professor des dortigen Polytechnikums erzählte uns bei unserer letzten Anwesenheit in Zürich folgende hübsche Anekdote. Der Wirth Baur, welcher durch allerlei kostspielige Bauunternehmungen und den Ankauf eines neuen Grundstückes oben am See vorübergehend in Geldverlegenheit gerathen war, sah sich durch den langen Aufenthalt der herzoglichen Familie und ihrer Hofstaaten aus seiner mißlichen Lage erlöst und mit den frohesten Hoffnungen auf die Zukunft erfüllt. „Wenn das so weiter geht, wenn noch mehr Herzöge und Fürsten herkommen,“ sagte der gute Mann in der Freude seines Herzens, „bei Gott, dann wird Venedig in ein paar Monaten frei!“ (Venedig hieß nämlich auch das erwähnte kleine Grundstück am See.)

Ueber den Bodensee aus Süddeutschland, vornehmlich aus Schwaben, kommen die Sommerbewohner des Cantons Appenzell. Hier, wo noch nicht die höhere Pension sich eingebürgert hat, ist der geeignete Aufenthalt für einfache Leute, die drei Kreuzer für den Schoppen Ulmer Bier und sechs Kreuzer für das aus Weizengebäck, Butter und Käse bestehende „Vieruhrbrod“ zu zahlen gewohnt sind. Im Canton Appenzell wird der Mensch noch wöchentlich für zwanzig Franken beherbergt und beköstigt. Nur wenn ihn nach Molken gelüstet, muß er, als Curgast, täglich eine Kleinigkeit zulegen. In diesem glücklichen Landstriche versammeln sich die Freunde der kräftigen reinen Milch, der Erdbeeren und Forellen. Der Malzextrakt wird die Gegenden südlich vom Bodensee nicht um ihren altbewährten Ruf bringen, schon oft durch ihre Molken und die köstliche Bergluft der mörderischen Schwindsucht Stillstand geboten zu haben.

Vom Bodensee aus verbreitet sich der Schwarm der Pensionäre über die östliche und westliche Schweiz, während die eigentlichen hastigeren Touristen die Route über Basel mit ihren Eil- und Nachtzügen den badischen und mitteldeutschen Eisenbahnen vorziehen. Die Dampfschifffahrt quer über den See für einen Gulden auf dem ersten Platze leitet viel gemüthlicher die vierwöchentliche billige Pension ein. An allen See’n, in allen Thälern trifft der Reisende auf dergleichen gastliche Stätten, auch die Wirthe, wenn ihre Hotels nicht an den besuchtesten Knotenpunkten des Verkehrs liegen, bequemen sich zur Aufnahme von Pensionären, ja selbst die Privatleute suchen, als verständige Industrielle, in der kurzen Sommerzeit ihre Einnahmen auf dieselbe Weise zu verbessern. Die besten Zimmer des Hauses werden den Gästen eingeräumt; der Wirth und seine Familie behelfen sich mit den dürftigsten Kammern des Hauses. Die kleinen Städtchen am Ufer des Vierwaldstätter und Züricher Sees wimmeln von Pensionären; sie ziehen sich bis in die stillen Thalschluchten hinein, je nachdem ihr Naturell von geselliger oder beschaulicher Beschaffenheit ist. Von dem Comfort der großen Wirthschaften von Interlaken hat man hier keine Ahnung, man nimmt noch nicht jene schwächliche Rücksicht auf den Appetit der Gäste, zweimal täglich Mittagsessen zu kochen und ihnen die Wahl zwischen dem Diner um ein oder um vier Uhr zu überlassen; die Lebensarten sind noch durchaus einfach und entsprechen dem billigeren Preise. Morgens wird mit einer reichlichen Mischung von „Wegelugger“ – Botaniker mögen entscheiden, in welchen verwandtschaftlichen Beziehungen diese Pflanze mit unserem künstlichen Cichorienpräparat steht – Kaffee gekocht, bei dem kein Mangel an Milch, Zucker, frischer Butter und braunen Semmeln herrscht. Sollten in dem üblichen Honiggefäß ungewöhnlich viele Fliegen ihre Tod durch Unvorsichtigkeit gefunden haben, so darf man den Dienstboten und Rettungsanstalten nicht die Schuld beimessen. Der Honig ist überaus klebrig und die Fliege naschhaft. Der Pensionär darf seine Kaffeestunde beliebig zwischen sieben und neun Uhr Morgens wählen; später bleibt er sich selber überlassen. Befindet sich ein See oder ein Bach in der Nähe, so kann er seine Angel auswerfen; ist kein Wasser da, so wälzt er sich vielleicht den Vormittag über im Grase und badet sich im Sonnenschein und der stärkenden Luft der Höhen; hat er seine Kinder mitgebracht, so sammelt er mit ihnen Erd- und Blaubeeren, pflückt Blumen und fängt Schmetterlinge; fehlt es ihm nicht an Bildung und Kenntnissen, so liest er, botanisirt oder sucht allerlei Mineralien, läßt sich von unbeschäftigten Jägern anlügen oder macht endlich einen ästhetischen Spaziergang mit Reimübungen. Um ein Uhr findet regelmäßig die Hauptfütterung statt. Bei einem Pensionsbetrage von drei Franken, dem Minimum, täglich besteht sie nur in einer ungekünstelten Suppe, einem derben Gemüse und Braten und einem handfesten Pudding am Sonntage. Wo Fische reichlich vorhanden sind, fehlen sie bei keiner Mittagstafel. Als Dessert sind Haselnüsse und eine Sorte kleinen Confectes beliebt, das sich seiner angestammten Dürre wegen mehrere Jahrhunderte hindurch aufbewahren läßt und seinem Recepte nach unfehlbar von den Conditoren der alten Helvetier abstammt. Begehrt der Pensionär Wein oder Bier, so bezahlt er es natürlich aus seiner Tasche, man verübelt ihm jedoch nur an den wenigsten Orten, wenn er den Durst in dem auf dem Tisch stehenden Quellwasser löscht. Von ein bis sieben oder acht Uhr Abends ist der Pensionär entlassen. Er zieht sich in seine Gemächer zurück, um zu schlafen, er spielt im Schatten der Veranda mit den Collegen Boston oder Whist, er raucht auf dem Balcon Angesichts des Hochgebirges seine Cigarre und liest den neuangekommenen „Bund“ oder das in den Pensionen die Runde machende Exemplar des „Postheiri“, oder er steigt auf die nahen Berge. Das Läuten der Glocke versammelt Abends wieder die ganze Hausgenossenschaft um den Theetisch. Sind Patienten unter den Pensionären, so erhalten sie eine die Nerven beschwichtigende warme Suppe. Kalte Küche, Käse und Früchte, gewöhnlich Erd- und Himbeeren, stillen den Hunger der Uebrigen. Nach Tisch beobachtet man das etwaige Alpenglühen, oder man begiebt sich nach dem Posthause, um den letzten Wagen abzuwarten und die neuen Ankömmlinge in Augenschein zu nehmen, man macht landwirtschaftliche Studien an dem Vieh, wenn es nach Hause kommt, oder man fährt auf dem Wasser, falls die Pension nahe an einem See liegt. Es giebt geduldige Leute, die ihre Sommerferien damit ausfüllen, am Ufer auf den Balken zu sitzen, die ankommenden Dampfer zu erwarten und ihnen so lange als möglich nachzublicken, wenn sie abgefahren sind.

Regnen Pensionen ein, so pflegt ihr Zustand fürchterlich zu werden. Regenwetter ist unter diesen Umständen das größte Uebel. Der Mensch kann vor Langerweile auf eben so arge Teufeleien verfallen, wie durch den Antrieb seiner Laster; der aus den großen Mittelpunkten der Civilisation kommende Pensionsmensch natürlicher Weise am leichtesten. Nicht allein im Verhältniß der Staaten untereinander ist die Aufrechthaltung des Friedens eine bedenkliche und schwierige Sache; auch in den meisten Pensionen schwebt die Gesellschaft gewöhnlich am Rande der Kriegserklärung. Je größer die Pension, je zusammengesetzter in ihren einzelnen Bestandtheilen, je gedrängter in ihren architektonischen Einrichtungen: desto straffer wird ihre Kriegsbereitschaft sein. Wer seinen Sommerfrieden sichern will, thut daher wohl, von vornherein alle umfangreichen, geschäftsmäßig verwalteten Phalansterien zu meiden und sich bei einfachen Bürgern oder Bauern einzumiethen. Wir haben erlebt, daß über ein Fenster, welches eine der Parteien unter Anführung eines Rechtsanwaltes geöffnet, eine andere, als deren Wortführer ein Arzt aus Berlin galt, verschlossen haben wollte, während der Mittagsmahlzeit eine Fehde ausbrach, welche einen ansehnlichen Theil der Bevölkerung von Interlaken und der benachbarten Pensionen vor den Fenstern des Speisesaales versammelte, und mit gegenseitigem Angebote von Maulschellen endigte. Aus eingeregneten Pensionen können nun gar Drachennester, Mördergruben der socialen Revolution, Schlachthäuser der Unschuld werden. Die vorräthigen Anekdoten sind bald erzählt, der Herr mit den Kartenkunststücken und dem Becherspiel ist rasch abgenutzt, aber der Himmel will sich noch immer nicht aufklären. Jetzt wird der alte ägyptische Reisende aufgezogen, oder der polnische Graf muß in gebrochenem Deutsch von seinen Gütern erzählen, Abends hört man andächtig dem Virtuosen auf der halbbezogenen Guitarre zu; es regnet unermüdlich weiter. Einige längst angebahnte Liebschaften sind bereits in vollem Gange, die Furien der Eifersucht erwachen, eine heirathslustige alte Jungfer schnaubt Rache, Väter, Mütter sind beleidigt, eine Tante mit zwei Nichten im Roccocogeschmack erachtet das Decorum für geschändet; wenn es am nächsten Tage noch weiter fortregnet, dürfen wir für die gänzliche Auflösung der Pension zittern. Am glücklichsten sind diejenigen Versammlungen, welche, wie jeder ordentliche Bienenstock, unter der Obhut einer Königin stehen. In den meisten Fällen pflegt dieselbe eine junge Dame von ausgezeichnetem Aeußeren, aber nicht unbedenklichen Antecedentien zu sein, die nach dem Fehlschlagen aller ihrer Hoffnungen im [512] Vaterlande nach einem reichen Freier im Auslande strebt und zu diesem Zweck sämmtliche in ihre Nähe kommenden Mannschaften sich dienstbar macht und gründlich erforscht. Andere Pensionen werden von Usurpatoren geknechtet, gewöhnlich von jungen Herren, welche etwas Tenor singen oder das Clavier schlagen und Bergbesteigungen in der Form der „gemeinen deutschen Landpartie“ veranstalten.

Eine sehr eigenthümliche Erscheinung ist die Veränderung des Charakters der einzelnen Pensionen je nach den Landschaften, in denen sie sich befinden. Wir können hier nur die beiden Extreme anführen, wollen aber die achtsamen Touristen nachdrücklich auf das Studium dieses Umstandes hingewiesen haben. Der Ton in hoch über der Meeresfläche gelegenen Pensionen ist ernsthaft und die Stimmung ihrer Angehörigen zur Schwermuth geneigt. Obgleich man glauben sollte, daß die Einförmigkeit der mit Nadelhölzern und Alpenpflanzen bewachsenen Gegend sie einander nähern und geselliger als an anderen Orten machen sollte, lieben sie vielmehr sich zu isoliren. Im Oberengadin, auf der schnurgeraden Chaussee zwischen Samaden und Pontresina, am Fuße des Mortaratsch- und Rosegg-Gletschers, am Ufer des Inn bei Cresta und Celerina, haben wir viele Prachtexemplare dieser Trauerkäfer gefunden. Es waren ursprünglich heitere Herren aus großen Städten, die, draußen und unten in der Fläche dem Genuß des Lebens nicht abgeneigt, hier oben auf Felsblöcken saßen, schweigend in die Ferne starrten, stundenlang halbvermoderte Tannzapfen in der Hand hielten und philosophisch betrachteten, doppelt so lange ihre Angelschnur in den Inn hinabhangen ließen, ohne eine Forelle zu fangen, und ihr Mittagsmahl im Zeitmaß eines Adagio’s verzehrten, ohne an ihre Nachbarn ein Wort zu richten. Die Pensionäre solcher Gegenden bewahren ihnen dennoch eine treue Anhänglichkeit und kehren jährlich wieder, um das landschaftliche Labsal, den tiefen Frieden und die heilige Stille der Berge, incl. der gänzlichen Polizeilosigkeit, abermals zum Heil der Seele zu genießen.

In den warmen, ja heißen Gegenden der französischen Schweiz, am Genfer See, herrscht dagegen durchschnittlich unter den Pensionären ein glänzender Hang zur Geselligkeit. Nicht selten leben sie, wenigstens von der Mittagsstunde an, heerdenweise, sie treiben sich, den Enten ähnlich, in ganzen Rudeln auf dem Wasserspiegel umher, sobald die Sonne sich zum Untergange neigt, und in den Gebüschen der Anhöhen am Rhonethale wetteifert ihr Gelächter häufig mit dem Lärm der Rohrsperlinge in dem Sumpfdickicht der Ufer. Der Pensionär der Westschweiz ist auf feine Speisen bedacht, zu welchem Zweck er sich nicht selten längere Zeit und mit erheblichem Kostenaufwand unter die Botmäßigkeit des liebenswürdigen Wirthes im Hotel Monnaie zu Vevay begiebt; er liebt feurige Weine und streicht bei kühlem Wetter angesäuselt zwischen den Mauern der Weinberge umher. Abends schwärmt er für Musik, kleine Feuerwerke, schwärmerische Promenaden mit jungen, schlimmsten Falles auch mittelalterigen oder von der vorigen Saison zurückgesetzten Frauenzimmern; wenn ihn der Hafer sticht, ersteigt er sogar um diese Zeit hohe Berge, bringt oben die Nacht beim Bivouacfeuer zu und erwartet den Sonnenaufgang.

Wie wäre es möglich, die Pensionen und Pensionäre in ihrer liebenswürdigsten Gestalt zu schildern? Die Zeit zu ihrem Besuche ist da! unglücklicher Unterthan, gemaßregelter Deutscher! raffe deine Baarschaft zusammen, schnüre dein Bündel, verlasse die Heimath und begieb dich selber in Pension.[1] Für fünf Franken täglich wirst du überall als anständiger freier Mensch behandelt, und die schnöde Welt der Sorgen, der Nasen und Riffel versinkt für sechs Wochen spurlos hinter dir in die Tiefe!


  1. Für die weniger gereisten Leser die Bemerkung, daß man in der Schweiz unter Pension diejenige wirthschaftliche Einrichtung versteht, wo der Gast Wohnung und Kost für bestimmten Preis auf bestimmte Zeit erhält und zwar nicht blos in Wirths-, sondern auch in Bürger- und Bauernhäusern.



Kleiner Briefkasten.

K. in R. Wir müssen Sie auf die nächste Nummer vertrösten, in der Sie einen längern Bericht über das Frankfurter Fest und die erste größere Abbildung von der Hand Schalk’s finden werden.

Fräulein Th. F. Es ist uns nicht möglich, den Vertrieb der 100 Ex. Ihrer „Lyrischen Gedichte“ (Regensb. 1862) zu übernehmen, selbst nicht für den angegebenen Zweck. Wollen Sie die nationale Sache ernstlich fördern, so steht Ihnen die Gelegenheit zum Verkauf der benannten Anzahl von Exemplaren ja weit besser zu Gebote; Ihre Gabe in Baarem werden wir mit Freude in Empfang nehmen und öffentlich bescheinigen.


Für Wilhelm Bauer’s „Deutsches Taucherwerk“

sind ferner (bis zum 30. Juli) eingegangen: 10 Thlr. „dem Andenken von Bernhard und Martha“; – 5 fl. 30 Xr. rhn. nachträglich aus Offenbach – (von J. P. 5 fl., von Kn. in Frkft. 30 Xr.); 25 Thlr. durch F. W. Orzschig in Meerane (15 Thlr. Ertrag einer Sammlung beim Schützenfest und 10 Thlr. von einem froh gestimmten Theilnehmer desselben) mit dem Motto: „Wir wollen Deutsche sein und bleiben und uns des „deutschen Werkes“ freu’n!“ – 6 fl. 45 Xr. rhn. vom Turnverein zu Westhofen, durch Dr. Stammler; 27 fl. rhn., ursprünglich durch deutsche Patrioten von Holzappel und Laurenburg zur Gründung einer deutschen Flotte gesammelt, nun aber, nach Eintritt der allerneuesten Aera, um auch ferner ein allgemein nützliches Werk zu fördern, dem Bauer’schen Taucherwerk überwiesen; – 2 Thlr. 5 Ngr. von J. Gottlob Göllnitz in Lobstädt; 3 Thlr. von D. F. S. in Dresden; 8 Thlr. 7 Ngr. durch die Expedition des Zwickauer Wochenblatts; – 104 Thlr. 3 Ngr. vom Stettiner Comité zur Unterstützung der Bauer’schen Erfindung, zweite Sendung, durch Theod. Hellm. Schröder in Stettin; – 2 Thlr. 6 Ngr. von Lesern der Gartenlaube zu Kieritzsch und Nehmnitz: „Ein deutscher Mann giebt gern zu Deutschlands Ehre“; – 1 Thlr. von Lesern und Leserinnen der Gartenlaube in Laufach und Frohnhofen; 26 Ngr. 1 Pf. von Bauer’s Verehrern in der „kalten Wurst“ zu Leipzig; 10 fl. rhn. vom Turnverein zu Nördlingen, durch den Vorstand Schramm; 4 Thlr. von W. F. V. in Meerane, durch Buchhändl. A. Send; 2 Thlr. „von einem schlichten Bauer aus Fuchshain“; 2 fl. 30 Xr. rhn. aus Coburg eingesandt; 1 Thlr. 10 Ngr. von G. Krantz und 6 Ngr. von Arthur, Franz und Gustav, zu Herschelswaldau bei Bunzlau; 1 Thlr. von Fr. in Berlin; 5 Thlr. auf Norderney unter den dortigen Einwohnern gesammelt; 7 Thlr. 20 Ngr. gesammelt und einer deutschen Erfindung gewidmet von einer Anzahl Mylauer Bürger, durch Ed. Kretzschmar in Mylau bei Reichenbach im Voigtland; 1 Thlr. 5 Ngr. von P. Lustig, Buchbinder in Neu-Gersdorf; 4 Thlr. 5 Ngr. von den Mitgliedern des Handwerkervereins zu Angermünde, durch den Vors. C. Giardt; 2 Thlr.: „Wer ist der Beherzte, ich frage wieder, – zu tauchen in diese Tiefe nieder?“ – 16 fl. rhn. vom Heidelberger Turnverein, durch L. Gumbel, Schriftwart; 4 Thlr. vom Männergesangverein „Concordia“ in Zittau; 1 Thlr. von einigen Lesern der Gartenlaube in Schleswig-Holstein; 2 Thlr. 10 Ngr. von Lesern der Gartenlaube zu Freyburg in Schlesien; 5 Thlr. zweite Sendung von dem Allgem. Gewerbeverein zu Danzig, durch deu Vorst. Ad. Gerlach, Schatzmeister; 10 fl. rhn. gesamm. beim Fahnenfest des Turnvereins in Lendershausen bei Hofheim, durch Turnwart Seligstein: „Raum dem Flügelschlage eines freien Mannes!“ – 3 Thlr. aus Kreuzthal: „Meine Tante – Deine Tante!“ – 1 Thlr. von H. in C., durch die Riemann’sche Hofbuchhdlg. in Coburg; 3 Thlr. von Franz Bergfeld zu Altena an der Lenne; 1 Thlr. von H. und G. in Hanau; 9 Thlr. 10 Ngr. gesammelt in den drei oberen Classen des Gymnasiums zu Zittau; 4 Thlr. von J. G. S., Em. F., H. L. und E. P. in Plauen; 6 Thlr. 5 Ngr. von der Exped. des Görlitzer Anzeigers in Görlitz laut speciellem Verzeichniß in Nr. 156 des genannten Blattes, durch den Redact. Krause; 17 fl. rhn. von Freunden der deutschen Sache zu Grünberg in Oberhessen, durch G. Stammler, Ap. das.; 20 Thlr. durch Rechtsanw. u. Notar Mangelsdorff in Graudenz (5 Thlr. aus der Casse des Handwerkervereins, 4 Thlr. 7 Sgr. 6 Pf. im Handwerkerverein und 10 Thlr. 22 Sgr. 6 Pf. außerhalb desselben gesammelt); 1 Thlr. von einigen Lesern der Gartenl. zu Berthelsdorf bei Freiberg, durch Lehrer Christoph das.; 2 Thlr. von G. F. Heine in Hannover, durch V. Lohse das.; 1 Thlr. von einer Abendgesellschaft bei E. Andernach zu Soest, durch Th. Wehrle das.; 8 Thlr. 26 Ngr. durch die Expedition der Allgäuer Zeitung; 1 Thlr. 10 Ngr. von mehreren Lesern der Gartenlaube zu Görlitz, durch Heyn; 6 Thlr. 4 Ngr. von der Redaction des Voigtländ. Anzeigers, durch A. Schröter in Plauen; 1 Thlr. von Volger in Köslin; 3 Thlr. 5 Ngr. Sammlung einer fidelen Abendgesellschaft im Gasthof zu Oberweimar am 5. Juni; 8 Thlr. gelammelt bei Gelegenheit der Feier des 175jährigen Bestehens der Schützencompagnie der Handlungsgehülfen in Stettin, durch A. Sining; 43 Thlr. 20 Ngr. gesammelt durch das von Otto F. W. Schunck, Chef des Handlungshauses Schunck und Hammmer, und A. Paul, Buchhalter im Hause von Fr. Neff und Söhne, in Constantinopel gebildete Local-Comité für W. Bauer’s deutsches Taucherwerk. Herzlichen Dank und Gruß den deutschen Männern im Orient! Möge dieses Beispiel in allen Himmelsstrichen zahlreiche Nachahmung finden!

Berichtigung. In der Quittung von Nr. 27 ist zu bemerken, daß „vom Kegelclub zu Rathenow“ nicht 2 Thlr., sondern 2 Thlr. 15 Ngr. eingesandt worden sind.

Die Summe der obigen (17.) Quittung beträgt 321 Thlr. 3 Ngr. und 94 fl. 45 Xr. rhn.

Im Auftrag des Comité’s: Ernst Keil. 

Bei Ernst Keil in Leipzig ist erschienen:

Ein Deutscher.
Roman aus der amerikanischen Gesellschaft. Von Otto Ruppius.
Geb. 27 Ngr.

Dieser in der Gartenlaube mit so vielem Beifall aufgenommene Roman erscheint hier in einer billigen Separat-Ausgabe.


Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.