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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[241]

No. 16.   1862.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Ein Amnestirter.

Erzählung von J. D. H. Temme.
(Fortsetzung)

Auf einem Spaziergange traf ich Alexander Roth. Ich hatte ihn lange nicht gesehen, und ebenso war es den andern Bekannten ergangen. Es hieß, daß er in der letzteren Zeit förmlich menschenscheu geworden. Er wollte mit einem stummen Gruße an mir vorübergehen. Er sah sehr blaß aus. Auf einmal blieb er stehen.

„Erlauben Sie, daß ich Sie auf Ihrer Promenade begleite?“ fragte er.

„Es wird mir angenehm sein.“

Er hatte etwas auf dem Herzen und konnte es nicht für sich behalten.

„Sie waren letzte Zeit Criminalrichter?“ sagte er dann.

„Ja.“

„Ist es Ihnen in Ihrer Praxis vorgekommen, daß ein Unschuldiger verurtheilt wurde?“

„Nein! Aber ich kann es nur als ein Glück betrachten, für das ich Gott nicht genug danken kann. Oft genug ist es mir begegnet, daß ich in der ersten Zeit nach einem Verbrechen, im Anfange einer Untersuchung Jemanden für den Thäter, für einen Verbrecher hielt, dessen Unschuld durch die weiteren Ermittelungen, und wie häufig nur durch ein glückliches Ungefähr, sich später vollständig herausstellte.“

„Das kann vorkommen? Einem gewissenhaften, tüchtigen Manne gegenüber?“

„Dem tüchtigsten, dem gewissenhaftesten, meine ich. Denken Sie an den traurigen Fall, der gerade jetzt in Aller Munde ist.“

„Kann es vorkommen, daß Jemand sich selbst für schuldig hält, der in der That unschuldig ist?“

„Auch davon sind mir Beispiele bekannt geworden.“

Er sann nach. Er war unruhig geworden und uneinig mit sich.

„Haben Sie Zeit?“ fragte er dann.

„Sie hören, ich mache eine Promenade.“

„Werden Sie es nicht verschmähen, einen Criminalfall von mir anzuhören?“

„Interessante Criminalgeschichten höre ich immer gern. Sie kennen das Sprüchwort von dem alten Fuhrmann.“

„Mein Fall ist interessant. Doch ich weiß es nicht. Haben Sie die Güte, mir zuzuhören.“

Er erzählte. Er war aufgeregt geworden und suchte anfangs seine Aufregung zu verbergen. Nachher vergaß er es. Er hatte zuerst kalt, trocken gesprochen. Er wurde immer lebhafter, aufgeregter, zuletzt – aber ich darf nicht vorgreifen.

„Ich erlebte einmal eine seltsame Geschichte,“ hob er an. „Es war im März des Jahres 1849. Ich hatte flüchten müssen, denn ich war schon damals als Hochverräther verfolgt. Sie wissen, einen Vorwand, Jemanden wegen Hochverraths zu verfolgen, hatte man damals schnell und leicht genug bei der Hand. Die Regierungen wünschten es; die Gerichte beeilten sich, wo möglich den Wünschen der Regierungen noch zuvorzukommen. Polizei und Militär war mir auf den Fersen. Ich kannte nur noch einen sicheren Aufenthaltsort, an dem ich mich, bis man von meiner unausgesetzten Verfolgung ablasse, ohne Gefahr der Entdeckung verbergen könne. Es war die Wohnung eines Freundes, der zur Partei der entschiedensten, der heftigsten Reaction gehörte. Er war mein erklärtester, erbittertester politischer Widersacher. Aber er war zugleich der stolzeste und der unbeugsamste Charakter, und nie habe ich einen Mann kennen gelernt, der eifersüchtiger auf seine Ehre vor den Menschen, vor der Welt war. Der untadelhafteste Edelmann zu sein, an dessen Namen und Ruf auch nicht das kleinste Fleckchen gehängt werden könne, das war ihm Alles, dafür hätte er sein Leben als ein Nichts hingegeben. Daß er mir, dem alten, engverbundenen Freunde, ein Asyl bei sich nicht verweigern, daß er es mir um so weniger verweigern werde, je mehr wir erbitterte neue Widersacher waren, davon konnte, mußte ich eben so sehr überzeugt sein, als ich sicher darauf rechnen konnte, daß man gerade bei ihm, dem allbekannten Aristokraten und Reactionär, mich am allerwenigsten vermuthen und aufsuchen werde.

Sein Schloß lag einsam im Gebirge. Ich erreichte es, verkleidet, nachdem es mir geglückt war, meine Verfolger von meiner Spur abzulenken. Ich war früher nur einmal in dem Schlosse gewesen, vor Jahren, als Knabe, mit meinem Vater, der den Vater meines Freundes besucht hatte. Schon unsere Väter waren Freunde gewesen. Ich hatte nur noch eine schwache Erinnerung des Gebäudes. Meinen Freund hatte ich seit zwei Jahren nicht wieder gesehen. Das schon damals in der Gährung begriffene politische Leben hatte uns aus einander gebracht. Er hatte sich zu derselben Zeit vermählt. Er war mehrere Jahre älter als ich. Seine Gattin hatte ich nie gesehen, ich hatte nur gehört, daß sie eine sehr schöne, aber reizbare, heftige, zum Jähzorn geneigte und zudem stolze Frau sei. Ich war gegen Abend in der Kleidung eines Bauern im Schlosse angekommen. Ich traf auf dem Schloßhofe einen Bedienten und fragte ihn, ob der Herr zu Hause sei.

„Ja,“ war die Antwort.

Ob ich ihn sprechen könne?

„Nein.“

Ich müsse ihn dringend, nothwendig sprechen.

[242] Der Herr habe keine Zeit.

Ich nahm aus meiner Brieftasche ein Blatt Papier und schrieb mit wenigen Worten darauf, daß Jemand, den er aus dieser Handschrift erkennen werde, ihn zu sprechen wünsche. Mit dem Zettel schickte ich den Diener zu ihm. Mein Freund kannte meine Schrift; es konnte ihm nicht unbekannt sein, daß ich verfolgt wurde. Er mußte dann auch das Weitere wissen. Es war so, und es geschah auch, was ich erwartet hatte. Der Bediente kam zurück, führte mich in das Schloß, in ein Zimmer und hieß mich, dort zu verziehen, der Herr werde kommen, sobald es ihm möglich sei. Der Mensch sprach kurz und behandelte mich wie einen Bauern. Sein Herr hatte sich und mich nicht gegen ihn verrathen. Ich mußte etwa zehn Minuten warten. Der Diener hatte mich allein gelassen. Mein Freund trat zu mir ein; nicht durch die Thür, durch die ich eingeführt war, sondern durch eine Tapetenthür, die ich bisher nicht bemerkt hatte. Er war rasch eingetreten. Es schien mir, als wenn er die Thür absichtlich leise geöffnet hätte. Er war eilig und hörte kaum meine Begrüßung an. Er grüßte nicht zurück und nahm leise und schnell meine Hand.

„Du wirst hier bleiben,“ sagte er flüchtig, „Du bist sicher bei mir. Auch in diesem Zimmer, es stößt an mein Cabinet. Ich habe große, dringende Eile. In einer Stunde spätestens hoffe ich wieder bei Dir zu sein. Entschuldige mich.“

Er wartete meine Antwort nicht ab und verschwand durch die Tapetenthüre, durch die er gekommen war. Es war ein sonderbarer Empfang, der durch unser Verhältniß zu einander und durch meine unerwartete Ankunft allein nicht begründet und nicht erklärt sein konnte. Es mußte außerdem im Schlosse etwas Besonderes vorgefallen sein oder noch vor sich gehen. Ich dachte darüber nach. Es fiel mir auf, daß mein Freund aufgeregt, ja verstört ausgesehen hatte. Ich sann vergebens darüber nach, was sich ereignet haben könne. Ich horchte, aber hörte nichts. Ich blickte durch das Fenster des Zimmers, in dem ich mich befand, und sah auch nichts. Das Schloß hatte zwei vorspringende Flügel, in dem einen befand ich mich. Ich konnte durch das Fenster den gegenüberliegenden Flügel und die ganze Vorderseite des Hauptgebäudes übersehen, es lag Alles still und dunkel, wie ausgestorben da. Ich hatte eine halbe Stunde gewartet. Plötzlich war es mir, als wenn ich in einem Gemache neben mir ein Geräusch gehört hätte. Es war hinter der verborgenen Tapetenthür, also wahrscheinlich in dem Cabinet meines Freundes, von dem er gesprochen hatte. Es mußte dort Jemand eingetreten sein. Dann wurden ein paar rasche Schritte hin und her gemacht. Dann glaubte ich eine Stimme zu hören, als wenn Jemand gerufen werde. Alles war leise, sehr leise. Plötzlich wurde die Tapetenthür geöffnet. Eine Dame erschien darin. Sie warf einen Blick in mein Zimmer; sie sah mich und flog zurück.

„Allmächtiger Gott!“ hatte sie aufgeschrieen.

Sie hatte mich erkannt, und ich hatte sie erkannt. Ich war heftig erschrocken, vielleicht mehr als sie. Warum konnte, warum mußte sie vor mir erschrecken, vor mir fliehen? Ich eilte ihr nach, ich mußte es. Sie war die Tochter eines Oberförsters in meiner Heimath. Die Wohnung ihres Vaters und mein elterliches Haus hatten kaum ein paar hundert Schritte von einander entfernt gelegen. Wir waren ungefähr in einem Alter, waren zusammen aufgewachsen, zusammen auferzogen. Wir hatten als Kinder zusammen gespielt und gemeinsamen Unterricht gehabt. Wir wohnten auf dem Lande, von einer Stadt entfernt und waren später getrennt, als ich zur Universität ging. Ich hatte sie aber wieder gesehen, wenn ich in den Ferien zu Hause war, zuletzt vor ungefähr einem halben Jahre. Seitdem hatte ich nichts mehr von ihr gehört. Sie hatte immer das bravste, edelste, reinste und unbefangenste Herz und einen klaren, hellen Verstand. Wir waren immer eng verbunden gewesen. Wie kam sie hierher, in das Schloß meines Freundes, und in welcher Stellung war sie hier? Ich wußte, daß ihr Vater vor einigen Jahren verstorben war und kein Vermögen zurückgelassen hatte. Ihre Mutter lebte von einer geringen Pension mit noch drei jüngeren Kindern. Daß Ida – so hieß die älteste Tochter, die ich so plötzlich wiederfand – sich irgend eine Lebensstellung werde zu verschaffen gesucht haben, um ihrer Mutter die Last ihrer Ernährung abzunehmen, konnte ich mir wohl vorstellen. Aber welche konnte sie hier, in dem Schlosse meines Freundes, gefunden haben? Seine Kinder, wenn er deren hatte, konnten noch nicht in dem Alter sein, um einer Erzieherin zu bedürfen. War sie vielleicht die Gesellschafterin seiner Frau? Aber vor Allem, warum erschrak, warum floh sie vor mir? Ich war ihr in das Zimmer gefolgt, in das sie geflohen war. Es war das Arbeitscabinet des Hausherrn, meines Freundes, ich sah es an Allem. Sie war noch in dem Zimmer, sie suchte weiter zu entfliehen. Ich rief ihren Namen. Sie blieb stehen, aber als wenn der Schreck sie gelähmt habe. Ihr Gesicht hielt sie von mir abgewandt.

„Ida, Du hast mich erkannt!“

„Ja,“ bebte es über ihre Lippen.

„Und warum fliehest Du vor mir?“

Sie antwortete nicht. Ich war an sie herangetreten und hatte ihre Hand gefaßt. Es war eine eiskalte, zitternde Hand. Sie ließ sie mir. Aber ihr Gesicht wandte sie um so mehr von mir ab.

„Ida, kannst Du mich nicht mehr ansehen?“

„Lassen Sie mich,“ preßte sie hervor.

„Sie, Ida? Haben wir je anders als Du zu einander gesagt?“

„Ich beschwöre Sie –“

„Um des Himmels willen, was ist hier vorgefallen? Ich beschwöre Dich, Ida! Was ist es?“

Sie raffte sich plötzlich auf und wandte ihr Gesicht zu mir. Es war leichenblaß, kreideweiß. Sie sah mich an, aber mit Augen, die ohne Glanz, ohne Leben starrten, sie wollte zu mir sprechen, aber sie konnte es nicht. Mich überlief ein kaltes Entsetzen.

„Ida, Ida, hier ist ein großes Unglück geschehen, oder ein –“

Ich konnte das Wort nicht aussprechen.

„Sprich es aus!“ rief sie.

Ich hatte ihre Hand noch gehalten. Sie preßte die meinige krampfhaft. Durch ihre dunklen Augen zuckte ein wilder Blitz, ihr Gesicht blieb so weiß, so leichenhaft. Welch einen Anblick bot das schöne, von Schreck, von Angst, von – ich wußte nicht wovon, verzehrte Mädchen! Doch ich wußte es wohl, eine Stimme rief es laut in mir bei dem Anblicke, und ich mußte es sagen.

„Oder ein furchtbares Verbrechen, Ida,“ setzte ich hinzu.

„Allmächtiger Gott!“ schrie sie noch einmal auf.

Sie riß ihre Hand aus der meinigen und stieß mich von sich. Sie schwankte. Mich ergriff es wie Verzweiflung.

„Ida, Ida!“ rief ich. „Aber Du bist nicht die Verbrecherin! Du kannst es nicht sein! Sage es mir; sage mir, daß Du es nicht bist.“

Sie hatte sich gefaßt, mühsam. Sie konnte aufrecht stehen – konnte zu mir sprechen, aber – antworten konnte sie mir nicht.

„Nachher!“ sagte sie. „Ich muß fort. Auf der Stelle. Nachher sollst Du Alles erfahren. Ich werde zu Dir kommen. Sage Niemandem, daß Du mich gesehen hast.“

Sie eilte fort. Sie hatte rasch, aber immer unter dem Eindrucke des Schrecks, der tiefsten innersten Angst gesprochen. Sie war durch eine zweite geheime Thür verschwunden, die sich in der Tapete des Cabinets befand, gegenüber derjenigen, durch die ich ihr gefolgt war. Ich kehrte in mein Zimmer zurück und verschloß die Tapetenthür hinter mir. Ich war in einer peinigenden Angst. War hier ein Verbrechen vorgefallen? War sie die Verbrecherin? Ich hatte keinen anderen Gedanken.“

Roth unterbrach seine Erzählung.

„War sie eine Verbrecherin?“ fragte er mich. „Sie haben als Criminalrichter eine reiche Erfahrung. Antworten Sie mir aufrichtig. Wenn ein Verbrechen vorgefallen war – und es war eins vorgefallen, zu derselben Stunde, vielleicht in derselben Minute, da ich in das Schloß eingetreten war – antworten Sie mir aufrichtig, würden Sie, nach Allem, was ich Ihnen mitgetheilt habe, und ich habe Ihnen ausführlich erzählt und Wort für Wort, damit Sie sich ein klares, richtiges Urtheil bilden können – hätten Sie nach Allem das arme Mädchen für eine Verbrecherin gehalten? Halten Sie sie jetzt dafür?“

„Welches Verbrechen war begangen?“ fragte ich.

„Hat das Einfluß auf Ihr Urtheil?“

„Ich sähe vielleicht klarer. Wer könnte, nach der äußern Erscheinung eines Moments, zudem eines Moments der Aufregung, unmittelbar nach einer Unthat oder nach einem Unfall, wer könnte blos danach sich ein ganz klares Urtheil bilden, zumal gegenüber [243] einem weiblichen Wesen von besserer Bildung und einem reinen, edlen Herzen?“

Meine Antwort hatte ihm den schweren Athem erleichtert.

„Haben Sie die Güte, mir weiter zuzuhören,“ fuhr er fort. „Ich mußte noch fast eine volle Stunde allein in meinem Zimmer zubringen. Niemand war bei mir gewesen; um mich her war es still geblieben, nur einmal hatte ich gehört, wie draußen von dem Schloßhofe ein Reiter fortgesprengt war. Einige Minuten später war eilig ein Wagen fortgefahren. Licht hatte ich dabei auf dem Hofe nicht gesehen, um so weniger also erkennen können, wer sich entfernt hatte. Endlich hörte ich wieder Schritte in dem Cabinet neben mir. Ich glaubte den Schritt meines Freundes zu erkennen und hatte mich nicht geirrt. Er ging in dem Zimmer ein paar Mal rasch auf und ab, dann langsamer; dann hatte er plötzlich die geheime Thür zu meinem Zimmer geöffnet. Er stand fest und ruhig vor mir, ohne eine Spur seiner früheren Aufregung. Aber er war sehr blaß, seine Gesichtszüge waren erschlafft, auf seinem ganzen Wesen lag ein schwerer Druck. Er sah aus, wie ein Mensch, den ein großes, schweres Unglück, irgend etwas Schreckliches getroffen, der aber mit großer Kraft sich wieder zu erholen, sich wieder aufzurichten vermocht hat, freilich noch immer angegriffen von dem Schlage, wie vielleicht auch gerade von der Anstrengung, die er machen mußte, um sich zu erholen.

„Darf ich Dich bitten, zu mir einzutreten?“ sagte er. „Wir sind dort völlig ungestört.“

Wir begaben uns in sein Cabinet.

„Ehe wir von Dir sprechen,“ hob er da an, „habe ich Dir eine traurige Mittheilung zu machen. Du bist in einem unglücklichen Momente in mein Haus getreten. Vor einer halben Stunde starb meine Frau.“

„Großer Gott!“ mußte ich entsetzt rufen. Und Ida –? Ich hatte den Namen nicht ausgesprochen, aber der Gedanke wollte mich vernichten.

Der Graf – mein Freund – Er war Graf. Ich darf auf Ihre Verschwiegenheit rechnen, wenn ich Ihnen auch den Namen nicht nenne?“

„Sie dürfen.“

„Der Graf hatte mein Entsetzen nicht bemerkt. Er hielt sein Gesicht mit seinem Taschentuche bedeckt und athmete schwer darunter. Ich glaubte, ihn schluchzen zu hören. Er faßte sich wieder und nahm meine Hand.

„Verzeihe mir,“ sagte er. „Ich konnte meinem Schmerze nicht wehren. Laß uns jetzt von Dir sprechen. Ich ahne, was Dich zu mir, gerade hierher führt –“

„Nein,“ mußte ich ihn unterbrechen. „Nachher von mir. Erzähle mir zuerst von Deiner lieben Frau.“

„Ich soll mir das Herz erleichtern, meinst Du. Ich bin Dir dankbar dafür. Wohlan denn. Aber was soll ich Dir erzählen? Ein solcher plötzlicher Schlag betäubt.“

„Deine Frau starb plötzlich?“

„Ach, wie man es nimmt. Sie war noch so jung, und ich liebte sie so innig. Wie käme da der Tod nicht zu früh! Wie käme er nicht plötzlich, einem Blitze aus heiterem Himmel gleich!“

„Sie war also krank vorher?“

„Unwohl nur und seit vorgestern erst. Erst vor etwa einer Stunde zeigten sich ernsthafte Krankheitssymtome.“

„Und auch der Arzt hatte vorher keine Gefahr erkannt?“

„Ein Arzt war nicht da. Wir hatten keine Gefahr geahnt, die Kranke am allerwenigsten. Der Arzt wohnt weit, sie wollte nicht, daß zu ihm geschickt werde. Außerdem haben wir eine Hausapotheke im Schlosse. Vor einer Stunde, schon vor anderthalb Stunden, sandte ich dennoch zu ihm, vor einer halben Stunde, als er nicht kam, nochmals und zugleich schickte ich ihm meinen Wagen entgegen. Ich erwarte ihn jeden Augenblick, freilich zu spät; allein was ihr fehlte, an welcher Krankheit sie gestorben ist, kann er uns sagen.“

„Du weißt das nicht?“

„Sie war immer wohl gewesen. Vorgestern klagte sie über Kopfschmerzen, Druck im Magen. In der Nacht war ihr wohler geworden. Am Morgen hatten die Schmerzen wieder zugenommen. Die Mittel der Hausapotheke milderten, und heute früh fühlte sie sich völlig wohl. So blieb es bis zum Abend. Nur war sie sehr ermattet. Gegen Abend trat auf einmal, ganz plötzlich, heftiges, von Viertelstunde zu Viertelstunde sich steigerndes Kopfweh ein, eine furchtbare Beängstigung gesellte sich hinzu. Ich hatte schon in der ersten Viertelstunde zu dem Arzte gesandt. Drei Viertelstunden später war sie todt. Eine Stunde, nein, eine halbe Stunde vorher hatte ich noch nicht an eine Möglichkeit des Todes gedacht; fünf Minuten vorher hatte ich den Gedanken daran wie Wahnsinn von mir zurückgewiesen. Ermiß nun meinen Schmerz. Er ist um so größer, da ich ihn allein tragen muß. Unser einziges Kind, kaum ein Jahr alt, versteht ihn noch nicht einmal.“

Er schloß. Ich hatte ihm mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zugehört, aber ich gestehe es, auch mit Mißtrauen, und ich weiß selbst nicht, woher es mir kam, auf jedes seiner Worte, auf jede seiner Mienen, auf jede seiner Bewegungen geachtet. Er hatte ganz mit jener Fassung eines Mannes gesprochen, der von einem harten Schlage getroffen ist, der noch unter dem Drucke eines schweren Schmerzes leidet, der aber die hohe Kraft der männlichen Selbstbeherrschung hat und durch sie zum Herrn seines Schmerzes geworden ist. So mit voller innerer Wahrheit. Von meinem Mißtrauen hatte er keine Ahnung, eben so wenig also auch von dem Grunde meines Mißtrauens. Und doch wollte, konnte es nicht schwinden, wenn ich an Ida dachte. Ich mußte ihm näher treten.

„Dir stand Niemand zur Seite in der Pflege der Armen?“ fragte ich ihn.

„Die Erzieherin meiner jüngeren Geschwister,“ sagte er.

Er hatte, wie mir einfiel, ein paar jüngere Schwestern. Sie wohnten bei ihm im Schlosse, und Ida war also als ihre Erzieherin hier. Ich schloß es aus seiner Antwort, und so war es. Er hatte mir unbefangen, wie zerstreut geantwortet, dennoch mußte ich weiter fragen.

„Du hattest wirkliche Hülfe an ihr?“

„Gewiß. Sie war meiner Frau schon lange eine Freundin geworden. Sie hat ihr beigestanden bis zu ihrem letzten Athemzuge, wie eine Schwester, wie eine Mutter.“

Mir wollte es leichter um das Herz werden. Ich glaubte jene Angst Ida’s auch ohne ein Verbrechen mir erklären zu können, erklären zu müssen. Er sprach nicht weiter, und ich fragte ihn nicht mehr.

„Laß uns jetzt von Dir sprechen,“ sagte er. „Mir ahnt es, Du bist als Flüchtling hier.“

„Du hast es errathen.“

„Ich rechne es Dir hoch an, daß Du zu mir kommst. Es war der Schritt eines edlen Freundes.“

„Ich wußte, daß Du mich so aufnehmen würdest.“

„Und Du bist sicher hier. Man wird Dich bei mir nicht suchen, Niemand könnte in diesem weitläufigen Schlosse Dich finden. Du kannst hier jahrelang unentdeckt bleiben.“

„Ich hoffe Deine Freundschaft nur für kurze Zeit in Anspruch nehmen zu müssen.“

Wir wurden unterbrochen. Auf den Schloßhof war rasch ein Wagen gefahren. Mein Freund blickte durch das Fenster.

„Der Arzt!“ sagte er. „Ich muß ihn zu der Todten führen. Kehre in Dein Zimmer zurück. Ich komme wieder zu Dir.“

Ich ging in mein Zimmer zurück. Er verließ das seinige, und ich war wieder in völliger Stille und konnte frei meinen Gedanken nachgehen. Ich wurde mehr und mehr ruhig. Ich hatte ihr das Wort „Verbrechen“ zurufen wollen. Sie hatte es gewußt. „Sprich es aus!“ hatte sie gesagt. Ich erwartete mit Schmerzen ihre Rückkehr. Sie kam nicht. Aber etwas Anderes kam. Der Graf kehrte nach einer halben Stunde in sein Zimmer zurück. Bei ihm war ein Fremder, der Arzt, wie ich bald erfahren sollte.

„Herr Graf,“ hob sofort nach dem Eintreten der Fremde an, „ich habe Sie gebeten, mich hierher zu führen, weil ich Ihnen etwas mitzutheilen habe, das ich zunächst nur Ihnen allein sagen darf.“

Er sprach mit tiefem, fast feierlichem Ernst, mit mühsam unterdrückter Bewegung. Er hatte eine wichtige Eröffnung zu machen.

„Und was wäre das?“ fragte der Graf.

Seine Stimme verrieth gleichfalls Bewegung, die Bewegung der Spannung.

„Ihre Frau Gemahlin ist an Gift gestorben!“

„Großer Gott!“ schrie der Graf auf.

Es war ein furchtbarer Schmerzenston.

[244] „Fassen Sie sich, Herr Graf,“ fuhr der Arzt fort. „Meiner Sache bin ich sicher, und wenn hier nicht ein großes Unglück geschehen ist, das ich mir freilich kaum zu erklären vermöchte, so ist ein entsetzliches Verbrechen verübt, das unter allen Umständen an das Tageslicht gezogen werden muß. Darüber müssen wir vorher, ehe den Gerichten die Anzeige gemacht wird, mit Ruhe und Klarheit sprechen. Darf ich bitten, mir einige Fragen zu beantworten? Die Krankheitsgeschichte haben Sie mir mitgetheilt. Welche Personen waren seit vorgestern um die Verstorbene? Besonders seit dem gestrigen Abende und an dem heutigen Tage?“

„Die Erzieherin.“

„Immer?“

„Ununterbrochen.“

„Sie allein?“

„Sie meist allein, wenn nicht auch die Kammerfrau da war.“

„Hm – und diese Erzieherin –?“

Der Arzt war in Verlegenheit. Er konnte keine Worte finden, die das ausdrücken sollten, was er sagen wollte, oder er hatte nicht den Muth sie auszusprechen.

„Darf ich Sie bitten, mir zu folgen?“ sagte auf einmal der Graf.

Er sprach in einem auffallend anderen Tone und schien plötzlich irgend einen Entschluß gefaßt zu haben.

„Wohin?“ fragte der Arzt.

„Darf ich bitten?“

Sie verließen das Cabinet, und ich war wieder in der peinlichsten Einsamkeit. War ich vorhin mit jedem Momente ruhiger geworden, jetzt steigerte sich von Minute zu Minute eine Angst, für die ich keinen Namen, keine Beschreibung habe. Ich war über eine Stunde allein. Niemand kam zu mir. Ich hörte keinen Schritt und keine Stimme. Nur einmal hatte ich wieder einen Reiter schnell vom Schloßhofe fortsprengen gehört. Es war später Abend geworden.

Endlich kam aus dem Cabinet des Grafen durch die geheime Tapetenthür Jemand zu mir. Es war der Kammerdiener des Grafen, ein alter Mann, den ich schon früher gesehen hatte, der schon der Kammerdiener und zwar der vertraute Diener des verstorbenen Vaters gewesen war. Der Graf schickte ihn. Der Herr Graf könne selbst unmöglich zu mir kommen. Er lasse mich bitten, ihm, dem Diener, in ein anderes Gemach zu folgen, in welchem ich ebenfalls völlig sicher und ungestört sei, und in welchem zudem Alles zu meiner Ruhe und Bequemlichkeit bereit stehe. Morgen früh werde der Herr Graf zu mir kommen. Ich folgte dem Diener. Er führte mich durch mehrere einsame Corridore in einen entfernten, abgelegenen Theil des weitläufigen Schlosses. Zwei Zimmer waren dort gastlich und bequem für mich eingerichtet. Ein Abendessen stand bereit.

„Ich komme zurück, um abzutragen,“ sagte der Diener.

Aber ich hatte vor allen Dingen Fragen an ihn. Er war auch noch der Vertraute des Hauses und wußte Alles, was im Schlosse geschah. Er wußte auch jetzt Alles, denn er sah tief gedrückt aus. Schmerz, Angst und Sorge drohten ihn zu erdrücken.

„Wo ist der Graf?“ fragte ich ihn.

„In dem Sterbezimmer.“

„Allein?“

„Der Arzt ist bei ihm.“

„Sonst Niemand?“

„Die alte Kammerfrau der hochseligen Gräfin.“

„Und die Gouvernante?“

„Sie ist nicht da.“

„Der Graf erzählte mir von ihrer treuen Pflege der Verstorbenen.“

„Ja.“

„Und sie ist nicht da?“

„Nein.“

„Sie ist wohl zu sehr angegriffen?“

„Es ist möglich.“

Ich hatte noch Fragen genug. Nach Ida, wo sie sei? ob sie allein sei? Nach der Verstorbenen, nach dem Grafen, dem Arzte. Aber ich mußte gegenüber dem einsylbigen Manne schweigen, um namentlich nicht mich und das unglückliche Mädchen zu verrathen. Er ließ mich allein. Ich konnte nicht essen, nicht trinken, nicht ruhen. Nach einer halben Stunde kam er wieder. Ich war auch unterdeß allein, es war um mich her still geblieben.

„Sie haben nichts angerührt?“ sagte er.

„Wie konnte ich, alter Friedrich?“

„Ja, es ist ein schweres Unglück. Eine so junge Dame! Und so –“ Er brach ab. Aber er war weniger einsylbig, als vorhin.

„Woran ist die Gräfin gestorben?“ fragte ich ihn.

Er wollte antworten. Aber es war, als wenn ein plötzliches Entsetzen ihm die Lippen verschließe.

„Es ist hier ein Geheimniß, Friedrich?“

Er nickte mit dem Kopfe.

„Ein schreckliches?“

„Ja.“

In dem Augenblicke hörte man einen Wagen fahren. Wo, konnte ich nicht unterscheiden. Die Zimmer, in die der alte Diener mich geführt hatte, lagen nicht nach dem Schloßhofe hin; ich wußte selbst noch nicht, nach welcher Seite. Der Diener horchte.

„Da kommt Jemand?“ fragte ich ihn.

„Ja.“

„Besuch?“

„Das Gericht,“ preßte er, vielleicht unwillkürlich, hervor.

„Wie, Friedrich?“

„Ja, Herr –“

„Wegen des Todes der Gräfin?“

Aber er hatte sich besonnen. „Fragen Sie mich nicht. Sie werden zwar morgen Alles erfahren – aber – nein, nein!“ Er entfernte sich schnell. „Gute Nacht!“ sagte er noch.

Ich verlebte die schrecklichste Nacht meines Lebens.


(Fortsetzung folgt.)


Die Krone Deutschlands im Staube.

Es war ein trüber Novembertag des Jahres 1076, als aus den Thoren der glänzenden Reichs- und Krönungsstadt Speyer ein stiller Mann zog, begleitet von Weib und Kind und nur einem treuen Freund, dem just auch nicht die Freude auf dem Gesichte lag. Still und fast heimlich zogen die trüben Leute hin durch die deutschen Gauen, über die Schweizer Grenze, hinauf zu den schwindelnden Steigen des St. Gotthard, gefolgt von Spähern und Feinden, die nichts Gutes im Sinne hatten. Der Winter hatte alle seine Schrecknisse über die Alpenwelt ausgebreitet, kaum der Waidmann beschritt zur verwegenen Lust die Höhen, und hier theilte ein zartes Weib, ein Kind sogar die unsäglichen Beschwerden der Alpenfahrt in heiliger Weihnachtszeit. Oft waren die Männer genöthigt auf allen Vieren die Tod drohenden Pfade dahinzukriechen, oft mußten Weib und Kind auf Ochsenhäuten über die Eisflächen geschleift werden, um die ungeheuere Mühsal zu bestehen. Es war eine Fahrt, wie sie in dieser Jahreszeit kaum dem geringsten Knechte zugemuthet wird, und doch war der stille gramgebeugte Mann, der Allen voranzog, das höchste Haupt der Christenheit, ja der Welt, der unglückliche Kaiser Heinrich IV., und das arme Weib seine edle Gemahlin, die treue Bertha mit dem einzigen Kaisersöhnlein Konrad. Ein einziger Ritter von den Tausenden, denen sonst der Kaiser gebot, war sein Begleiter, und es ist rührendschön von dem guten alten Schwaben-Chronisten Crusius, daß er behauptet, dieser einzig getreue Ritter sei Friedrich von Büren gewesen, der Stammvater der Hohenstaufen.

Wenige Wochen später, am 25. Januar 1077, sehen wir den kaiserlichen Pilger, getrennt von den Seinen, allein und waffenlos, vor dem Felsenschloß Canossa auf Einlaß harren. – Den Kaiser drückt der Bann der Kirche, und im Schlosse weilt der Papst, das Oberhaupt der Religion der Liebe.

Eine Scene folgt nun, die noch jetzt jedes deutsche Herz vor Scham und Grimm erbeben macht. Das Thor von Canossa öffnet

[245]

Heinrich IV. in Canossa.
Originalzeichnung von H. Plüddemann.

[246] sich nur, damit der Welt das Schauspiel der vollständigsten Erniedrigung eines Herrschers werde. Feierliche Buße muß der mächtigste Fürst der Christenheit thun, damit die ganze Christenheit daran das Zeichen erkenne, daß alle weltliche Macht sich demüthigen müsse vor der geistlichen Hoheit, und daß fortan selbst der Kaiser nur ein Unterthan des Papstes sei. Und damit vor der Macht des heiligen Vaters ein Schrecken über alle Könige und Fürsten komme, muß es der Kaiser sein, der von allen Bußen die härteste besteht. Aller Zeichen seiner Würde entkleidet, barfuß, im härenen Büßergewande und barhaupt führt man ihn in den mittlern Wall der Veste. Hinter ihm knarrt der Riegel, kahle Mauern umragen ihn. Ohne Obdach, unter dem Winterhimmel, ohne Speise und Trank vergeht vorn Morgen zum Abend der erste Tag der Buße. Keine menschliche Seele kümmert sich um den Dulder, denn an den Fenstern und von den Mauern herab lauscht das Mitleid nur verborgen und nur sichtbar der Hohn, denn die Kirche ist noch nicht versöhnt. Ohne Obdach, Schutz und Nahrung vergeht ihm der zweite Tag bis zur zweiten Nacht, und die heilige Mutter Kirche grollt noch immer. In grimmiger Pein des Leibes und der Seele harrt der Kaiser vom dritten Morgen an der Erlösung. Aber der Büßer ist verschwunden, es steht vor uns der Mißhandelte, der den furchtbaren Schwur der Rache gethan. Und es vergeht der dritte Tag und bricht die dritte Nacht herein. Erst am vierten Morgen findet der heilige Vater sich zur Vergebung geneigt, er läßt den Büßenden vor sich – und so stehen sich denn ein weltlicher Heuchler und ein geistlicher Tyrann gegenüber, von denen Jeder den Andern bis zum Verderben haßt, und der Papst vergiebt nun die Sünden, denen er seinen Sieg über den Kaiser verdankt.

Denn wie schwer auch gerade dieser Kaiser sich vergangen hat an den Rechten seiner Völker, wie unverzeihlich er, an dessen Erziehung sich zwei Erzbischöfe versündigten, sich selbst und alle heiligen Bande seiner Familie herabgewürdigt, wie unähnlich er seinem großen Vater und wie wenig fähig er war, die Last der Krone durch Stürme zu tragen, wie sie gegen ihn sich erhoben und wie er sie heraufbeschwor: so steht doch in der Geschichte offenbar da, daß ein Gregor VII. alle Schwächen seiner Zeitgenossen nicht mit der angemaßten Vatergewalt strafte, nur um zu bessern, sondern daß er sie nur benutzte, um sich zu erhöhen. Des Kaisers Sünden wurden die stärksten Sprossen für die Leiter seiner Ueberhebung, und die selbstische, unpatriotische Gesinnung der deutschen Fürsten war schon damals die gediegenste Waffe für den gefährlichsten Feind der Ehre, Macht und Würde Deutschlands. Es ist einer der wahrsten Aussprüche des alten Luden: „Heinrich gerieth in die Gewalt der Kirche hinein, wie der Fisch in den Hamen, und deutsche Fürsten legten das aufgezogene Netz dem Papste zu Füßen.“

Von nicht einem der deutschen Fürsten jener Zeit kann die Geschichte bezeugen, daß er in der Demüthigung des Kaisers zu Canossa eine Schändung der deutschen Krone, eine Schmach der Nation erkannt hätte. Nur ihr Vortheil war ihnen klar, und sie waren es, die den Papst baten, die Angelegenheiten Deutschlands zu regeln! – Und so haben denn die Päpste von Rom aus in Deutschland geregelt durch Concilien und Bullen, Bannstrahlen und Concordate Jahrhundert um Jahrhundert, und die Fürsten befanden sich immer wohl dabei, wie tief auch die Völker sanken und wie viele Tage von Canossa für die deutsche Krone und die deutsche Nation noch daraus hervorgingen. Sind diese Tage von Canossa für einen großen Theil von Deutschland doch noch heute nicht vorüber! –

Allerdings sind für den büßenden Kaiser auch die Vergelter aufgestanden, aber erst nach Jahrhunderten und nicht aus der Reihe der Fürsten. Die deutsche Schmach hat Luther abgewaschen, und auf der Bahn, die er dem freien deutschen Forschungsgeiste brach, hat deutsche Wissenschaft Stück um Stück vom alten Bollwerk der Papstesmacht niedergerissen. Die Wissenschaft war des deutschen Volkes einzige freie Waffe, und mit ihr errang es seine glänzendsten Siege, während die Fürsten noch lange den alten Banden huldigten. Wahre Volksbildung ist überall der Knechtschaft Ende.

Aber auch das Volk von Italien, dem der heilige Stuhl am schwersten auf dem Nacken lastete, das am bittersten unter seiner bildungsfeindlichen Gewalt leiden, am tiefsten unter ihr sinken mußte, hat endlich seinen Rächer gefunden, und es sollte ein Kind der Reformation sein, das dort den Richterspruch des Schicksals auszuführen hatte: der Waldenser Garibaldi. Sein Krieg gegen das Papstthum wird Luther’s Vergeltungswerk vollenden und glücklicher, als in Deutschland, denn das einige Italien wird nicht durch einen neuen Glaubensriß gespalten werden, es wird erringen, was er verheißen, es wird „das höchste Christenthum wiederfinden, das Egoismus und Betrug in den Schmutz gezogen hatten.“

Für die Nationalehre der Italiener sind Tage von Canossa unmöglich geworden; dagegen ruhen des Papstes Blicke am vertrauensvollsten noch heute auf Ländern desselben Deutschlands, dessen Krone zu Canossa am Boden lag.

Die deutsche Kunst hat in der Gegenwart mit der Wissenschaft die Pflicht auf sich genommen, belehrend und mahnend zum Volke zu reden, und ein neues Zeugniß dieses Strebens hat unser Künstler in dem großen Oelgemälde geliefert, nach welchem uns derselbe die Originalzeichnung zu unserm Holzschnitt mittheilte. H. Plüddemann in Dresden gehört zu den tüchtigsten, charaktervollsten Meistern dieser ehrenwerthen Kunstrichtung, dem wir diese öffentliche Anerkennung mit Freuden hier aussprechen, und dieses sein jüngstes Werk verdient von allen Kunst- und Vaterlandsfreunden besonders beachtet und gewürdigt zu werden. Das Bild – es hat eine Höhe von 8 Fuß 5 Zoll, eine Breite von 5 Fuß 6 Zoll – zeigt uns die hohe männliche Gestalt des Kaisers im braunen Büßergewand im Hofe von Canossa und vor der verschlossenen Thür zum Innern der Burg. Zu seinen Füßen liegt der blaue Kaisermantel, die rothgoldene Krone und das goldene Schwert, die Insignien seiner Würde. Der Contrast ist ergreifend, die Bedeutung klar. Grünlichgrau, unheimlich und ankältend ist das Gemäuer umher, der Fels und das Gestein des Bodens mit Schnee bedeckt. Aber Alles das vergessen wir beim Anschauen des edlen Antlitzes, das von langen braunen Locken umwallt ist. Alle Kraft liegt in den Augen, die den kochenden Groll der Seele ausdrücken; dieser Blick hat keinen Gegenstand vor sich, alle seine Strahlen sind nach innen gerichtet und irren auf finsteren Pfaden der Rache. Und oben auf der Zinne steht der Papst im Purpur, mit hämisch schielendem[WS 1] Blick, aber der sieht, er hat sein Ziel vor sich, und nur der festgeschlossene Mund spricht nach innen den Triumph aus, dessen Freude er vor der Welt nicht sehen lassen darf. Neben ihm steht die Gräfin Mathilde, hinter ihm ein Priester. Im Dunkel des Thores eine Gruppe von Knappen der Thorwacht. Nichts von all diesem Beiwerk stört, immer sucht unser Auge den Kaiser wieder und begegnet seinem furchtbaren Blick. Dieses nationale Kunstwerk verdient es, gerade in unserer Zeit des sich aufraffenden Nationalgefühls, einer öffentlichen Sammlung zur Zierde zu gereichen.




Vorlesungen über nützliche, verkannte und verleumdete Thiere.

Von Carl Vogt in Genf.
Nr. 8.
(Schluß.)
Die Larven und ihre Gefräßigkeit – Käferlarven, Hautflügler, Netzflügler und Raupen – Das Leben der Larven – Maskirte und gemeißelte Puppen –
Das Auskriechen aus der Puppe.

Von besonderer Wichtigkeit erscheint für uns die Lebensdauer der Eier von dem Augenblicke ihrer Ablagerung bis zum Ausschlüpfen der darin gebildeten Larven. Gewöhnlich ist die Lebensdauer nur kurz, einige Tage oder Wochen; in vielen Fällen aber spinnt sie sich über den Winter hinweg und vermittelt die Fortdauer der Art von einem Sommer zum andern. Zur Ausbildung der Larve im Innern des Eies gehört stets eine gewisse Menge von Wärme, die für jede Art verschieden und im Allgemeinen nach

[247] derjenigen geregelt ist, deren die Pflanzentheile bedürfen, von welchen die Larven sich nähren. Sowie jede Art von Insecteneiern einen bestimmten Grad von Kälte vertragen kann, der in gewissen Fällen sogar sehr tief herabsinkt, sodaß z. B. die Eier des Forstspanners eine Kälte von etwa 20 Graden vertragen können, ohne zu Grunde zu gehen: so bedarf es auch eines gewissen Wärmegrades, um sie zur Entwickelung zu bringen. Wir wissen dies am besten durch die Seidenzucht, bei welcher man die Eier in der Kälte hält, in kalten Kellern aufbewahrt, wenn man ihr Ausschlüpfen verzögern will, dagegen in die Wärme bringt, sobald man Futter genug an frisch ausgeschlagenen Maulbeerblättern besitzt. Am häufigsten findet sich das Ueberwintern der Eier bei denjenigen Arten, deren Existenz ganz auf diejenige der weichen grünen Pflanzentheile und der abfallenden Blätter gegründet ist; ja es giebt Gattungen, wie die Blattläuse, deren überraschend schnell aufeinander folgende Generationen lebendig geborener Jungen nur während des Sommers erscheinen, während über den Winter hinüber die Existenz der Art durch Eier gesichert ist.

Aus dem, was ich schon oben über die Gefräßigkeit der Larven bemerkte, geht schon zur Genüge hervor, daß diese hauptsächlich die Verderber sind, gegen welche wir anzukämpfen haben, und daß in den Fällen, wo wir gegen die vollkommenen Insecten Krieg führen, wir damit nur die Pflanzschulen künftiger Verderber, nicht aber diese selbst bekämpfen. Der zarte Schmetterling, der von Blume zu Blume gaukelt und mit weichem Saugrüssel Honig schlürft, ist wahrlich unfähig, irgend welchen Schaden zu stiften; aber indem wir ein Weibchen tödten, zerstören wir zugleich viele Hunderte von Eiern, aus denen gefräßige Raupen geschlüpft wären.

Die Larven haben gewöhnlich die Gestalt eines Wurmes, sind in den meisten Fällen ganz fußlos oder nur mit kurzen Stummelfüßen versehen, zeigen aber in ihrer sonstigen Organisation, ihrer Lebensweise und Nahrung so unendlich viele Verschiedenheiten, daß es unmöglich ist, sie unter allgemeinen Gesichtspunkten aufzufassen. Man kann wohl sagen, daß es nicht eine Substanz pflanzlichen oder thierischen Ursprungs giebt, welche nicht einer Insectenlarve zur Nahrung oder zum Wohnorte dienen könnte. Ja sogar an Metallen nagen zuweilen ihre scharfen Hornkiefer, um sich durch dieselben einen Weg zur Nahrung zu bahnen. Fast alle führen ein verborgenes, heimliches Leben: jene in der Erde oder im Moder, diese im festen Holz und innersten Mark der Pflanzen; die einen in Aesern, die andern im lebenden Fleische, in Wurzeln oder Samen, in Knochen oder Haaren, ja im festen Horn oder auch in den inneren Organen der Thiere. Wenige nur sind fleischfressende Räuber und werden uns nützlich, indem sie kleineren Insecten nachstellen; die meisten sind uns im Gegentheile schädlich, indem sie unsere Pflanzungen, unsere Ernten, unsere Vorräthe, ja selbst unsere Kleidungsstücke und Wohnungen zerstören. Auf diese Weise führen die Insectenlarven eine ungeheuere Menge pflanzlichen und thierischen Stoffes in die allgemeine Circulation der organischen Substanzen über, indem sie wieder anderen Thieren zur Nahrung dienen. Viele von ihnen sind in der That mit der kleinen Polizei der Natur betraut, und ihr Wirken erreicht in dieser Hinsicht ganz bedeutende Proportionen. Sie schaffen die modernden Stoffe, die kleinen Aeser, alle jene Substanzen, die durch ihre Ausdünstung dem Menschen sogar gefährlich werden können, fort und verwandeln sie in ihrem Körper in frischen lebenden Stoff, der andere Verbindungen eingeht.

Nur selten bekommt man die Käferlarven zu Gesicht; selbst diejenigen, welche vom Raube leben, wie die Larven der Lauf- und Sandkäfer, suchen sich in Erdlöchern zu verbergen, aus denen sie gelegentlich auf ihre Beute hervorstürzen. Diese Raublarven haben dann auch gewöhnlich ziemlich lange Beine, während die übrigen Käferlarven, deren Wirkungskreis beschränkt ist, entweder nur kurze Füße oder Stummel besitzen, die ihnen höchstens zum Nachschieben dienen können. Die Raublarven sind meistens schwärzlich, diejenigen aber, welche im Innern von Gewächsen und Früchten, sowie in der Erde von Wurzeln leben, gewöhnlich hellgelblich oder röthlich gefärbt. Bei allen ist der Kopf stark hornig und die Kiefer kräftig ausgebildet, und wahrlich, sie haben eine solche Ausbildung nöthig bei der Lebensweise, die sie führen. Eine Anzahl von diesen Larven bohrt in die Rinde, den Bast, das Holz und das Mark der Gewächse, in die Früchte von der saftigsten Beere bis zu der härtesten Steinfrucht. Andere nähren sich von unseren Vorräthen, wie die Mehlwürmer; andere endlich zernagen unsere Pelze, unsere Wollenstoffe, unsere naturhistorischen und kunstgeschichtlichen Sammlungen, unsere Möbel und Geräthe. Meist zeigen die vollkommenen Insecten nur insofern Sorge für ihre Nachkommenschaft im Larvenzustande, als sie die Eier an diejenigen Orte legen, an welchen die Larve sich nähren soll, was allerdings in einigen Fällen, wie z. B. bei den meisten Rüsselkäfern, nicht geringer Arbeit und Sorge bedarf. Sonst aber leben die Larven meist auf eigene Faust, ohne daß die längst gestorbenen Eltern sich weiter um sie kümmern könnten.

Anders verhalt es sich bei den meisten Hautflüglern. Denn wenn auch die Larven der Holzwespen, ähnlich wie diejenigen der Käfer, im Holze der Gewächse wohnen, und diejenigen der Sägewespen, nachdem die Eier einmal an den Ort gebracht sind, an welchem sich die Larven entwickeln sollen, sich selbst überlassen bleiben: so findet man doch bei den meisten Hautflüglern, namentlich den Wespen, Bienen, Ameisen und Hummeln, die rührendste und zärtlichste Sorge für die Nachkommenschaft. Während viele Holzwespen raupenähnliche Larven besitzen, die man auch Afterraupen genannt hat und die sich gewöhnlich durch die noch größere Anzahl falscher Füße, als die echten Raupen besitzen, vor diesen auszeichnen: erzeugen jene genannten, mit Giftstacheln bewaffneten Hautflügler nur fußlose, unbehülfliche Larven, welche meistens sogar während der ganzen Zeit ihres Larvenlebens gefüttert werden müssen. Die Nester, Gesellschaften und staatlichen Einrichtungen, welche wir bei vielen dieser Insecten bewundern, sind einzig durch die Sorge für die Nachkommenschaft bedingt und zusammengehalten, und soweit geht die Natur in der Strenge ihrer Einrichtungen, daß bei vielen Gesellschaften, wie bei den Bienen und Ameisen, durch besondere Nahrung die weiblichen Individuen in solcher Weise verstümmelt werden, daß ihre Geschlechtstheile sich nicht ausbilden und diese geschlechtslosen Arbeiter einzig für das Gesammtleben des Stockes und die Besorgung der Nachkommenschaft verwandt werden können.

Der Netzflügler, die für uns in Betracht kommen, sind nur wenige und diese, wozu namentlich die Florfliegen und Ameisenlöwen gehören, besitzen höchst eigenthümliche räuberische Larven mit breitem, plattgedrücktem Leibe und langen, zangenähnlichen, an der Spitze durchbohrten Kiefern, mittelst deren sie ihre Beute aussaugen. Es besitzen diese Larven einen so eigenthümlichen Typus, daß sie sich in keiner Weise verkennen und mit den übrigen verwechseln lassen.

Auch die Larven der Schmetterlinge, die wir gewöhnlich mit dem Namen der Raupen bezeichnen, lassen sich im Allgemeinen leicht erkennen, obgleich es in der That Formen giebt, die durch ihren schildförmigen Körper oder die sonderbaren Auswüchse, welche sie besitzen, ihre Verwandtschaft ziemlich verleugnen. Wenige von ihnen nur leben im Innern der Gewächse, wie z. B. die großen braunrothen Raupen des Weidenbohrers (Cossus ligniperda) im Holze der Weiden und Pappelbäume, oder die Larven der Glasflügler (Sesia) in den Stengeln verschiedener Sträucher und Kräuter. Die meisten Raupen nähren sich von den grünen Theilen der Gewächse, von Knospen, Blättern und saftigen Stengeln; nur wenige nagen in trockenen Früchten, in Vorräthen, ja selbst in Tuch, Wolle oder Wachs. Alle Raupen aber zeichnen sich dadurch aus, daß sie außer den drei wahren Füßen, welche unmittelbar hinter dem hornigen Kopfe an den ersten drei Körperringen stehen, meistens noch eine größere oder geringere Anzahl sogenannter falscher Bauchfüße besitzen, welche gewöhnlich mit einem scheibenartigen Saugnapfe enden und paarweise an den Ringeln des Hinterleibes stehen. Die echten Füße, welche gewöhnlich mit Krallen versehen sind, entsprechen einzig den sechs Füßen des vollkommenen Insectes: schneidet man einen solchen Fuß der Raupe ab, so erscheint der Schmetterling beim Ausschlüpfen ohne den entsprechenden Fuß, während die Verletzung eines Bauchfußes keine weiteren Folgen nach sich zieht. Gewöhnlich besitzen die Raupen fünf Paar solcher Bauchfüße, von welchen die vorderen etwa unter der Mitte des Bauches, das letzte dagegen ganz hinten am Ende angebracht ist. Manchmal fehlen diese mittleren Paare, wie bei den Spannerraupen, sodaß dann die Thiere einen ganz eigenthümlichen Gang [248] annehmen, indem sie durch wechselnde Ausdehnung und Zusammenziehung ihres Körpers den Raum gewissermaßen wie mit einem Cirkel durchmessen.

Die Larven der Zweiflügler endlich dürften wohl ihren Aufenthaltsorten nach als die Dreckpeter unter den Insecten bezeichnet werden. Ihr Element ist in der That der Moder, der Mulm und die Jauche. Fußlose Würmer, die wir unter dem Namen der Maden zu bezeichnen pflegen, leben sie in stehenden Gewässern, Tümpeln und Wasserbütten, wie die seltsamen Larven der Schnaken und Mücken, in der Jauche der Cloaken und Miststätten, in allen faulenden Pflanzen- und Thierstoffen, in den eiternden Wunden und Beulen, ja selbst im Magen und Darmschleim lebender Thiere. Aber auch frische Nahrung verschmähen sie nicht, ziehen jedoch meistens weichere Stoffe, wie Beeren und Steinfrüchte, den härteren Geweben vor.

Eigentlichen Kunsttrieb oder besondere höhere geistige Eigenschaften zeigen die Larven niemals in dem Grade, wie die vollkommenern Insecten. Die materielle Arbeit, das Aufspeichern von Nahrungs- und Bildungsstoff beherrscht sie vollständig und beschränkt ihr Treiben während der größten Zeit ihrer Lebensdauer fast nur auf die Sorge um das tägliche Brod. Diese Lebensdauer ist aber oft lang, namentlich bei Käfern, und wenn der Maikäfer einen Cyklus von drei Jahren durchläuft, so wissen wir mit Bestimmtheit, daß die Larven gewisser Prachtkäfer wenigstens acht Jahre im Holze bohren, und daß der Hirschkäfer wahrscheinlich ebenso lange als Larve in den Eichen haust, ehe er sich in der Erde gewissermassen einpackt. Erst gegen das Ende des Larvenlebens, wenn die zur Verwandlung nöthige Stoffmenge angeeignet ist, entwickeln sich einige Kunsttriebe, die sich wesentlich darauf beziehen, der Puppe Schutz und Schirm während ihres Todtenschlafes zu gewähren. Die meisten Käferlarven bleiben an den verborgenen Orten, wo sie sich aufgehalten, oder steigen in die Erde hinab, wo sie sich eine kunstlose Hülle aus einfacher Seide spinnen oder zuweilen auch eine Art Kugel von Erde zusammenkneten, in deren Innerem sich eine geglättete Höhle befindet, in welcher die Puppe ruht.

Am weitesten gehen die Raupen mit ihrer Sorge für das Puppenleben, und bekanntlich zieht die menschliche Oekonomie von dem Cocon, welchen der Seidenwurm spinnt, jenen unschätzbaren Stoff, den kein anderer zu ersetzen im Stande ist. Andere Raupen kriechen in die Erde, in der sie bald vollkommen nackt, bald nur von dünner Hülle umgeben ruhen; andere endlich hängen sich, wie diejenigen des Kohlweißlings oder Schwalbenschwanzes, an dem hinteren Ende auf oder schlingen noch einen Gürtel um die Brust, der sie in wagerechter Stellung erhält. Gewöhnlich findet die Umwandlung in die Puppe fast unmittelbar nach der Anfertigung des äußern Gehäuses oder Gespinnstes statt. Es giebt aber auch Larven, wie namentlich die Larven vieler Sägewespen, welche noch wochenlang innerhalb ihres Gespinnstes in Raupengestalt verharren und erst wenige Tage vor der Umwandlung zum vollkommenen Insect die Puppenhülle annehmen.

Es begreift sich leicht, daß fast alle diejenigen Larven, welche von grünen, hinfälligen Pflanzentheilen leben, den Winter im Puppenzustande verbringen, und daß nur diejenigen, welche in beständigeren Nahrungsmitteln leben, wie z. B. die Holzbohrer oder Wurzelfresser, dem Wechsel der Jahreszeiten keine Rechnung tragen. Doch kann man auch diese Regel nicht zu einer allgemeinen machen; denn es giebt viele jährige Insecten, deren Larven von Blättern u. dgl. leben und dennoch als Larven in einer Art von Winterschlaf die kalte Zeit zubringen. So jene über und über mit langen Haaren dicht besetzten Raupen, welche man die Bärenraupen zu nennen pflegt und die einzeln, im Grase unter Moos oder dürren Blättern versteckt, den Winter zubringen; so die Raupen des Baumweißlings und des Goldafters, welche in ihren dichtgesponnenen Nestern selbst starken Kältegraden trotzen und bei der ersten Frühlingswärme in hellen Haufen hervorbrechen, um die jungen, frischen Knospen abzuweiden.

Die Puppen selbst lassen sich meistens, je nach den verschiedenen Insectenordnungen, leicht unterscheiden. Bei den Käfern und Schmetterlingen, sowie den Netzfaltern trifft man meistens sogenannte maskirte Puppen, bei welchen die allgemeinen Körperumrisse, sowie die einzelnen Körpertheile zwar erkenntlich, aber doch nur gewissermaßen als Basrelief ausgearbeitet sind. Man erkennt an solchen Puppen Kopf, Brust und Hinterleib, man sieht auch die rudimentären Flügel und die Beine, aber nur in Relief angedeutet und nicht frei herausgearbeitet. Nur der Rüssel macht häufig bei den Schmetterlingen oder Rüsselkäfern eine Ausnahme, indem er als schnabelförmige Verlängerung in eigener Scheide auf der Unterfläche sich darstellt. Die Puppenhaut selbst ist eine neue Haut, welche sich anfangs weich und zart unter der alten Larvenhaut gebildet hat, die bei dem Hervortreten der Puppe gesprengt wird und meistens als verschrumpfter Balg daneben liegt.

Bei vielen Hautflüglern geht die Ähnlichkeit der Puppe mit dem Insect noch weiter. Jedes Glied hat hier seine Scheide, in welcher es, stramm an den Leib angezogen, unbeweglich ruht: Fühlhörner, Füße, Flügel – Alles läßt sich an diesen gemeißelten Puppen auf den ersten Blick unterscheiden und zeigt sich sogar annähernd in derselben Form, wie in dem vollkommenen Insect. Man braucht nur die feine Hülle eines sogenannten Ameiseneies – denn jene großen, ovalen Körper, welche die Ameisen häufig im Sommer an die Sonne schleppen und die man zur Nahrung der Nachtigallen namentlich sammelt, sind nichts Anderes als die Puppen und keineswegs Eier – man braucht nur, sage ich, vorsichtig eine solche Hülle mit der Scheere zu öffnen und man wird die junge Ameise darin finden, weiß und unbeweglich, aber mit allen Gliedern, die in eigene Scheiden gehüllt sind.

Am merkwürdigsten unter allen erscheinen die Puppen der Zweiflügler, die aus Maden hervorgehen. Die Madenhaut selbst schrumpft ein und bildet nun eine außerordentlich enge, flaschen- oder tonnenförmige Puppe, in welcher die Fliege enger zusammengeschnürt liegt, als die Kinder im mittelalterlichen Wickel. Man begreift in der That kaum, wie die eben geborene Fliege, die den dreifachen Raum ihrer Tonne einzunehmen scheint, innerhalb derselben Platz hatte, und sieht auf der anderen Seite die Möglichkeit, ein, daß die Larven selbst innerhalb des Leibes der Mutter sich entwickeln und erst die kleinen kernförmigen Puppen von derselben gelegt werden, wie dies wirklich bei den schmarotzenden Lausfliegen (Hippobosca) der Fall ist.

Soll ich Ihnen nun noch das Auskriechen der vollkommenen Insecten aus der Puppe beschreiben? Ich glaube, daß dies kaum nöthig sein dürfte. Sie wissen Alle, daß die Puppenhaut gesprengt wird, daß sie bald wie ein Deckel sich abhebt, bald einen klaffenden Riß erhält, aus welchem das junge Insect, anfangs noch sehr weich und zart, mit Mühe sich hervorarbeitet und die Erstarrung seiner äußeren Hüllen erwartet. Sie wissen, daß die Flügel, welche anfangs völlig verkrumpelt und unscheinbar am Leibe lagen, sich zusehends dehnen und steif werden, bis sie ihrer eigentlichen Bestimmung dienen können, und Sie wissen auch, daß dieser Entwicklungsproceß nicht gestört werden darf, wenn die Flügel in ihrer vollständigen Ausbreitung sich entfalten sollen. Oft genügen wenige Minuten, um dem Insect die letzte Vollständigkeit zu verleihen; oft aber bedarf es auch längerer Zeit, wie man denn nicht selten im Winter schon Maikäfer findet, die zwar vollkommen ausgebildet, aber noch weich innerhalb der Erde des Augenblickes harren, wo sie an der Oberfläche erscheinen können.

Von den Insecten mit unvollkommener Verwandlung ist wenig zu sagen. Denn wenn man bei ihnen Larven und Puppen unterscheidet, so geschieht dies fast nur in Beziehung auf die successive Ausbildung der Flügel, während im Uebrigen mit geringen Ausnahmen Lebensweise und Nahrung der Puppen dieselben sind, wie bei dem vollkommenen Thiere.

Indem wir uns so mit den allgemeinen Grundzügen der Organisation der Insectenwelt vertraut gemacht haben, können wir nun zur speciellen Betrachtung der einzelnen Ordnung selbst übergehen.



[249]
Wann, Rose Deutschland, blühst Du auf?


So oft der Reif von allen Bäumen
Herniedertroff bei lauem Süd,
Und frisch die Saat begann zu keimen,
Erklang auch hell der Lerchen Lied.

5
Und all die tausend Minnelieder,

Dir Einz’gen dargebracht im Chor,
Erflehten neu und immer wieder:
„O Rose Deutschland, sprieß’ empor!“

Nun lacht der Lenz aus Höh’n und Gründen,

10
Die Rebe blüht zu heiterm Sinn,

Und tausend holde Boten künden
Die Blüthezeit der Königin.
Und darf der Lenz mit duft’gen Schwingen
Dir wehen seine Grüße zu,

15
Hör’ auch den Wachtelruf erklingen:

„Nun, Rose Deutschland, knosp’ auch Du!“

Doch sieh, zur Knospe schon gestaltet,
Birgst Du der Blüthe volle Pracht,
Still harrend, bis sie sich entfaltet

20
In einer Lenzgewitternacht.

Schon künden’s tausend Nachtigallen
In sehnsuchtsvoller Töne Lauf:
Bald wird des Lenzes Donner schallen,
Dann, Rose Deutschland, blühst Du auf!

M. W.




Ein Fest „im Elend“.

Wenn Etwas für die Vaterlandsliebe und Heimathtreue unserer Vorfahren zeugt, so ist es ihre Bezeichnung für das Schicksal der Verbannung und Heimathlosigkeit. Sie nannten’s „das Elend“. Gegenwärtig nennt man es nicht mehr so, aber Deutschland ist reich an edlen Herzen in der Fremde, die es so fühlen. Zu diesen gehört auch Arnold Ruge, der berühmte und früher oft genannte Redacteur der „Deutschen Jahrbücher für Kunst und Wissenschaft“, der in vormärzlicher Zeit bereits so wacker gestritten und seine ganze und reiche Existenz in Deutschland der guten Sache des Volkes geopfert hat. Einen Besuch bei ihm, in seinem englischen Exil, mögen die folgenden Zeilen schildern, denen wir ein kurzes Wort über den Mann selbst vorausschicken.

Arnold Ruge ist mit Fortschrittsbeinen auf die Welt gekommen. Die geistigen Münzen, die er für das deutsche Volk schlug, tragen alle den welfischen Wahlspruch: Nunquam retrorsum! – Weil er aber das Unglück hatte, in der Politik ein deutscher Professor, d. h. Doctrinär über Alles zu sein, so half ihm, trotz der Grundehrlichkeit seines Strebens und der Größe der von ihm seiner Ueberzeugung gebrachten Opfer, beim Volke sogar sein Parlamentsplatz als Linkester aller Linken nichts: das Volk konnte ihm sein Ringen und Dulden nicht mit der dem strebenden Geiste so wohlthuenden Anerkennung lohnen, weil es ihn nicht verstand, weil es dem Fluge seiner social-demokratischen Ideen nicht folgen konnte. Da aber der Mann, wie mancher Irrthum ihm auf seiner Kampfbahn auch als Waffe in die Hand gerathen ist, nicht nur zu den begabtesten und denkendsten Köpfen, sondern auch zu den redlichsten und glühendsten Herzen der deutschen Nation gehört, so soll sie wenigstens sein Andenken ehren, bis die Zeit kommt, wo diese bedeutende und nun durch Jahre und Erfahrungen gereifte und geklärte Kraft wieder auf dem Boden der Heimath wirken kann.

Es wird aber hohe Zeit, daß dies geschehe, denn A. Ruge hat bereits sein sechzigstes Jahr begonnen, er ist am 13. September 1802 geboren, und zwar auf der Insel Rügen, also ein Landsmann des alten Arndt. Sein Leben war ein vielbewegtes gleich von seiner Studentenzeit an. Er gehörte in Jena und Halle zu jenem burschenschaftlichen Bunde der „Jungen“, der im Stolze des politischen Geheimnisses neben sich einen Bund der „Alten“ träumte und an dessen Spitze deutsche Fürsten, die während der Franzosenherrschaft sich als deutsche Patrioten gezeigt hatten, wie den König von Würtemberg, den Kronprinzen Ludwig von Baiern, den Großherzog Carl August, den Herzog Ernst (I.) von Coburg u. s. w. stellte. Als der kühne Traum zerrann, erwachten die Jünglinge im Kerker. Ruge hatte ein volles Jahr die bekannte Demagogen- Untersuchungshaft zu Köpenik erlitten und ward dann zu 15jährigem Gefängniß verurtheilt; nachdem er fünf Jahre auf dem Lauenburger Thor zu Kolberg gesessen, ließ man ihn im Jahre 1830 frei. Diese Zeit war für ihn keine verlorene, er hatte sie zum Ausbau seiner Kenntnisse angewandt. Sein Ruf schien politisch vollkommen gereinigt, denn man gab ihm eine Lehrerstelle am Pädagogium zu Halle und ließ ihn später als Privatdocent an der Universität daselbst zu. Außerdem auch ein vermögender Mann, Salzpfänner und städtischer Beamter dazu, genoß er in Halle Behaglichkeit und Ansehen zugleich. Aus diesem Leben rissen ihn die von ihm und Echtermeyer begründeten „Hallischen Jahrbücher für Kunst und Wissenschaft“, die damals durch ihren frischmuthigen Kampf gegen Zopf und Schlendrian auf allen geistigen Gebieten Epoche machten. Da bedrohte sein junges Blatt die preußische Censur; um es dieser zu entziehen, verließ er Halle, siedelte nach Sachsen über, verwandelte es hier in „Deutsche Jahrbücher“ und – war vom Regen in die Traufe gekommen. Das Blatt ward vollständig unterdrückt. Nun eilte Ruge, voll ungerechten Grimms gegen die ganze deutsche Nation, nach Paris, erlebte jedoch hier, daß das Volk sich nicht und die Polizei so viel um ihn bekümmerte, daß sie ihn auswies und seine dort begonnenen „Deutsch-französischen Jahrbücher“ gleich nach der Geburt erstickte. Ruge ging nun nach der Schweiz, von wo er schließlich nach Deutschland zurückkehrte, nachdem er dort mit Fröbel zusammen das „Literarische Comptoir“ gegründet, in dem bekanntlich zuerst die Herwegh’schen Gedichte erschienen. Später gründete er in Leipzig ein „Verlagsbureau“, aus welchem manches Gediegene hervorging. Da schnellte ihm das Jahr 1848 wieder von Neuem auf. Die Märzrevolution lockte ihn erst nach Berlin und führte ihn dann in die Paulskirche nach Frankfurt a. M., und als er, mit allen politischen Richtungen dort zerfallen, mürrisch „dieses von der Weltbewegung weit überholte Dorf“ verließ, um seinen Zorn auf einer Rundreise durch Deutschland auszuathmen, und die Nationalversammlung ihn für ausgeschieden erklärte, trieb ihn ein böser Genius wieder nach Berlin. Hier war indeß „Vater Wrangel“ der gebietende Mann geworden, und trotz Manteuffel’s Widerspruch mußte Ruge, weil er „stets ein Feind der preußischen Regierung gewesen“, sofort die preußische Hauptstadt verlassen. Mit dem Verlust von Tausenden seines Vermögens, die er namentlich in den Berliner Octobertagen für Agitationsmittel und zur Begründung einer demokratischen Zeitung, „die Reform“, geopfert hatte, kam er nach Leipzig zurück. Er griff nun abermals sein buchhändlerisches Geschäft energisch an, aber kaum hatte er hier den Stuhl zum Arbeitstisch gerückt, so gerieth er in Verwickelung mit den Dresdner Maiereignissen und entfloh den Folgen derselben nach England, wo er seitdem als einer der achtbarsten deutschen Verbannten lebt.

Arnold Ruge nimmt in der deutschen Literatur eine bedeutende Stelle ein. Er muß als einer der scharfsinnigsten Kritiker und der namhaftesten Vorkämpfer des Socialismus in Deutschland anerkannt werden, hatte seiner Zeit dem Studium des Hegel’schen Systems der Philosophie zu großer Ausbreitung mit verholfen, insbesondere aber durch die bereits genannten „Hallischen Jahrbücher“ sich eine Macht erworben, durch welche er eine in der politischen Stickluft von 1837 außerordentlich wohlthätige und ebenso fruchtbringende Umwälzung in der Journalistik bewirkte. Wer an jene Censurblüthentage zurückdenkt, wird noch heute dem tapfern Ruge seinen Dank nicht versagen. Nicht weniger entschieden, wie auf dem Felde der Aesthetik, trat er auf dem der Politik auf, und er verdient die Anerkennung, daß der social-demokratische Freistaat, [250] sein Ideal, wenigstens keinen begabteren und redlicheren Apostel gefunden hat. Frei von den Uebertreibungen und Verzerrungen, durch welche Proudhon, Blanc und Fourrier den Socialismus verunstalteten, wußte Ruge auch hier die angeborene Achtung der Deutschen vor Ehe und Staat mit seinem Freiheitstreben zu vereinigen; man braucht ihm nicht anzuhangen, aber versöhnt ist man mit ihm um der Reinheit seiner Ideen willen.

Das ist in aller Kürze Lebenslauf und Charakteristik eines deutschen Schriftstellers, in dessen gegenwärtige Häuslichkeit ein Besuch uns einführen soll.

Eine Geschäftsreise, erzählt unser Gewährsmann, führte mich im September 1861 nach London und ein Empfehlungsbrief in die Familie des Dr. Henz, eines deutschen Landsmanns, der mir eines Tages, nachdem meine Geschäfte beendet waren, den Vorschlag machte, seinen Freund Ruge in Brighton zu besuchen, dessen Geburtstag am morgenden Tage gefeiert werden solle.

Zur richtigen Stunde fand ich mich am bestimmten Tage am Bahnhofe ein und dampfte mit Freund Henz ab. Unterwegs erzählte mir Henz, daß Ruge’s Bestrebungen, sein politisches Glaubensbekenntnis zu verwirklichen, in der That sein bedeutendes Vermögen schon verschlungen hatten, als er genöthigt war, Deutschland zu verlassen. Ohne Aussicht auf eine neue Existenz, ohne Freunde, ohne Geld war er in Brighton angekommen, doch hatte er den Muth nicht sinken lassen. Eine Gattin war ihm in’s Exil gefolgt, so edel und gut, daß sie der Sonnenschein in seinem Leben war. Sie erhellte ihm die trübsten Tage seines Daseins und verlor nie ihren schönen Gleichmuth. Um sein häusliches Glück vollständig zu machen, hatte ihm Gott vier wohlgerathene Kinder geschenkt. Die Erziehung des ältesten Sohnes wurde in Berlin beendet, die drei andern folgten den Eltern nach England. Es gelang Ruge, sich in Brighton eine Existenz zu gründen, indem er sich als Lehrer beschäftigte und seine freie Zeit literarischer Thätigkeit widmete. Bald hatte er sich dort einen guten Ruf und ein anständiges Auskommen erworben, und er konnte nun in sein Haus den angenehmen Comfort einführen, der es jetzt ziert.

Als wir bei Ruge gemeldet waren, kam er uns mit einem sehr charakteristischen „Halloh!“ entgegen, und sein Jubelruf: „Freund Henz ist da!“ schallte durch das ganze Haus. Ruge’s Gattin erschien, ich wurde Beiden vorgestellt – und sie empfingen mich auf das Freundlichste. Man behandelte mich wie einen, alten Bekannten, und bald fühlte ich mich heimisch genug bei ihnen, um unbefangen beobachten zu können. An Ruge und seiner Gattin ist die Zeit sehr schonend vorübergegangen, sie hat ihnen ihre Spuren so leise als möglich aufgedrückt. Ruge ist eine große, kräftige, zum Embonpoint geneigte Gestalt, sein Schritt ist fest, und nur seine etwas vorgebeugte Haltung verräth, daß der Mittag seines Lebens vorübergezogen. Er erzählt viel und mit großem Humor, wobei seine blauen Augen oft schalkhaft aufleuchten. – Seine Urtheile sind etwas schroff und würden leicht verletzen, wenn sich nicht in seinem ganzen Wesen eine große Gutmüthigkeit ausspräche. Wir verbrachten eine angenehme Stunde in seinem gemüthlichen „Parlor“, bis wir zum Mittagessen gerufen wurden. Gegen den englischen Gebrauch essen Ruge’s nach deutscher Sitte um 1 Uhr zu Mittag. Nun sah ich auch die beiden Töchter, von denen die älteste erwachsen, die jüngste heranwachsend ist. Außerdem waren zwei Damen aus Deutschland da, Verwandte der Familie, denen man es ansah, daß sie sich in dem Hause wohl fühlten. Bald war die fröhlichste Unterhaltung im Gange. Die älteste Tochter, eine zarte Blondine, nimmt als echtes Kind ihres Vaters lebhaften Theil an allen politischen Fragen der Zeit. Sie erzählte mit strahlenden Augen, dem Vater sei vor Kurzem ein Aufsatz in einem deutschen Journale zugeschickt worden, welcher sage, mehrere Freunde Ruge’s wünschten seine Rückkehr nach Deutschland. Sie ließ es sich nicht nehmen, das Journal, den „Courier an der Weser“, herbeizuholen, damit wir selbst die ehrenvolle Erwähnung ihres Vaters lesen sollten. Obgleich sie mit ihrem Eifer geneckt wurde, so sah man doch deutlich, wie sehr sich Alle schon über dieses geringe Zeugniß freuten, daß Ruge in Deutschland noch nicht vergessen sei. Ganz ungesucht leitete dieser Vorfall ein Gespräch über Politik ein, das natürlich nicht umhin konnte, sich namentlich über Deutschland und die italienischen Verhältnisse, Napoleon und Garibaldi zu verbreiten. – Auch die Toaste kamen in der Ordnung der Festtafelfreuden an die Reihe und ließen jeder Ehre und jedem Andenken das verdiente Glas erklingen, zuletzt noch für die abwesenden Glieder der Familie, die beiden Söhne Ruge’s; der älteste hat sich vor Kurzem als praktischer Arzt in Berlin niedergelassen, der jüngste vollendet soeben seine Studien in Zürich. Zwei Stunden waren am fröhlichen Tische pfeilgeschwind vergangen, man erhob sich zu einen Spaziergang an die See. Ein fortlaufendes Gespräch kam hier nicht in Gang, dazu bot sich den Augen zu viel reicher Wechsel der Gegenstände dar. Dafür warf Ruge manche gelegentliche Bemerkungen hin, von denen die folgende Anekdote seine stets bereite Schlagfertigkeit bezeichnet. Einmal ist Ruge mit einem Halle’schen Professor in Streit gerathen, der Wortwechsel ist ziemlich lebhaft geworden, und Ruge’s Gegner vergißt sich zu dem Vorwurf: „Ihr Latein ist das eines Pferdedoctors!“ – „Ich glaube es selbst,“ blitzt Ruge ihm entgegen, „sonst hätte ich Sie nicht in die Cur genommen!“ Und böse ward der Professor von derselbigen Stunde.

Es ist eine alte Klage, daß aus Deutschland nicht blos seine edeln Söhne, sondern auch viele schlechte Subjecte nach England kommen, und das hat auch Ruge oft zu seinem Schaden erfahren. Er wird viel von hülfsbedürftigen Deutschen in Anspruch genommen, und wie oft auch schon betrogen, kann er sich doch das Helfen nicht abgewöhnen, wo er Noth sieht, wäre es auch nur vorgebliche. Und doch hat sein Glaube an die Ehrlichkeit der Menschen harte Proben zu bestehen gehabt. Entwendeten ihm doch einst zwei deutsche Besucher von seinem Schreibtische zwei Briefe, und der eine dieser Herren hatte sogar die Bollmann’sche Stirn, diese Briefe später im Druck zu erwähnen.

Von unserem Spaziergange zurückgekehrt, nahm Ruge uns mit in sein Zimmer und las auf unser Bitten uns Einiges aus seinen „Jugenderinnerungen“ vor, deren Ausarbeitung, wie er uns sagte, damals seine freie Zeit vollständig in Anspruch nahm. Er bot uns in der That einen hohen Genuß, besonders durch die frischen und lebendigen Schilderungen seiner Heimathinsel. Die ergötzlichen Einfälle des Knaben zeigten schon im Keim den unverwüstlichen Humor des Mannes. Unser schallendes Gelächter unterbrach mehr als einmal den Vorleser. Ich glaube, Ruge hat in Erinnerung an das glückliche Elternhaus seine eigene Häuslichkeit mit vieler persönlicher Liebenswürdigkeit so angenehm gestaltet. Um tiefer eingehende Beobachtungen zu machen, habe ich zu wenig Stunden mit ihm verlebt, aber darin fand ich bestätigt, was mir Henz sagte: Ruge gewähre die Freiheit, welche er verkündige, seiner Familie vollständig. Bei der Erziehung seiner Kinder, lasse er den Grundsatz walten, Jedes müsse seine Individualität so frei als möglich entwickeln und das Beispiel der Eltern die Hauptsache dazu thun. Und ganz in seinem Geiste schalte und walte seine Gattin frei im Hause zu seinem und der Kinder Wohl.

Wir folgten mit so viel Theilnahme Ruge’s Lesen, daß wir gern den Thee entbehrt hätten, um noch mehr zu hören. Aber unten im Eßzimmer wurden schon muntere Stimmen laut und bald riefen sie uns auch dahin. Eine gewählte Gesellschaft von Deutschen und Engländern war dort schon versammelt. Die Theezeit wurde jedoch verkürzt, und wir begaben uns nun in das Drawing-room. Nach englischer Sitte grenzt an dieses ein kleineres Zimmer, back-drawing-room, und hier war die eigentliche Feier des Tages vorbereitet. Die Damen des Hauses stellten hier mit Hülfe ihrer Freunde Bilder, wozu die Motive alle aus Ruge’s Werken genommen waren. Nachdem jedes Bild einige Augenblicke gestanden, fiel nicht, wie gewöhnlich, der Vorhang, sondern es belebte sich das Bild und eine Scene wurde aufgeführt, in der Ruge gar bald sich selbst und seine eigenen Worte heraushörte. Zuletzt erschienen Ruge’s Töchter und Nichte als Britannia, Germania und Insel Rügen in schöner Gruppe vereinigt und brachten ihm mit herzlichen Wünschen für sein Wohl einen Kranz. Er war sichtlich gerührt durch die so wohlgelungene Ueberraschung. Seine Nichte, eine interessante Brünette mit dunkeln Augen, hatte als Germania die von Frau Ruge gedichteten Verse mit viel dramatischer Befähigung gesprochen, Ruge war darin Germania’s Sohn genannt, und er neckte nun seine Nichte, daß sie ihm eine so schlechte Mama gewesen. Sie vertheidigte Germania, aber er warf ihr scherzend vor, daß sie ihre Rolle ganz unrechtmäßig erhalten, da Germania blond und blauäugig sein müsse. Unter diesen und ähnlichen frohen Scherzen verging das „Supper“ den älteren Gliedern der Gesellschaft zu schnell, den jüngeren zu langsam. Bei diesen hatte die Frage, wer wohl Tänze spielen könne, schon allerhand glückliche Vermuthungen hervorgerufen. Als wir in das Drawing-room zurückkehrten, war dies wirklich so viel [251] als möglich ausgeräumt, und von dem Pianino ertönten verlockende Klänge für die Herzen und Füße der Jugend. Germania bat Ruge, den Ball mit ihr zu eröffnen. Er zögerte nur einen Augenblick, dann ging er lustig auf den Scherz ein und bat um einen langsamen, deutschen Walzer, und diesen tanzte er so zierlich und gewandt, als sei er immer in der Uebung gewesen. Nun wollten auch andere Damen mit ihm tanzen. Mit vielem Vergnügen willfahrte er Allen und erfreute die ganze Gesellschaft durch seine jugendliche Frische. Er gefällt den Engländern außerordentlich, und nach Allem, was ich sah, muß seine und seiner Familie Stellung in Brighton eine sehr gehobene sein.

Es war spät, als die Gesellschaft sich auflöste und wir das freundliche Schlafzimmer benutzten, das mir und Henz eingeräumt worden war. – Am andern Morgen sahen wir den Hausherrn nur flüchtig beim Theetrinken, da sein Tagewerk schon früh beginnt. Seine Damen leisteten uns noch bis ein Uhr Gesellschaft, und nach einem freundlichen Abschied führte uns der Dampfwagen wieder nach London. Den folgenden Tag verließ ich England und kehrte um eine liebe Erinnerung reicher in das Vaterland zurück.

Ich konnte nicht widerstehen, Ruge’s Freunden in Deutschland den bei ihm verlebten Tag zu schildern, und wenn ihm die Zeitung zu Gesicht kommen sollte, was nicht unmöglich, da die „Gartenlaube“ auch in Brighton gern gelesen wird, so bitte ich ihn, mir die kleine Indiskretion zu verzeihen. Eine Aeußerung von ihm berechtigte mich dazu, da er sagte: Alles, was von Andern aus seinem öffentlichen oder Privatleben gedruckt worden sei, habe ihn nicht erzürnt, sobald es nur Wahrheit gewesen. Dann wollte ich, zur Beruhigung für die Deutschen daheim und zugleich zur Erklärung meiner, anscheinlich einen bitteren Widerspruch in sich schließenden Überschrift, den alten Verehrern Ruge’s einen Einblick in dessen Verhältnisse eröffnen; sie finden darin im Allgemeinen das zufriedenstellende Bild der Verhältnisse unserer namhaften verbannten Landsleute und namentlich der Schriftsteller. Wissen, Kraft und Fleiß hält sie auch in der Fremde oben. Trotz alledem behält aber das Wort „im Elend“ für sie seine volle schwere Bedeutung in gar vielen Stunden, wo das Heimweh mit seinem unbeschreiblichen Schmerz in den treuen deutschen Herzen aufgeweckt wird und vergeblich auf Heilung aus Deutschland hofft.





Großfürst Constantin und sein Einzug in Jerusalem

Von Constantin Tischendorf.[1]


Bald nach der Mittagsstunde des 10. Mai erspähten wir am Horizonte die Masten zweier Fregatten, die allem Anscheine nach aus Griechenland kamen. Da ihr Erscheinen sogleich von allen Consulatsflaggen zu Jaffa begrüßt wurde, so blieb kein Zweifel darüber, daß sie den lange erwarteten hohen Gast, den Großfürsten Constantin, ans Gestade des heiligen Landes führten. Die beiden Fregatten, zu denen später ein Linienschiff kam, hatten noch nicht lange Anker geworfen, als sich die aufgeregten Wogen hindurch eine Consularbarke an Bord derjenigen mit der Admiralsflagge wagte. Es waren die Consuln von Jerusalem und von Jaffa und der Generalconsul von Syrien, welche sich beeilten, den hohen Ankömmlingen das erste Willkommen entgegen zu bringen. Trotz der unruhigen See fuhren nur eine Stunde später der Großfürst und die Großfürstin mit ihrem ältesten Sohne Nikolaus an’s Land. Als sie den Kai betraten, wohin die Bevölkerung massenhaft zusammengeströmt war, wurden sie durch den Erzbischof von Petra, durch den Kaimakam von Jaffa und den Commandanten der dortigen Besatzung empfangen. Sie begaben sich in die griechische Kathedrale zu einem Te deum und betraten darauf die für sie bereit gehaltenen Gemächer im griechischen Kloster. Dort wurden des Abends sämmtliche Consuln und Notabeln von Jaffa empfangen.

Aus der Quarantaine erlöst, ritten wir andern Morgens um 9 Uhr hinaus auf die Fluren von Jaffa. Zwischen endlosen, zu lebendigen Mauern gewordenen Hecken von Cactusfeigen, hinter denen in feurigem Roth blühende Granaten und von goldenen Früchten strotzende Orangen- und Citronenbäume überall hervorsahen, gelangten wir in die berühmte Ebene Saron. Ihre Rosen und auch ihre Lilien hatten freilich schon abgeblüht; aber das Auge weidete sich ringsum am frischen blumigen Grün und an üppigen Getreidefeldern; bei den Dörfern am Wege und in der Ferne fehlte es auch nicht an Oliven- und Feigenbäumen.

Um die Mittagsstunde erspähen wir vor uns die Spitze des berühmten alten Thurmes bei Ramleh. Bald winkten uns auch inmitten dunkelgrüner Haine die schimmernden Minarets der Stadt entgegen, in der fromme Augen das biblische Arimathia, die Heimath dessen, der in seinem Felsengrabe den Herrn bestattet, wiedererkennen wollen. Gegen 1 Uhr hielten wir am Portale des lateinischen nach Nikodemus benannten Klosters.

Nachdem wir in den stillen freundlichen Räumen desselben einige Stunden gastliche Aufnahme genossen, zogen wir weiter. Kaum hatten wir das freie Feld erreicht, so sahen wir in geringer Entfernung vor uns die großfürstliche Karawane ziehen. Sie war früh um 7 Uhr von Jaffa aufgebrochen, hatte die Mittagsstunden im griechischen Kloster zu Ramleh gerastet und hatte nun kurz vor uns die Stadt verlassen. Den Anfang der Karawane bildete ein sehr stattlicher Reiterzug. Voraus ritten der Erzbischof von Petra in geistlicher Tracht, der Kaimakam von Jaffa und der Commandant der dortigen Garnison, gefolgt von einer in ihren Waffen und bunten Uniformen glänzenden Truppe regulärer Soldaten und Baschi-Bozuks. Der Großfürst ritt einen Schimmel von edler arabischer Race, den der Pascha-Gouverneur von Jerusalem entgegen geschickt hatte. Die Großfürstin bediente sich eines gleichfalls vom Pascha geschickten türkischen Tragsessels, kutschenartig gebaut und getragen von Maulthieren, während 14 Mann von der Garde-Equipage des Großadmirals die Leib-Escorte der hohen Frau bildeten. Die Damen in ihrer Begleitung bedienten sich größtenteils gewöhnlicher Sänften. Der zehnjährige Prinz ritt ein Pferd, dessen Sattel nach Art eines Armstuhls eingerichtet war. Das großfürstliche Gefolge mochte gegen hundert Reiter zählen. Ein großer Theil derselben trug leichte weiße Sommerkleidung, auch weiße, Seemanns-Mützen, gleich dem Großfürsten, dem ein weißer Burnus um die Schultern flatterte. Den Schluß der Karawane bildete ein Trupp Fußvolk; es waren 300 Mann von der Escadre, von Kopf bis zu Fuß in weißer Seemannstracht, mit den Miniébüchsen über der Schulter, einen Tambour in ihrer Mitte.

Wie nun diese Karawane vor unseren Augen in langer Linie, durch die Felder den Weg entlang zog, gewährte sie einen reizenden Anblick. Ihresgleichen mag die große Pilgerstraße schwerlich seit den Kreuzzügen gesehen haben. Die Erinnerung an jene wunderbaren Regungen eines großartigen christlichen Patriotismus stieg unwillkürlich in meiner Seele auf.

Wir hatten gegen 3 Stunden Ramleh verlassen, als wir an zwei sehr merkwürdigen Oertlichkeiten vorbeikamen, deren eine dicht an unserem Wege, die andere 20 Minuten davon enfernt lag. Die auf imposanter Höhe gelegenen Ruinen tragen seit Jahrhunderten den Namen Latrun, da hier die Mönche des Mittelalters die Heimath des am Kreuze begnadigten Schächers wiedererkennen wollten. Mit mehr Grund machen sie auf die Ehre glorreicher makkabäischer Erinnerungen Anspruch, vermehrt durch die Kreuzfahrer unter Gottfried. Nicht Geringeres knüpft sich an die anderen Ruinen. Da sie auf die gleichfalls durch die Makkabäer bekannte Stadt Emmaus zurückgeführt werden, so fällt ihnen auch nach der ältesten Tradition die Erinnerung an jene wunderbare Begegnung des Auferstandenen mit den beiden wandernden Jüngern zu.

Daß wir nunmehr das Gebirg Juda erreicht hatten, bewies unser eigener Weg, der immer unebener und rauher wurde. Bei hereinbrechendem Dunkel hatten wir ein so beschwerliches lang ausgedehntes Steinicht bergauf und bergab zu durchreiten, daß man hätte glauben mögen, dies sei unmöglich der rechte, alljährlich von so viel Tausenden von Pilgern betretene Weg. Bald brachte wildes über den Weg laufendes Strauch- und Wurzelwerk ein Hinderniß, bald kreuz und quer liegende Felsblöcke und Steingeröll; bald war der Boden von den Gebirgswassern zerrissen und verlangte [252] Vorsicht bei jedem Schritt und Tritt. Der Mond war aufgegangen, aber er spendete mit seiner schmalen Scheibe nur ein schwaches Licht. Zur Ergänzung desselben loderten zahlreiche Fackeln, wodurch ein höchst malerischer Effect erzielt wurde. Wo die Karawane ein wenig stockte, da sprengten Baschi-Bozuks hinzu, das Dickicht an den Seiten des Wegs durchbrechend.

Die Großfürstin hatte beim Auszug aus Ramleh einen türkischen Schimmel bestiegen; als sie ihn später wieder nebst dem jungen Prinzen mit dem Kutschsessel vertauschte, wurde dieser bei der Unsicherheit des Wegs von vier Mann gehalten und gestützt. Der Großfürst selbst ritt nahe dabei und bewunderte die Unerschrockenheit seiner Gemahlin bei den schwierigsten Stellen des Weges.

Nach 9 Uhr endlich war das Ziel des Tages gewonnen. Inmitten des Waldsteinichts hatten wir eine Bergfläche erreicht, wo einige Hütten den alten Namen Saris tragen. Hier war eine beträchtliche Anzahl größerer und kleinerer Zelte aufgeschlagen worden, um der Karawane als Nachtquartier zu dienen. Bereits vor uns lagerten daselbst zahlreiche Kameele und Maulthiere, die mit der umfänglichen Bagage vorausgeschickt worden waren. Bald war auch für leibliche Erquickungen der sehr ermüdeten Wanderer gesorgt; nur war noch erquickender die Ruhe selbst, wenn schon die Ruhestätte nicht auf Bequemlichkeit angelegt war. Aber einer besondern Ueberraschung muß ich noch gedenken. Der Großfürst war kaum in sein nächtliches Zelt eingetreten, so erschien vor ihm plötzlich Mustapha Abu Ghosch, dessen Name vor Zeiten der Schrecken aller Wandersleute in dieser Gegend gewesen. Er kam in blankem Waffenschmuck, doch begreiflicherweise nur zur Bezeigung seines unterthänigen Respects.

Die Karawane auf dem Gebirge Juda.[2]
Nach einer Originalzeichnung.

Schon um 6 Uhr brach der große Pilgerzug wieder auf. So freundlich auch die Landschaft war, unser Weg wurde dem Charakter, den er Abends vorher angenommen, nicht ganz untreu. Bald nach unserem Aufbruche kam nochmals Mustapha Abu Ghosch dem Großfürsten entgegengeritten, in der Absicht, ihn um die Ehre eines Besuches in seinem Schlosse zu bitten. Gegenwärtig ist derselbe das Oberhaupt der Beduinen Palästina’s. Vater und Großvater haben ihren Namen zum gefürchtetsten des Landes zu machen gewußt. Auch Mustapha, noch jetzt ein Mann vom stattlichsten Wuchse, den Ausdruck der Energie in seiner Haltung wie in seinen Zügen, wandelte eine Zeitlang in ihren Fußstapfen; als er aber nach Gefangenschaft und Exil 1851 im Triumph heimkehrte, zog er’s vor, das angeerbte Straßenhandwerk mit den Künsten des Friedens, das Schwert mit dem Spaten zu vertauschen. Davon überzeugten wir uns mit eigenen Augen, als wir seine Residenz passirten. Uebrigens verschmähte es der Großfürst mit seiner Gemahlin nicht, eine Viertelstunde bei dem Beduinenchef abzusteigen, der dem Brauche der orientalischen Salons gemäß Kaffee, Pfeifen und Confitüren präsentiren ließ.

Vom hochgelegenen Castell führt der Weg in ein Thal nieder, und aus dem Thale wieder auf die Höhe, von der wir einen schroffen, steinigen Bergpfad abwärts zu steigen hatten. Ehe wir ihn betraten, wurde mir mitgetheilt, der Großfürst, benachrichtigt, daß ich bei der Karawane sei, wünsche mich zu sprechen. Dies zu bewerkstelligen war nicht leicht, da ich mit meinem wenig regelrecht aufgezäumten Gaul, der freilich vollkommen mit dem beduinenmäßig angethanen Reiter selbst harmonirte, im Nachtrabe war, während der Großfürst auf seinem feurigen Araber an der Spitze der Karawane ritt. Der Versuch, meinem Thiere auf so bösem Wege einen außergewöhnlichen Eifer beizubringen, gelang jedoch so sehr, daß ich fast gleichzeitig mit dem Vortrab in Kulonieh eintraf. Kulonieh liegt am Fuße des genannten Bergpfades in einem reizenden Thale, durchflossen von einem Bache, aus welchem David der Hirtenknabe die Steine in seine Schleuder für die Stirn des Philister-Riesen geholt haben soll. Hier bot ein großer neben dem rieselnden Bache in voller Blüthe stehender Orangenbaum ein schattiges lockendes Plätzchen, auf dem der Großfürst sich niederließ. Ich kam zu derselben Stelle an und wurde von ihm auf’s Huldreichste empfangen. Bald kam auch die Großfürstin und nahm gleichfalls unter dem Schatten des duftigen Blüthenbaumes Platz.

Eine der ersten Fragen des Großfürsten war, wie es in der Sinaibibel mit dem Schlusse des Marcus stehe. Sieben Monate früher hatte ich ihm auf dem Schlosse zu Altenburg die Marcusstelle unter anderen zur Charakterisirung meiner Textarbeiten genannt. Ich erwiderte, daß die Handschrift vom Sinai meine Auffassung völlig bestätige, woran er ein Urtheil knüpfte, das dem berühmten englischen Kritiker des vorigen Jahrhunderts, dem Master des Trinity College zu Cambridge, näher als einem russischen Prinzen anzugehören schien.

Nachdem sich die Karawane kaum eine halbe Stunde wieder in Bewegung gesetzt hatte, da erschienen zum Empfang des großfürstlichen Pilgerpaares der griechische Patriarch von Jerusalem, ein würdiger Greis im Silberhaar, und der Gouverneur der Provinz, Surreya Pascha, beide mit Gefolg. Mit dem Patriarchen stieg auch der Großfürst ab; der erstere segnete den letzteren, und rief die Worte aus: „Gesegnet sei, der da kommt im Namen des Herrn.“ Darauf begrüßte und segnete er auch die Großfürstin. Ein wenig später erwarteten die hohen Pilgrime der armenische [253] Patriarch, der syrische Bischof, die koptische und die abyssinische Geistlichkeit. Unter diesen Begrüßungen kamen wir der heißen Mittagsstunde nahe. Als wir schon die grauen westlichen Mauern der heiligen Stadt, im Hintergründe den Oelbergsgipfel, im fernen Osten vom blauumhüllten moabitischen Gebirgszug überragt, vor unseren Augen hatten, trafen wir auf drei Zelte, die zu Empfangsfeierlichkeiten errichtet worden waren. Als der Großfürst in russischer Admiralsuniform mit dem blauen Andreas-Cordon, seine hohe Gemahlin am Arme und hinter sich den jungen Prinzen, von seinem Gouverneur geleitet, das große offene Zelt des Pascha betrat, das vom Schmucke der Uniformen funkelte, donnerten die daneben aufgestellten kleinen Kanonen, die paradirende Truppe präsentirte das Gewehr, die Trommeln wirbelten, die Hörner schallten. Hier stellte der Pascha als diplomatisches Corps die Consuln von England, Frankreich, Oesterreich, Preußen und Spanien vor, desgleichen die ersten Ulema’s von Jerusalem. Mit dem diplomatischen Corps war zugleich der anglikanische Bischof Gobat erschienen.

Näher an der Stadt hatte sich mit einem kleinen, aus golddurchwirkten Stoffen gefertigten Zelte die jüdische Geistlichkeit aufgestellt; bei diesem außerordentlichen Anlasse wollte auch sie ein Willkommen nicht schuldig bleiben.

Aber das zahlreichste Empfangspublicum war nicht das officielle. Schon seit einer halben Stunde war unsere Karawane durch viele entgegengekommen Osterpilger, besonders russische, ansehnlich vermehrt worden. Es war rührend, die verklärten Augen der letzteren zu sehen; man sah ihnen die Freude an, hier auf ihrer frommen Pilgerfahrt das großfürstliche Paar, vom gleichen Dränge des Herzens bewegt, zu sehen, zu begrüßen. Viele Frauen wetteiferten, der Großfürstin Blumen durch die Fenster zuzuwerfen und auf den Weg zu streuen. Aber dazu fehlte nunmehr der Raum; denn nach dem Aufbruche, aus den Zelten waren wir zu beiden Seiten von dichten Schaaren umringt, gekleidet in Trachten aller Art. Die Turbane aller Formen und Farben, darunter auch der fränkische Hut und die polnische Zobelmütze, bildeten ganze geschlossene Flächen. Viele Gruppen von Frauen, in langen weißen Gewändern und nach Gebühr verschleiert, hatten die Höhen zu unserer Linken eingenommen. Jubelrufe durchbrachen oft die nach Kräften versuchte Militärmusik; denn von den Zelten an bis ans Jaffathor bildeten türkische Soldaten Spalier. Innerhalb desselben umgab aber auch noch die russische Schiffsmannschaft die hohen Pilgrime, die jetzt sämmtlich zu Pferde saßen.

Am Thore angelangt, stieg der Großfürst mit seiner Gemahlin und dem jungen Prinzen ab, um nach altem frommem Gebrauch die heilige Stadt zu Fuß zu betreten, wobei der Weg mit Rosenblättern bestreut und mit duftenden Wassern besprengt wurde. Das großfürstliche Paar war von tiefer Rührung ergriffen; beiden standen die Augen voll heller Thränen.

Beim Eintritt in’s Thor wurden sie vom russischen Bischof, umgeben von seiner Geistlichkeit, mit dem Kreuze und Weihwasser empfangen. In der Stadt selbst, soweit sie nur vom Zuge betroffen wurde, war jedes Plätzchen, jede Mauer und jedes Dach, jede Thür und jedes Fenster dicht besetzt; aus allen Gesichtern strahlte die Freude, und des Freudengeschreies war kein Ende. Auch eine Salve vom alten Davidsthurme hatte den Eintritt der hohen Gäste in die Mauern Jerusalems bezeichnet; sie wiederholte sich beim Eintritte derselben in die Kirche des heiligen Grabes. Denn dem Wunsche des Großfürsten gemäß ging der Zug unverweilt in diese Kirche, die jetzt Lichter und Lampen tausendfältig durchschimmerten.

Am Portale stand bereits der griechische Patriarch im vollen von Gold und Edelgestein blitzenden Ornate, sammt der hohen Geistlichkeit in ihren Prachtgewändern. Der ehrwürdige Greis hieß voll Rührung die drei Glieder der kaiserlichen Familie, „der Beschützerin der heiligen durch den Glauben an die göttliche Trinität gekennzeichneten Kirche“, hier nochmals willkommen; er gedachte zugleich der Wohlthaten, welche die orthodoxe Kirche, besonders auch zu Jerusalem, dem hochseligen Kaiser Nikolaus verdanke.

Nach dieser Begrüßung geleitete er die erlauchten Pilgrime an die zwei heiligsten Stätten der Welt, dahin wo der Erlöser am Kreuze erblaßt, und zum heiligen Grabe, während dessen die griechische Hauptkirche ein feierliches Te deum ertönen ließ. Als es verklungen war, führte der Patriarch seine Gäste ins Patriarchat, in dessen weiten Räumen fürstliche Gemächer für sie bereitet waren.

Soll ich noch ein Wort zu diesem Einzuge sagen? Daß er so festlich ausfiel, wie ihn schwerlich seit den Kreuzzügen ein europäischer Fürst in die alte Stadt Gottes gehalten, das hatte um so größeres Gewicht, je mehr es dem Zusammenwirken vielfacher und so verschiedenartiger Kräfte zu verdanken war. Vom Großfürsten selbst war keine Veranlassung dazu gegeben. „Mit Gebet und in der Stille einziehen“, das würde weit mehr nach seinem Herzen gewesen sein, wie er sich noch Tags darauf darüber äußerte. So wurde aber dem Herzen Anderer mehr als seinem eigenen Rechnung getragen, und der Einzug des dem Czaren auf’s Engste verbundenen kaiserlichen Bruders wurde zu einer schönen Kundgebung der lebhaftesten Sympathien. Daß er in manchen Herzen den Wunsch rege gemacht: Möchte er doch einen anderen Einzug von dauernder Wichtigkeit vorbedeuten! davon bin ich überzeugt.

Und auch das weiß ich, daß viele Andere den gehaltenen Einzug mit Allem, was sich daran noch knüpfte, schon als bedeutungsvoll für die Zukunft der heiligen Stadt aufgefaßt.




Aus den deutschen Spielhöllen.

Von E. v. S–g.
Nr. 3.
Bénazet und seine Manipulationen – Der solide Anstrich Badens – Die Unkosten der Spielbanken – Ihr Gewinn – Wer die Banken reich macht – Der Einfluß der Spielhöllen – Die Staatsbeamten als Helfershelfer der Spielhöllen – Beendigung des Scandals.

Ich muß zuvörderst diesen anscheinenden Widerspruch erklären, weil damit auch zugleich ein Beleg für die weiteren Folgerungen geliefert wird: Herr Bénazet ist der alleinige Pächter der Badener Spielbank; Niemand, als einer seiner nächsten Verwandten, hat einen Antheil an dem Unternehmen. Er ist also keinem Aktionär Rechenschaft schuldig, wie die „Directoren“ in Homburg, Wiesbaden und Nauheim.

Als alleiniger Director seines Etablissements kann Herr Bénazet darin schalten und walten, unbeschränkter als der Großherzog von Baden in seinem Lande, und insofern mögen die französischen Journalisten gewissermaßen Recht haben, wenn sie ihn le roi de Bade nannten; richtiger wäre es freilich gewesen, ihn le roi du jeu zu nennen. Als gebildeter Franzose hat er begriffen, daß die moderne elegante Welt sich Alles gefallen läßt, wenn es nur mit dem gehörigen Anstrich von Anstand geboten wird; und diesen Anstrich, die Zubereitung dieses Anstriches versteht, außer einem noch höher stehenden Manne in Frankreich, Niemand so gut, als Herr Bénazet. Während die anderen Spielpächter das Spiel in den Vordergrund drängen und die anderen Vergnügungen nur so nebenbei mitgehen lassen, befolgt er gerade das entgegengesetzte System, und seine Berechnung ist die richtigere. Viele Personen, die eine gewisse gesellschaftliche Stellung einnehmen, scheuen sich, in Homburg und Wiesbaden zu oft am Spieltische gesehen zu werden, oder wollen überhaupt nicht an Orten bleiben, wo alle Räume des Curhauses nur für das Spiel benutzt werden. Die Badener Bank bietet auch keine Spielvortheile, keine halben refaits; die Systemspieler und die Spieler von Profession kommen nicht hin, die Gesellschaft am Tische ist also unzweifelhaft anständiger, als andere, man sieht keine unheimlichen Gesichter, keine gemeinen, mitunter so schmutzigen Gestalten, keine Verbindungen von Zweien und Dreien, die nebeneinander sitzen, Häufchen Geld und Tabellen vor sich liegen haben und mit immerwährender gegenseitiger Verrechnung beschäftigt sind und zu den unangenehmsten Nachbarn gehören. Die großen Herren können in Baden sich mit viel größerer Bequemlichkeit am Spieltische amüsiren, und die nobeln Franzosen und Russen versammeln sich auch daselbst am liebsten; daß aber viele [254] Banquiers und sonstige reiche Leute, deren Hauptzweck es ist, sich in der schönen Welt zu zeigen und als Affen der Hochgebornen zu figuriren, ebenfalls alljährlich nach Baden rennen, ist wohl selbstverständlich.

Hervorzuheben ist noch der Umstand, daß das Maximum (der höchste Satz, den ein Spieler setzen darf) in Baden auf 6000 Franken festgestellt ist, 2500 weniger als in Wiesbaden, 6500 weniger als in Homburg. Man sieht also, es ist Alles daselbst auf einem viel solideren Fuße eingerichtet, als in den andern Höllen; in diesem solideren Anstrich liegt die größte Gefahr.

Je mehr das Laster sich in seiner natürlichen Gestalt zeigt, desto weniger wird es verlocken; nicht etwa weil die Moral der Menschen sich im Allgemeinen dagegen sträubte – sondern weil der Schönheitssinn verletzt wird, weil die Phantasie nicht mehr wirken kann und weil endlich auch der Schein nicht gut gewahrt werden kann. Dagegen kann es auf Erfolg rechnen, wenn es sich zierlich verhüllt. Dieses Thema weiter auszuführen, ist hier nicht der Platz, aber auf die Spielhöllen angewandt, führt es zu der Folgerung: Homburg und Wiesbaden tragen ein solch anwiderndes Gepräge, daß für Leute von besserer Erziehung fast keine Gefahr vorhanden ist und nur die wilde Leidenschaft dort ihre Zügel schießen läßt. Eine anständige Familie wird in diesen Orten ihre Söhne nicht verweilen lassen, ihre Töchter werden im Curhause – außer etwa im Lesezimmer und bei besonderen Bällen – nie gesehen werden. Aber in Baden können die jungen Marquis und Comtes und Barons, die jungen Banquiers und die Söhne von Rentiers sich gemächlich an den Tisch setzen, denn ihre Eltern spielen ja oft genug daselbst, und hinter denselben sitzt die Schwester manchmal als Zuseherin, und die französischen Journale erzählen uns sogar, daß dieser oder jener Millionär seinem Töchterchen eine Funfhundertfrankennote zugesteckt hat, um ihr auch einmal „l’innocent plaisir“ des Spieles zu gewähren. In dieser Weise gewöhnen sich die jungen Leute an das Spiel, so entfaltet sich in ihnen die Leidenschaft nach und nach, so werden die Menschen zu Spielern. In den oben zuerst angeführten Orten findet man heutzutage fast nur noch die Spieler, welche schon genau wissen, was sie thun und welche nur um des Spieles willen da sind; wenn irgend ein Unglücklicher sich dahin verirrt, wenn er als Opfer der Hölle fällt, wenn er sein Leben endet: dann weiß man wenigstens davon, die deutschen Journale in Frankfurt, Köln u. s. w. erfahren, melden es. Aber in Baden-Baden geht Alles mit einer unglaublichen Ruhe vor sich, viele Leute spielen, weil sie eben da sind, die meisten der Verlierenden schweigen von ihrem Verluste, und von den Opfern, welche dort fallen, wird fast nicht gesprochen. Die größern deutschen Blätter liegen von dort entfernter, als von Homburg und Wiesbaden, Baden ist für manches derselben schon halb französisch; die badischen Blätter können nicht gut die Schande des eigenen Landes aufdecken, und dafür, daß die französischen Journale schweigen – dafür ist gesorgt! Und doch ist Baden-Baden nicht viel ärmer an Katastrophen, als die anderen Orte. So manches junge Ehepaar aus Frankreich kam auf seiner Hochzeitsreise dahin, und – die Mitgift der Frau blieb am Tische zurück. So mancher Beamte, so mancher junge Mann erschoß sich, aber bisher haben deutsche Zeitungen von solchen Fällen nur gelispelt, und erst in neuester Zeit fing die Augsburger Allgemeine Zeitung an, etwas ernster und mit genauer Angabe davon zu reden.

Wenn also das Conversationshaus von Baden-Baden überhaupt in der Gesellschaft wie in der Presse mit viel mehr Rücksicht behandelt wird, als die „Curhäuser“ anderer Orte, so liegt der Grund hiervon in der Geschicklichkeit des Herrn Bénazet und in seinen Verbindungen, die viel, viel höher reichen, als die aller anderen Directoren. Diese kommen mit den großen Herren, die ihr Etablissement besuchen, nur dann in Berührung, wenn dieselben Geld brauchen; Herr Bénazet aber hat es verstanden, sich in gesellschaftlichen Verkehr mit ihnen zu setzen. Die Russen haben ein Casino, eine geschlossene Gesellschaft, deren Mitglieder nur durch Kugelung aufgenommen werden – das Local dieses Casino befindet sich – im Conversationshause; dieses Casino veranstaltet Bälle, und Herr Bénazet öffnet bereitwilligst seine glänzenden Säle. Die hohen deutschen Herrschaften empfangen ihre Gesellschaft zwar nur in ihrem Hause – in früheren Zeiten ließ sich die Prinzessin von Preußen (die jetzige Königin) manche Fremde in einem eigenen Saale des Conversationshauses vorstellen –, aber sie folgen der persönlichen Einladung des Herrn Bénazet zu seinen Theatern und Opern, in denen er quasi die Honneurs macht, und sie schreiben ihm Dankbriefe und beehren ihn mit Geschenken. Das dirigirende Comité für die Wettrennen besteht aus Genossen der höchsten Aristokratie aller Länder, die ihn wie ihres Gleichen behandeln; nur die Engländer zeigen sich noch etwas zurückhaltend und wollen lieber mit Pferdehändlern in ihrem Lande verkehren, als mit dem brillantesten Bankhalter auf dem Continente. Die Franzosen sind entzückt von seinen Jagden, von seinen reitenden Piqueurs und der Eleganz seiner Säle; selbst die Behörden der Stadt unternehmen nichts, ohne ihn zuerst zu befragen, und manche Mitglieder derselben betrachten und behandeln ihn um des vielen Geldes willen, das er den milden Anstalten widmet, als einen Wohlthäter der Menschheit; und nun frage ich: ist Bénazet nicht ein großer Mann, und hat er nicht das Recht, auf die paar dummen deutschen Moralisten mit Hohn herabzublicken? Thun es doch die andern Directoren auch, die in Bildung und feinem Wesen so tief unter ihm stehen; warum soll er es nicht thun, der sich rühmen kann, der liebenswürdigste und generöseste zu sein?

Es ist nun der Moment gekommen, den eigentlichen wunden Fleck zu berühren, die trügerische Decke wegzureißen, welche die Betheiligten, besonders aber die Regierungsleute der Länder, welche Spielbanken toleriren, über diese saubern Einrichtungen zu breiten suchen. Vorerst aber mögen noch einige Andeutungen über die Organisation der Banken im Allgemeinen, sowie über die eigentliche Bedeutung der Spieler (nicht des Spieles) Raum finden, damit manche unwillkürliche Irrthümer, sowie willkürliche, d. h. solche, die absichtlich von den Bankdirectoren und deren Verbündeten verbreitet werden, zur Aufklärung gelangen.

Die drei großen Spieletablissements, von denen wir bisher vorzugsweise gesprochen haben, sind ziemlich auf demselben Fuße eingerichtet. Das von Baden hat zwar weniger Regie-Unkosten, da es nur für sechs Monate offen ist, dafür sind die Ausgaben nach anderer Richtung hin um so bedeutender, die kleinen Opern und Lustspiele, welche von den ersten Mitgliedern der Pariser Bühne dargestellt werden, kosten jedenfalls soviel, daß sie die Wagschale der Ausgaben vielleicht noch schwerer auf Bénazet’s Seite sinken lassen.

Jede Bank hat zwei Spielaufseher für die Trente- und Quarante-Tische, deren Gehalt zwischen 6–8–10,000 Franken und mehr im Jahre variirt, zwei für die Roulette-Tische, die geringer bezahlt werden. Die Croupiers[3] am Trente und Quarante und an der Roulette erhalten von 800–1000 Franken monatlich bis herab auf 300. Da deren an jedem Tische immer vier zu gleicher Zeit beschäftigt sein und mit andern abwechseln müssen (das Spiel dauert ununterbrochen 12–13 Stunden), so kann man die Zahl dieser saubern Helfershelfer auf etwa dreißig annehmen. Die Gesellschaften unterhalten außerdem ihre eigenen Musikkapellen, lassen mitunter auch die Militärmusik aus Mainz oder Rastatt kommen, müssen eine große Menge Diener unterhalten, große Säle auf’s Hellste durch Oellampen beleuchten lassen –; Gas darf man nicht anwenden, weil bei einem plötzlichen zufälligen oder durch Absicht herbeigeführten Verlöschen die Bank beraubt werden könnte. Wenn man also diese Ausgaben nur einigermaßen in’s Auge faßt und noch dabei berechnet, was die Inserate in den Zeitungen, die großen Anschlagzettel u. s. w. kosten müssen, so wird man die Angaben, welche die Employés der Bank selbst machen: daß die Administration täglich 1000 fl. (560 Thaler) braucht, um ihre Unkosten (inclusive Pachtzins) zu decken, eher zu tief als zu hoch gegriffen finden; Homburg muß also 210,000, Wiesbaden und Ems bei 80,000 Thlr. gewinnen, bevor die Actien einen Heller wirkliches Erträgniß liefern können. Nun aber haben die beiden letztgenannten Orte gleich bei der neuen Organisation im Jahre 1857 315,000, sage dreimalhundert fünfzehn tausend Thaler Reingewinn erzielt, wie der Bericht der Administration selbst nachweist; sie muß also, wenn die Unkosten dazu gerechnet werden, in neun Monaten wenigstens 400,000 Thaler gewonnen haben, und wenn man die Dividenden vergleicht, die sie und Homburg jährlich öffentlich als von den Actienbesitzern zu erheben ankündigen, so wird man finden, daß jede Actie genau durchschnittlich 24 Procent im [255] Jahre trägt – ein Mal weniger, ein anderes Mal dafür um desto mehr.

Mancher unschuldige Leser dürfte sich wundern über diese enormen Gewinne und gar nicht begreifen, wo dieselben herkommen mögen, da doch nicht alle Spieler verlieren können; und er wird sich noch mehr wundern, ja, er wird es unglaublich finden, daß nicht die großen, die reichen Spieler der Bank diesen Gewinn bringen, sondern nur die kleineren. Auch ich fand es ganz unglaublich, als mein französischer Bade-Cicerone mich zuerst auf diesen Umstand aufmerksam machte, auch ich hielt seine Angaben für durchaus übertrieben, bis mich genauere Beobachtungen von der vollkommenen Wahrheit überzeugten.

Die großen Spieler spielen mit den seltensten Ausnahmen nur am Trente und Quarante-Tisch, manchmal tritt auch ein solcher an die Roulette, dann aber bleibt er nur kurze Zeit und spielt auf Nummern, um sich zu amüsiren. Beim Trente und Quarante sind nur einzelne Chancen, man kann nur Roth oder Schwarz setzen, und es kommt sehr oft vor, daß die Farben so ziemlich gleich besetzt sind, daß also, wenn kein refait von 31 für beide Farben erscheint - wo alle Einsätze die Hälfte verlieren – die Bank nach der einen Seite nicht viel mehr einzieht, als sie auf der andern auszahlen muß. Es kommt auch vor, daß ein kühner Spieler einen glücklichen Moment benutzt und eine bedeutendere Summe gewinnt. Aber wohlgemerkt! nur die großen Spieler, die große Summen riskiren, sind auch kühner. Hat ein solcher auch bedeutend verloren, so wird er wissen, daß nur ein besonderer Glücksfall seinen Verlust wieder heranbringen kann. Der kleine Spieler wird ängstlich, sobald er verloren hat, und wenn auch für ihn die günstige Wendung eintritt, er benutzt sie nicht, ihn verwirrt der Anblick der sich vor ihm häufenden Gelder, er zieht immer einen Theil zurück, und wenn der glückliche Moment vorüber ist, dann hat er kaum die Hälfte seines Verlustes wiedererlangt, während der große Spieler neben ihm sehr oft noch im Gewinne bleibt. Die kleinen Spieler gehen auch meistens an die Roulette, wo ein kleiner Einsatz auf Nummern einen ungleich höheren Gewinn bringt.

Alle diejenigen, die das Spiel kennen, taxiren es in der Weise, daß der Trente- und Quarante-Tisch gewöhnlich die Unkosten des Etablissements deckt, daß die Roulette aber, wo gerade die kleinern Spieler und besonders diejenigen, die am Sonntage nach den Bädern kommen und ihr Glück versuchen, den Reingewinn bringt. So viel ist sicher, daß am Trente und Quarante der eine oder andere Spieler bedeutende Summen gewonnen hat; zwar war dies nur „geliehenes Geld“ nach dem Spielerjargon, d. h. er verlor es später oder früher wieder; aber es war doch einmal gewonnen worden; in der Roulette gehört es schon zu den seltensten Fällen, daß ein Spieler überhaupt sein Geld nicht ganz verliert, und Fälle von Gewinnsten, wie die Garcia’s, sind an derselben geradezu unmöglich. Es ist also ganz unumstößlich wahr, daß eigentlich nur die kleineren Spieler die eigentlichen Erhalter der Bank sind.

Ich habe nun genug, vielleicht schon zu viel über das Wesen und Unwesen der Banken gesagt, ich muß nun zu dem eigentlichen Hauptpunkte gelangen, auf welchen ich den Leser schon vorbereitet habe: daß nämlich die Schmach, die Vorwürfe nach meiner Ueberzeugung Niemanden mehr treffen, als diejenigen sogenannten Räthe der Fürsten, die da genau wissen, wie es mit jenen Hölleneinrichtungen beschaffen ist, und die ihren Fürsten, sowie das Land in dem Wahne zu erhalten suchen, daß für den Aufschwung der Bäder jene Einrichtungen nöthig seien. Der Großherzog von Baden und der Herzog von Nassau eignen sich nicht einen Heller von dem Pachtertrage der in ihrem Staate bestehenden Banken zu; haben sie aber wohl eine Idee von dem Einflusse, den dieselben nicht auf die Spieler, sondern auf das Land ausüben?

Es wird wohl keiner langen Darlegungen bedürfen, um in jedem vernünftigen Menschen die Ueberzeugung festzustellen, daß die Beherbergung einer solchen Gesellschaft, wie sie in den Spielorten sich versammelt, der nothwendige Contact, in welchen die Bewohner mit ihr gerathen müssen, nicht ohne zersetzenden Einfluß auf alle Verhältnisse des bürgerlichen Lebens bleiben kann.

Zunächst unterliegt es keinem Zweifel, daß ein reeller Geschäftsbetrieb und Handel in der Umgebung einer solchen Spielhölle, je näher derselben, desto seltener, ja desto unmöglicher werden wird, weil auf das Erwerbsleben nichts gefährlicher einwirkt, als alles Haschen nach augenblicklichem und nur augenblicklich sicherem Gewinn. Mit der geschäftlichen Corruption geht dann die moralische Hand in Hand, denn das Volk, so weit es im Dunstkreise solch einer Hölle athmet, gewöhnt sich daran, einen ruinirten Spieler mit den Augen der sogenannten Employés anzusehen. „Wer hat ihn gezwungen zu spielen?“ Mit dieser Frage lernt auch das Volk nur zu bald und zu leicht sich gegen den Anblick der schauderhaftesten Folgen der Spielwuth verhärten. Wie weit aber eine solche Verhärtung der Gemüther um sich frißt, wer bestimmt die Grenze?

Ich komme auf meine frühere Bemerkung: Wenn gewisse Leute Spielbanken errichten, und Leute sich zu Dienern und Helfershelfern hergeben, so ist das ihre Sache; das haben sie mit ihrem Gewissen abzumachen, und so lange sie nichts Ungesetzliches begehen, so mag man sie in die Kategorie derjenigen stellen, die eben auf die schlechteste Leidenschaft der Menschen speculiren; man mag sie verachten, sie bei jeder Gelegenheit angreifen, ihr Gewerbe bloßstellen, die Menschen vor ihnen warnen; wenn sie sich über das Alles hinaussetzen – und sie sind darauf eingerichtet, sich über Alles hinauszusetzen, wenn sie nur brav Geld gewinnen – so kann man ihnen weiter nichts anhaben. Sie sind Fremde – denn die für das Wohl ihrer Unterthanen besorgten Regierungen verbieten ja Einheimischen sich bei der Direktion zu betheiligen[4] - sie haben also für die sittlichen und gewerblichen Verhältnisse des Landes und der Stadt, wo sie ihre Buden aufschlagen, keine Sorge zu tragen, übernehmen keine moralische Verantwortlichkeit und können sich – von ihrem Standpunkte aus – rühmen, den Wohlstand, den Luxus, ja selbst die Künste zu befördern! Die Schmach und die Schande des grauenhaften Unwesens trifft einzig und allein jene Beamten, welche als erfahrene Männer genau wissen müssen, wie es mit dem eigentlichen Wesen der Höllen beschaffen ist, welche ihre Wirkungen kennen, welche da genau zu bemessen im Stande sind, wie alle andern Theile des Landes dadurch leiden, daß man die Hauptaufmerksamkeit nur auf den einen Ort concentrirt, wo dies Spiel betrieben wird, – die da wissen, wie ganze Landestheile in Elend und Noth versunken sind, denen durch richtige volkswirthschaftliche Verwaltung aufgeholfen werden könnte, wie sie aber in Noth und Elend verbleiben müssen, weil das, was sie benöthigen, dem Glanze und dem Luxus des Spielortes geopfert wird, weil kein Capitalist Geld hergeben wird, um Ackerbau, Forstcultur und industrielle Unternehmen dort zu befördern, wo er vielleicht nur wenige Procente für sein Darlehen erhält, während er als Actionair der Bank oder als Hausbesitzer in dem Spielorte sich so leicht und sicherer großen Zinsertrag verschaffen kann – die da genau und manchmal auch selbst aus unmittelbarer Erfahrung beurtheilen können, wie es mit der Sittlichkeit, mit dem Familienleben in den Orten, wo die Spieler hausen, und in der Umgebung beschaffen ist – die da Alles genau erwägen können, und die sich dennoch nicht scheuen, den Banken ihren Schutz angedeihen und sie gegenüber den Regenten als ein zum Vortheile der Stadt bestehendes Institut erscheinen zu lassen! Was für besondere Beweggründe manchmal bei den Anschauungen jener Beamten, maßgebend wirken, darüber kann jeder Leser denken, was er will; es cursiren in den betreffenden Orten ganz curiose Gerüchte, die wir nicht vertreten möchten; es genügt, daß der Umstand einmal zur Sprache gebracht werde. Nur Eines muß hier bemerkt werden: Wenn so viele Nichtswürdigkeiten, so viele Uebelstände derartig zu Tage liegen, daß sie jeder nur einigermaßen aufmerksame Beobachter erkennen muß: wie Vieles mag wohl noch im Dunkeln verborgen sein, was nicht zur öffentlichen Kunde gelangt ist, oder was, wenn auch bekannt, doch nicht authentisch zu beweisen ist?

Die badische Regierung soll, wie man hört, den löblichen Entschluß gefaßt haben, die Spielbank in Baden aufzuheben. So sehr dieser Entschluß zu preisen ist, muß doch gleich hier bemerkt werden, daß dessen Ausführung nur den Höllen von Homburg und Wiesbaden zu Gute kommen wird. Möge der Bundestag[5] inmal der Gesammt-Angelegenheit eine größere Aufmerksamkeit als bisher widmen! Man wird freilich wieder von Verträgen reden, die nicht gebrochen werden dürfen – obwohl man in gewissen Kreisen in Deutschland eben nicht stolz auf das Halten von Verträgen sein darf – aber man könnte vielleicht Maßregeln treffen, durch welche die Wirksamkeit [256] der Banken beschränkt und den betreffenden Directionen das Geschäft von selbst verleidet werden würde.

Während dieser Aufsatz gedruckt wurde, kamen neuerdings wieder Nachrichten von Selbstmorden in Homburg. Etwas muß geschehen, damit nicht die Regierungen die ewige Schmach auf sich laden, daß sie solchen Gräueln auf deutschem Boden nicht Einhalt thun wollen, und damit ihnen nicht die moralische Mitverantwortlichkeit für dieselben allein zufällt. Aber auch die deutsche Presse muß ihre Schuldigkeit thun, und ohne Scheu vor Angriffen und Entgegnungen – auch die Gartenlaube wird diesem Schicksale nicht entgehen – immer und immer wieder auf diesen Scandal hinweisen, bis endlich die Betreffenden, von der Ehrlosigkeit ihres Handwerks gebrandmarkt, es nicht mehr wagen, auf deutschem Boden ihr nichtswürdiges Raubgebahren fortzusetzen.





Blätter und Blüthen.



Aus der Zeit der preußischen schweren Noth von 1806. So lange es der sogenannte „Civilist“ ist, in welchem der gepflegte Corpsgeist des preußischen Soldaten in Friedenszeiten ein durch die Kluft der Montur von ihm getrenntes, sogar feindliches Wesen erkennt, so lange der Soldat im Bürgerthume nicht seinen Ursprung, seinen Halt im Waffenrocke und seine Zukunft im Bürgerkleide zu ehren versteht: so lange ist es nöthig, Geschichten zu erzählen, welche von der Bürgertreue und dem Heldenmuthe preußischer „Civilisten“ zu einer Zeit zeugen, wo adelige Militairs mit wenigen, umso ehrenwertheren Ausnahmen, als Festungscommandanten Eid und Treue brachen, eine Schmach, die nur auf einen einzigen bürgerlichen Commandanten (Eickemeyer) lastet, während „Civilisten“, wie Nettelbeck und seine Kolberger, Alles opferten, um ihre Festung dem Könige und dem Vaterlande zu erhalten. Aus jener Zeit stammt auch das folgende Beispiel von treuem, bürgerlichem Opfermuthe in der äußersten Noth und Gefahr.

Nach der Schlacht bei Jena und besonders nach dem Gefechte bei Prenzlau (am 28. October) wandte sich einer der Ströme der flüchtigen Preußen und der französischen Verfolger nach dem nördlichen Brandenburg und entweder die Oder entlang oder über dieselbe hinüber nach dem jenseitigen Pommern. Als die Franzosen sich in Brandenburg festgesetzt hatten, war ihre Hauptsorge, den Flüchtigen alle Wege über die Oder abzusperren. Alle Arten von Oderfahrzeugen wurden mit Beschlag belegt und an gewissen Punkten unter französische Aufsicht gestellt; außerdem bedrohten die französischen Befehlshaber Jeden mit dem Tode, welcher zur Ueberschiffung preußischer Officiere und Mannschaften behülflich sein würde.

Damals lebte auf dem Gute Neu-Galow, zwischen Schwedt und Stolpe, der Pächter Schumacher, der zu jener Zeit kein Soldat und folglich „Civilist“ war. Jede gute Karte von Brandenburg zeigt dem Leser, daß dort eine Reihe von Hügeln an die Oder stößt; die zum Theil tief vordringenden Thäler zwischen denselben bieten namentlich während des Hochwassers, wo einzelne derselben weit hinein überschwemmt sind, ebenso treffliche Verstecke als Ueberfahrtspunkte über den Strom. An einer solchen Stelle liegt Neu-Galow, das, als einzelnes Vorwerk auf den damaligen Karten nicht verzeichnet und durch seine Lage hinter den mit Gebüsch bedeckten Hügeln und abseits von den großen Verkehrswegen den Späheraugen der Feinde verborgen, damals ein Zufluchtsort für alle Nachbarn ward, welche der Schreckensruf: „Die Franzosen kommen!“ von Haus und Hof getrieben. Insbesondere wurde aber dieser Schlupfwinkel bald von den flüchtigen preußischen Officieren, welche sich in der Uckermark verborgen hielten, ausgekundschaftet, und von diesem Augenblick an begann hier eine großartige allnächtliche Thätigkeit. Schumacher, der seine Kähne nicht, wie öffentlich in dieser Gegend befohlen war, nach Schwedt abgeliefert, sondern versenkt hatte, machte sie nun wieder flott und beförderte mit seinen Leuten und unterstützt von der ihm treu ergebenen angrenzenden Fischergemeinde zu Stützkow fast jede Nacht Häuflein von Officieren sammt deren Burschen und Pferden über die Oder an das jenseitige Ufer der Neumark, die damals noch nicht von den Franzosen besetzt war und von wo sie, durch die großen Waldungen gedeckt, nach Kolberg eilten, das unter Gneisenau, Schill und Nettelbeck den Franzosen den preiswürdigsten Widerstand leistete.

Auf diesem Wege waren bereits mehrere Hundert Officiere für den preußischen Kriegsdienst gerettet worden; Schumacher hatte sie, die meist von Hunger und Strapazen erschöpft angekommen waren, mit Nahrung gestärkt, mit Wäsche und Reisegeld versehen, und von vielen schon war er mit der dankbaren Benachrichtigung über ihre glückliche Ankunft in Kolberg erfreut worden. Da langte eines Abends ein Major von Witzleben (später Flügeladjutant Friedrich Wilhelm's III.) mit mehreren anderen Officieren an. Sie waren der Pflege so bedürftig, wie alle ihre Vorgänger, und sollten erst am Morgen übergefahren werden. Alles begab sich daher zeitig zur Ruhe. Nach Mitternacht weckte jedoch ein Officierbursche Schumacher mit der Nachricht, daß einer der Burschen, ein Pole, mit des Majors Epauletten und goldener Uhr desertirt sei, wahrscheinlich um den Franzosen in Schwedt diese Ueberfahrtsstelle zu verrathen.

Schumacher rief sofort die Schläfer aus ihrer Ruhe auf und rüstete zur Ueberfahrt. Als das Boot vom Ufer stieß, stieg er auf eine nahe Anhöhe, auf welcher er aus einer hohlen Eiche sowohl die Ueberschiffung seiner Schützlinge, als auch die zum Gute führenden Wege zu beobachten pflegte. Der Morgen brach bereits an, und kaum oben angelangt, hörte er aus der Ferne den Ruf: „Die Franzosen kommen!“ Er eilt nach seiner Wohnung, anfangs zur Flucht entschlossen, aber auch sogleich von der Unmöglichkeit derselben überzeugt, dem, die Franzosen waren rasche Verfolger. Schon hatten 50 Mann Reiterei alle Wege, Höhen und Thäler rings um das Gehöfte besetzt, und 100 Mann Infanterie unter der Führung eines Obersten nebst einem Generalauditeur rückten auf den Hof.

Sofort arretirt und in’s Verhör genommen, leugnete natürlich Schumacher, daß Preußen am Orte seien. Der kurze Bescheid, der ihm hierauf ward, lautete jedoch, daß, wenn man nur eine Spur des Feindes finde, man ihn erschießen und das Gut plündern und niederbrennen werde. Ein Corporal ward beordert, den Gefangenen von sechs Mann in die Mitte nehmen und vor das nächste Scheunenthor führen zu lassen. Dort luden diese vor seinen Augen die Gewehre, spannten die Hähne und hielten im Halbkreise die Bajonnete ihm entgegen, während ein anderes Commando die Durchsuchung des Wohnhauses und aller Wirthschaftsgebäude begann. Schumacher stand da – „ein aufgegebener Mann“. Er war seines Todes gewiß, denn ein Preuße in Uniform befand sich noch im Hause, ein Officierbursche, der von einem früheren Flüchtlingstrüppchen krank zurückgelassen worden war. Nur ein Wunder konnte dem Schergeneifer und der Spürfähigkeit der französischen Soldaten den einträglichen Fund entziehen. Schumacher’s Gattin wurde gezwungen, den die Visitation leitenden Officier zu führen, alle Thüren und Thore, Kisten und Kasten zu öffnen; alle Winkel wurden durchstöbert, Stroh und Heu, Kleider und Wäsche mit Bajonnet und Säbel durchstochen, vom Keller bis in die Schornsteine hinauf erstreckte sich die Untersuchung. Die Aussicht auf die Plünderung der stattlichen Habe spornte den Eifer der Soldateska mit jedem Schritt.

Während Schumacher am Scheunenthore den Tod erwartete und seine Gattin an der Spitze der Häscher unsägliche Pein der Angst litt, vor jeder Thür neu erbebte, vor jedem Laken zitterte, denn mit jedem Augenblick konnte der kranke Preuße gefunden werden und Tod und Verderben über ihr Alles bringen – hatte die Kunde: „die Franzosen in Neu-Galow!“ sich wie ein Lauffeuer in der ganzen Nachbarschaft verbreitet, und sie rief einen „Freund in der Noth“ herbei. Bei der damals von den Franzosen in Schwedt organisirten Gensd’armerie befand sich auch ein Freund Schumacher’s. Dieser, eben auf einer Patrouillirung begriffen, hat kaum die Schreckensnachricht vernommen, so sprengt er nach dem Vorwerk Alt-Galow, das etwa einen Büchsenschuß von Neu-Galow entfernt ist, ruft im Vorbeireiten den dort wohnenden Tagelöhnerfamilien zu: „Reißt aus, die Franzosen kommen!“ und stürmt weiter nach Neu-Galow. Hier sofort dem commandirenden Obersten gemeldet, überraschte er diesen mit der Notiz, daß nicht in Neu-, sondern in Alt-Galow Preußen übergesetzt seien, und überzeugte den Officier von dem Irrthum, der hier obwalte, wenigstens so weit, daß dieser die weitere Nachforschung einstellen, Schumacher aus seiner qualvollen Lage erlösen ließ und ein Commando nach Alt-Galow beorderte, das natürlich dort keine menschliche Seele mehr vorfand. Nach nochmaligem Verhör und strenger Vermahnung Schumacher’s marschirte die Executionsmannschaft wieder ab; doch wurde eine starke Einquartierung zurückgelassen, welche auf dem Hofe unentgeltlich verpflegt werden mußte.

Der kranke Officierbursche, dessen Leben so viel Todesangst gekostet, kam, als die Einquartierung zur Ruhe gebracht war, aus seinem Schlupfwinkel hervor, und zwar aus einem Zimmer, welches der Feind ebenfalls durchforscht hatte. Er, wie noch mancher brave preußische Officier, wurde, trotz aller französischen Einquartierung, nächtlicher Weile gestärkt und über die Oder geführt, und Schumacher’s höchste Genugthuung für solchen Opfermuth war die, daß der edle Gneisenau selbst es für seine Pflicht hielt, dem wackeren Pächter von Neu-Galow für die vielen tüchtigen Männer zu danken, die er für das bedrängte Kolberg und für den fernern Dienst des Königs gerettet habe.

Das waren Tage der Bürgerbegeisterung im Kampfe gegen fremden Uebermuth; es muß zwischen Waffen- und Bürgerrock Vieles besser, viel einheimischer Uebermuth getilgt werden, wenn die nächste schwere Noth etwas Besseres im Volke finden soll, als – dem soldatischen Separatgeiste gegenüber – das Zerrbild einer Civilistenbegeisterung.

F. H.




Adam Lux’s Tochter. Aus authentischer Quelle erhalten wir von Nürnberg nachstehende Mittheilung: Es wird Sie die Mittheilung interessiren und erfreuen, daß der Artikel in Nr. 46 d. Gartenl. von 1861: „Von einer alten Dame. Eine Erinnerung vom Sängerfest in Nürnberg“, für die ehrwürdige Tochter des Adam Lux aus Mainz nicht ohne günstige Rückwirkung geblieben ist; denn nicht nur lebt die Frau Meier, geborene Lux, nicht mehr in jener völligen Zurückgezogenheit, deren jener Artikel erwähnt, sondern es hat auch derselbe der edeln Matrone die Kreise einer Familie in ihrer Nachbarschaft eröffnet, deren Mitglieder liebend bestrebt sind, die Tage der Greisin durch persönlichen Verkehr möglichst zu erheitern, sodaß dieselbe nunmehr von der Theilnahme treuer Freunde umgeben ist.

Aber auch in weiteren und noch höheren Kreisen ist Ihr Artikel nicht ohne Beachtung geblieben, denn es hat derselbe auch die Aufmerksamkeit der Kaiserin desjenigen Reiches auf die „alte Dame“ geleitet, in welchem das Haupt des Adam Lux vor mehr als sechzig Jahren für eine edle That gefallen ist, welche die Tochter zur Waise machte.



Kleiner Briefkasten.

Für Wilhelm Bauer's „deutsches Taucherwerk“ sind ferner, bis zum 7. April eingegangen: 1 Thlr. von C. W. U. in Leipzig; 5 Thlr. von J. Hamm in Tiegenhof; 1 Thlr. von G S. in Schwemmingen; 1 Thlr. 201/2Sgr. vom Gewerbeverein zu Döbeln; 1 Thlr. durch L. in Glauchau; 1 Thlr. 20 Sgr. durch Schmale u. Comp. in Schwerin; 1 Thlr. von einigen Freunden der Erfindung in Johanngeorgenstadt; 1 Thlr. von K. in Heidelberg; 4 Thlr. von Albert Klingner in Magdeburg; 12 Thlr. vom Leseverein in Landstuhl (baier. Pfalz); 1 Thlr. von N. N.; 5 Thlr. von der Gesellschaft Saxonia in Meerane.


  1. Auszugsweise aus des Verfassers demnächst bei F. A. Brockhaus erscheinenden „Erinnerungen aus dem heiligen Lande“.
  2. Holzschnitt aus der xylographischen Anstalt von F. A. Brockhaus.
  3. So heißen die an den Spieltischen angestellten Leute, welche theils am Trente und Quarante die Kartenpoints, an der Roulette die Nummern annonciren, theils die Gewinnste auszuzahlen und die Gelder einzuziehen haben. Das Wort Croupier stammt von croupe, was früher eine Sportel bei der Steuereinnahme. später einen Antheil an einem Geschäfte bedeutete. Die Herren nennen sich aber „employés“
  4. Auch an der Bank zu spielen. Wenn sich der Wiesbadener ruiniren will, muß er nach Homburg gehen, und umgekehrt.
  5. Sonderbarer Schwärmer! D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: schielenden