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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[449]

No. 29.   1862.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Zwei Welten.

von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)


Eine Secunde lang blickte der Deutsche die Sprecherin starr an, er meinte zuerst falsch gehört zu haben; dann aber war es ihm, als presse eine steinerne Hand sein Herz zusammen; er fühlte, daß er todtenbleich geworden war; gleichzeitig indessen erkannte er auch die Nothwendigkeit, eine eiserne Herrschaft über seine Empfindungen zu bewahren, und ein plötzlicher Gedanke voller Selbsthohn über seine Einbildungen, über seine Ideen von dem besondern Wesen des Mädchens, dem er willenlos seine Zukunft in Deutschland geopfert, gab ihm wunderbar schnell seine äußere Fassung zurück. „Verheirathet!“ sagte er, leicht den Kopf beugend, „ist es vielleicht ihr damaliger Begleiter, Mr. Graham, dem Miß Winter gefolgt ist?“ Er hatte einen halben Anklang von Ironie in seinem Tone nicht zu unterdrücken vermocht, und als er aufsah, begegnete er einem eigenthümlichen, halb sinnenden Blicke Carry’s, der an seinem Gesichte hing.

„Es ist wirklich Mr. Graham, der Jessy’s Mann geworden,“ erwiderte sie, ohne den Ausdruck ihres Auges zu ändern, „hatten Sie den Gentleman kennen gelernt, Sir?“

„O, weniger als oberflächlich!“ versetzte er, sich rasch erhebend; „Sie sprachen von Ihrem Piano, Miß, es sollte mich freuen, Ihre Uebungen Ihnen möglichst angenehm machen zu können; jedenfalls sind wir jetzt Zwei und werden so gegenseitig ein Publicum für unsere Leistungen vorstellen – Sie sind wahrscheinlich eine kleine Virtuosin, vor der ich mich werde zusammen nehmen müssen?“

„O, Sie machen mir mit Ihren Erwartungen Angst, nur eine Taste anzurühren!“ lachte sie auf und schien vor der plötzlichen Lebendigkeit seines Tones kaum die auffällige Aenderung des Gesprächs-Gegenstandes zu beachten; „hier sehen Sie, was ich zuletzt gespielt habe,“ fuhr sie fort, einige Musikalien vom Piano nehmend, daraus mögen Sie sich selbst das rechte Urtheil bilden!“

Hugo begann zu blättern, er schien sich oft in einzelne Stellen völlig zu vertiefen; aber er sah kaum mehr als die Reihen der Noten. Vor seiner Seele stand nur das dunkele, verwirrende Räthsel: sie, der stolze, unabhängige Charakter, als Frau eines Mannes, dessen Verachtung sie ihm gegenüber deutlich gezeigt hatte, und er empfand eine Erleichterung, als sich jetzt die Thür öffnete, und Winter seine Frau und seinen Sohn hereinführte. Trotz der Selbstbeherrschung indessen, die er mit seiner ganzen Kraft aufrecht zu erhalten suchte, fühlte er sich doch in der nächsten Viertelstunde nur wie halb im Traume handeln, stellte er, während er sprach, die ganz abgesonderte Betrachtung an, daß die erhaltene Nachricht fast wie ein physischer Schlag gegen seinen Kopf gewirkt habe. Er sah eine ältliche, einfache Frau, welche ihm die Hand reichte, sah einen bleichen, hageren Knaben von vielleicht zehn Jahren, der ihn mit halber Scheu anblickte, aber unter seinen Worten bald Vertrauen zu erlangen schien; er sah, wie die Mutter zu seinen Bemerkungen gegen sie lächelte und Winter zufriedengestellt nickte, und doch wollte es ihm fast vorkommen, als arbeite sein Gehirn und sein Mund nur halb mechanisch, als sei Carry’s Blick, auf welchen er zu Zeiten traf, es allein, der zu seinem innern Bewußtsein dringe. Er sollte zum Abendessen dableiben, aber er fühlte die Unmöglichkeit dazu und erbat es sich, heute noch seine Privatangelegenheiten zum Uebertritt in die neue Stellung ordnen zu dürfen, und auf eine leichte Andeutung Winter’s, welchem der Wunsch des jungen Mannes nur recht zu sein schien, verstummte das gutgemeinte Nöthigen der Frau. Er nahm Abschied, empfing von Carry, die ihm bis mitten in die Seele blicken zu wollen schien, einen leichten Händedruck und sah sich bald daraus, wie von einem Zauber erlöst, allein mit Winter im Freien.

„Ich halte unser Uebereinkommen vorläufig für abgeschlossen, Sir,“ sagte dieser, „ich sehe, daß Sie sich nicht unwohl unter uns fühlen werden, und so hoffe ich auch morgen, sobald ich im Geschäfte bin, mit Ihnen über die finanziellen Punkte überein zu kommen. Das Weitere wird sich dann finden. Der Schwarze sattelt soeben Ihr Pferd, Henderson wird Ihnen sagen, wo Sie es einstellen, und dann besorgen Sie nur ohne Weiteres Ihren Umzug. Das Zimmer ist für Nothfälle stets im Stande gehalten worden, und sollte Ihnen noch etwas darin fehlen, so werden wir morgen nachhelfen.“

Jeder Grund, welchen sich Hugo im Heimlichsten seiner Seele für Winter’s Freundlichkeit gegen sich angegeben hatte, erschien ihm, seit er Jessy’s Verheirathung erfahren, als nirgends mehr stichhaltig, und unwillkürlich überkam ihn jetzt eine Art Befremdung über ein Wohlwollen seines künftigen Principals, das er sich, selbst in Amerika, bei dem einfachen Verhältnisse eines Geschäftsherrn zu seinem Angestellten, nicht zu erklären vermochte. Sollte auch seine frühere gesellschaftliche Stellung zu einer Rücksicht für ihn beitragen, so hatte er doch auf der andern Seite noch nicht einmal eine Probe von seiner geschäftlichen Brauchbarkeit abgelegt, und in der stillen, innern Erregung, welche allen seinen Empfindungen eine eigenthümliche Schärfe gab, sagte er: „Ich werde durch Ihre Güte fast ängstlich, Mr. Winter; noch weiß ich nicht, ob meine Fähigkeiten Ihren Ansprüchen so genügen werden, als Sie es vorauszusetzen scheinen, und noch liegt nirgends ein [450] Grund vor, mir ein so specielles Wohlwollen zuzuwenden, als ich es Ihnen schon jetzt zu danken habe –“

Winter’s Hand, die sich auf seine Schulter legte, unterbrach seine Worte. „Gut, Sir!“ erwiderte dieser, „es freut mich, daß Sie meinen Wunsch, Ihnen den Anfang in unserem Lande zu erleichtern, anerkennen. Sie haben Recht, ich hätte zwanzig andere, mehr als Sie routinirte junge Leute haben können; aber ich arbeite grundsätzlich mit Niemand, der vielleicht morgen mit derselben Gleichgültigkeit mein Geschäft verläßt, als er es heute betreten. Ich kenne Sie nur oberflächlich aus Ihren Berührungen mit meiner Tochter und unserer ersten Begegnung; trotzdem ist mir das Wenige genug zur Beurtheilung Ihres Charakters gewesen. Sie werden, wo Sie sich anschließen, dies mit ganzer Seele thun, werden das Interesse eines Geschäfts, dem Sie sich widmen, zu dem Ihren machen, und so handele ich nur in meinem eigenen Vortheile, wenn ich gleich völlig Besitz von Ihnen nehme und Ihnen möglichst schnell eine Heimath zu schaffen versuche. Die Anforderungen zur Gegenleistung werden sich Ihnen bald genug zeigen, und darum nehmen Sie nur jetzt die Dinge, gerade wie sie sich bieten! Da ist das Pferd,“ fuhr er fort, als an der Hand eines Negers ein schlankes, feuriges Thier herantanzte; „es hat eine Zeit lang gestanden, und Sie werden es gut im Zügel halten müssen; Jessy hat ihm ohnedies wenig Sanftmuth beigebracht!“

Der Deutsche hätte auf die ihm gebotene Erklärung kaum etwas Anderes thun können, als seinem Schicksale zu danken, und so wandte er seine Aufmerksamkeit dem Thiere zu, das früher ihr Eigenthum gewesen; fast überkam ihn ein Gefühl, als sei es ein hinterlassenes Erinnerungszeichen an ein verlorenes Glück. Er nahm die Zügel und klopfte schmeichelnd den feinen Hals des Pferdes, blickte ihm dann in die lebendigen Augen und sprach beruhigende Worte zu ihm, untersuchte unter steten Liebkosungen die Festigkeit des Sattelgurtes, und als es unter seiner Behandlung sichtlich Ruhe gewann, nahm er die Zügel kurz zusammen und schwang sich leicht auf. Kaum fühlte es indessen die Last, als es sich auch hob und ein paar kräftige Versuche machte, die Zügel zu durchbrechen; zweimal drehte es sich unter der fesselnden Macht des Reiters im Kreise, dann aber schien es seinen Meister zu erkennen und dem beruhigenden Zusprechen desselben Gehör zu geben; mit schäumendem Gebisse stand es, und nun reichte er dem künftigen Principale die Hand, der ihm ein lachendes: „Sie sind der Mann, Sir! ohne viel Lärm seinen Willen durchgesetzt!“ zurief, grüßte Carry, die vom Portico aus mit leuchtenden Augen sein Aufsitzen beobachtet, und sprengte davon.

Erst als er sich auf der großen Straße fand und das Pferd in regelmäßigem leichtem Trabe vorwärts ging, versuchte er die erhaltenen Eindrücke zu ordnen, aber er kam nicht über den Versuch hinaus. Es war ihm, als habe er soeben jedes bestimmte Ziel für sein Leben verloren, und dennoch fand er sich in eine Lage versetzt, die ihm nach allen Seiten hin so wohl that, daß er kaum recht zu dem Gefühle seines Unglücks zu kommen vermochte. Die Bewegung des Thieres unter ihm, der Gedanke, es zu seiner ausschließlichen Disposition zu besitzen, regten sein Blut wohlthuend auf, Carry’s helle, lebendige Augen traten vor ihn, und erst als er unwillkürlich einen Vergleich zwischen den beiden Schwestern ziehen wollte, als Jessy’s hohe Gestalt, ihr tiefblaues, wunderbares Auge und der eigenthümliche Reiz, der ihre ganze Erscheinung auszeichnete, vor seinem innern Ange standen, erfaßte ihn der volle Schmerz einer getödteten Hoffnung, von der er noch kaum gewußt, wie tief sie sein ganzes Denken und Empfinden durchdrungen, begann er über den Widerspruch, der in dieser Heirath und dem stolzen Wesen des Mädchens lag, zu grübeln – es war ihm, als habe sie sein ganzes Innere kennen, als habe sie wissen müssen, daß er kommen werde, und er mochte eher an ein Räthsel, das er jetzt nicht zu lösen vermöge, glauben, als an eine freie Zustimmung ihrerseits zu dieser sonderbaren, raschen Verbindung.

Die Dämmerung fing an bereits einzubrechen, als Hugo in die Stadt einritt; nach Kurzem indessen erreichte er Winter’s Geschäftslocal, wo soeben der Graukopf, welchen er am Morgen in der Office gesehen, die Thüren zu schließen begann. Der Ankommende benachrichtigte den Alten von seinem beabsichtigten Einzuge und reichte ihm „zu guter Cameradschaft“ die Hand; Henderson faßte sie und ließ einen eigenthümlich musternden Blick über die ganze Erscheinung des jungen Mannes laufen. „Weiß schon das Nöthige, Sir,“ nickte er dann, „und ich denke, wir werden uns vertragen; wenn Sie zurückkommen, sollen Sie Alles bereit finden!“ Er deutete ihm den Weg durch eine Seitenthür nach dem obern Stock an, bezeichnete ihm darauf einen nahegelegenen Leihstall zum Einstellen des Pferdes, und nach zehn Minuten stand Hugo wieder vor dem deutschen Gasthause, um sich hier zu verabschieden. Die bereits erleuchtete Schenkstube war zum großen Theil mit Gästen gefüllt, jungen Leuten im Arbeitsanzuge und älteren Männern im Bierrocke mit der langen deutschen Pfeife; dazwischen aber bewegte sich eine Figur in halbaufgestreiften Hemdärmeln, und der Eingetretene erkannte schnell den für ihn als Barkeeper bereits eingetroffenen Ersatz. Hinter dem Schenktisch war der Wirth mit Füllen und Spülen der Gläser beschäftigt und schien die Bewegungen des Neulings zu überwachen und zu leiten – das war also das Bild, in welchem Hugo zum Beginn seiner amerikanischen Thätigkeit die Hauptrolle hatte spielen sollen, und mit einem unwillkürlichen Athemzuge, als habe ihn jetzt noch der Gedanke bedrückt, ließ er sich an einem Seitentische nieder, um sich vor seinem Auszuge mit einem Imbisse zu stärken.

Das laut geführte Gespräch der Gäste an dem langen Haupttische schien sich um einen Gegenstand von allseitigem Interesse zu drehen; so viel der junge Mann in seiner Unkenntnis; aller amerikanischen Verhältnisse verstehen konnte, berührte es die Verwaltung der städtischen Finanzen, und nicht ohne Verwunderung hörte er die Handlungsweise der obersten Beamten einer Kritik unterziehen, wie er einer solchen im offenen Wirthshause noch nicht begegnet war. Es wurde der Verdacht aufgestellt, daß die contrahirten Schulden der Stadt weit über das bewilligte Maß hinausgingen, ohne daß sich doch eine Verwendung des Geldes nachweisen lasse; daß alle öffentlichen Arbeiten der Stadt um das Doppelte zu hoch angerechnet und nur an Leute vergeben würden, welche mit der Hälfte des von ihnen quittirten Betrages zufrieden seien; daß die kleinen Bonds der Stadt im allgemeinen Verkehr künstlich entwerthet würden, um sie dann billig aufkaufen und der Stadt wieder für voll anrechnen zu können – es wurde ein ganzes Betrugssystem angedeutet, durch welches die Häupter der Stadt sich bereicherten, ohne daß es den Steuerzahlern möglich werde, sich einen Einblick in das Unwesen zu verschaffen. Hugo horchte lebendig interessirt auf diese Enthüllung amerikanischer Zustände, war überrascht von dem klaren Verständniß junger Leute, die ihrem ganzen Aeußern nach nur zum Arbeiterstande gehörten, und vergaß eine kurze Zeit lang seine eigenen Angelegenheiten.

Da trat der Wirth langsam hinter dem Schenktische hervor. „Ja, das Reden ist recht gut,“ sagte er, seine Mütze scharf rückend, „ändern wird es aber doch nichts, wenn nicht eine ordentliche That folgt, wie sie sich auf ruhigem und gesetzmäßigem Wege ausführen läßt!“

„Ruhig und gesetzmäßig!“ lachte ein junger Mann, welcher den Hauptsprecher zu machen schien, „haben Sie nicht selber im Stadtrathe auf eine Untersuchung angetragen, Vater Marquart, und sind überstimmt worden?“

„Habe auch gar nichts Anderes erwartet!“ nickte Jener, „und nun haben wir eben das Recht, uns auf andere ruhige Weise zu helfen. Ich denke, schon nächste Woche werden wir eine allgemeine Bürgerversammlung haben, die aus eigener Machtvollkommenheit ein Untersuchungs-Committee einsetzen wird. Wer nun bis jetzt hat reden können, der sorge dann dafür, daß in seiner Nähe kein Deutscher zu Hause bleibt. Wir werden nicht allein sprechen, sondern die Beamtenpartei auch; das Geld wird nicht geschont werden, damit Alles wieder im Sande verläuft, und der Aengstlichen giebt es auch genug, die sich vorreden lassen, der Credit der Stadt müsse unter dem lautwerdenden Verdachte zu Grunde gehen. Dann heißt es, eine sichere und respectable Majorität für uns haben! Könnt’s ruhig weiter erzählen, damit sich Jeder bereit halte; die Sache ist schon ziemlich fertig!“

Er wandte sich von seinen Zuhörern, unter welchen die Mittheilung plötzlich ein eifriges allgemeines Gespräch hervorrief, und traf mit seinem Blicke auf den Referendar. „Nun?“ fragte er, diesem zunickend, „die Stelle wirklich angenommen?“

„Ich wollte soeben mein Gepäck holen und mich noch einmal für Ihre Freundlichkeit bedanken!“

„Dachte ’s wohl! aber da es einmal so ist, bleibt der alte Marquart doch Ihr Freund, und wenn Sie einmal in irgend einer Lage einen Mann, der’s ehrlich meint, brauchen, so wissen [451] Sie, wo ich wohne!“ Er drückte seinem Gaste die Hand und rief nach dem Porter zur Fortschaffung des Gepäcks. –

Es lag ein stiller Druck auf dem jungen Manne, als er durch die dunkelnden Straßen nach seiner künftigen Wohnung schritt; und er wußte, daß es nicht allein die Vernichtung aller seiner stillen Träume war, was auf seiner Seele lastete; es waren auch die soeben gehörten Gespräche, welche durch Marquart’s Hinzutritt eine ganz eigene Verbindung mit dem erhielten, was der Wirth am Morgen über Winter’s Geschäft gegen ihn geäußert. Und je weniger er die Möglichkeit sah, sich durch sich selbst Klarheit zu schaffen, je mehr fühlte er eine unbestimmte Unruhe in sich wachsen. Erst als er sich das Familienbild, das sich ihm heute geboten, wieder vor die Augen rief, als ihm Winter’s ruhiges Wohlwollen gegen ihn selbst in die Erinnerung kam, als er darauf, die erhellte Treppe in dem Geschäftshause hinaufgestiegen, in das offenstehende erleuchtete Zimmer trat, das ihm so behaglich und heimlich wie ein von guten Geistern bereitetes Asyl entgegenblickte, vermochte er es wieder, mit einem kräftigen Entschlusse alle beunruhigenden Gedanken von sich zu werfen und seinem eigenen spätern Blicke das Urtheil anheim zu geben.

Er hatte kaum den Packträger entlassen und einen Blick über die Einzelnheiten der Zimmer-Einrichtung geworfen, als der Alte mit einem „Gutes Glück zum Eintritt, Sir!“ in der Thür erschien. „Mein Zimmer ist nach hinten, gerade hier gegenüber,“ fuhr er fort, „falls Sie noch irgend etwas zu fragen hätten!“

Hugo meinte in seiner augenblicklichen Stimmung kaum einen willkommeneren Gesellschafter finden zu können. „Ich denke, ich besehe mir Ihr Zimmer ein anderes Mal, Mr. Henderson, und wir rauchen hier eine Cigarre zusammen,“ erwiderte er; „zu fragen hat ein Mensch, der wie ich in ganz unbekannte Verhältnisse tritt, nur zu viel, und Sie erzeigen mir eine wahre Liebe, wenn Sie sich ein Weilchen zu mir setzen.“ Er deutete nach dem bequemen Divan und öffnete dann sein Cigarren-Etui.

Der Alte strich sich mit einem Lächeln voll stiller Laune das glattrasirte Kinn. „Ich rauche zwar höchst selten,“ sagte er, „aber ich werde mich heute, da Sie noch keine bessere Gesellschaft haben, Ihnen doch zur Disposition stellen!“ Er trat heran, zündete langsam die gebotene Cigarre an der Gasflamme an und zog dann einen Stuhl herbei, sich ziemlich steif dein Divan gegenüber niederlassend.

„Sie werden es nicht lächerlich finden, Sir,“ begann Hugo, sich bequem in die weichen Polster versenkend, „daß ich noch nicht eine Idee von dem Geschäfte habe, dem ich angehören soll, und doch möchte ich in dieser vollen Unwissenheit nicht gern meinen Anfang machen. Wollen Sie mir nicht eine Art Bild von dem Wesen, der Betriebsweise und was sonst dazu gehören mag, geben? ich würde Ihnen von Herzen dankbar dafür sein.“

Der Alte hob nachdenklich die Augenbrauen, während ein launiger Zug nicht von seinem Munde wich. „Ich muß Ihnen sagen, Sir,“ begann er nach einer kurzen Pause zu Boden blickend, „daß ich zwar schon im Geschäfte bin, so lange es besteht, daß ich mir aber die Regel gemacht habe, mich nur um das zu kümmern, was mir eben übertragen wird. – Und ich habe mich dabei sehr wohl gestanden, Sir,“ fuhr er langsam aufsehend fort, „habe meine Arbeit gewissenhaft gethan, ohne mir einen Gedanken oder eine Sorge über Dinge zu machen, die ich doch niemals völlig hätte übersehen können, und das Uebrige dem Principale überlassen. Und ich denke, wenn Sie ruhig mit demselben Grundsätze anfangen, werden Sie selbst kaum viel von Ihrer Unkenntniß wahrnehmen. Unser Geschäft ist, wie es auf dem Schilde steht, ein Commissions- und Speditions-Geschäft, das in die allerverschiedensten Handelszweige einschlägt, und so warten Sie nur, wohin Sie Mr. Winter stellt, dann wird Ihnen die Kenntniß schon von selbst kommen!“

Hugo blickte den, alten Manne in’s Gesicht und wußte nicht, war dieser wirklich so harmlos, als er sich stellte, oder wollte er ihm eine Lehre für sein künftiges Verhalten geben; indessen lag für seine augenblickliche Lage eine Art Trost in den Worten, und er beantwortete den unschuldigen Gesichtsausdruck des Alten mit einem Zuge offenen Humors. „Auf diese Weise werde ich allerdings nicht viel zu fragen haben!“ sagte er.

„Warum nicht, Sir?“ war die ruhige Erwiderung, „außergeschäftlich weiß ich vielleicht etwas mehr.“

Der junge Mann drückte einen Augenblick die Hand gegen die Augen. „Nun, ich hörte heute den Namen eines Mr. Graham nennen, der vor Kurzem Miß Winter geheirathet hat,“ begann er dann von Neuem und erhob sich rasch, um seine Cigarre an die Gasflamme zu halten.

Henderson nickte unmerklich, und ein leiser Zug von Spannung ging über sein Gesicht, der aber schon wieder verschwunden war, als der Andere seinen Platz von Neuem einnahm.

„Kennen Sie den Gentleman, Mr. Henderson, oder wissen Sie vielleicht, wie die Sache sich so geschwind gemacht hat? Ich lernte Miß Winter vor kaum zwei Monaten in Deutschland kennen und erhielt dort keine Ahnung, daß sie Braut sei!“

„Muß doch wohl so gewesen sein, denn es ging hier mit der Heirath so geschwind, daß kaum Jemand außer dem Hause etwas davon erfuhr,“ erwiderte der Alte, den jungen Mann mit einem eigenthümlich aufmerksamen Blicke betrachtend; „bin indessen selbst nicht recht darin klug geworden, Sir, so viel Vertrauen mir auch sonst Miß Jessy schon seit ihren Kinderjahren geschenkt hat. Mr. Graham kommt jeden Tag in unsere Office, und dort können Sie ihn auch morgen sehen. Jedenfalls werden Sie aber doch der jetzigen Mrs. Graham Ihren Besuch machen, da Sie mit ihr bekannt sind?“

Hugo betrachtete aufmerksam die Asche seiner Cigarre. „Ich bin ihr dazu wohl kaum nahe genug befreundet gewesen, Sir; weiß auch nicht einmal, ob ich in meiner jetzigen Stellung ein Recht dazu hätte!“ sagte er, ohne aufzublicken, und Henderson’s Blick schien sich einen Moment nur um so schärfer auf sein Gesicht zu heften.

„Ich meinte aber doch, daß Mr. Winter von Verpflichtungen gegen Sie gesprochen hätte, durch welche Sie sich auch seine eigene Familie geöffnet!“ versetzte der Letztere. „Ich sollte denken, Mrs. Graham, die ohnedies recht einsam lebt, da ihr Mann den ganzen Tag im Geschäft ist, würde sich freuen, einen europäischen Bekannten wieder zu sehen, mit dem sie plaudern könnte!“

Es lag etwas Sonderbares in dem Tone des Sprechenden, das den Deutschen rasch aufsehen machte, aber er begegnete nur einem gutmüthigen, völlig unschuldigen Gesichte. „Ich bin nur als Lehrer in Mr. Winter’s Familie eingeführt,“ erwiderte er, „und es ist für Jeden gut, nicht über den Kreis, der ihm angewiesen ist, hinauszugehen. Mrs. Graham wird mich am wenigsten vermissen!“ Aber die letzten Worte schienen ihm, kaum daß er sie gesprochen, mehr zu sagen, als er beabsichtigt; wider seinen Willen hatte darin ein Ton aus seinem verletzten Herzen geklungen, und er erhob sich rasch, sich nach seinem Gepäck wendend, als wolle er sich dort nach irgend einem Gegenstände umsehen.

Henderson blickte scharf vor sich nieder, nickte dann wie einen eigenen Gedanken bestätigend und verließ gleichfalls seinen Platz.

„Sie werden wohl noch auspacken und einrichten wollen, ich lasse Sie also lieber allein, Sir,“ sagte er; „wenn Sie mich in irgend einer Weise nöthig haben, so wissen Sie, wo ich bin!“

Hugo fühlte sich nicht mehr in der Stimmung, ihn aufzuhalten, und der Mann hatte überdies Recht, der Ankömmling hatte seine Habseligkeiten einzuräumen und sich heimisch zu machen, wenn er beim morgenden Beginn der Arbeit in Ordnung sein wollte. Er drückte dem Alten die Hand, und als die Thür hinter diesem zugefallen war, fing er an seinen Koffer zu öffnen und sich mit Eifer seiner neuen Einrichtung zu widmen. Lange aber währte es nicht, so begannen einzelne Stücke des stattgehabten Gespräches in seinem Ohre wieder zu klingen – „Mrs. Graham, die ohnedies recht einsam lebt“ – und er strebte vergebens, sich ein Bild von der Zurückgezogenheit eines so lebensprühenden Charakters zu machen, wie ihm der ihre entgegengetreten war. Und warum lebte sie einsam, sie, welche die Krone der gesellschaftlichen Cirkel hätte sein können? Dann folgte die Idee eines Besuchs bei ihr, die Henderson geäußert, und er preßte die Hand gegen die Stirn. Seine ganze Sehnsucht, sich noch einmal in dieses wunderbare Auge versenken, in ihrem klaren Lächeln berauschen zu können, erwachte plötzlich in ihm; hatte er doch noch niemals weiter hinaus gedacht, als ihr hier wieder zu begegnen; und doch, wenn er sich jetzt eine Wiederbegegnung dachte, empfand er, daß seine Gefühle in stillen Hoffnungen gewurzelt hatten, die nun wie Nebel zerronnen waren. Sie war verheirathet; was hatte er Anderes zu erwarten, als daß sie ihm mit der freundlichen Würde einer jungen Frau entgegentrat und wohl nicht einmal durch einen leichten Farbenwechsel die Erinnerung an einen Augenblick andeutete, der in ihm unauslöschlich stand? was konnte ihm ihr Auge, ihr Lächeln noch sagen, als [452] daß er ein Thor gewesen war? Er mußte ausstreichen, was in ihm gelebt, und vermochte er das nicht, so galt es wenigstens seine äußere Haltung zu retten, falls er ihr jemals vor Augen treten würde – mit seinem Willen aber sollte das Letztere niemals geschehen.

Er war fast unbewußt dem Fenster zugeschritten, ließ sich dort auf einen Sessel nieder und starrte, den Kopf in die Hand gestutzt, in die dunkele Nacht hinaus. Von der Straße herauf aber klangen jetzt mezza voce die Töne eines Leierkastens:

Ach wie ist’s möglich dann,
Daß ich Dich lassen kann?

und es wurde ihm, als solle er das Gesicht in die Hände drücken und sich ausweinen über ein ganzes verlorenes Lebensglück.




7. Die erste Wiederbegegnung.

Als Hugo am nächsten Morgen von seinem Frühstücke im nächstgelegenen Gasthause, wohin ihn Henderson gewiesen, zurückkehrte, fand er bereits Winter’s Wagen vor der Thür des Geschäftslocals, und besorgt, den Beginn der Geschäftsstunden versäumt zu haben, beeilte er sich die Office zu erreichen. Dort war aber auch des Buchhalters Platz noch leer, und Winter, am offenen Geldschrank stehend, drehte ihm lächelnd das Gesicht zu. „Ich freue mich, Sir, daß Sie schon hier sind,“ sagte er, „unsere Arbeiten beginnen in der Regel erst nach acht Uhr, indessen möchte ich mit dem nächsten Dampfer eine Sendung nach Europa fortschaffen, für die, wie ich erst bemerkt habe, keine Viertelstunde mehr zu verlieren ist. Sie sollen damit gleich Ihr Amt als deutscher Correspondent antreten. Nehmen Sie vorläufig von meinem Pulte Besitz, morgen soll für andere Bequemlichkeiten gesorgt sein. Hier sind die nöthigen Notizen, welche ich für Sie aufgesetzt habe, Sie werden mir sagen, was Ihnen darin unverständlich ist; hier sind eine Partie Werthpapiere, die ich Ihnen übergebe, damit Sie danach die nöthigen Angaben in Ihre Briefe einschalten; hier ist das Copirbuch, nur für derartige Geschäfte bestimmt, und Sie werden die Weise der Eintragung aus den vorhergehenden Fällen erkennen. Jetzt übersehen Sie sich ruhig die Angelegenheit – ich darf Ihnen dabei nicht erst sagen, daß es in der Office eines Kaufmanns nichts so Unbedeutendes giebt, das nicht strengstes Geschäftsgeheimniß bleiben müßte – und dann sagen Sie mir, was Sie noch zu weiterer Erläuterung bedürfen.“

Der junge Mann hatte nicht ohne ein leichtes Bangen nach den ihm vorgelegten Papieren, die eine Leistung in einer ihm völlig fremden Sphäre verlangten, gegriffen und die Durchsicht der leitenden Notizen begonnen, während Winter sich eine Cigarre anzündete und langsam den Raum durchschritt; bald aber sah Jener, daß er kaum in seiner Arbeit fehl gehen könne. Es handelte sich um den Verkauf einer Anzahl Stadt-Obligationen durch verschiedene Bankhäuser in Deutschland und um die Darstellung der Sicherheit, welche die Papiere böten, sowie der besonderen Vortheile des Geschäfts für die Unterhändler. Die Angaben waren so exact, daß er, sobald er nur den Sachverhalt gefaßt, nirgends mehr einen Zweifel fand; zu größerer Sicherheit indessen wandte er sich nach dem Geschäftsherrn und gab diesem eine ausführliche Uebersicht dessen, was er zu schreiben gedenke.

„Vortrefflich!“ nickte Winter, und um seinen Mund spielte es wie eine unterdrückte Befriedigung, „man hört, daß Sie den Advocaten in sich haben und Ihren Fall zu vertreten wissen. Wenn Sie sich die Anfangsschwierigkeiten Ihres neuen Standes nicht verdrießen lassen und fest an der Stange halten, die Sie jetzt ergriffen haben, so will ich Ihnen eine Zukunft verbürgen, Sir! Bis Mittag haben wir Zeit die Sendungen zum Abgang fertig zu machen, und bis dahin werde ich zur Unterschrift wieder zurück sein!“ Er griff nach seinem Hute, ging nach seinem Wagen, und Hugo begann sich auf dem angewiesenen Platze, der alle Erfordernisse für seine Arbeit bot, heimisch zu machen. Einige Minuten musterte er die vor ihm liegenden Werthpapiere, die in ihrer Art ihm völlig neu waren, bald aber ward sein Auge durch eine der Unterschriften angezogen: Charles B. Graham, Comptroller. War das Winter’s Schwiegersohn, welcher dieses hauptsächliche Amt in der städtischen Finanz-Verwaltung einnahm? Mit dieser unwillkürlichen Frage aber traten auch alle die Beschuldigungen, welche gestern im deutschen Gasthause auf die Finanz-Beamten der Stadt gehäuft worden waren, in seine Erinnerung, mußte er an die halbdunkeln Aeußerungen des Wirths über Winter’s Geschäft denken, und einen Augenblick lang wollte ihn eine Art Unruhe über seine eigene Stellung überkommen; ein aufmerksamer Blick auf die Obligationen indessen benahm ihm seine unbestimmten Befürchtungen. Die Papiere waren, wie es deutlich darin ausgedrückt, auf Grund eines bestimmten Gesetzes ausgestellt worden, allen Formen war augenscheinlich genügt, und Winter hatte ihre Verwerthung sichtlich nur als einfaches Geschäft übernommen. Hugo begann ruhig seine Arbeit; noch einmal indessen hielt er kurz nach dem Beginn seines ersten Briefs an. Winter verkaufte die Stadtschuldscheine mit 25 Procent Verlust, trotzdem die Sicherheit dafür eine überflüssig genügende und der Zinsfuß der doppelte des in Deutschland gebräuchlichen war, und erst jetzt fiel es dem Schreibenden auf, daß man bei einem solchen Preise sich nach Europa wenden mußte, um gute Papiere los zu werden. Indessen gab Winter in seinen Notizen an, daß die Stadtbehörde ihn zu dem Nachlasse autorisirt habe, um jeder ferneren Zögerung in dem Abschlusse des Geschäfts vorzubeugen, und mit einem halben Kopfschütteln schrieb Hugo weiter – er hatte allerdings zu wenig Erfahrungen im Geldgeschäfte, um auf sein eigenes Urtheil etwas geben zu können.

Nach einer Viertelstunde trat der Buchhalter ein, warf indessen nur einen flüchtigen Blick auf die neue Erscheinung und nahm von seinem Platze Besitz, bald sich völlig in seine Arbeit versenkend. Henderson war in dem äußern Raume zwischen den Ballen und Fässern beschäftigt, betrat nur ab und zu einmal die Office und schien sich eben so wenig um den neuen Mitarbeiter zu bekümmern, der ohne aufzublicken sein Werk förderte, um nicht hinter Winter’s Erwartungen zurück zu bleiben. Schon eine halbe Stunde vor Mittag griff er nach dem Copirbuche, um darin seine Aufgabe zu enden, und der erste Blick auf die geöffneten Blätter belehrte ihn, daß das Buch bisher von dem Principale allein geführt worden war. Es zeigte sich in tabellarischer Form, und Hugo’s Auge lief über Geschäfte in den mannigfachsten Werthpapieren, die, je weiter er zurückblätterte, sich zu vielen Millionen aufsummirten; nach den verschiedensten Theilen von Europa waren die verkauften Fonds gegangen; mit Deutschland schien aber jetzt erst die Verbindung eröffnet worden zu sein. Unwillkürlich warf der junge Mann einen Blick über die einfache Geschäftsstube mit ihrem verkrümmten Buchhalter, in welcher solche Summen umgesetzt wurden, und hinaus auf die Speditionsgüter, deren Gewinn neben jenen Geschäften doch kaum der Mühe lohnen konnte. Dann aber stieg eine halbe Verwunderung in ihm auf, daß Winter schon am ersten Tage seines Eintritts ihm einen so unbedingten Einblick in seine Angelegenheiten gestatte. Hatte der Mann ihn durch ein sofortiges Vertrauen gewinnen und sich dadurch am erfolgreichsten seiner Discretion versichern wollen, so hatte er bei ihm allerdings den rechten Weg eingeschlagen; demohngeachtet fühlte sich Hugo fast mehr drückend als freudig davon berührt; immer stand im Hintergründe seiner Seele ein Gefühl, als dürfe er sich nicht ohne Vorbehalt einer Stellung hingeben, die noch nicht völlig klar vor seinen Augen lag, so sehr er auch Ursache hatte, sie als ein völliges Glück für sich zu betrachten.

Genau zu Mittag trat Winter wieder in die Office. Er übersah nur mit einem flüchtigen Blicke die sauber geschriebenen deutschen Briefe und sagte launig: „Davon verstehe ich nichts und muß mich völlig in Ihre Hand geben!“ Sorgfältiger aber ging er Hugo’s Notizen im Copirbuche durch und nickte endlich zufrieden, das Buch wieder in einem verschlossenen Fache des eisernen Schrankes verwahrend. „Und nun gehen Sie zu Tische, Sir,“ fuhr er fort, „das Weitere werde ich selbst besorgen. Für den Nachmittag aber,“ setzte er lächelnd hinzu, „wird Sie wohl Carry erwarten; ich habe ihr versprechen müssen, Sie nicht hier zu halten!“

Hugo konnte sich nur schweigend verbeugen. Das ganze Benehmen des Mannes that ihm so wohl, und doch war es ihm, als hätte er sich lieber in dem einfachen Verhältnisse eines Geschäftsgehülfen zu ihm gesehen, das eine geringere Pflicht der Dankbarkeit ihm aufgelegt hätte.


(Fortsetzung folgt.)

[453]
Die nordamerikanischen Trapper.

Es giebt wohl kaum ein Gewerbe, das reicher an Entbehrungen, Beschwerden und wirklichen Gefahren wäre, als das der Trapper, Fallensteller, Biberfänger, Pelzjäger, Tauschhändler, Voyageurs oder schlechtweg Rocky-Mountains-Männer, oder welcher Name ihnen nur immer im „Fernen Westen“ und in der civilisirten Welt beigelegt sein mag. Ja, reich an Entbehrungen und Gefahren, aber auch reich an mancherlei Genüssen; denn Genüsse muß die Natur dem einsamen Jäger der Urwildniß doch wohl, gleichsam als Entschädigung, bieten, oder es wäre kaum denkbar, daß er, wenn der Zufall ihn in den Bereich der Civilisation führt, sich immer wieder hinaussehnt nach dem freien ungebundenen Leben, welches er im Lauf der Jahre so lieb gewonnen und an dem er mit ganzer Seele hängt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß nur die wenigsten dieser verwegenen Leute zu erklären wissen, warum sie ihr gefährliches Gewerbe nicht mit der glänzendsten und sorgenfreisten Existenz, umgeben von schimmerdem Luxus in dichtbevölkerten Städten vertauschen möchten, und ihren eigenthümlichen Neigungen diesen oder jenen nichtssagenden Grund unterschieben; daß aber das Grün der Steppe ihren Augen, die reine Gebirgsluft ihren Lungen fast so nothwendig geworden, wie der gefleckten Forelle das frische Quellwasser, daß ferner hin und wieder der Schneesturm ihre Schläfen umheulen, der schreckliche Prairiebrand sie tagelang hetzen muß, wenn Geist und Herz frisch und elastisch bleiben sollen, das ahnen sie nicht. Sie nehmen die Eindrücke der Alles beeinflussenden Natur in sich auf, ohne im Stande zu sein, sich Rechenschaft darüber abzulegen. Was den noch rüstigen Bewunderer und Verehrer einer jungfräulichen, unentweihten Natur und der sie belebenden Kraft fesselt, mit Sehnsucht erfüllt und von Neuem hinaus treibt in die Ferne; was die spätere Erinnerung mit anmuthigen Bildern durchwebt, den Greis sich so gerne, so wehmuthsvoll in die Vergegenwärtigung seines Wanderlebens versenken läßt und den Abend seiner Tage verschönt und erheitert, das schreibt der westliche Jäger allein dem unbesiegbaren Hange nach schrankenloser Freiheit, dem erhebenden Bewußtsein zu, „keinen Herrn über sich zu haben.“

Balduin Möllhausen als Trapper.[1]

O, es ist ein herrliches Leben, welches die Trapper führen, und wer es erst gekostet, vor einigen kleinen Abenteuern nicht zurückbebt und sich mit dem Gedanken an Hunger und Durst, an einen geschwungenen Tomahawk und an die furchtbar bewaffnete Branke des grauen Gebirgsbären oder, was oft nicht weniger gefährlich, an die Cameradschaft mit rauhen, sogar räuberähnlichen Gefährten vertraut gemacht hat, der räumt gewiß gern ein, daß es kein herrlicheres, kein romantischeres Dasein giebt: den größten Theil des Jahres, auch wohl einige Jahre hinter einander mit leeren Taschen im wildreichen Gebirge im beständigen Kampfe mit den Elementen und den widrigsten Verhältnissen; dann wieder auf Monate, wenn man nicht gerade durch freiwillig eingegangene Verpflichtungen auf einem Pelztauscherposten zurück gehalten wird, oder sich durch einige zärtliche schwarzäugige Squaws zu sehr hat umstricken lassen, in irgend einer Grenzstadt, um, unbekümmert um das Nasenrümpfen strenger Sittenrichter, ähnlich den von langer Fahrt heimkehrenden Seeleuten, den sauer erworbenen Verdienst zu verjubeln und demnächst wieder die Urwildniß und die rothhäutigen Jagdgefährten aufzusuchen. Was fragt der westliche Jäger darnach, ob das alte, von Rauch geschwärzte Lederhemde allmählich zerfällt, oder ob die Mocassins nicht länger zusammenhalten wollen und dafür ein Stück rohe Wildhaut den Fuß gegen Dornen und scharfe Steine schützt? Büchse, Messer, Beil und Pferd sind Alles, was er bedarf; sie bilden seinen Reichthum, und inmitten der unabsehbaren Steppe wie vom Gipfel hoch emporstrebender Berge schaut er mit dem Gefühl eines Herrschers auf seine Umgebung. Er ist frei wie der Sturm, der vom Nordpol bis hinab zum mexicanischen Golf über die endlosen Grasfluren fegt; frei wie der Vogel, der mit den Wolken um die Wette von Zone zu Zone eilt. Er ist Gebieter, wohin er auch immer seine Schritte lenkt, und aus welcher Quelle seine Begriffe von Moral und Religion auch entspringen mögen, in jedem Augenblick ist er bereit, die letzte Reise nach den glückseligen Jagdgefilden anzutreten.

Doch nicht Jedem ist es vergönnt, einen Blick in jene verlockenden Urwildnisse zu werfen oder gar dieselben zur Heimath zu wählen; denn wo vielleicht die Phantasie durch romantische Schilderungen aufgeregt wurde und in Folge dessen der feste Wille zur Verwirklichung von langgehegten Jugendträumen erwachte, da fehlt in vielen Fällen der Körper, der, ohne zu unterliegen, der tödtlichen Hitze des Hochsommers oder den erstarrenden Regen- und Schneestürmen eines unbarmherzigen Winters Trotz zu bieten vermöchte; und wo dann wieder die physischen Kräfte zum Kampf gegen das Klima ausreichen, da sind es andere Opfer, die den Neigungen und Gewohnheiten gebracht werden müssen.

Wem der Duft der Blumen nicht die künstlich erzeugten Wohlgerüche reichlich ersetzt; wem es schwer wird, üppiges Wohlleben mit der allereinfachsten, zuweilen sehr kärglichen Nahrung und einem harten Lager unter dem freien Himmel zu vertauschen; wer zu Zeiten der Noth reuig an die verweichlichenden Genüsse zurückdenkt, welche die Civilisation darbietet; wer sich sehnt nach glatten Worten und salbungsvollen Lehren von eifernden, unduldsamen Menschen, anstatt mit Andacht dem Chor der tausendfältigen Stimmen der Natur zu lauschen, der gehört nicht nach dem fernen Westen. Der Anblick der derben Canadier, die in äußerer Erscheinung und Benehmen den Eingeborenen an Wildheit, allerdings anderer Art, kaum etwas nachgeben, wird ihm Scheu einflößen, und [454] eine harte, sehr harte Schule hat derjenige durchzugehen, der von diesen Leuten als Camerad begrüßt und aufgenommen sein will. –

Unter den Pelzjägern, die gewissermaßen als zur Charakteristik des westlichen Nordamerika gehörig bezeichnet werden können, unterscheidet man zwei besondere Classen, nämlich die sogenannten Voyageurs, die im Dienst der Pelzcompagnien stehen, für diese Tauschhandel mit den Indianern treiben und die Verbindung zwischen den verschiedenen abgelegenen Posten aufrecht erhalten, und dann die vollständig unabhängigen Freitrapper.

Letztere beziehen zwar auch hin und wieder auf dem Wege des Tausches Pelzwerk von den Eingeborenen, doch bleibt ihr Haupterwerbzweig immer die Jagd und der Biber- und Otterfang. Da sie nun beim Aufsuchen ihrer Beute und in Verfolgung derselben bis in die verborgensten Winkel der Rocky-Mountains vordringen, namentlich gern solche Flüsse und Flüßchen zu ihren Revieren und Wegweisern wählen, von denen sie vermuthen, daß sie in neuerer Zeit nicht von weißen Biberfängern besucht wurden, so erlangen sie allmählich eine so merkwürdige Kenntniß der ungeheuern Länderstrecken zwischen dem Missouri und den Küsten der Südsee, und nebenbei eine so wunderbare Orientirungsgabe, eine so eigenthümliche Manier mit den Eingeborenen zu verkehren und deren Zutrauen zu gewinnen oder ihnen Furcht einzuflößen, daß es oft an’s Unbegreifliche grenzt. Pelzcompagnien, Emigrantenzüge und Forschungsexpeditionen schätzen sich daher immer glücklich, wenn es ihnen gelingt, einen gediegenen Freitrapper, in deren Reihen auch Indianer und Halbindianer (Halfbreeds) vertreten sind, als Führer und Dolmetscher zur Wanderung durch die Wildnisse zu gewinnen. Doch hohe Preise müssen geboten werden, um diese Leute zu bewegen, sich ihrer Freiheit, wenn auch nur auf Monate, zu entäußern, trotzdem es oft mehr als zweifelhaft ist, daß sie auf ihren Privatjagdzügen große Erfolge erzielen.

In Gesellschaften von zwei bis hundert und mehr Mitgliedern unternehmen die Freitrapper ihre Expeditionen. Jeder Einzelne hat sich mit einem Reitpferde, einem bis drei Packthieren, einigen Decken, etwas Lebensmitteln, Fallen und einem hinlänglichen Vorrath von Munition auszurüsten, doch ordnen sie sich insoweit, gleichsam militärisch, zu einem Ganzen, daß sie aus ihrer Mitte den ältesten und erfahrensten Jäger zum Reisehauptmann wählen, dessen Befehlen sich unterzuordnen durch Uebereinkommen Allen zur Pflicht gemacht wird. Die Richtung der Reise wird in einer allgemeinen Berathung bestimmt und ist eben von den Gerüchten abhängig, die über die Ergiebigkeit dieses oder jenes wildreichen Landstriches in Umlauf sind. In den Revieren oder in der Nähe von Biberdörfern angekommen, wird nicht lange mit dem Beginn der Jagd gezögert. Bei kleinern Abtheilungen legen alle Mitglieder, bei den Lagerarbeiten wie beim Fallenstellen, gemeinschaftlich Hand an’s Werk; bei größern dagegen fällt die Sorge für die Pferde, für die Sicherheit des Lagers und für Speise und Trank den jüngern, weniger erfahrenen Cameraden zu, während diejenigen, die sich als Jäger und Fallensteller den größten Ruf erworben haben, nur der Jagd obliegen.

Jahrelang treiben sich dergleichen Banden von Freitrappern in der Wildniß umher, ohne daß Jemand eine Ahnung davon erhielte, wo sie ihr Ende genommen, bis sie dann plötzlich wieder einmal beutebeladen in einer Grenzstadt erscheinen, um die Erfolge ihrer Mühen, ohne Rücksicht auf die Art der geleisteten Arbeiten, gleichmäßig unter sich zu vertheilen. Mancher, der im Jahre vorher die Ansiedlungen in der Gesellschaft lebenslustiger, tollkühner Cameraden verließ, kehrt auch wohl gar nicht zurück; er liegt vielleicht in irgend einem Felsenwinkel oder in der unabsehbaren Steppe, wo die treuen Gefährten seine einsame Ruhestätte durch Anhäufungen von Steinen und Zweigen gegen die Eingriffe der wilden Bestien sicherten. Wenn seine Thaten auch wohl im Munde bleicher und rothhäutiger Jäger fortleben und diese veranlassen, seiner gelegentlich mit Theilnahme zu gedenken, so ist sein Name doch verschollen, und nur in den wenigsten Fällen hinterläßt er Jemand, der tiefer um ihn trauerte.

Und dennoch stößt man zuweilen auf Denkmäler, die nach einer langen Reihe von Jahren Kunde von einem verlorenen Trapper geben. Auf dem Hofe des in neuerer Zeit errichteten Forts Tejon in Californien steht eine Anzahl mächtiger, ehrwürdiger Eichen. Eine derselben zeichnet sich dadurch aus, daß vor langer, langer Zeit ein Theil der Rinde von dem Stamm entfernt wurde. Die geborstene, aber saftreiche Rinde des noch lebenskräftigen Baumes ist vernarbt und dehnt sich immer weiter über die glatte Fläche des eisenharten Holzes und die auf derselben roh ausgemeißelten Worte aus. „Peter Lebeck, killed by a bear, Oct. 17, 1837.“ (P. L. getödtet von einem Bären), läßt sich nur noch mit Mühe entziffern. Woher der unglückliche Jäger kam, der hier in der noch heute von Bären reich belebten Schlucht sein Ende fand und nothdürftig eingescharrt wurde, das ist vergessen. Man fragt auch nicht darnach, sondern wundert sich Angesichts der Inschrift, daß schon damals einzelne dieser verwegenen Abenteurer sich von Osten her über die Rocky-Mountains bis an die Küsten der Südsee durchschlugen. Derartig ist das Ende und das Grab eines Trappers.

Wie nun das Wild und die Indianer vor der Fluthwelle der Civilisation immer weiter zurückweichen und allmählich verdrängt werden, so verschwinden in gleichem Grade die markigen Erscheinungen der Trapper, die sich mit ihrem Gewerbe zuletzt nicht mehr in den beschränkten Revieren zu halten vermögen. Schon jetzt findet man sie nur noch äußerst selten in größern Gesellschaften, wie etwa vor zwanzig Jahren, als sie noch mit ihrem Troß von indianischen Weibern, Kindern und sonstigen rothhäutigen Verwandten und deren so wie den eigenen Pferden förmlich nomadisirende Colonien bildeten. –

Ja, auch die Trapper werden verschwinden. Aber wenn Fabriken und Bethäuser schon längst an Stelle der Biberdörfer und indianischen Wigwams getreten sind, dann wird das Andenken an die kühnen Männer, die im Charakter wie im äußern Wesen oft die merkwürdigste Zusammenstellung von Contrasten und Widersprüchen zeigen, noch lange frisch bleiben, und trotz ihrer zahlreichen Fehler werden sie noch lange glanzvolle Gestalten zu romantischen Schilderungen liefern.

Wer nun jahrelang mit Trappern verkehrte, sie auf ihren Irrfahrten begleitete, mit ihnen die schrecklichste Noth litt und mit ihnen schwelgte, wer auf einsamer Wanderung oder vor dem verstohlen geschürten Lagerfeuer ihren Erzählungen lauschte, die allerdings nicht immer ganz frei von Uebertreibung sind, der fühlt sich unwillkürlich zu ihnen hingezogen und übersieht gern, was an ihnen tadelnswerth genannt werden muß; und verzeihlich, ja, natürlich ist es, wenn er in der Erinnerung an die alten Gefährten vorzugsweise das hervorhebt, was Theilnahme und Achtung erwecken dürfte.

Ein Freitrapper.


Deutsche Colonisation in Brasilien.

Von Fr. Gerstäcker.

In den letzten Jahren ist das deutsche Publicum in Allem, was Brasilien betrifft, so verwirrt worden, daß sich wohl nur Wenige ein richtiges Bild davon entwerfen konnten. Ich selber wenigstens betrat mit einem großen Vorurtheil gegen Brasilien das Land, und zwar weniger der Berichte wegen, die Brasilien als eine Hölle schilderten, als um derer willen, die mit Hülfe von kleinen „Auswanderungsbüchern“ und „wohlgemeinter Rath für Auswanderer“ etc. das Land mit den rosigsten Farben beschrieben und eine Glorie darum flochten.

Meiner jetzigen Meinung nach, die ich mir gebildet, seitdem ich jenes Land theils selber kennen gelernt, theils an Ort und Stelle von Leuten die Jahre lang dort ansässig waren, viel und Ausführliches darüber gehört, bin ich der festen Ueberzeugung, daß Brasilien in seinen Verhältnissen wohl manches Tadelnswerthe und Gefährliche hat, im Ganzen aber dem deutschen Auswanderer auch große und gewichtige Vortheile bietet, und wenn ich selber auswandern und Ackerbau treiben wollte, so würde ich mir zum Ziel meiner Auswanderung jedenfalls Südamerika, aller Wahrscheinlichkeit nach das südliche Brasilien wählen.

Brasilien ist übrigens ein sehr weiter und unbestimmter Begriff, denn während der Norden des ungeheueren Landes seine pesthauchenden Sümpfe, seine allein tropische Vegetation und glühende [455] Hitze hat, und der Deutsche dort nie unter den Pflanzern und Sclavenhaltern als freier Arbeiter existiren kann, bietet der Süden dagegen ein prachtvolles gesundes Klima, einen reichen Boden und eine dichte Bevölkerung deutscher Landsleute, die sich mit wenigen Ausnahmen Alle wohl befinden.

Es giebt allerdings Manche, die auch auf diesen Theil des Reiches ihr Gift ausschütten und die entsetzlichsten Geschichten davon erzählen. Die Leute haben aber jedenfalls ihre eigenen und persönlichen Gründe dafür und schimpfen, weil sie eben weiter nichts zu thun haben. Es ist das Nämliche mit Nordamerika, wo der gebildete Deutsche, der kein Vermögen mit in das Land brachte und Handarbeit nicht verrichten konnte oder wollte, auch mit edler Entrüstung in die Lärmtrompete stößt und seinen Aerger über ein Land ausläßt, das ihn nicht ohne Arbeit füttern wollte. Der fleißige Arbeiter dagegen in Nordamerika wie Brasilien schreibt gar nichts; er bestellt sein Feld, macht einen Acker Land nach dem andern urbar, wird, während er seine Familie in glücklichen Verhältnissen heranwachsen sieht, reich oder doch wohlhabend, und ist mit seiner freundlich eingerichteten Plantage oder chagra, mit seinen behäbigen, sorgenfreien Verhältnissen, die beste Illustration zu einem Buch über brasilianische Auswanderung.

Er schreibt allerdings nicht, aber er erzählt, wie er auch im Anfang von Auswanderungsagenten geprellt wurde, wie man ihn da oder dorthin schickte, und wie schwer, wie furchtbar schwer er Jahre lang arbeiten mußte, um nur den ersten Grund zu seinem jetzigen Besitzthum zu legen – aber er arbeitete eben, und es ging.

Ich zeigte Einem von diesen Leuten eines Tages einen in Berlin geschriebenen Artikel, worin Brasilien etwa so geschildert wurde, als ob siedendes Pech und Schwefel noch eine Art von Behagen gegen einen Aufenthalt in Brasilien gewähren müßte. Der Mann lachte, warf das Papier unter den Tisch und sagte: „Der weiß wahrscheinlich warum er schimpft!“

Und trotzdem hat Brasilien viele Schattenseiten, die aber in Süd-Brasilien nicht etwa in Land oder Klima zu suchen sind, sondern ihren Grund anderweit haben. Die Hauptklage und zwar die gegründetste gegen Brasilien ist das von der Regierung oder vielmehr den Ständen nicht gehaltene Versprechen freier Religionsübung, denn unter freier Religionsübung muß man natürlich verstehen, daß eine Religion, die frei geübt wird, Berechtigung ihres Cultus und besonders dessen Gültigkeit vor den Gesetzen hat. Die Stände Brasiliens bestehen aber ausschließlich aus Kaffeejunkern und Pfaffen, und die Letzteren besonders fürchten, durch jedes den Protestanten eingeräumte Recht den Boden unter den eigenen Füßen zu lockern oder doch wenigstens zu gefährden.

Zu neuerer Zeit ist allerdings ein Gesetz gegeben, das anscheinend die Gültigkeit der protestantischen Ehen regelt und feststellt, in Wirklichkeit aber wird es sich nicht bewähren und noch Ursache zu vielen Conflicten und Processen geben.

Merkwürdig leicht nehmen es dabei die Deutschen in den Colonieen, denn unser guter Bauer ist nun schon einmal von daheim gar nicht gewöhnt, auch nur je über ihn betreffende Gesetze nachzudenken. Sind die Gesetze gegeben, so müssen sie befolgt werden, und greifen sie endlich störend in sein eigenes Leben und Wirken ein, so schimpft er allerdings – aber weiter thut er nichts. Er ist ein ganz vorzüglicher Unterthan.

Die Katholiken haben allerdings gar nichts mit diesem Gesetz zu thun, denn ihre Verhältnisse sind geregelt, und die Protestanten lassen eben Alles in dem alten Schlendrian hingehen, bis sie einmal durch ein paar recht auffällige Beispiele aus ihrer Ruhe aufgeschreckt werden.

In allen solchen Colonien hält es dabei ungemein schwer, einen guten Geistlichen und besonders Schullehrer zu bekommen, denn die Leute können sich Alle, ohne ihr Leben in lauter Aerger und Noth zu verbringen, recht gut und unabhängig ihre eigene Existenz mit dem Ackerbau gründen – und wer möchte da Schulmeister sein? Die Folge davon ist, daß sich gewöhnlich nur junge Leute zu diesem Amt melden, die, mit einem gewissen Grade von Bildung, keine harte Arbeit thun, mit den Fäusten nicht zugreifen mögen und, da sie doch leben müssen, gezwungen sind, ein solches Amt auf kurze Zeit anzunehmen. Sobald sie aber eine andere, ihnen mehr zusagende Beschäftigung finden, hängen sie das mühselige Schulamt an den Nagel, und die Kinder wechseln so ununterbrochen mit ihren überdies meist sehr mittelmäßigen Lehrern.

Mit den Geistlichen findet ein ähnliches Verhältniß statt, und trotzdem, daß die Regierung selber an verschiedenen Colonien protestantische Geistliche anstellen wollte, konnte sie doch keine passenden Kräfte dazu in den Colonien finden, und so viel ich weiß, hat sie jetzt einige Geistliche selbst von Deutschland verschrieben.

Ueberhaupt kann man, wenn man gerecht sein will, nicht anders sagen, als daß die brasilianische Regierung alles in ihren Kräften Stehende gethan hat, den deutschen Colonisten in Brasilien gerecht zu werden und die Colonien zu fördern. Sie hat besonders dazu keine Geldausgaben gescheut und allen Einwanderern sogenannte Subsidiengelder oder Unterstützungen bewilligt, die ihnen ausgezahlt wurden, bis sie ihr Land selber urbar gemacht – und selbst dann wurden die Gelder kaum zurückgefordert, oder wenn ja, von den Wenigsten wieder gezahlt, obgleich sie jetzt recht gut die Mittel dazu gehabt.

Land ist fast Allen ebenfalls gratis bewilligt worden, und wenn den Einwanderern nicht Alles so zu Gute kam, wie es wohl gesollt, so war das allein der Fehler räuberischer Unterbeamteter, die sich wie die Aasgeier auf jeden Geldposten stürzen, der von irgend einer südamerikanischen Regierung zu irgend einem Zwecke bewilligt wird.

Wo die Deutschen deshalb selber mit der Regierung zu thun hatten, fanden sie auch selten oder nie Ursache zur Klage, aber wehe ihnen, wenn sie sich mit den brasilianischen Pflanzern einließen, wenn sie trotz aller Abmahnungen und Warnungen Privatcontracte mit den Kaffeejunkern und Pflanzern (sogenannte Parcerieverträge) schlossen, denn in dem Fall waren sie fast immer verloren, und viele Hundert unserer Landsleute büßen noch jetzt in fast mehr als halber Sclaverei mit ihren Familien die frühere Dummheit.

Diese Parcerieverträge klangen allerdings verlockend, und mit den Lobpreisungen deutscher Auswanderungszeitungen und Agenten, die ihre Landsleute gewissenlos an’s Messer lieferten, gelang es den brasilianischen Pflanzern, eine große Anzahl Deutscher in die vorgehaltene Schlinge zu locken. Daß sie schrieen, als sie darin saßen, half ihnen eben nicht mehr viel, denn wer sich contractlich mit einem Privatmanne verbindet, kann sich wohl beklagen, wenn er betrogen wurde, aber nie den Contract rückgängig machen oder von einer Regierung verlangen, daß er rückgängig gemacht werde, den Fall natürlich ausgenommen, daß nachweisbare Betrügereien stattgefunden.

Es kann deshalb unseren deutschen Landsleuten nie genug zugerufen werden, unter keiner Bedingung, wie verlockend die Aussichten auch klingen mögen, einen überseeischen Contract, das heißt einen solchen, der für einen fremden Welttheil bindende Kraft hat, in Deutschland abzuschließen. Sie können von hier aus die dortigen Verhältnisse nicht beurtheilen. Sie wissen nicht, wie ein solcher Contract zu ihrem Schaden gedreht und gewendet werden kann, und sie müssen vor allen Dingen bedenken, daß sie, wenn übervortheilt, als deutsche Unterthanen vollkommen schutzlos in der Fremde sind. Die deutschen Consuln von aller Herren Länder, so große und so bunte Flaggen und hübsch gemalte Schilder sie auch auf ihren Häusern und über ihren Thüren haben, nützen ihnen gar nichts, denn sie können höchstens protestiren, und die Regierungen jener Länder nehmen natürlich keine Notiz davon.

Wer aber als freier Mann nach dem Süden von Brasilien auswandern will und sich als Protestant nicht an die Bevorzugung der katholischen Religion stößt, oder wer, wenn er sich dort, vielleicht in gemischter Ehe, verheirathet, noch die Vorsicht gebraucht, über das Erbschaftsrecht seiner Kinder einen festen Civilcontract aufzusetzen, der mag auch die Ueberzeugung mitnehmen, daß er dort in ein gesundes, fruchtbares Land kommt, von der Regierung selber jede vernünftige Unterstützung erwarten darf und eine Masse von Landsleuten findet, die es durch Fleiß und Ausdauer dahin gebracht haben, sich vollkommen wohl zu befinden.

Um Gotteswillen soll aber Niemand glauben, daß er in einem Lande wie Brasilien „mit sehr leichter Mühe“ sein Feld bestellen kann, weil ihm die ungemeine Fruchtbarkeit des Landes zu Hülfe kommt. Fruchtbar ist das Land allerdings, aber dafür treibt ein recht üppiger Boden auch wieder eben so üppig Unkraut, und einen brasilianischen Urwald auszuroden, ist ebenfalls keine Kleinigkeit. Nein, wer es dort zu etwas bringen will, muß arbeiten, hart arbeiten, und er darf sich außerdem nicht einbilden, daß er dort unentbehrlich sei und mit seiner Arbeitskraft dringend verlangt würde. [456] Ein armer Mann steht dort so allein in der Welt wie in Deutschland auch, aber er hat doch in Brasilien den ungeheuren Vortheil, daß er, wenn er wirklich arbeiten will, auch ein Terrain für seine Thätigkeit bekommen und sich mit der Zeit eine eigene Heimath gründen kann.

Süd-Brasilien ist deshalb, meiner Meinung nach, ein vortreffliches Land für deutsche Auswanderung, und besonders in jetziger Zeit, wo es keinem Deutschen anzurathen ist, nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika auszuwandern, halte ich es für dringend gerathen, den Strom der deutschen Auswanderung den verschiedenen Theilen Süd-Amerikas zuzuwenden. Daß nicht Alle dabei nach Brasilien gehen können, versteht sich von selbst, denn nicht alle Auswanderer verfolgen gleiche Zwecke, haben gleiche Interessen. Der Ackerbauer aber wählt am besten den südlichen Theil Brasiliens oder Chile, der Viehzüchter Uruguay und die La-Plata-Staaten der Speculant Peru oder Buenos-Ayres, wie sämmtliche Hafenstädte, auch Ecuador, das gerade in jetziger Zeit einer nicht unbedeutenden Zukunft entgegen geht. Wer aber tropischen Landbau treiben will und natürlich die Mittel hat, etwas selbstständig anzugreifen, wer Cacao, Kaffee, Vanille etc. ziehen und unter Palmen wandeln will, der mag in den Norden Brasiliens oder noch besser nach Ecuador gehen, wo er das gesunde Land wenigstens gleich zur Hand hat, und sich auch selber auf tropischem Boden noch eine von Krankheiten ungefährdete Heimath gründen kann.

Außer diesem allgemeinen Ueberblick der brasilianischen Verhältnisse möchte ich dem Leser aber auch noch mit kurzen Worten ein paar Einzelheiten mittheilen, die ihm, wenn er, Lust hat nach dorthin auszuwandern, von Nutzen sein können. Die brasilianische Regierung begünstigt deutsche Einwanderung, hat aber bis jetzt den Fehler gemacht, um deutsche Auswanderer anzuziehen, deutschen Agenten ein gewisses Kopfgeld zu bewilligen, eine Maßregel, deren schlechte Folgen nicht auf sich warten ließen. Diesen Herren lag natürlich nur daran, die größtmöglichste Anzahl von Köpfen abzusenden, und Alte, Schwache, Kranke, jede Art von Gesindel zählte gleich. Von diesem Geschäftsbetrieb scheint man aber jetzt in Brasilien absehen zu wollen. Der Auswanderer bekommt nicht mehr freie Passage, die er drüben abzuarbeiten hat, sondern wenn er aus freien Stücken hinüber kommt und seine Absicht erklärt, sich auf brasilianischem Boden niederzulassen, so schenkt ihm die Regierung eine sogenannte Colonie, d. h. ein wildes Stück Land, das früher seine 160,000 Quadrat-Brazos umfaßte, während jetzt gewöhnlich nur 100,000 Quadrat-Brazos gegeben werden. Im Urwald erhält dabei der Ansiedler gewöhnlich 100 Brazos breite Front. Ein brasilianischer Brazo (Armspanne) oder Klafter ist aber größer als eine deutsche Klafter oder selbst ein englischer Fathom und wird etwa 7 Fuß 2 Zoll rheinisch betragen. 100,000 solche Quadrat-Brazos bilden deshalb schon ein ganz hübsches Stück Feld und sind jedenfalls für eine Einwandererfamilie genügend, den ersten Beginn darauf zu machen und in der neuen Heimath festen Fuß zu fassen.

Hier wird besonders der nutzbare Maniok (Manihot utilissima, auch bittere Yucca oder Cassavastrauch genannt) gebaut, dessen Mehl, neben einer delicaten und sehr nahrhaften schwarzen Bohne, das Hauptnahrungsmittel der Brasilianer bildet. Das Maniokmehl wird bekanntlich aus den Wurzeln, deren jeder Strauch 3–8 von 1–2 Fuß Länge und 3 Zoll Durchmesser hat, dadurch bereitet, daß man die Wurzeln durch Zerreißen, Auspressen, mehrmaliges Waschen mit Wasser von einem scharfen und giftigen Milchsaft befreit, der in ihnen enthalten ist, worauf man den ausgepreßten Satz trocknet. Sonst baut man noch hauptsächlich Mais und Kartoffeln, in den südlichen Provinzen Weizen und in den nördlicher gelegenen Kaffee. In diesen gedeiht auch das Zuckerrohr vortrefflich, was zwischen den deutschen Colonien von Rio Grande noch nicht so recht fort will, da es dann und wann ein Frost zerstört. Ueberhaupt darf man sich die Provinz Rio Grande ja nicht etwa zu tropisch denken, wenn auch eine kleine Art von Palmen überall gedeiht. Dieselben Palmen habe ich aber auch in Uruguay getroffen, wo der Boden mit Reif und stehende Lachen mit fingerdickem Eis bedeckt waren.

Der neue Colonist hat aber besonders darauf zu sehen, daß er nicht zu weit in das Land hineingeschickt wird, um etwa eine neue Colonie mit gründen zu helfen, die weder eine Wasserstraße, noch sonstige Verbindungswege hat. Ihm bleibt in den ersten Jahren wenig Zeit, an den Straßenbau zu denken, da er sein eigenes Land zu Feld und sein Feld zur Saat herrichten muß. Das Beste ist deshalb, er sucht in die Nähe eines wenigstens mit Booten schiffbaren Flusses zu kommen oder sich doch an einer fahrbaren Straße auzusiedeln. Er hat an diesen immer noch mit genügenden Schwierigkeiten zu kämpfen, seine Producte in der Regenzeit zu Markt zu bringen.

Uebrigens verstattet die brasilianische Regierung aber selbst jetzt noch den neuen Ansiedlern sogenannte Subsidien-Gelder, die ihm zinsfrei gegeben werden, aber natürlich mit der Bedingung, sie in einer bestimmten Reihe von Jahren (gewöhnlich fünf) zurückzuzahlen. Er kann auch Ackergeräth und Lebensmittel für den ersten Beginn bekommen, und ich weiß wirklich kein anderes Land der Welt, wo besonders der deutsche Colonist von irgend einer Regierung (seine eigene natürlich gar nicht ausgenommen) so begünstigt wäre, wie in Brasilien.

Daß es auch in Brasilien Leute giebt, die ihn zu betrügen suchen und auch wirklich betrügen, da der deutsche Einwanderer meist immer wie ein Kind – so kindlich und unpraktisch – ist, versteht sich von selbst, und wo geschieht das nicht? Er mag deshalb die Augen aufhalten und sich ein wenig in Acht nehmen. Jedenfalls wird er mit der Zeit und durch Erfahrung klug und lernt sicherlich in jedem fremden Welttheile in einem Jahre mehr, als daheim in zehn.

So eben kommt mir wieder ein Aufsatz zu Gesicht, der aus der alten Quelle, aus Berlin, fließt und Brasilien begeifert. Er beruft sich auf zwei Documente, das eine einen Protest von vierzig Deutschen betreffend, die nicht in die Nationalgarde treten wollen, das andere eine Weigerung des Oberkirchenraths, Geistliche nach Brasilien zu senden. Das Gesetz der Nationalgarde in Brasilien ist folgendes: Kein Deutscher braucht in Brasilien in die Nationalgarde zu treten, wenn er sich nicht naturalisiren läßt und dadurch brasilianischer Bürger wird. Als solcher hat er dann natürlich auch allen Pflichten eines brasilianischen Bürgers zu genügen. Niemand wird aber gezwungen, sich naturalisiren zu lassen, denn ich habe eine Masse alter Colonisten gesprochen, die schon 30 Jahr in Brasilien leben, ohne naturalisirt zu sein. Ihre Kinder aber, von denen auch schon viele wieder starke Familien haben, werden, wie sich das von selbst versteht, als Brasilianer betrachtet und können sich also auch nicht dem Dienst der Nationalgarde entziehen.

Was das andere Schreiben betrifft, so bestätigt es weiter nichts, als die Unwissenheit des Berliner Oberkirchenraths über brasilianische Verhältnisse. Die Deutschen in Brasilien haben der dortigen Regierung fortwährend in den Ohren gelegen und um protestantische Geistliche gebeten, die von der Regierung selber angestellt werden. Die Regierung ging darauf ein und verlangte nur passende Leute vorgeschlagen zu bekommen – aber es gab keine, und eine Zahl eben nicht passender Subjecte verrichtete nicht selten die heiligen Handlungen in den Colonien. Die Regierung wußte sich endlich nicht anders zu helfen, als daß sie nach Berlin an das Oberconsistorium oder sonst wohin schrieb und um würdige protestantische Geistliche bat. Jetzt ist das auch wieder nicht recht, und weil sich der Oberkirchenrath weigert, einige der Herren hinüber zu schicken, hat Brasilien wieder Ungeheuerliches begangen.

Es ist nicht mehr als recht, die Fehler eines Landes aufzudecken, besonders wo es sich um Auswanderung handelt und das Glück oder Unglück von Tausenden davon abhängt. Es ist aber ein trauriges Geschäft, wie es jener Berliner Herr betreibt, nur aus verletzter Eitelkeit oder sonstigen Privatgründen ein Land unausgesetzt zu schmähen, in dem Tausende unserer Landsleute eine glückliche Heimath gefunden haben und noch finden. – Er sollte nur hören, wie die Deutschen in Brasilien selber über ihn urtheilen.

Was die Parcerieverträge betrifft, so verweise ich darüber auf meinen anderen Artikel in diesem Blatte: „Wohlgemeinte Warnung für Auswanderer[WS 1].“

[457]
Ein neues Künstler-Denkmal.

Im Jahre 1790 trat eines Tages ein Fremder bei Mozart ein und überreichte demselben einige Empfehlungsschreiben, in denen der Vorgestellte als ein sehr talentvoller Clavierspieler und Componist bezeichnet war, der blos nach Wien gereist sei, um den großen Meister zu hören. Das vernachlässigte Aeußere und linkische Benehmen des jungen Mannes erregten keine großen Erwartungen bei Mozart, die auch nicht erhöht wurden, als jener am Clavier improvisirte, denn der Meister glaubte ein auswendig gelerntes Stück zu hören. Gereizt durch die kühle Aufnahme, erbat sich der Fremde ein Originalthema. „Na warte,“ murmelte Mozart, „Dich will ich schon erwischen!“ Er schrieb ein Fugenmotiv auf, in welchem sehr künstliche, nur dem Eingeweihten entdeckbare Combinationen versteckt lagen. Als aber der junge Mann über diese äußerst verfängliche Aufgabe beinahe drei Viertelstunden lang mit immer steigender Kunst und Genialität phantasirte, schlich Mozart auf den Zehen in das offene Nebenzimmer zu seinen dort versammelten Freunden und flüsterte ihnen mit funkelnden Augen zu: „Auf diesen hier gebt Acht! der wird Euch einmal etwas erzählen!“ – Dieser junge Musiker war – Beethoven.

Die vollständige Ausgabe seiner Werke, die soeben begonnen, ein Unternehmen, dem wir an Interesse und Wichtigkeit für die ganze musikalische Welt gegenwärtig kein zweites an die Seite zu stellen wüßten, veranlaßt uns, bevor wir Näheres darüber berichten, einige Notizen über das Leben und die Schöpfungen dieses großen Tondichters hier mitzutheilen, zumal uns eine lange Erfahrung gelehrt hat, daß vom großen Publicum nur wenige den seltenen und seltsamen Menschen Beethoven kennen, über seine Werke aber manche noch bis heute umlaufende falsche Meinung zu berichtigen sein möchte.

Ludwig van Beethoven wurde den 17. December 1770 zu Bonn geboren. Schon vom fünften Jahre an gab ihm sein Vater, der als Tenorsänger in der kurfürstlichen Capelle angestellt war, Unterricht auf dem Clavier. Elf Jahre alt spielte er mit Erstaunen erregender Fertigkeit Bach’s „wohltemperirtes Clavier“, – achtundvierzig der allerschwersten Fugen mit eben so viel Präludien dazu! Auch im Generalbaß erhielt der Knabe später von dem dortigen Musikdirektor Neefe einigen Unterricht und fing bald an zu componiren. Im Jahre 1792 siedelte Beethoven ganz nach Wien über. Dort begann er die Regeln seiner Kunst ernstlicher zu studiren, zuerst bei Haydn, dann bei Albrechtsberger und Salieri. Aber schon zeigte sich ein störrisches Wesen an ihm; er hatte wenig Respect vor Autoritäten und wurde seinen Lehrern oft unbequem durch verfängliche Fragen, Zweifel und Einwürfe. Freilich, während er bei jenen Männern noch als Schüler erschien, arbeitete er insgeheim bereits an einem Meisterwerke, seinen drei ersten Claviertrios. Sie erschienen 1795 und wurden mit außerordentlicher Theilnahme aufgenommen. Der Fall ist selten, daß das Erstlingswerk eines Componisten einen so glänzenden Erfolg gewinnt, noch seltener aber mag es sein, daß der schnell gewonnene Ruhm aushält, ja fort und fort sich steigert. Dies war im Ganzen bei Beethoven der Fall. In einem Zeitraume von 32 Jahren, von 1795 bis zu seinem 1827 erfolgten Tode, erschienen nicht weniger als 255 Compositionen von ihm im Druck. Es offenbarte sich in diesem Geiste eine unerschöpfliche, originelle Erfindungskraft, ein alle Herzen ergreifender Gefühlsausdruck, ein unversiechlicher Quell der schönsten und edelsten Melodien, ein bezaubernder Wohlklang und Farbenreichthum. Jedes folgende Werk bot eine neue Ueberraschung an Charakter, Inhalt und Form.

Denkt man an die schweren Hindernisse, die sich dem beginnenden Componisten entgegenstellen, an die Dunkelheit seiner Objecte, die so geheimnißvoll in der Menschenbrust leben und weben, an das schwankende Wesen der Töne, an das Vorurtheil des Publicums gegen noch unbekannte Namen, an den Neid oder die Dummheit der musikalischen Kritik, an die Sorge und Noth, die so viele zu erdulden haben, wodurch oft die schönsten Kräfte paralysirt oder ganz aufgerieben werden, – so muß man Beethoven einen der glücklichsten Künstler nennen. Denn ihn empfingen am Anfang seiner Laufbahn Anerkennung, Ruhm und pecuniärer Gewinn, und sie blieben ihm treu im Ganzen bis an’s Ende seines Lebens. Was man über seine Geldbedrängnisse erzählt, ist Fabel. Die Verleger stritten sich um seine Manuscripte, er hatte immer Bestellungen auf Jahre hinaus, seine Honorarforderungen waren nicht gering, wurden aber bereitwillig gewährt. Wenn ihm momentan einmal das Geld ausgegangen war, so lag die Schuld nur an ihm selbst, weil er es in früherer Zeit nicht einzutheilen verstand. Später lernte er wohl damit haushalten. Der Vorwurf, daß die Welt ihre großen Geister darben lasse, ist wenigstens in Bezug auf Beethoven ein ungerechter. Erzherzog Rudolph, die Fürsten Lobkowitz und Kintsky setzten dem Tondichter eine jährliche Rente von 4000 Gulden W. W. aus, unter der einzigen Bedingung, daß er sie innerhalb der Erbstaaten Oesterreichs verzehre. Das Beschreiben um Unterstützung an die philharmonische Gesellschaft in London erließ er nicht aus Noth, denn er besaß damals schon ein Capital von 10,000 Gulden, das er seinem Neffen erhalten wollte und auch hinterlassen hat.

Leider in dem Maße, fast, in welchem Beethoven’s Ruhm und Glück als Künstler immer glänzender emporstieg, sank und verfinsterte sich sein Geschick als Mensch. In seinem 27. Jahre schon empfand er mit unbeschreiblicher Angst die Annäherung eines Uebels, das dem Musiker als das schrecklichste erscheinen mußte – Schwerhörigkeit! Da schon zog er sich von der Gesellschaft zurück, um ihr sein Leiden zu verbergen, „wie eine Schande oder einen Schimpf“. Zuweilen zwar hoffte er, und hatte dann wohl noch heitere Stunden, aber das Uebel nahm zu und ging endlich in unheilbare Taubheit über.

Das Unabänderliche mit philosophischer Resignation zu tragen, vermochte Beethoven’s überaus reizbare Natur nicht. Es schlummerten einige üble Eigenschaften in ihm, die sein Unglück weckte und zu hohen Graden steigerte. Seine treuesten Freunde, Ries, Brenning, Wegeler, Schindler, stimmen darin überein, daß der Umgang mit ihm eine penible Aufgabe gewesen, daß er ein sonderbarer, eigensinniger, jähzorniger, heftiger, oft unleidlicher Mensch gewesen sei. Dadurch, sowie durch seine brutale Sprache und plumpen Manieren, wurden viele seiner eifrigsten Verehrer von ihm zurückgeschreckt. Er sah überall Feinde und Verräther, selbst in denen, die ihm am aufrichtigsten ergeben waren; er witterte Fallstricke in den unschuldigsten, ja auf seinen Vortheil berechneten Schritten seiner Freunde. So beschuldigte er einst Schindler, seinen allergeduldigsten Anhänger, die Einnahme eines Concertes unterschlagen zu haben. Der Tiefgekränkte wollte Beethoven nie wieder sehen, kam aber doch zurück, als jener ihm später sein Unrecht abbat. Nicht Alle übten diese Nachsicht, und so vereinsamte Beethoven mehr und mehr. Nicht weniger unleidlich war sein Künstlerstolz, der die erlaubten Grenzen des Selbstbewußtseins weit überschritt. Als er einst in Karlsbad mit Goethe spazieren ging, begegnete ihnen die Kaiserin von Oesterreich mit zahlreichem Gefolge. Goethe trat bei Seite und verneigte sich tief mit entblößtem Haupte. Beethoven lachte über den großen Dichter, knöpfte seinen Ueberrock bis an’s Kinn zu, ging mitten durch die hohe Gesellschaft und nahm seinen Hut erst ab, als ihn die Kaiserin gegrüßt hatte. – Die Wiener nannten ihn auch nur den „Großmogul“. – Viele Ursachen seiner Leiden und Verdüsterungen lagen nur in seiner Einbildung. Er wird in Bezug auf das praktische Leben als ein Kind geschildert, dem alle Menschenkenntniß abging. Seine besten Freunde hielt er oft für Verräther; die wenigen Individuen dagegen, welche sein Mißtrauen und seine Verachtung wirklich verdienten, die sich ihm aufdrängten, um ihn zu bevortheilen, zwei Brüder nämlich und einen total mißrathenen Neffen, schonte er und ließ sich mit unbegreiflicher Geduld die plumpeste und niederträchtigste Behandlung von denselben gefallen. Um den Neffen, den er adoptirt hatte, bei sich zu behalten, processirte er vier Jahre mit der Mutter desselben, die ihren Sohn zurückverlangte. Und weil das Adelsgericht bei dieser Gelegenheit die Beweise seiner adeligen Abkunft verlangte, da bekanntlich das holländische van den Adel nicht involvirt, sah er dies für eine unerhörte Beleidigung an und wollte das Land verlassen.

Andere Schwächen waren mehr belustigender Art. In seinem Haushalte z. B. herrschte eine gräuliche Unordnung. Bücher und Musikalien lagen in allen Ecken zerstreut umher. Die Partitur seiner großen Messe fand er einstmals – in der Küche, wo die Haushälterin Feuer damit anmachen wollte etc.! Es wäre traurig, wenn die bisher geschilderten Züge allein den menschlichen Charakter [458] Beethoven’s darstellten. Dies ist glücklicherweise nicht der Fall. Unter der rauhen Hülle schlug ein edles, liebebedürftiges Herz. Dies geht zunächst aus dem hinterlassenen Testament an seine Brüder hervor. Wir theilen wenigstens den Anfang desselben mit. „O ihr Menschen“ – beginnt er – „die ihr mich für feindselig, störrisch oder misanthropisch haltet, wie unrecht thut ihr mir! ihr wißt nicht die geheime Ursache von dem, was euch so scheinet; mein Herz und mein Sinn waren von Kindheit an für das zarte Gefühl des Wohlwollens, selbst große Handlungen zu verrichten, dazu war ich immer aufgelegt; aber bedenket nur, daß seit sechs Jahren ein heilloser Zustand mich befallen, durch unvernünftige Aerzte verschlimmert von Jahr zu Jahr. In der Hoffnung, gebessert zu werden, betrogen, endlich zu dem Ueberblick eines dauernden Uebels (dessen Heilung vielleicht Jahre dauert oder gar unmöglich ist) gezwungen, mit einem feurigen, lebhaften Temperament geboren, selbst empfänglich für die Zerstreuungen der Gesellschaft, mußte ich früh mich absondern, einsam mein Leben zubringen. Wollte ich auch zuweilen mich einmal über Alles das hinaussetzen, o wie hart wurde ich durch die verdoppelte traurige Erfahrung meines schlechten Gehörs dann zurückgestoßen! und doch war’s mir noch nicht möglich, den Menschen zu sagen: sprecht lauter, schreit, denn ich bin taub; ach, wie wäre es möglich, daß ich die Schwäche eines Sinnes angeben sollte, der bei mir in einem vollkommeneren Grade als bei Andern sein sollte, eines Sinnes, den ich einst in der größten Vollkommenheit, wie ihn Wenige von meinem Fache gewiß haben, noch gehabt habe – o ich kann es nicht, darum verzeiht, wenn ihr mich da zurückweichen sehen werdet, wo ich mich gern unter euch mischte. Doppelt wehe thut mir mein Unglück, indem ich dabei verkannt werden muß; für mich darf Erholung in menschlicher Gesellschaft, feineren Unterredungen, wechselseitigen Ergießungen nicht statt haben; ganz allein fast, und soviel als es die höchste Nothwendigkeit erfordert, darf ich mich in Gesellschaft einlassen, wie ein Verbannter muß ich leben.“

So wird man wohl den Worten Seyfried’s glauben müssen, der den Meister lange gekannt, keineswegs blind für seine Schwächen war, und ihm doch Rechtlichkeit, strenge Moralität, sittliches Gefühl, Wohlthätigkeit und frommen Sinn zuschreibt.

Die Abfassung seines Testaments zeigt, daß Beethoven mit der Feder nicht sehr gewandt gewesen. Aber seine Bildung war demohngeachtet nicht gering. Er verstand lateinisch, französisch und italienisch. Er hatte für Poesie einen tiefen Sinn, und las und kannte die besten in- und ausländischen Dichter. Unter den deutschen war Goethe sein Liebling. Die Universalhistorie war ein Lieblingsstudium von ihm. Auch in andern schönen Wissenschaften und Künsten besaß er nicht gewöhnliche Kenntnisse.

Beethoven war nie verheirathet, aber sehr oft verliebt, und immer in Personen aus den höchsten Kreisen. Obwohl nun seine äußere Persönlichkeit nichts Anziehendes hatte, so ist doch eine seiner Neigungen ernstlich erwidert worden, wie übrig gebliebene Briefe beweisen. Doch wird allgemein behauptet, daß alle diese Verhältnisse nur platonischer Art gewesen seien.

Er starb am 26. März 1827 Abends gegen 6 Uhr an den Folgen der Wassersucht, im 57. Jahre seines Alters. Sein Leichenbegängniß fand am 29. März um 3 Uhr Nachmittags in feierlichster Weise statt. Er ruht auf dem Währinger Friedhofe nächst Wien, unter einem Denkmale, das ihm seine Freunde und Verehrer haben setzen lassen.

Die Poesie hat den unübertrefflichen Meister in zahlreichen Gedichten gefeiert. Bilder sind unzählige von ihm erschienen; Medaillen hat man auf ihn geprägt, Ehrendiplome hat er erhalten, Monumente sind ihm errichtet worden. Eines der allerinteressantesten Denkmale für die ganze Musikwelt ist jetzt ihm zu errichten begonnen worden, die „vollständige, kritisch durchgesehene, mit Genehmigung aller Originalverleger überall berechtigte Ausgabe aller Beethoven’schen Werke, zunächst aller derjenigen gedruckten Werke, deren Echtheit unzweifelhaft erschien.“ Auch viele bisher noch ungedruckte sollen in diese Aufgabe aufgenommen und, je ihrer Gattung nach, den einzelnen Serien angeschlossen werden. Der Preis ist verhältnißmäßig, bei der eleganten Ausstattung, äußerst billig und wird im Verhältniß zu dem Inhalte nur ungefähr die Hälfte der üblichen Musikalienpreise betragen.

Es wird Wenige geben, die seine sämmtlichen Werke besitzen oder auch nur alle kennen. Aber es giebt aller Wahrscheinlichkeit nach keinen Einzigen, der von jedem Werke eine sichere, correcte Ausgabe besäße. Beethoven’s Werke wurden nicht allein vielfältig und oft sehr liederlich nachgedruckt, es sind auch manche Compositionen von Andern unter seinem Namen in die Welt geschmuggelt worden. Die Härtel’sche Ausgabe liefert zum ersten Male alle echten Beethoven’schen Werke und in der sorgfältigsten Correctur. Ein sehr erfreulicher Umstand ist es auch, daß die sämmtlichen Schöpfungen des Meisters in drei Jahren, bis 1864, im Besitz der Musikfreunde sein sollen. Unschätzbare Vortheile bietet dieses opfermuthige Unternehmen der Herren Verleger.

Aus der Betrachtung und Vergleichung aller seiner Werke, wie sie der Zeit nach auf einander folgen, lassen sich Lehren abstrahlen, die das genießende Publicum wie die studirenden Kunstjünger sicherer führen möchten, als jene tief philosophischen und ästhetischen Raisonnements, welche oft von Gesichtspunkten ausgehen, an die der Meister nicht gedacht hat, an die überhaupt kein Meister denkt. Wir sind nicht gesonnen, diese Raisonnements zu vermehren. Nur einige unserer Ansicht nach falsche Meinungen über sein Wesen als Künstler, die bis heute noch cursiren, wollen wir zu berichtigen versuchen.

Man theilt die Beethoven’schen Werke in drei verschiedene Stylperioden ein: in der ersten sei er den Spuren Mozart’s nachgezogen, in der zweiten trete er ganz selbstständig und eigenthümlich auf, in der dritten habe er die Grenzen der Tonkunst überschritten. Die zwei ersten Punkte mögen zugegeben werden. Ueber den dritten wird bis heute gestritten, aber in’s Klare darüber ist man noch nicht gekommen. Zwei Parteien stehen sich hier schroff gegenüber. Die eine erklärt die dritte Stylart für die vollkommenste, ja für den Ausgangspunkt zu einer neuen Aera der Musik. Die andere verwirft diese Richtung in Bausch und Bogen als eine absolute Überschreitung der echt musikalischen Kunstgesetze. Beide Parteien gehen zu weit. Von wirklichen Sünden gegen die musikalische Aesthetik kann bei einem Beethoven die Rede nicht sein. Wohl aber hat er manche gute Kunstmaxime zuweilen zu kühn, künstlich und subtil ausgeprägt. Einige der spätern Quartette, etwa vom 13. bis zum letzten, 17., bringen den reinen, durchaus ungetrübten Kunstgenuß nicht mehr hervor, der uns bei der Mehrzahl seiner andern Werke entzückt. Aber außer dem 16. Quartett, Opus 133, mit der scurrilen Fuge, sind es in anderen immer nur einzelne Stellen, welche uns nicht anmuthen wollen, keineswegs, wie manche behaupten, ganze Sätze oder Stücke. In allen, außer dem genannten Opus, tauchen zwischen düstern, räthselhaften Gedanken viele von der höchsten Schönheit hervor. Der größte Irrthum aber, der noch immer von Vielen festgehalten wird, liegt in den Ursachen, welche man der dritten Stylart unterlegt. Es sind deren hauptsächlich drei.

Erstens sollen seine düsterern, unverständlicheren und unwirksameren Werke durch seine traurigen und peinlichen Lebensumstäude hervorgerufen worden sein. Sie hätten sein Gemüth verbittert, seine Phantasie verdüstert. Man braucht nur den Styl seiner neun Symphonien, wie sie der Zeit nach auf einander folgen, mit dem Schicksalsgang seines Lebens zu vergleichen, um sogleich zu erkennen, daß der Geist dieser Compositionen mit seinen realen Lebenszuständen nicht Schritt hält. Wann hat er seine sechste, die Pastoralsymphonie, geschrieben? In einer bereits sehr traurigen Lebensperiode. Und der künstlerische Vorwurf dieser Symphonie? 1) Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande; 2) Scene am Bach; 3) Lustiges Beisammensein der Landleute; Gewittersturm; Hirtengesang; frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm. – Wie heiter, lieblich, zum Theil humoristisch sind diese Empfindungen musikalisch gemalt! Noch später, in Beethoven’s trübster Zeit, erschien die kleine, knappe, achte Symphonie in F dur, mit dem wunderlieblichen, klaren Andante-Scherzo und der ganz in Haydn’s und Mozart’s Zeit zurückgreifenden Menuett. Auf diese achte aber folgte die an Form, Umfang und Inhalt riesenhafte und tiefsinnigste neunte Symphonie über Schiller’s „Lied an die Freude“. Dieselben unerwarteten Uebersprünge von einer Stylart in die andere sind in Beethoven’s Sonaten, Trios, Quartetts u. s. w. zu bemerken.

Die zweite Ursache seiner dritten Stylart soll in dem Einfluß liegen, welchen die gewaltigen Zeitereignisse und die dadurch gebildete düstere Weltanschauung auf den Geist seiner Tondichtungen ausgeübt hätten. Hiernach müßte eine ruhige Zeit heitere, eine wild bewegte stürmische, düstere Tonwerke hervorrufen. Gerade das Gegentheil zeigt sich im Ganzen in den Beethoven’schen Compositionen. [459] In den neunziger Jahren und im Anfang unsers Jahrhunderts, wo Beethoven zumeist der heiter Schaffende war, tobten die scheußlichsten, blutigsten Revolutionsgräuel und wütheten die verheerendsten, namentlich Oesterreich länderberaubenden Kriegsstürme. Als aber unser Meister seine relativ aufgeregtesten, düstersten Werke der dritten Stylart schuf, lag die Welt, friedlich, erschöpft, ja geistig paralysirt da. Und wie verhalten sich seine Werke mit Gesang zu seinen Lebensverhältnissen und dem politischen Geiste der Zeit? Die allermeisten erinnern bei aller Eigenthümlichkeit und Gefühlstiefe doch an Mozart’s Zeit. „Adelaide“ ist ganz in dieses Meisters Weise gearbeitet. „Fidelio“, die herrlichste Oper mit, die je geschrieben worden, hält sich doch in Geist und Formen in der Mozart’schen, mehr noch in der Cherubini’schen Sphäre. Die große D dur-Messe kann der dritten Stylart zugeschrieben werden, aber sie ist aus einer andern Ursache, als den beiden angegebenen, geflossen, wie sich bald zeigen wird.

Der Künstler im gewöhnlichen Leben und der Künstler in der Zeit des Schaffens sind zwei ganz verschiedene Wesen. So war Raimund, der berühmte Schauspieler und Volksdichter, im gewöhnlichen Leben der unglücklichste Melancholiker. Sobald er aber auf der Bühne erschien, sah man nur den vollendeten, von Humor übersprudelnden Komiker. Schiller hat viel sorgenvolle und körperlich schmerzenreiche Tage verlebt. Haben die etwa mit an seinen poetischen Werken gearbeitet? Die Wahrheit ist, wenn der Künstler in das Reich seiner Träume tritt, läßt er das gewöhnliche Leben mit allem, was ihn darin beschäftigte und bewegte, zurück. Dann schaut er nur den Gegenstand, den er schöpferisch nachbilden will. Drängen sich die Erinnerungen und Stimmungen des Tages mit ein, so ist er ein schwacher Künstler, und nur schwankende, zerrissene, keine echten Totalbilder wird er schaffen können. Wer aber besaß die Kraft, sich ganz nur in sein künstlerisches Ideal zu versenken, in mächtigerem Grade, als Beethoven mit seiner glühenden Phantasie und wunderbaren Gemüthstiefe?

Sonderbar! Dieselben Leute nicht selten, welche Beethoven’s Werke aus seinen realen Lebensereignissen oder den Zeitströmungen erklären wollen, erzählen wieder ganz naiv, daß er in den Momenten des Schaffens die ganze Welt um sich her vergessen und gar nicht gesehen habe! „Unmittelbar nach dem Mittagsessen,“ heißt es, „wurde, falls er keinen weiteren Ausflug vorhatte, die gewöhnliche Promenade angetreten, d. h. er lief im Duplirschritt ein paar Mal rund um die Stadt. Ob es nun regnete, schneite, hagelte, ob der Thermometer 16 Kältegrade anzeigte, oder ein eisiger Sturmwind ihm entgegenblies, ob der Donner brüllte, Blitze die Lüfte durchzuckten, die Windsbraut heulte oder eine libysche Gluthhitze den Scheitel versengte – das kümmerte ihn Alles nicht, das empfand er nicht, denn in ihm waltete der schaffende Gott, und vielleicht hat er unter dem Aufruhr der Elemente gerade ein paradiesisch mildes Liebes- und Frühlingsbild in seinem Kopfe geschaffen.“

Drittens soll Beethoven in seiner letzten Stylperiode Ideen, abstrakte Gedanken haben ausdrücken, nach Oulibicheff, „ein neues Organ gleichsam schaffen wollen, das die Tonkunst zur Würde einer Lehrerin der Moral, Philosophie und Geschichte oder selbst bis zur Höhe einer Offenbarung erheben sollte.“ Dies ist von allen abgeschmackten Meinungen die abgeschmackteste! So verkennen konnte Beethoven das Wesen seiner Kunst nicht, um ihr Dinge zuzumuthen, die sie schlechthin nicht auszuführen vermag. Auch hat man nirgends vermocht, auch nur eine solche Idee in seinen Werken aufzufinden und nachzuweisen.

Die Ursachen zu den theilweise düsterern und räthselhafteren Gestaltungen, seiner dritten Stylperiode sind viel natürlicher aus dem Wesen seines Künstlergeistes zu erklären. Die Unbestimmtheit der Instrumentalmusik, die verschiedene Auslegungsfähigkeit der Tonbilder, welche Fenelon schon durch die Frage: sonate, que me veux-tu? bespöttelte, war Beethoven im höchsten Grade zuwider. Er wollte die Sprache der Töne so deutlich, verständlich und eindringlich machen, als nur irgend möglich. Als das sicherste Mittel dazu erkannte er die Vornahme eines Objects. So rief er zunächst für jede Composition einen bestimmten Gegenstand vor seine Einbildungskraft, der, hinabschlagend in das Gemüth, die entsprechenden Gefühlsregungen wach rief. Dies ist außer allen Zweifel gesetzt durch eine Aeußerung gegen Schindler über das Adagio in der D dur-Sonate, Op. 10. „Jedermann“ – sagte Beethoven – „fühlt den geschilderten Zustand eines Melancholischen heraus, mit allen den verschiedenen Nüancen von Licht und Schatten im Bilde der Melancholie und ihrer Phasen.“ – Er hat Andeutungen der Art einigen seiner Werke beigegeben, der Sinfonia eroica, der Pastoralsymphonie, dem Quartett. „Muß es sein? Ja, es muß sein“ u. s. w., bei den meisten hat er es leider unterlassen; aber auch hier ist es durch seine eigene Aeußerung erwiesen, daß er bei jeder Composition seiner Hauptmaxime treu geblieben. Er wollte nämlich diese Aufschlüsse, das Object für jedes seiner Werke, bei einer Gesammtausgabe derselben hinzufügen. Leider ist dieser Plan nicht zur Ausführung gekommen, und die Auflösungen so mancher Räthsel sind mit ihm begraben worden!

Dies ist das Mittel, durch welches er seine beiden Hauptzwecke, energischen, ergreifenden Ausdruck und immer neue, immer verschiedene Bildungen, erreichte. Und hiermit ist auch zugleich der wahre Grund des Vor- und Zurückgreifend seiner verschiedenen Style auf’s Natürlichste erklärt. Nicht die Stimmungen seines durch das reale Leben ergriffenen Gemüths, sondern die helleren und düsterern Objecte, welche er sich vorstellte, haben seine verschiedenen Stylarten hervorgerufen.

Aber wie diese Maxime ihn zu den schönsten und wirkungsvollsten Schöpfungen befähigte, so verleitete sie ihn zuweilen auch zu vorübergehenden barocken Gestaltungen. Wenn man in einigen seiner Sätze einen klaren Seelenzustand, eine vernehmliche Gefühlseinheit nicht mehr heraushören und nachempfinden kann, wenn man zuweilen mehr ein willkürliches Spiel, ein „tel est notre plaisir“ oder nur eine zerrissene Empfindung darin zu vernehmen glaubt, so hat das Beethoven sicherlich nicht gewollt, keine abstracte Idee vor der Seele gehabt, wohl aber mag der gewählte Gegenstand ein zu künstliches, psychologisch verwickeltes Problem gewesen sein, das er noch dazu nicht nur in seinen großen Zügen und vernehmlichen Nüancen, sondern bis in die kleinsten Subtilitäten hinein verfolgen und mit seinen Tönen versinnlichen wollte, wie z. B. daraus nur die öfteren Takt- und Tempowechsel in einigen seiner Quartettsätze zu erklären sind, die ihm ganz natürlich und psychologisch treu erschienen sein mögen, dem Hörer aber eine unangenehme Empfindung bereiten, weil er den Grund davon nicht zu erkennen vermag.

Dazu ergab er sich nun auch dem polyphonen Styl, weil er ihn zum Ausdruck tieferer und ungewöhnlicherer psychologischer Zustände für tauglicher hielt. Jede Stimme sollte eine eigene Seite des Gefühls ausdrücken. Nicht zu leugnen ist, daß er auch hierin Außerordentliches geleistet hat. Hingegen kann auch nur der vollständig Eingenommene behaupten, daß er dabei überall in den Schranken klarer und anmuthender Gedankenformen geblieben sei. Beethoven war in der polyphonen Setzweise nicht so von Jugend auf geübt und sicher, wie z. B. Mozart, und es ist daher kein Wunder, daß durch die Mühe und Aufmerksamkeit, welche er auf die technische Gestaltung des Gedankens verwenden mußte, die ästhetische Schönheit zuweilen beeinträchtigt wurde. Dies aber zu erkennen, sich einzugestehen und solche Gedanken dann zu verwerfen und umzubilden, wie er in früheren Jahren gethan, war er später nicht mehr gewillt, daran hinderte ihn sein gewonnenes Selbstvertrauen, sein Stolz und – Eigensinn. Es kann nicht Wunder nehmen, daß seine außerordentlichen Erfolge, eine so lange Reihe von Jahren hindurch, den Glauben an seine Unfehlbarkeit in ihm erweckt hatten. Er glaubte zuletzt, er könne nichts Falsches und Unechtes, nur Schönes und Vollendetes offenbaren; habe er in den Schranken der bekannten ästhetischen Gesetze das Schönste geleistet, so könne er wohl auch neue ästhetische Gesetze erkennen und ausüben, denn wer solle sie geben, wenn nicht das Genie? Er übersah nur, daß die ästhetischen Gesetze ihren Kreis und ihre Grenze haben, wie alles Menschliche und Irdische, und daß gerade die größten Genies in allen Künsten ihre vollendetsten Werke eben nur innerhalb dieses bestimmten Kreises von Gesetzen geschaffen haben. Dazu kam, daß er sich vor nichts mehr fürchtete, als vor der Wiederholung seiner eigenen Werke, einer Schwäche, die er mit Verachtung an so vielen Künstlern bemerkte. Und das ist ihm auch auf bewundernswürdige Weise gelungen. Nicht zwei seiner Werke sind sich ähnlich. Ist es aber zu verwundern, wenn dieses consequentest festgehaltene Streben nach stets neuen, stets verschiedenen Bildungen auch einmal, selten genug, eine weniger ansprechende zu Tage gebracht hat? – Und noch eine Bemerkung zur Erklärung jener weniger anmuthenden Stellen. Wenn dem Menschen die natürlichen Reizmittel, zu häufig genossen, nicht mehr genügen, nimmt er endlich zu unnatürlichen seine Zuflucht. So lassen die [460] Gourmands, vom frischen Wildpret übersättigt, um ihren Gaumen zu kitzeln, das Fleisch in stinkende Fäulniß übergehen, und nennen das „haut goût“! Wie mit dem sinnlichen, ist es mit dem geistigen Geschmack. Die Staël hat diese Erscheinung mit wenigen Worten treffend erklärt: „C’est la satiété, qui fait recourir à la bizarrerie.“ So vergaß auch Beethoven zuweilen den zweiten Theil der Maxime, welche Goethe dem Director im Vorspiel zum Faust in den Mund legt:

„Wie machen wir’s, daß Alles frisch und neu,
Und mit Bedeutung auch gefällig sei?“

Die Werke der ersten und zweiten Stylart sind mit Bedeutung auch gefällig, d. h. anmuthig in Form und Inhalt. In der dritten Periode gewinnt das Bedeutende die Oberhand, während das Gefällige mehr zurücktritt und zuweilen ganz verschwindet. Wenn aber ein Theil der Kritiker wegen solcher Einzelheiten alle Werke seiner dritten Stylperiode verwirft, so begeht er dasselbe Unrecht wie diejenigen, welche diese Werke für die besten erklären.

Wie man diese Bemerkungen aufnehmen möge, so viel ist gewiß, Beethoven ist bis heute nicht erreicht, noch weniger übertroffen worden. In seinen Werken liegt die echte Aesthetik praktisch ausgeprägt, auch mit einigen negativen Warnungen für Alle, welche sie aufsuchen wollen. Wie nützlich also ist für die ganze Musikwelt das Unternehmen der Herren Verleger, sämmtliche Werke des bis jetzt größten Componisten der Welt in einer vollständigen und richtigen Ausgabe vorzulegen! Die erste Lieferung bringt von der ersten Serie, Nr. 1. Erste Symphonie C dur, Op. 21. Partitur. Serie sechs: Quartette 1–3 F G D dur, Op. 18. Partitur und Stimmen. Serie neun. Erstes Concert für Pianoforte mit Orchester, Op. 15. C dur. Serie sechzehn: Drei Sonaten, Op. 2, Nr. 1–3. Fm. A. C. Alle diese Werke gehören im Ganzen der ersten Stylart an, sind in den letzten Jahren des vorigen und den ersten des jetzigen Jahrhunderts componirt. Nun suche man doch darin die gerade in diesen Jahren am gräulichsten wüthenden Revolutions- und Kriegsstürme und die fieberischen Aufregungen der Völker Europas!

J. C. Lobe.



Wanderungen in und um Berlin.

1.
Berlin als Maria Stuart – Das alte Rathhaus – Das Gemeindeleben des alten Berlins – Der Pranger und die Placaten-Literatur – Das tanzende und trinkende Berlin.

Wie Maria Stuart darf auch Berlin von sich behaupten: „Ich bin besser als mein Ruf“. Der Süddeutsche hegt ein zum Theil nicht ganz unbegründetes Vorurtheil gegen die sogenannte Metropole der Intelligenz, die er sich noch immer als eine Anhäufung von langweiligen Casernen, Exercirhäusern und Reitschulen in einem wüsten Sandmeer denkt, bewohnt von zugeknöpften, schnarrenden Gardelieutenants und steifen Geheimräthen mit ihren bleichsüchtigen Töchtern, welche ausschließlich von dünnem Thee und noch dünneren Butterbroden leben. Selbst die besser Unterrichteten finden Berlin mit seinen neuen schnurgeraden Straßen und seinen hohen Häusern, mit seinen prachtvollen Museen und meist jämmerlichen Kirchen, mit seinem staubigen Thiergarten und der schmutzigen Spree uninteressant und – wie sich besonders die Gelehrten auszudrücken pflegen – unhistorisch. Wie die meisten Vorurtheile wird auch dieses bei genauerer Prüfung und sorgfältiger Untersuchung immer mehr schwinden. Zu diesem Zwecke genügt schon eine Wanderung durch die Straßen Berlins, die keineswegs so uninteressant sind, als ein flüchtiger Beobachter vielleicht zu glauben geneigt ist. Allerdings sind hier mehr als anderswo die Spuren der Vorzeit durch das schnelle Wachsthum in den Hintergrund gedrängt und zum Theil verwischt worden, aber trotzdem fehlt es auch in Berlin nicht an ehrwürdigen Reliquien, uralten Gebäuden und Denkmälern, steinernen Chroniken, die uns von dem Leben der Vergangenheit erzählen und von dem Thun und Treiben der Vergangenheit Rechenschaft geben. Wer dieselben sehen will, der darf sie freilich nicht in den eleganten Stadttheilen suchen, wo Palast an Palast emporsteigt, sondern in abgelegenen Gäßchen, in verrufenen Winkeln und in den minder genannten, von der feinen Welt nur selten besuchten Straßen.

Das historisch merkwürdige Berlin umfaßt gegenwärtig die Brüder-, heilige Geist-, Spandauer-, Stralauer-, Jüden-, Kloster-, Bischofs-, Pagenstraße etc., welche jetzt hauptsächlich dem Handel und der Industrie dienen. Wo sonst stolze Ritter und vornehme Patricier hausten, wohnt jetzt der betriebsame Kaufmann, der geschäftige Fabrikant und oft der schmutzige Trödler. Die materiellen Interessen haben den Sieg davon getragen, die moderne Industrie das feudale Mittelalter fast bis auf die letzte Spur verdrängt. Das Alte mußte vergehen, damit ein neues Leben sich entwickelte, die Sonderinteressen vor dem allgemeinen Wohle schwinden, die Bevorrechtung einzelner Stände, ihre Freiheiten und Privilegien dem Recht und der Freiheit Aller weichen. Es ist dies ein allgemeines Naturgesetz, daß jede Neubildung nur auf Kosten einer früheren Schöpfung geschieht, daß die Blüthe verwelken muß, damit die Frucht sich erst daraus entwickeln kann. Ein solches Gefühl überkommt unwillkürlich den Wanderer, wenn er das alte Berlin durchschreitet, um unter dem geschäftigen Lärm des Tages und dem rastlosen Treiben der Gegenwart die Trümmer und Reliquien der Vergangenheit zu suchen, jene wunderlich alten Häuser mit engen, finstern Treppen, lang gestreckten, dunklen Höfen und kleinen, niedrigen Zimmern, jene altersgrauen Kirchen, aus rohen Quadern gebaut, jene oft unscheinbaren bemoosten Steine und Denkmäler, welche eine Fülle historischer Erinnerungen erwecken.

Wir stehen vor einer solchen Ruine, die in diesem Augenblicke einer mächtigen Umwandlung entgegengeht, vor dem alten Berliner Rathhause an der Ecke der Spandauer- und Königsstraße. Von dem früheren Gebäude, das aus dem dreizehnten Jahrhundert stammt, sind nur noch wenig Spuren erhalten, und auch diese werden bald für immer schwinden, da sich an derselben Stelle ein neuer prächtiger Bau erhebt. Das alte Rathhaus hatte das Unglück, in den Jahren 1380, 1484 und 1581 vom Feuer stark beschädigt zu werden, wobei viele werthvolle Documente mit verbrannt sind. Im Jahre 1693 wurde es nach dem Plane des

[461]

Die Schützen-Festhalle in Frankfurt.

[462] berühmten Architekten Nering gänzlich umgebaut, erweitert und renovirt; 1840 verlor es den aus jener Zeit noch stammenden Thurm, den einzigen Schmuck, den das graue, finstere und in keiner Beziehung seiner Bestimmung und geschichtlichen Bedeutung würdige Gebäude auszuweisen hatte. – In jenen alten Tagen besaß der Berliner Rath eine fast fürstliche Gewalt, indem er in seiner Hand die Communal-, Gerichts- und Polizeigewalt vereinigte. Anfänglich besaß Berlin, wie die meisten alten Städte in der Mark, eine vollkommen demokratische Verfassung. Die angesessene Bürgerschaft wählte zwölf Rathsherren aus ihrer Mitte, welche jedoch, ohne die gesammten Bürger zu befragen, nichts Wichtiges vornehmen durften. Von den Rathsmännern schieden jährlich Viere aus, die durch neue Wahlen ersetzt wurden. Daher findet man in den alten Urkunden die häufig vorkommende Bezeichnung: „Rademanne olde und nye“ (Rathmänner alte und neue). Schon im Jahre 1280 scheinen jedoch die Rathmänner von Berlin nach einer oligarchischen Regierung getrachtet zu haben, indem sie die Zustimmung der Bürger zu umgehen suchten, was zu mannigfachen Streitigkeiten Veranlassung gab. Unter dem Kurfürsten Sigismund erreichte endlich die aristokratische Partei ihr Ziel, indem von nun an nicht mehr die gesammte Bürgerschaft zur Wahl zugelassen wurde, sondern Bürgermeister und alte Rathmänner die neuen jährlich durch Stimmenmehrheit erwählten, so daß diese Aemter und Würden in bestimmten Patricierfamilien, die sich nach und nach in Berlin eingefunden oder allmählich gebildet hatten, so gut wie erblich wurden. Natürlich waren die gemeinen Bürger mit diesen Neuerungen keineswegs einverstanden; sie erregten Unruhen, und diese boten den Kurfürsten aus dem Hause Hohenzollern, da von ihnen Abhülfe gefordert wurde, willkommene Gelegenheit, sich in die innern Angelegenheiten der Bürger zu mischen und ihre freie Verfassung zu beseitigen. Dies geschah unter Friedrich II., den die über die Willkür des Raths empörten Bürger und Gewerke zum Schiedsrichter herbeiriefen. Durch seinen Ausspruch, dem sich die Rathmänner fügen mußten, wurde die bisherige Verfassung vollkommen aufgehoben. Der neue Rath sollte, wie es in der betreffenden Urkunde heißt, jährlich „frumme Lüte, sunderliken ut den Vierwerken verran (voran) und den „gemeynen Bergern“ to Borgermeister und to Ratmannen kesen (wählen).“ Zum Lohn stellte der Kurfürst die Bedingung, daß er fortan die Thorschlüssel der Stadt haben sollte. Die Wahlen wurden auch nicht eher für gültig angesehen, bis der Kurfürst sie zuvor bestätigt. Indem das Haus Hohenzollern sich mit den demokratischen Volkselementen gegen die angemaßten Rechte einer patricisch-oligarchischen Partei verband, gelang es ihm, seine eigene Macht zu vergrößern und den Grundstein zu der nothwendigen Einheit des Staats und der Souverainetät, allerdings auf Kosten der bürgerlichen Selbstständigkeit und Freiheit, zu legen.

In jenen Zeiten wurde auch von der Stadt auf dem Rathhause die Gerichtsbarkeit ausgeübt. Auch dieses Privilegium ging im Jahre 1484 mit vielen andern an Friedrich II. von Hohenzollern verloren. Damals verschwand auch der steinerne „Roland“, der auf dem Molkenmarkte stand und als Zeichen des der Stadt verliehenen Blutbannes galt. Die Gerichtsverhandlungen fanden öffentlich, im Freien und vor dem gesammten Volke statt; nur bei schlechtem Weiter wurden sie in der „Laube“, einer offenen Halle des Rathhauses, abgehalten. Der Schulze war der Vorstand des Gerichts, bei dem die Klage angebracht wurde; er berief die Schöppen, ähnlich unseren heutigen Geschworenen, um das Urtheil zu fällen. Auch die das Gericht umstehenden Zuschauer, welche theils Neugierde, theils Interesse herbeigeführt, blieben nicht unthätig. Sie bildeten den sogenannten „Umstand“, der zwar von dem eigentlichen Gericht durch eine Schranke, oft nur durch ein bloßes Seil getrennt war, aber häufig, zumal wenn er aus alten und erfahrenen Leuten bestand, um Rath und Beistand bei der Findung und Abfassung des Urtheils befragt und angegangen wurde. Der Schulze oder Richter mußte das so gefaßte Urtheil aussprechen und vollstrecken, wobei ihm nicht gestattet war, auch nur die geringste Veränderung weder im Wortlaut noch an der Strafe vorzunehmen. Das Gericht war im eigentlichsten Sinne ein volkstümliches und weit demokratischeres Institut als unsere Geschworenen, da auch die Umstehenden aufgefordert wurden, ihre Meinung in schwierigen Fällen abzugeben und die Verhandlungen durchaus den Charakter der unbeschränktesten Öffentlichkeit und Freiheit zeigten.

Dicht an dem alten Berliner Rathhause und zwar in der Spandauer Straße stand auch der Pranger, damals der „Kaak“ genannt, ein Pfahl mit einem eisernen Halsbande, woran die Verbrecher angeschlossen und von dem Büttel öffentlich gezüchtigt wurden. Noch zu einem andern Zwecke wurde in früheren Zeiten der Pranger gebraucht und zwar zum Anheften von Placaten und Carricaturen. Jedem Bürger war es mit Bewilligung des Magistrats erlaubt, derartige „Scheltbriefe“ anzuschlagen, wenn ihm Jemand das Wort gebrochen oder sonst treulos an ihm gehandelt hatte. Der Schreiber eines solchen Pamphlets stand daneben und las mit lauter Stimme dem Volke seinen Angriff vor, erläuterte auch die dazu gehörigen Carricaturen zum Ergötzen des Publicums, das an diesem mittelalterlichen „Kladderadatsch“ seine Freude hatte und die etwas derben, oft zotenhaften Witze laut belachte. Allerdings mußte aber auch der Scribent für die Wahrheit seiner Beschuldigungen einstehen, widrigenfalls er dieselben Strafen zu erleiden hatte, die den Gegner für sein Vergehen trafen. Wurde ihm bewiesen, daß er gelogen, so mußte er seinen Scheltbrief öffentlich ablesen, dann mit der eigenen Hand sich einen Schlag auf den Mund geben und hinzusetzen: „Mund, als Du das sprachest, da logest Du die Worte.“ Hiermit war er also für sein ganzes Leben ehrlos erklärt, ein großes Unglück in jenen Tagen, wo die Ehre noch als das höchste Gut des Mannes galt. Das alte Berliner Stadtbuch bemerkt zu der betreffenden Verordnung ganz treuherzig: „Gott gebe, daß brave Leute es dazu nicht kommen lassen, sie verschlagen ja Leuten an Ehren. Doch sind deren viele, die selber sich muthwillig in Unehren bringen, aber sie sind nicht darum rechtlos, was wohl zu unterscheiden ist.“ Als ein Pröbchen der damaligen Placaten-Literatur mögen folgende Anreden dienen: „treuloser, vor der Welt aufgeblasener Betrüger, Lügner, Schelme, Beutelschneider, Schmutzteufel, falsche, siegellose, unehrliche, glaublose, böse, lügenhafte Leute, die Lügen mit Siegeln und falschen Zeugen getrieben, denen Betrug keine Schande deucht.“ – Auch die Carricaturen waren von demselben Schlage und meist so kräftiger Art, daß sie sich unmöglich wiedergeben lassen, da, wie bekannt, unsere Vorfahren eine Portion unfläthigen Humors vertragen konnten und nicht so zart und empfindlich in gewissen Dingen waren, wie unsere jetzige, darum aber schwerlich sittlichere Generation.

Nicht immer ging es so streng und ernsthaft auf dem Berliner Rathhaus zu, sondern oft genug herrschte daselbst laute Luft und ausgelassene Fröhlichkeit. Bei festlichen Gelegenheiten wurde daselbst geschmaust und gezecht und wohl auch ein Tänzchen veranstaltet, wobei natürlich das schöne Geschlecht nicht fehlen durfte. Als der wilde Ritter Quitzow nach langer Fehde sich wieder mit der Stadt Berlin vertrug, da wurde ihm zu Ehren ein prächtiges Gastmahl gegeben, und bis zum Morgen tanzte der eben so galante als raublustige Herr mit den schönen Töchtern der Rathsherren und Geschlechter. Wie tanzlustig unsere Vorfahren aber waren, dafür spricht die alte Verordnung, welche den Bürgern bei Strafe verbietet, nach dem Läuten der Abendglocke auf den Straßen zu tanzen. Vielleicht dürfte es für unsere schönen Leserinnen nicht ohne Interesse sein, die verschiedenen Namen der Tänze und die betreffenden Touren kennen zu lernen. Da gab es einen „Zwölfmonatstanz“, worin die Paare durch verschiedene Bewegungen das Ab- und Zunehmen des Mondes und das Kommen und Schwinden der Jahreszeiten symbolisch ausdrückten. Sehr beliebt war der „Todtentanz“, wobei ein Tänzer niedersank und den Todten spielte, während er von allen anwesenden Damen im Vorbeischreiten geküßt wurde. Zuweilen übernahm auch wohl eine Jungfrau die Stelle des Verstorbenen und ließ sich zur Abwechslung von den Herren küssen. Jedenfalls verdiente dieser Tanz wieder Mode zu werden. Der „polnische Tanz“ bestand nach einer alten Beschreibung „in großen Reverenzen, lieblichem Neigen mit Kippen und Wippen“ und war muthmaßlich unserer Polonaise sehr ähnlich. Im „Taubentanz“ wurde das Trippeln der Tauben und vielleicht ihr zärtliches Liebesgirren nachgeahmt, während der „Schmoller“ das Schmollen und die Versöhnung der Liebenden darstellte. Das „Zäunen“ scheint die größte Aehnlichkeit mit unserer ebenfalls veralteten Ecossaise gehabt zu haben und der „Drehtanz“ unser gewöhnlicher Walzer mit entsprechenden Modifikationen gewesen zu sein.

Wie den Tanz, so liebten die alten Berliner auch einen guten Trunk, den sie in dem „Rathskeller“ fanden, der aber nicht im Rathhause selbst, sondern in der Nähe lag, wo jetzt das Haus Nr. 64 in der Spandauer Straße steht. Unsere Vorfahren waren kluge [463] Leute und ließen nicht so leicht den Wein hinaus, der einmal in ihre Stadt gekommen war. Jeder Weinhändler mußte seinen Wein in dem Stadtkeller ausschenken; nur wenn dieser vollständig gefüllt war oder bessere Waare ankommen sollte, war es ihm gestattet, den Wein außerhalb zu verkaufen. Sobald ein Weinhändler ein Faß fremden Weins nach Berlin brachte, so meldete er sich beim Rathe, der das Faß in den Rathskeller bringen, untersuchen und den Preis festsetzen ließ. Hiermit erhielt er erst die Erlaubniß, den Wein zu dem bestimmten Preise auszuschenken. War der Weinhändler mit der Abschätzung nicht zufrieden, so konnte er das Faß zuschlagen und damit weiter in’s Land ziehen, wenn er zuvor ein Lagergeld von vier Schillingen entrichtet hatte. Auch war es ihm gestattet, seinen Wein „auf der Stadt Gerechtigkeit“ auszuschenken, d. h. gegen eine von der Stadt bestellte, übermäßig hohe Abgabe den Preis selbst festzusetzen und ihn so theuer als möglich zu verkaufen. Alle diese Bestimmungen galten indeß nur für die fremden Weine, während die einheimischen Erzeugnisse von jedem derartigen Zwange frei waren. In der Mark und vor den Thoren von Berlin wurde ein ganz ansehnlicher Weinbau betrieben, wofür noch Namen wie die „Weinmeisterstraße“, „Wolank’s Weinberge“ etc. hinlänglich Zeugniß ablegen. Dieser Landwein wird wahrscheinlich seinem Naumburger und Grünberger Collegen an Säure und sonstigem Geschmack nichts nachgegeben haben.

Von der Leistungsfähigkeit der alten Berliner im Trinken haben wir mancherlei historische Beweise; so erzählt der alte Chronist Lockel: „Als Landgraf Moritz mit einem Gefolge von 3000 Pferden zu Berlin 1526 war, wo er sich zehn Tage aufhielt, sind Herr und Knecht so mächtig voll nach Spandau gegangen, daß sie fast das Spandauische Thor nicht finden konnten.“ – Der gelehrte Abt Johannes Tritheim schildert im Jahr 1505 den Charakter und die Sitten der Märker im Allgemeinen und der Berliner insbesondere folgendermaßen: „Das Land ist zwar gut und sehr fruchtbar, aber es bedarf fleißiger Bearbeitung, da es sehr weitläufig und von großem Umfange ist, die wenigen und überaus faulen Bauern aber Trunk und Müßiggang mehr lieben als die Arbeit. Wir können überhaupt von ihnen sagen: die Märker werden durch Gelage und Müßiggang arm, durch Fasten krank und durch Trinken beschleunigen sie den Tod. Ihre größere Zahl ist der Völlerei überaus ergeben, so daß hier zu Lande Leben fast nichts anderes heißt als Essen und Trinken.“ – Ein gewisser Andreas v. Röbell, der lustige Rath des Kurfürsten, erhielt das einträgliche Kanonikat zu Havelberg, wogegen er folgendes Document ausstellen mußte: „Als verpflichte ich mich dakegen hiemit ausdrücklich, daß S. Churf. Gnaden meynes Bartes zu sambt Grundes und Bodens mechtig seyn soll. Desgleichen will ich mich des Vollsaufens enthalten und auf jede Malzeit mit zween ziemblichen Bechern Weins und Biers die Malzeit schließen. Infall ich aber ohne Ihre Churfürst. Gnaden erlaubens dieses übertretten Und ich drunken befunden werde: Als soll und will ich mich so baltt ich gefordert werde in der Kuchen einstellen und mit vierzigh Streichen weniger einem Jemaßen dem heiligen Paulo geschehen, von denen, so Ihr Gnaden darzu verordenen werden, mit der Rutte geben lassen.“ – Ein Geistlicher entwirft in einer Leichenrede auf einen märkischen Edelmann aus dem Jahre 1604 ein Bild von den Sitten der Schlemmer: „und Epikurische Weltkinder, welche alle Tage mit Saufen und vollen Magen leben, und führen zu ihrer Ordensregel daß Symbolum, oder den Reimspruch deß Epikuri: Ede, bibe, lude, post mortem nulla voluptas, das ist so viel gesagt:

Die beste Speis; jag durch den Kragen;
Mit Bier und Wein füll stets den Magen,
Stirbstu einmal, so ist es auß,
Dort ist kein Lust, leb hier im Sauß.“ –


(Schluß folgt.)



Blätter und Blüthen

Die Algen-Esser. Auf einer Sommerreise ging ich zur Mittagszeit in dem Kretscham eines schlesischen Gebirgdorfes mit einem tüchtigen Appetit vor Anker. Obwohl ein gewisser lieblicher Duft, der benachbarten Küche entströmend, wohl geeignet war, meiner Phantasie ein lucullisches Mahl vorzugaukeln, blieb mir „bien echauffe“, wie ich war, doch Nüchternheit genug, um die vorsorgliche Frage zu thun: ob ich etwas Salat zum Braten bekommen könnte? „Ach ja,“ meinte die freundliche Wirthin, „aber ich weiß nicht, ob er dem Herrn schmecken wird. Es ist ein neumodischer Salat. Der Herr Doctor hat ihn uns empfohlen; er soll sehr gesund sein.“ An Kresse oder Rapunze denkend, bestellte ich eine ordentliche Portion mit „Oel und Essig“ und war nicht wenig erstaunt, bald daraus eine Untertasse mit einer grünen Masse vor mir zu sehen, die einem Gericht Spinat ähnlicher sah, als irgend welchem mir bekannten Salat. Die „Nasenprobe“ hatte kein Resultat geliefert, drum mußte ich mich schon auf eine nähere Ocular-Untersuchung einlassen. Sofort fielen mir einige haarartige Fasern auf, die an meiner sondirenden Gabel hängen blieben, welche, wie sich später ergab, dem Verkürzungsversuch mit einem gewöhnlichen Brodmesser glücklich entgangen waren. Vorläufig genug für mich, den „gesunden Salat“ einstweilen ad acta zu legen, bis dem thierischen Theil meines Ich sein Recht geschehen. In der behaglichsten, contemplativen Stimmung, in den eine kräftige Mahlzeit nach einem frischen Morgengang durch die Berge zu versetzen pflegt, packte ich nun mein Taschenmikroskop aus, um zunächst durch den Gesichtssinn von der Natur des neumodischen Gerichtes nähere Kenntnis; zu erhalten. Was ich nach dem ersten Blick als eine unberechtigte Ahnung mit Mühe unterdrückt hatte, bestätigte sich jetzt. Es waren Algen, die man mir vorgesetzt hatte, und zwar Oedogonium Capillalceum

Da ich jedoch von einer neuen praktischen Entdeckung der Wissenschaft, welche Algen als Nahrungsmittel zu verwenden empfiehlt, bis dato noch nichts gehört hatte, begnügte ich mich vor der Hand damit, eine Messerspitze dieses köstlichen Stoffes in Papier verpackt zu meinen übrigen Raritäten zu legen. Allein damit wurde mein Forschungsdrang noch keineswegs befriedigt. War der Doctor, von dem die Rede gewesen, wirklich ein algenfressender Sonderling, oder ein junger, übermüthiger Spaßvogel, der die Leichtgläubigkeit der Leute gemißbraucht hatte? – Daß man mich nicht hatte mystificiren wollen, dafür sprach, außer andern Gründen, schon hinlänglich die treuherzig bedauernde Miene der Wirthin. Auch stand sie meinen neugierigen Fragen ebenso arglos als willig Rede. So erfuhr ich denn, daß vor einem Jahre etwa der Sanitätsrath N. aus H. die Brunnen des Ortes besucht, aus denselben allerlei grünen Schlamm gefischt und in weithalsige Flaschen und Fläschchen gelöffelt habe. Der neugierigen Dorfjugend, die ihn bei diesem Geschäfte umringte, drängte sich die ganz natürliche Frage auf: wozu das sei? worauf der gelehrte Herr ihnen sehr herablassend erklärte: „Das gäbe einen ganz vortrefflichen Salat, der sei sehr gesund.“ Auf diese mit überzeugender Uebereinstimmung vorgebrachte Aussage beschlossen die betreffenden Brunnenbesitzer, diese ergiebige Nahrungsquelle zu ihrem eigenen Vortheil auszubeuten, und nachdem ein alter Bauer, dem’s im Magen nicht ganz richtig gewesen, zuerst davon versucht und gemeint hatte, es schmecke nicht schlechter als anderes Gras, auch wirklich darnach gesund geworden, haben es die Leute im Dorfe öfter gegessen und sich ganz wohl dabei befunden. Uebrigens konnte die gute Frau doch ihre Verwunderung darüber nicht bergen, daß ich in der Stadt von dieser „neuen Mode“ noch nichts gehört haben sollte. –

In H. fand ich Gelegenheit, in dem Sanitätsrath N. einen ebenso jovialen Mann, wie eifrigen Algen- und Diatomäen-Forscher kennen zu lernen. Die neugierige und oft bis zur Ermüdung wiederholte Frage der Landleute: Wozu das Zeug, das er so sorgfältig sammele, sei? hatte ihn zuletzt ennüyirt, und da man die Wahrheit stets ungläubig aufgenommen, fand er in einer Anwandlung von ingrimmigem Humor sich veranlaßt, den zudringlichen Schulbuben einen Bären aufzubinden. Die Folgen, welche sein launiger Einfall hervorgerufen, ergötzten ihn zwar höchlich, doch meinte er, aus Gesundheitsrücksichten die Dörfler bald möglichst aufklären zu müssen, da ihm die Heilkraft der Alge nicht ganz einleuchten wollte. „Mir ist aber,“ fügte er lachend hinzu, „für meinen unzeitigen Spaß ganz recht geschehen, denn so oft ich später auch jene Brunnen besuchte, war es doch stets vergebliche Mühe. Wie mögen die Leute in ihrem Innern gelacht haben, wenn sie mich, brummend über das unfruchtbare Jahr, abziehen sahen! Man muß sich damit trösten, daß der am besten lacht, der zuletzt lacht.“

H.




Von der Eider. Die eigenthümlichen politischen Zustände in den nordalbingischen Herzogthümern regen auf beiden Seiten die Gemüther immer mehr auf und erzeugen eine Stimmung, die auch darin ihre Befriedigung sucht, namentlich denjenigen Vaterlandsfreunden, die bürgerliche Gewerbe treiben, so viel Nachtheil und Schaden zuzufügen, wie möglich. Zeitungslesern wird es nicht entgangen sein, daß schon seit mehreren Jahren Herr v. Kolb, welcher sich in Rendsburg als Hotelbesitzer niederließ (und vordem als Hauptmann in der schleswig-holsteinischen Armee gedient hatte), manchmal die Zielscheibe des Hasses dänischer Blätter geworden. Die Folge ist gewesen, daß sich der früher fast ausschließliche Besuch seines Gasthofes (Pahl’s Hotel) durch Dänen allmählich verminderte, bis es endlich durch thätige Agitation dahin gebracht wurde, jeden hier ankommenden Dänen von ihm zu entfernen. Verirrt sich einer noch ungewarnt in seinen Gasthof, so vergehen nur wenige Stunden und der Gast wird bewogen, das Haus zu fliehen, in welchem er seit vielen Jahren gewohnt war zu verkehren. Ja selbst Gäste, welche während der acht Jahre, seitdem Herr v. Kolb Eigenthümer des Hotels, täglich Mittags und Abends hier verkehrten, sind verschwunden. Es liegt nach Allem klar auf der Hand, daß diesem Manne durch eine solche von einflußreichen politischen Gegnern systematisch betriebene consequente Maßregelung fühlbare Verluste bereitet werden. Wäre es unter solchen Umständen nicht die Pflicht jedes ehrlichen deutschen Patrioten, einem solchen Treiben indirect entgegen zu treten, auf daß deutsche Reisende [464] sich aus ihrer Apathie und vom Gängelband der Gewohnheit losreißen, um das zu erhalten, was die feindliche Partei zu ruiniren hofft? Soll ein Mann, welcher sich bei allen patriotischen Angelegenheiten thätig betheiligt und selbige ohne Rücksicht auf geschäftliche Vor- oder Nachtheile eifrigst zu fördern sucht, das Opfer dänischer Cabale werden? Soll wieder ein trauriges Beispiel deutschen Indifferentismus aufgeführt werden, welches jeden Patrioten mahnen müßte, der augenblicklichen Situation zu huldigen und der Seite zuzulächeln, von wo ihm Geld und Vortheil winkt? Es scheint leider hier zu Lande das traurige Loos deutscher Patrioten zu sein, durch ihre „Thorheit“ an den Bettelstab zu kommen. Wie traurig aber solche Erfahrungen immerhin sein mögen, so wird in unsern nordalbingischen Landen sich dadurch in deutscher Gesinnungstreue Niemand wankend machen lassen, und es steht zu hoffen, daß die deutsche Presse für den erwähnten Gemaßregelten thatkräftig Partei ergreifen und ihre Leser auf die Gefahr aufmerksam machen wird, welche einen Patrioten bedroht, der für sein deutsches Vaterland sowohl die Waffen wie die Feder geführt hat und bereit ist, wenn’s gilt, den Kampf auf der blutigen Wahlstatt zu jeder Stunde wieder aufzunehmen.





Kleiner Briefkasten.

L. R. in F. Wir freuen uns, Ihre Vermuthung bestätigen zu können. Die Zeichnungen zum Frankfurter Schützenfeste, welche die Gartenlaube bringen wird, sind sämmtlich von der Hand des genialen Malers E. Schalk gefertigt, desselben tüchtigen Künstlers, dem man die Anordnung des Festzuges übertragen und der seinen feinen Geschmack bereits früher bei Ausrüstung des prächtigen Schillerfestzuges bewiesen hat. Sie dürfen mit Recht etwas Tüchtiges erwarten, nur bitten wir wiederholt um etwas Geduld.

Johannes Wagner, Weber in Dillstädt bei Suhl. Ihr Brief und Ihre Gedichte haben uns erfreut, wenn auch letztere zum Abdruck in die Gartenlaube nicht geeignet sind. Ein solcher Gruß aus dem Volke thut uns immer wohl. Möge die schöne, nachahmungswürdige Sitte des „Hinläutens“, die ohne Unterschied jedem Todten die Ehre eines letzten Glockengrußes sichert, in dem lieben Henneberg noch recht lange erhalten, Ihnen aber noch recht lange vorenthalten bleiben!

G. B. aus Sbg. Wir können nicht auf jede kleine Mittheilung brieflich antworten, noch sie zurückschicken. Das ist oft genug bekannt gemacht. Sind die Sachen zu gebrauchen, so erscheinen sie und werden honorirt, wenn nicht, nicht. Ihr kleiner Beitrag paßt nicht für die Gartenlaube, der Ihres Herrn Vaters kann, jedoch nur im Auszuge, benutzt werden.

W. in Brüssel. „Die vorzüglichsten Bücher für den Gebrauch des Dichters und Kritikers.“ Ein neues Werk, das Ihren Wünschen entsprechen wird, ist soeben unter der Presse; wir werden Ihnen den Titel desselben nach dem Erscheinen mittheilen.

O. v. M. in Halle a. S. Wir freuen uns, daß Sie so verständig denken und Ihre Meinung so frisch und warm aussprechen; aber für die Gartenlaube ist Ihr Aufsatz nicht geeignet.




Physiognomische Aufgabe.

Nr. 2.[2]

Diese kleine, unbedeutende Zeichnung hat den Vorzug, bei überraschender Ähnlichkeit des Gesichts die Körperhaltung des Originals sehr charakteristisch wiederzugeben. Alle unsere Leser kennen das Original, wenn nicht persönlich, doch aus seinen Werken, und Viele schätzen und lieben es deshalb. Jedenfalls zeigt der Blick viel Intelligenz, das beobachtende Auge, namentlich nach einer bestimmten Richtung hin, viel Urtheil, der lächelnde Mund Witz und Behagen. Nicht immer trug dieser Kopf den hohen Cylinder, aber immer zeigte er sich, besonders in gewissen Kreisen, lieber mit diesem als in anderer Weise.

Diese vorgebeugte beobachtende Gestalt, die, wenn wir nicht irren, den Katalog irgend einer Ausstellung trägt, scheint wenig Poetisches oder Romantisches an sich zu tragen. Und doch schlägt hinter diesem Philisterrocke ein warmes Herz für Romantik, für Poesie und Kunst, doch hat dieser Mann viel gelebt und geliebt und der Schönheit gehuldigt, in welcher Gestalt er sie auch fand, und die jetzt schlaffe Hand hat manches heiße, liebeduftende Lied geschrieben, das mit beredten Worten den Romantiker documentirt. Was er sein sollte, war er – nach gewöhnlichen Begriffen – wenig, aber was er geschaffen, wird seinen Namen unsterblich machen und ihm ein Andenken sichern, um das ihn alle seine Collegen, die jetzt mit Lächeln auf ihn herabsehen, beneiden werden. Wenn einst der Tod diese Gestalt in ein kleines Haus bettet, werden Alle trauern, die auf Erden dem Schönen und Idealen huldigen.


Für Wilhelm Bauer’s „deutsches Taucherwerk“

sind ferner (bis zum 7. Juli) eingegangen: 82 Thlr. durch Baerwald, ersten Director der polytechnischen Gesellschaft in Berlin (50 Thlr. aus der Gesellschaftscaffe und, als erste Sendung, 32 Thlr. ges. Beiträge einzelner Mitglieder der Gesellschaft); 9 Thlr. ges. vom Handwerkerverein zu Tiegenhof, durch Justizrath Weiß; 2 Thlr. 21/2 Ngr. Sammlung des Vereins Apollo in Haynichen; 3 Thlr. 2 Ngr. gesammelt im Männer-Turn-Verein zu Magdeburg; 7 Thlr. 1 Sgr. ges. von Scharlott in Graudenz; 1 Thlr. von Joh. Sellnick in Fischhausen; 4 Thlr. von der Casino-Gesellschaft in Albersweiler (Rheinpfalz), durch C. Spitzfadem; 10 Ngr. von Hentzner; 4 Thlr. von 6 Lesern der Gartenlaube durch die Redaction der Kösliner Zeitung; 5 Thlr. 41/2 Ngr. ges. beim Schützenfest in Gößnitz, durch Betriebs-Oberinspector Damm in Leipzig; 10 Thlr. 41/2 Ngr. (nämlich 16 fl. 46 Kr. ges. beim Jahresfest der Störger’schen Turnanstalt und 1 fl. von E. Treusch in Hanau) durch Buchh. Fr. König daselbst; 10 Ngr. von C. W. G. Schulze in Chemnitz; 10 Thlr. (nämlich 9 Thlr. von der Sonnabend-Gesellschaft und 1 Thlr. von Kaufm. Hr. Lau in Lübben) durch F. Winckler daselbst; 1 Thlr. vom Turnverein in Ohrdruf; 12 Ngr. von E. W. Pietzsch, Bäckergehülfen aus Meißen; 1 Thlr. 101/2 Ngr. von der Gymnasial-Secunda zu Minden, bez. als erste Sendung; 231/2 Ngr. von einem Hauslehrer in Bilsen; 3 Thlr. (nämlich von Amtm. Diercke in Güteborn 2 Thlr., von Amtm. D. in R. 15 Ngr., von Dr. E. R. 15 Ngr.) durch Dr. E. R. in R.; 2 Thlr. von Dr.v>. Bucholtz in Riga; 2 Thlr. 71/2 Ngr. von Kühtmann u. Co. u. 1 Thlr. von einem Fortschrittsmann in Bremen; 1 Thlr. 15 Ngr. von H., E. und R., drei Turnern in Bunzlau; 15 Thlr. von Mitgliedern des Nationalvereins in Bromberg; 3 Thlr. 15 Ngr. Restbestand der Sammlung für die deutsche Flotte von Ferd. Burghardt aus Sangerhausen; 3 Thlr. von Fr. H, aus Korsun und 3 Thlr. von A. H., ebendaher, im Gouvernement Kiew; 1 Thlr. von L., 10 Ngr. von P., beides durch E. F. Thienemann in Gotha; 2 Thlr. 8 Ngr. von einigen Turnern und Nichtturnern in Mußbach; 1 Thlr. von Queva in Dresden; 25 Thlr. als Ertrag einer „öffentlichen Vorstellung zu Gunsten der Bauer’schen Taucherwerk-Unternehmung am 22. Juni,“ von dem dramatischen Verein zu Meerane – „Die ernste und die heit’re Muse – schickt Bauern dies mit deutschem Gruße!“ – durch den Vorsteher dess., Louis Schulze das ; 1 Thlr. ges. in einem Lesecirkel; 5 Thr. 20 Ngr. von einigen Freunden des deutschen Taucherwerks in Seifhennersdorf, mit einem poetischen Gruß für Bauer; 30 Gulden aus St. Lambrecht-Grevenhausen: „Ihm winken keine goldnen Gnadenketten – drum, deutsches Volk, mußt deutsche Ehre retten.“ (statt Unterschrift die deutschen Farben); 16 Ngr. von zwei Lesern der Gartenlaube in Lauban; 17 Ngr. von Frau Louise Oelert, durch Faber in Mz.; 18 Ngr. von einem Patrioten E. D. in Pforzheim; 3 Thlr. von einer Quodlibetgesellschaft in Kahla; 1 Thlr. vom Rath N. in Berlin; 2 Thlr. 21/2 Ngr. ges. in Naunhain bei Hartha bei einem Töpfchen Bier; 7 Gulden von Marktbibart in Baiern; 2 Thlr. 24 Ngr. vom Vorschußverein in Striega durch W. Eichel in Delitzsch; 5 Thlr. 3 Ngr. ges. unter den Turnern am Stiftungsfeste des Turnvereins zu Mitweida und von einigen Lehrern; 1 Thlr. von Friedr. Bensch, Leser der Gartenlaube in Spremberg; 2 Thlr. 5 Ngr. durch F. Ullrich in Werdau; 3 Thlr. ges. in einer Versammlung holsteinischer und lauenburger Primaner in B., durch G. B. in Glückstadt: 25 Gulden ges. in St. Goarshausen am Rhein, durch A. Wagner; 10 fl. 30 Kr. ges. bei einem Zusammensein der Lohgerber zu Rudolstadt, durch E. A. Liebmann u. Sohn; 1 Thlr. von einer kleinen Gesellschaft Deutscher in Zerbst, durch G. Breyer; 5 Thlr. 24 Ngr., ges. bei Mitgliedern der Casino-Gesellschaft II. in Homberg („Glück auf!“) durch A. W. in Holzhausen; 8 Thlr. „für W. Bauer’s unterseeische Kameele von einigen Ueberseeischen in Manchester, 20. Juni 1862.“ – Die Maschinenbau-Anstalt von P. Fleck in Berlin hat, als ihren Beitrag für Bauer’s Taucherwerk, sich erboten, irgend einen Theil der Apparate im Werthe von 25 Thalern gratis anzufertigen. – In der sächs. Ständeversammlung ist eine Petition des Gewerbevereins zu Radeberg um Unterstützung der Bauer'schen Erfindung aus Staatsmitteln eingebracht, vom Ausschuß trefflich befürwortet, von Dr. Henner ausdrücklich empfohlen und einstimmig der hohen Staatsregierung zur Berücksichtigung übergeben worden, und zwar als eine deutsche Ehrensache. Gegenwärtig tagen die Volksvertreter in verschiedenen deutschen Ländern; wir sind erbötig, ihnen das nöthige Material zur Begründung von Petitionen für Bauer's Erfindungen zu liefern, falls sie diese „deutsche Ehrensache“ auch zu der ihrigen machen wollen.


  1. Der Güte eines Freundes verdanken wir das obenstehende Portrait des bekannten Reisenden Möllhausen, dessen Fahrten und Abenteuer jetzt mit so viel Interesse gelesen werden. Möllhausen war eine Zeitlang selbst Trapper und hat sich in dieser Eigenschaft photographiren lassen.
    D. Red.
  2. Nr. 1 siehe Jahrgang 1861, Nr. 3, S 45. – Antworten frankirt.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Wohlgemeinter Rath für Auswanderer