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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 51.   1861.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Christnacht.

Was macht der Arme in dieser Stunde?
Wenn rings die Häuser sich erhellen,
Wenn Glückliche im Herzensbunde
Sich zu einander froh gesellen;
Wenn um den festlich grünen Baum
Sich Kinderschaaren jauchzend drängen,
Und von den Zweigen wie im Traum
Die gold’nen Früchte niederhängen;
Wenn heil’ger Christ in lichten Sälen
Mit reichen Gaben, nicht zu zählen,
Als gütig spendender erscheint:
– Er weint, er weint!

Was macht der Arme in dieser Stunde?
Den auch mit Hoffnungen durchdrungen
Von dem Erlöser jene Kunde,
Die ihm in’s Herz hineingeklungen;
Wenn in der Stube, kalt und eng,
Die Kinder hungrig Brod begehren,
Und er nicht kann als Christgeschenk
Der Brut ihr Futter fromm bescheeren.
Hab’ ich, ein Ausgestoßner, Böser,
An meinem göttlichen Erlöser
Statt eines Helfers einen Feind?
– Er weint, er weint!

Was macht der Arme in dieser Stunde?
Die Mutter sitzt beim Kind’ am Bette,
Gebete zieh’n aus ihrem Munde
Mit Wiegenliedern um die Wette;
Sie denkt nicht an die helle Pracht,
Die wie ein Strom, der ausgetreten,
Sich leuchtend hinwälzt durch die Nacht;
Sie glaubt und hört nicht auf zu beten:
„Gieb Du, o Herr, dem kranken Kinde
Ein segenreiches Angebinde,
Wie immer Deine Huld es meint“ –
– Er weint, er weint!

Was macht der Arme in dieser Stunde?
O daß ihn Lindrung überkäme,
Daß jede Schuld und jede Wunde
Von ihm ein starker Tröster nähme!
O würde ihm ein frommer Christ
Vermittelnd hülfreich zugesendet,
Der sanft von ihm zu dieser Frist
Das angeerbte Uebel wendet,
Damit er ohne Neid und Grauen
In alle Fenster könnte schauen,
Mit Glücklichen versöhnt, vereint –
– Er weint, er weint!

Paris.

Sigmund Kolisch.


Auf Regen folgt Sonnenschein.

Aus dem Tagebuche eines Arztes.

Während der großen Typhus-Epidemie, welche im Jahre 1847 in Oberschlesien wüthete, lebte ich als Arzt daselbst in einer mittleren Kreisstadt. Als solcher erhielt ich von Seiten der Regierung den Auftrag, die Behandlung mehrerer benachbarter von der Krankheit heimgesuchter Dörfer zu übernehmen. Bald reichte indeß meine eigene Kraft nicht mehr aus, und ich sah mich genöthigt, um Unterstützung zu bitten. Dieselbe wurde mir in der Person eines jungen Mediciners gewährt, der erst seit kurzer Zeit die Universität verlassen hatte und in die Praxis getreten war. Bei der ersten Nachricht von jener furchtbaren Epidemie war der Doctor Brand herbeigeeilt und hatte freiwillig, wie so viele tüchtige Männer, sich zu der keineswegs gefahr- und mühelosen Stellung gemeldet. Er wurde natürlich nicht zurückgewiesen und mir zugetheilt, um mich in meinem schweren Berufe zu unterstützen. Mit Freuden empfing ich den frischen, jugendlichen Gehülfen, um so mehr, da ich nach einer kurzen Unterhaltung schon an ihm eine tüchtige wissenschaftliche Bildung, mit vieler Bescheidenheit verbunden, entdeckte. Er war voll Eifer und von der größten Liebe für seine Kunst und für die leidende Menschheit erfüllt; deren bedurfte es aber mehr als je in jener für mich so schrecklichen, aber unvergeßlichen Periode.

Ich hatte die Pflicht, meinen Collegen in seinen neuen Wirkungskreis einzuführen und ihn mit den eigenthümlichen Verhältnissen der Epidemie und der Kranken bekannt zu machen. Dies [802] that ich, während wir im Wagen saßen und nach dem nächsten Dorfe, wo der Typhus herrschte, auf grundlosen Wegen fuhren.

„Sie verzeihen,“ sagte ich ihm, „daß ich ein wenig den Mentor bei Ihnen spiele, indeß berechtigt mich dazu die langjährige Erfahrung und eine genaue Kenntniß des Landes und seiner Bewohner. Ich muß Sie auf Dinge vorbereiten, von denen sich unsere Kathederweisheit nichts träumen läßt. Sie werden Zustände kennen lernen, welche wahrhaft herzzerreißend sind, und es gehört viel Muth und Selbstverleugnung dazu, um all die Schwierigkeiten, die physischen und geistigen Anstrengungen und den Widerstand, welcher sich unserem Wirken entgegenstellt, zu ertragen. Wir haben es nicht nur mit einer entsetzlichen Krankheit zu thun, sondern auch mit einer vollkommen vernachlässigten, durch Hunger erschöpften und in jeder Beziehung verkommenen Bevölkerung. Außerdem stoßen wir noch häufig auf allerlei Vorurtheile, zumeist religiöser Natur. Die Bewohner des Landes gehören fast ohne Ausnahme dem katholischen Glauben an und befinden sich gänzlich in den Händen einer ultramontanen Geistlichkeit.“

„Ich habe bereits viel von dem Einflusse dieser Herren gehört,“ entgegnete mein Reisegefährte, der aus einer protestantischen Gegend und Familie stammte.

So bemühte ich mich, ihm ein getreues Bild von den Verhältnissen des Landes und besonders von der herrschenden Epidemie zu entwerfen und ihn auf die Scenen vorzubereiten, welche ich aus eigener Anschauung bereits kannte. Unterdeß bewegte sich der Wagen in dem aufgeweichten Lehmboden nur langsam vorwärts. Zuweilen schien es, als ob die Pferde nicht weiter kommen sollten; vergebens strengten sie ihre Kraft an, und mein alter Kutscher war genöthigt, von der Peitsche einen mir keineswegs angenehmen Gebrauch zu machen. Endlich erblickten wir die ersten Häuser oder vielmehr Hütten des Dorfes. Ich ließ den Wagen vor der Schenke halten, welche, wie gewöhnlich in Oberschlesien, einen Juden zum Wirthe hatte. Derselbe begrüßte uns mit der diesem Volke hier eigenen, fast knechtischen Höflichkeit. Er klagte über die schlechten, traurigen Zeiten und führte uns in die Stube, wo wir an dem Ofen unsere erstarrten Glieder einstweilen aufthauten. Sein Bericht über die Fortschritte der Krankheit lauteten eben nicht sehr tröstlich; mehr als die Hälfte der Einwohner lagen am Typhus schwer darnieder.

„Ach! Herr Doctor,“ seufzte der zuthunliche Israelite, „Sie wissen gar nicht, was sich hier thut. Es ist ein Jammer, der sich gar nicht beschreiben läßt. Die Leute sterben wie die Fliegen hin, und was das Schlimmste ist, sie haben nichts zu beißen und zu brechen. An all dem Unglück sind aber nur die Mäßigkeitsvereine schuld. So lange die Bauern Schnaps getrunken haben, wußten sie von keiner Krankheit; seitdem ihnen aber die Geistlichen den Eid abgenommen haben, keinen Schnaps mehr zu trinken, gehen sie am Typhus zu Grunde. Der Bauer muß seinen Branntwein haben, sonst kann er nicht bestehen.“

Der Schenkwirth sprach mit der vollsten Ueberzeugung diese Meinung aus, welche ihm der Egoismus eingab. Leider mußte ich ihm einigermaßen Recht geben, da der Branntwein dem oberschlesischen Bauer zu einem nothwendigen Reizmittel geworden war und die plötzliche, fast gänzliche Entsagung des gewohnten Genusses in Folge der oft nur durch religiöse Zwangsmittel eingeführten Mäßigkeitsvereine unter den einmal vorhandenen Verhältnissen fast mehr Schaden als Nutzen stiftete. Mein junger College war nicht wenig erstaunt, daß ich den eigennützigen Ansichten des Juden beipflichtete. Ich hatte indeß keine Zeit, ihm die Gründe für meine Behauptung auseinander zu setzen, da der indeß herbeigerufene Ortsvorstand mit seiner sogenannten Ordonnanz eintrat. Der Voit oder Schulze des Dorfes war ein alter, elwas stumpfer Mann, dessen Aeußeres keineswegs seine Würde und Stellung als oberste Magistratsperson erkennen ließ. Er trug einen alten, schmutzigen Schafspelz, in welchem seine nicht allzu imposame Gestalt sich fast verlor. Ein fuchsiger, abgeriebener Filz mit flachem Deckel bedeckte sein Haupt, das die charakieristischen Merkmale des slavischen Typus, besonders die breiten, hervorstehenden Backenknochen aufzuweisen hatte. In der Hand hielt er den großen Stock mit dem dicken Knopf, das Zeichen seines Amtes. Auf mein Befragen antwortete er in einem wunderlichen Mischmasch von deutschen und polnischen Worten mit steter Verwechselung des männlichen und weiblichen Artikels über die Zahl der Kranken und über die Fortschritte des Typhus in seinem Dorfe. Sein Bericht war nur äußerst mangelhaft und mußte ihm mit Mühe und Noth abgepreßt werden. So viel ging indeß daraus für mich hervor, daß die Epidemie schon seit längerer Zeit hier wüthete und so gut wie gar nichts geschehen war, um ihren verheerenden Fortschritten Einhalt zu thun. Ich forderte den Schulzen auf, uns zu begleiten und die einzelnen Häuser namhaft zu machen, worin sich die Kranken befanden. Er wies diese Zumuthung mit allen Zeichen der Furcht und des Entsetzens zurück und gab der herbeigerufenen Ordonnanz den Auftrag, uns an seiner Stelle als Führer zu dienen. In Begleitung des noch jungen und, wie es schien, sehr bereitwilligen und aufgeweckten Burschen traten wir unsere ärztliche Wanderung an. Dieselbe war mit mannigfachen Schwierigkeiten verbunden. Das Dorf zog sich länger als eine halbe Stunde hin, und die einzelnen Wohnungen und Gehöfte lagen durch Gärten, Felder und unbebaute Strecken von einander getrennt. Der Boden war durch den vorangegangenen Regen und das Schmelzen des Märzschnees im höchsten Grade aufgeweicht, so daß wir mehr als einmal in Gefahr geriethen, unser Schuhwerk in dem zähen, flüssigen Moraste stecken zu lassen. Der schmale Fußpfad, welcher von einem Hause zu dem andern führte, wurde häufig durch Lachen und Pfützen unterbrochen und vollkommen unzugänglich gemacht. Das Dorf selbst gewährte den traurigsten Anblick, den man sich denken kann; verfallene Hütten, eingestürzte Mauern, zerbrochene Zäune stießen uns bei jedem Schritte auf.

Nirgends zeigte sich eine Spur von Leben, Alles schien wie ausgestorben. Wir hörten weder das eintönige, aber doch so wohlthätige Klappern der Dreschflegel, diese echte Dorfmusik, welche laut und schon von fern die segensreiche Arbeit des Landmanns zu verkünden pflegt, noch sahen wir irgend ein Zeichen menschlicher Thätigkeit. Auf dem ganzen Wege begegneten wir nur einem alten Mütterchen, das uns scheu und verwundert nachstarrte. So erreichten wir eine der elenden Hütten, in welcher nach der Aussage des Burschen einige Typhus-Kranke liegen solllen. Das Haus war von Holz gebaut und mit Stroh gedeckt; mit der Hand konnten wir bequem das zerfallene, mit Moos bewachsene Dach erreichen. Die blind angelaufenen Fenster, nicht viel größer als eine gewöhnliche Laternenscheibe, ließen kaum einen Sonnenstrahl in die dumpfe Stube fallen. Die Thür, durch welche ein erwachsener Mann nur gebückt hindurchschreiten konnte, war verschlossen und von innen fest verriegelt. Lange pochten wir vergebens, bis uns aufgethan wurde. Eine Jammergestalt mit bleichen Wangen und eingefallenen Augen wankte uns entgegen. Augenscheinlich war der Mann erst vor Kurzem von einer schweren Krankheit genesen und noch so schwach, daß ihn seine zitternden Glieder kaum zu tragen vermochten. Unser Anblick setzte ihn in Erstaunen und rüttelte ihn aus seinem apathischen Zustande auf. Wir waren sicherlich die ersten Menschen wieder, welche er seit Wochen zu Gesicht bekam. Sein Erinnerungsvermögen schien gelitten zu haben, und er mußte sich besinnen. Er machte mit der abgezehrten Hand eine abwehrende Bewegung und winkte uns, uns zu entfernen.

„Geht!“ ries er in dem polnischen Idiom jener Gegend. „Geht schnell fort, denn hier ist die große Krankheit.“

Mit diesem Namen belegte der Bauer den Typhus, den er soeben erst überwunden hatte. Es lag für mich etwas unendlich Rührendes in dieser Sorge, welche der Aermste für unsere Gesundheit zeigte. Er wollte uns vor der Ansteckung behüten, der er selbst mit seiner Familie erlegen war. Der polnische Bauer besitzt neben manchen Fehlern, welche mehr in den Verhältnissen als in seinem Charakter liegen, eine angeborene Gutmüthigkeit und Menschenfreundlichkeit. Ich erklärte ihm, daß ich und mein College keine Furcht hätten, daß wir gekommen wären, um ihm und den Seinigen ärztlichen Beistand zu leisten. Stumpf und ungläubig schaute er uns an, denn die Hoffnung auf menschliche Hülfe war in den armen Leuten schon längst erstorben. Erst unsere wiederholte Versicherung und der Anblick der uns beigegebenen Ordonnanz, welche sich indeß wohlweislich aus Furcht vor der Ansteckung so fern als möglich hielt, erweckte sein Vertrauen, so daß er uns einzutreten bat.

Der Anblick, welcher sich uns hier darbot, wird mir ewig unvergeßlich bleiben. Auf dem schwarzen Lehmboden und auf faulem Stroh lagen sechs Personen in allen Stadien der Krankheit, fast nackt, nur mit schmutzigen Lumpen bedeckt. Hier starrte uns ein junges und trotz der Verwüstung des Typhus noch immer schönes Mädchen mit stumpfen Blicken an und murmelte unverständliche Worte mit den verdorrten, aufgesprungenen Lippen; dort [803] zupfte die ältere Schwester im Zustande vollkommener Bewußtlosigkeit an der durchlöcherten Decke und trieb jenes verdächtige, krampfhafte Spiel der Hände, welches nur zu häufig dem tödtlichen Ende voranzugehen pflegt. Zwei Kinder kauerten mit brennenden Wangen und eingefallenen Augen unter einem alten, zerrissenen Mantel. Doch das schrecklichste Schauspiel wartete noch unser. Mitten in diesem Knäul von Kranken und Sterbenden, von Jammer und Elend entdeckten wir eine – Leiche, den leblosen Körper der Mutter. Die Todte ruhte unter den Lebenden, weil Keiner der Angehörigen die Kraft besaß, sie aus dem Hause und auf den Kirchhof zu schaffen. Mit Thränen in den Augen antwortete der Bauer auf unsere Fragen.

„Niemand hat unsere Schwelle seit dem Ausbruch der Krankheit in meinem Hause überschritten. Alle fürchten sich vor der Ansteckung, und Keiner zeigte sich, um uns zu helfen. Meine arme Frau ist gestorben, und ich bin nicht im Stande, sie fortzuschaffen, weil ich mich selber noch zu schwach fühle. Wenn sich der liebe Gott nicht unser erbarmt, so müssen wir noch Alle zu Grunde gehen.“

Mein junger College versprach ihm, schon morgen wieder zu kommen und nach dem Befinden der Patienten zu sehen. Außerdem übernahmen wir die Sorge für das schleunige Begräbniß der Leiche, auch bewilligten wir ihm aus dem uns zu Gebote stehenden Unterstützungsfond eine kleine Geldsumme und die zweckmäßigen Nahrungsmittel, Reis, Gries und Kartoffeln. Wir konnten den dankbaren Bauer nicht verhindern, daß er uns nach slavischer Sitte die Hände küßte. Von seinen Segenswünschen begleitet entfernten wir uns, um noch die übrigen vorhandenen Kranken zu besuchen und ihnen Hülfe zu bringen. Dieselben Scenen wiederholten sich in den meisten Hütten. Wir fanden fast überall dieses grauenhafte Gemisch von Hunger und Krankheit, von Noth und Fieber, von Schmutz und Elend. Kinder und Greise, Männer und Frauen, sterbende und nur leicht Erkrankte lagen in ein und demselben mephitischen und durch Unreinlichkeit verpesteten Raume, der noch häufig nebenbei zum Viehstall diente und bald von einer brüllenden Kuh, bald von einem grunzenden Schwein getheilt wurde. Kein Fenster konnte geöffnet werden, um frische Luft hineinzulassen, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil die Fenster nur aus einer einzigen, fest eingefügten Scheibe bestehen. Auf dem Heerde und in dem Ofen brannte trotz der empfindlichen Kälte kein Feuer, und die meisten Kranken zitterten vor Frost unter ihrer dünnen Decke von Lumpen. Die Wenigen, welche von der Epidemie verschont geblieben waren, erschienen uns halb verhungert, vollkommen apathisch und außer Stande, den Kranken zu helfen. Ueberall herrschte ein Jammer, der sich nicht beschreiben läßt, und ein Elend, das alle Begriffe überstieg. Mehr als einmal traten meinem jüngeren Collegen, die Thränen in die Augen, und obgleich ich an ein derartiges Schauspiel schon mehr gewohnt war, so wurde ich doch nicht weniger tief davon ergriffen.

„Ist es möglich,“ rief mein Begleiter erschüttert aus, „daß so viel Elend über diese armen Menschen kommen kann? Was haben sie gethan, um solche Leiden zu verschulden? Man möchte an der Güte Gottes und an der Weisheit der Vorsehung verzweifeln.“

Angesichts der eben durchlebten schauderhaften Scenen fand ich eine derartige Aeußerung natürlich, obgleich ich anderer Meinung war.

„Solche Prüfungen,“ sagte ich beschwichtigend, „sind oft für den Einzelnen, wie für die Gesammtheit eben so nothwendig, als heilsam. Das Glück und der Wohlstand wiegen uns nur zu häufig in eine geistige Unthätigkeit und geben uns nur selten Gelegenheit, unsere besseren Triebe und Eigenschaften zu entfalten. Zur Zeit der Noth und besonders am Krankenbette zeigt sich die menschliche Natur in ihrem schönsten Lichte. Das Mitleid erwacht, die Opferfähigkeit steigen sich, und eine wohlthätige Erschütterung ergreift uns. Das Herz trägt über den egoistischen Verstand den Sieg davon, und die Humanität feiert ihre schönsten Triumphe. Einen neuen Beleg für meine Behauptung legt diese Typhus-Epidemie selber ab. Sobald der Schrei um Hülfe in den Zeitungen ungeachtet der strengen Censur ertönen durfte, regte sich nicht nur in Preußen, sondern in ganz Deutschland die lebendigste Theilnahme. Ueberall bildeten sich Vereine, wurden Kleider, Decken und Geld gesammelt, ansehnliche Summen zusammengebracht. Männer aus den höchsten Ständen rissen sich von ihren Familien und aus dem Schooße der Behaglichkeit los, um an Ort und Stelle Erkundigungen einzuziehen, eigene Anschauungen zu gewinnen, wie am schnellsten und am besten zu helfen sei. Diese Männer scheuten weder Mühe noch Anstrengung, fürchteten weder Ansteckung noch den Tod, dem sie zum Theil entgegen gingen. Sind Sie nicht selbst, lieber College, von einem ähnlich edlen Motiv geleitet, hierher geeilt, um mich in meinem schweren Beruf zu unterstützen und den armen Kranken beizustehen? Wir wollen nicht die Vorsehung anklagen, sondern unsere eigene Natur, welche oft zur Erfüllung ihrer Pflicht durch schreckliche Ereignisse aufgerüttelt werden muß.“

Mein junger Freund schien keineswegs überzeugt und schüttelte ungläubig den Kopf. Aus mancher früheren Aeußerung war ich wohl zu dem Glauben berechtigt, daß er, wie so viele jüngere Aerzte, einer materialistischen Weltanschauung huldigte, die jetzt immer mehr um sich zu greifen droht. Ohne mich auf einen philosophischen Streit mit ihm einzulassen, begnügte ich mich lediglich mit einigen Andeutungen, aus dem leider reichen Schatz meiner Erfahrungen geschöpft.

„Glauben Sie mir,“ fuhr ich ruhig fort, „das Krankenbett ist in seiner Art eine hohe Schule nicht nur für den Arzt, sondern auch für den Menschen. Wir lernen daselbst die bessere Natur desselben kennen. Wie viel Aufopferung, Liebe und Hingebung hab’ ich an dieser traurigen Stätte gefunden, welche sich häufig in einen Altar verwandelt und in überirdischer Glorie strahlt! All die Schlacken des Daseins schmilzt oft die Krankheil fort, und es bleibt nur das reine, echte Gold der Menschlichkeit zurück. Der Egoismus verschwindet, der Haß oder die Gleichgültigkeit weichen der besseren Neigung, und das eingewurzelte Vorurheil kann sich nicht länger behaupten. Was bei einem oberflächlichen Anblick als eine Ungerechtigkeit des Schicksals, ein blindes Ungefähr erscheint, erweist sich bei genauerer Prüfung als eine Wohlthat, als das höhere Walten einer göttlichen Vorsehung.“

Während wir in dieser Weise unsere Gedanken austauschten, an die nächsten Erscheinungen anknüpfend, gelangten wir allmählich zu der Schenke zurück, wo der Wagen unser wartete. Hier fanden wir einen Boten des Gutsherrn, der, von unserer Anwesenheit unterrichtet, uns ersuchen ließ, auf das ihm zugehörige Schloß zu kommen, um einige erkrankte Diener in Augenschein zu nehmen und die nöthigen Anordnungen zu treffen. Ich leistete dieser Einladung um so lieber Folge, da ich zugleich meinen Collegen dem Gutsherrn vorstellen wollte, mit dem er jetzt vielfach in Berührung treten mußte. Das Schloß lag fast am Ende des Dorfes auf einer kleinen Anhöhe. Trotz der ganghaften Benennung war es nichts mehr und weniger als ein ganz gewöhnliches, zweistöckiges Wohnhaus mit Schindeln gedeckt. Rings herum erstreckten sich die verschiedenen Wirthschaftsgebäude, Ställe und Dienerwohnungen, welche einen großen Hofraum umschlossen. Hier trafen wir den Herrn, welcher von Prodschintzky hieß und als Muster eines echten oberschlesischen Gutsbesitzers gelten konnte. Sein rothes, aufgedunsenes Gesicht, durch einen grauen Schnurrbart geziert, verrieth ein wunderliches Gemisch von Derbheit und Schlauheit, von Rohheit und Gutmüthigkeit. In seinem Benehmen verband er oft die Manieren eines Bauern mir dem aristokratischen Stolz eines Edelmanns aus alter Zeit. Was ihm an Bildung mangelte, ersetzte er durch eine gute Dosis von gesundem Menschenverstand. In der Unterhaltung bemühte er sich zuweilen, den Schimmer einer besseren Lebensart zu zeigen und Reminiscenzen aus der Zeit aufzutischen, wo er sich zuweilen in feinerer Gesellschaft bewegt und den Cavalier gespielt haben mochte. Man sah ihm jedoch den auferlegten Zwang an und hatte ungefähr dieselbe Empfindung wie beim Anblick eines tanzenden Bären. Weit mehr konnte Einem sein natürliches Benehmen gefallen, dem es nicht an einem gewissen humoristischen Anstrich fehlte. Wir trafen diesen Herrn von Prodschintzky mitten unter einem Schwarm von Bettlern und Krüppeln aller Art. Nie glaubte ich eine ähnliche gebrechliche und verkommene Versammlung gesehen zu haben. Die armen Leute hielten in ihren Händen Töpfe, Krüge und oft auch nur Scherben, welche nach der Reihe aus einem großen, dampfenden Kessel mit einer trüben Brühe gefüllt wurden. Diesen Inhalt schlürften sie sogleich gierig nieder, ohne sich erst Zeit zur Abkühlung zu lassen. Außerdem erhielt jeder der Anwesenden noch eine ziemlich große Fleischportion, welche eben so hastig in unserer Gegenwart verzehrt wurde. Ich drückte dem Gutsbesitzer meine Anerkennung für diese Speisung seiner hungernden Angehörigen aus.

„Ist nur Pferdefleisch,“ raunte er mir lachend in’s Ohr. [804] „Habe altes Pferd gehabt, zu nichts mehr nutz, und das schlachten lassen; schmeckt aber gut und thut dasselbe Dienst.“

Mit diesen Worten ergriff Herr von Prodschintzky meinen Arm und führte uns, nachdem ich ihm meinen Collegen vorgestellt hatte, in seine Wohnung. Der Hausflur war mit Ziegeln gepflastert, welche, hier und da ausgebrochen oder durch die Länge der Zeit abgenutzt, gefährliche Schlünde und Abgründe, wahrhafte Fallen für unsere Füße bildeten. Aus der halbgeöffneten Küche drang uns der feuchte Dunst von allen möglichen Gerichten für Mensch und Vieh entgegen. Hier antichambrirte auch die zahlreiche Dienerschaft, deren Livree oft nur in einem schmutzigen Hemde und grauen Leinwandhosen bestand, die nothdürftig durch eine Hanfschnur oder einen Ledergürtel zusammengehalten wurden. In dem Wohnzimmer selbst fanden wir eine wunderliche Mischung von altväterischem Hausrath und modernen Möbelstücken, von wurmstichigen Schränken und verschossenen Gardinen, welche höchst seltsam mit den neuen Rohrstühlen und dem Cylinderbureau von Mahagony contrastirten. Zwischen alten, nachgedunkelten Familienportraits hingen schlechte Steindrucke in Goldrahmen, wie man sie auf Jahrmärkten für wenige Groschen zu kaufen pflegt. Von der Wand schaute ein Crucifix und das Bild der Jungfrau Maria hernieder, umgeben von einem weißen, mit bunten Bändern durchflochtenen Kranz. Mehrere Gewehre, Peitschen und Pferdezäume vollendeten die charakteristische Ausstattung des Zimmers. Mit der bekannten oberschlesischen Gastfreundschaft nöthigte uns unser Wirth zum Niedersitzen. Bald erschien das Factotum des Hauses, das in einer Person die Stellung eines Haushofmeisters, Kellermeisters, Aufsehers und Bedienten vereinigte, mit dem unausbleiblichen Ungarwein. Das feurige Getränk behagte uns nach der ausgestandenen Kälte und den Strapazen um so besser. Wir bedurften in der That der Stärkung, da wir uns erschöpft fühlten, und ließen uns deshalb nicht besonders nöthigen. Beim Glase Wein besprachen wir noch einmal die eben durchlebten schauderhaften Scenen. Herr von Prodschintzky war keineswegs ein empfindsamer Mann und die Sentimentalität gewiß nicht seine schwache Seite, aber unser Bericht schien doch einigen Eindruck auf ihn zu machen. Freiwillig erbot er sich, meinem jungen Collegen eine Wohnung auf seinem Schlosse einzuräumen, damit dieser in der Nähe seiner Patienten bleiben und sie so besser beobachten und verpflegen könnte. Dieses Anerbieten wurde natürlich dankbar angenommen, und ich war um so mehr damit einverstanden, da das Dorf so ziemlich den Mittelpunkt der meinem jungen Gehülfen zur Krankenpflege übergebenen Ortschaften bildete.

Während wir noch so tranken und die näheren Anordnungen besprachen, öffnete sich leise, fast unbemerkt die Thüre. Erst als ich zufällig aufblickte, bemerkte ich eine junge Dame mit zwar nicht auffallenden, aber reizenden Zügen. Sie hatte eines jener sanften Gesichter, aus denen der ganze Himmel einer zarten Weiblichkeit dem aufmerksamen Beobachter entgegenstrahlte. Wie ein Schleier verbarg eine angeborene Schüchternheit und Demuth einen Schatz von herrlichen Eigenschaften, die um so mehr entzückten, je weniger man sie vermuthet hatte. Solche Naturen blenden nicht mit einem Male, sondern gewinnen mit jedem Tag eine neue Macht über unser Herz, sie erregen keine plötzliche und stürmische Leidenschaft, aber wohl eine wachsende und ewig dauernde. Die junge Dame erröthete bei unserem Anblick und wollte sich sogleich, wie es schien, wieder entfernen.

„Hiergeblieben, Anna!“ herrschte ihr der Vater zu.

Sie leistete ihm sogleich gehorsam Folge und wurde nun in aller Form mir und meinem jungen Collegen vorgestellt. Zugleich machte Herr von Prodschintzky sie mit der soeben getroffenen Aenderung bekannt, da sie seit dem Tode ihrer Mutter das ganze Hauswesen verwaltete. Sie versprach für Doctor Brand ein passendes Zimmer auszuwählen und sogleich in Stand setzen zu lassen. In ihren sanften, fast theilnahmlosen Mienen verrieth sich weder Vergnügen noch Unlust wegen des neuen Hausbewohners, den sie so unvermuthet erhalten hatte. Still und geräuschlos, wie sie gekommen, verließ sie wieder das Zimmer, um die nöthigen Anordnungen für den jungen Freund zu treffen. Wir entfernten uns ebenfalls, um noch einige naheliegende Dörfer zu besuchen. Doctor Brand mußte noch unserem Wirthe das Versprechen geben, schon morgen mit seinem Gepäck und seinen Büchern nach dem Schlosse zu ziehen. Der junge Mann hatte das ganze Herz des alten Gutsbesitzers gewonnen; nebenbei mochte dem Letzteren die Anwesenheit des Arztes zur Zeit der gefährlichen Epidemie doppelt willkommen sein. Bei der Trennung rief ich meinem Collegen scherzend zu: „Verlieben Sie sich nur nicht in Fräulein Anna von Prodschintzky. Der Alte ist ein ebenso strenger Katholik als Aristokrat und in jeder Beziehung ein Feind der gemischten Ehen.“

Es mochte ungefähr eine Woche verstrichen sein, als ich es für meine Pflicht hielt, nach meinem Freunde und den ihm übergebenen Patienten zu sehen. Ich fand ihn sehr zufrieden mit seiner neuen Stellung; er hatte sich in kurzer Zeit bereits das volle Vertrauen seiner Umgebung erworben und allgemeine Anerkennung gefunden. Die Zahl der Kranken hatte sich, Dank seiner Bemühnung oder vielleicht der milderen Natur, welche die Epidemie angenommen, augenfällig vermindert. Herr von Prodschintzky konnte mir die Thätigkeit, Umsicht und Aufopferung des jungen Arztes nicht genug rühmen. Er wurde wie ein bewährter Hausfreund von dem Gutsbesitzer betrachtet, in dessen Augen er um so mehr gewonnen hatte, da Brand in den Mußestunden ein bedeutendes Talent als Whist- und L’hombre-Spieler entwickelte. Bei diesen Partien pflegte der Pfarrer des Dorfes stets der dritte Mann zu sein. Ich kannte den Geistlichen von früher: er gehörte einer jüngeren Generation von katholischen Priestern an, welche sich von ihren älteren Standesgenossen durch einen fanatischen Glaubenseifer unterscheiden. Unter scheinbar sanften und freundlichen Formen verbarg dieser Dorfpfarrer einen starren, unbeugsamen und herrschsüchtigen Charakter. Als Seelsorger des frommen, sehr bigotten Gutsbesitzers übte er keinen geringen Einfluß in dem Hause desselben aus. Wie es schien, beobachtete er mit keineswegs günstigen Augen die Fortschritte, welche mein Freund in der Gunst seines neuen Gönners bereits gemacht hatte. Da mir nur wenig Zeit übrig blieb, so begnügte ich mich mit einem kurzen Bericht über den Zustand der Patienten, welche ich Brand übergeben hatte. Nur die schwersten Fälle wollte ich aus eigner Anschauung kennen lernen und nahm deshalb seine Begleitung an. Unterwegs sprach ich ihm aufrichtig meine Anerkennung über seine bisherige Leistung aus.

„Sie haben wirklich,“ sagte ich ihm, „Erstaunliches in so kurzer Zeit geleistet. Eine so schnelle Abnahme der Epidemie habe ich kaum gehofft, und besonders muß ich Ihr Organisations-Talent loben, womit Sie so Großes geleistet haben. Die Kranken werden, wie ich sehe, mit Sorgfalt gepflegt und sind fast überall mit den nöthigen Lebensmitteln, Decken und Kleidungsstücken versehen.“

„Dieses Verdienst,“ lehnte Brand bescheiden ab, „kann ich mir durchaus nicht zuschreiben. Was in dieser Beziehung geschieht, ist das Werk von Fräulein Prodschintzky. Das Mädchen ist ein Engel. Heimlich eilt sie von Hütte zu Hütte und setzt sich großherzig der Gefahr und der Ansteckung aus. Sie versorgt die Kranken mit Allem, was Noth thut. Täglich muß ich ihr Bericht erstatten, und wo Hülfe oder Unterstützung fehlt, da ist sie sogleich zur Hand. Ihr allein haben wir die außerordentlichen Resultate zu verdanken, welche Sie mit Recht bewundern.“

Je länger mein Freund in solch enthusiastischen Ausdrücken von dem trefflichen Mädchen sprach, desto klarer wurde mir die Lage seines Herzens. Es war kein Zweifel, daß er die Tochter seines Wirthes heiß und innig liebte, und daß diese Liebe, obgleich er sich mir gegenüber auch nicht die geringste Indiscretion zu Schulden kommen ließ, von ihr eben so erwidert wurde. Ich bedauerte die jungen Leute im Voraus, da bei der bekannten Gesinnung des Vaters sich ein glückliches Ende der beginnenden Leidenschaft nicht denken ließ. Was ich vorausgesehen, war auch schnell genug eingetroffen. Bei einem zweiten Besuche, den ich meinem Collegen aus dem Schlosse abstattete, fand ich denselben in der größten Verzweiflung und im Begriff seine Wohnung nach der Schenke des Dorfes zu verlegen. Mit kurzen Worten schilderte er mir die stattgefundenen Ereignisse.

(Schluß folgt.)
[805]

Skizzen aus Ungarn.

Bereits zum zweiten Male im Laufe dieses Jahrhunderts hat Ungarn die theilnehmenden Blicke Europa’s auf sich gezogen und gleichzeitig eine bedeutungsvolle Stellung in der Entscheidung der allgemeinen Geschicke eingenommen; einmal durch den Waffenkampf, den es mit unerschütterlichem Muthe und seltener Energie gegen zwei mächtige Kaiserreiche bestanden, dann heute durch seinen ausdauernden gesetzlichen Widerstand gegen die Versuche Oesterreichs, seine verbrieften, Jahrhunderte alten Rechte zu zertrümmern. Und heute wie damals begleiten die Sympathien aller Aufgeklärten die Anstrengungen einer Nation, welche „freudig setzt ihr Alles“ an den Kampf um ihre Rechte.

Nicht nur große, die Entwickelung der gesammten Menschheit fördernde Geschichtsepochen finden ihre Repräsentanten in den Männern, welche die Geschicke des Jahrhunderls zu leiten berufen sind; auch die weniger bedeutenden Stadien in dem Bildungsgange einzelner Völker erhalten ihren prägnanten Ausdruck in dem Charakter ihrer Parteihäupter und Führer. In diesem Sinne kann nun wohl der Kampf Ungarns in diesem und im vorigen Decennium kaum schärfer charakterisirt werden, als durch die Eigenthümlichkeit jener beiden Männer, welche die Bewegung leiteten: Ludwig Kossuth und Franz Déak. Beide begeisterte Patrioten hatten eben dasselbe schöne Ziel im Auge, den Ruhm und das Glück des Vaterlandes; Beide wurden getragen, nicht bloß von dem Beifall der großen Menge, sondern von der Kraft und Stimmung der ganzen Nation; und doch, wie verschieden im Uebrigen ihr ganzes Wesen und die Mittel, welche sie in Bewegung setzten; wie verschieden – hoffentlich! – der Ausgang ihres Strebens! Der Eine idealer Schwärmer, Enthusiast und Doctrinair, vermochte es wohl, durch sein begeistertes Wort die Nation zu entflammen, für die höchsten Ziele zu gewinnen und zu unerhörten Anstrengungen mit sich fortzureißen; die positive Lage der Verhältnisse zu überblicken, die von allen Seiten aufthürmenden Schwierigkeiten an der rechten Stelle anzufassen, Umstände und Persönlichkeiten in seiner nächsten Nähe zu beherrschen und damit das begonnene Werk zu Ende zu führen, war er nicht im Stande, und – wäre auch wohl Niemand im Stande gewesen. Der Andere, ein ruhiger, ernst überlegender, praktischer Staatsmann, steht auf eng umgrenztem ebenem Boden, von wo er, festen Blickes und sichrer Hand, eines der ihm entgegenstehenden Hindernisse nach dem andern wegräumend, nie eine neue Position einnehmend, ehe er dieselbe zu behaupten versichert ist, Streich auf Streich auf den ermattenden Gegner führt. Und auch ihm folgt seine Nation, aber nicht unbewußt, und er weiß sehr wohl, wie weit; er kennt nicht blos seine Freunde, seine eignen Hülfsmittel, er kennt auch seinen Gegner, dessen Macht und dessen Blößen; die eine nicht zu unterschätzen, die andern zu benutzen und selbst jede zu vermeiden, darin beruht seine Stärke und dies sichert ihm den endlichen Sieg.

Franz Déak.

Es verräth offenbar Gedankenlosigkeit, Franz Déak den Charakter eines „Staatsmannes“ absprechen mit ihn zum bloßen „Advocaten“ seiner Partei herabsetzen zu wollen. Wo es sich zunächst um eine juristische Streitfrage, gleichviel ob zwischen Einzelnen oter ganzen Völkern handelt, da ist offenbar der Führer der Partei vorerst ihr Advocat; schlimm genug Oesterreichs Sache, daß ihre Vertheidiger vor dem scharfen Rüstzeug des Ungarn nicht Stand zu halten vermögen. Wenn aber gleichzeitig über die Befähigung des Staatsmannes geurtheilt werden soll, dann kann ohne Frage nur der unter den gegebenen polilischen Verhältnissen mögliche und erreichbare Erfolg entscheiden. Und daß dieser heute bereits von dem ungarischen „Advocaten“ gewonnen ist, beweist am Besten die entsetzliche Verlegenheit seines Gegners. Aus einer Position nach der andern verdrängt, von einem Theile der eignen Anhänger bereits verlassen, ohne Zutrauen zu sich selbst, ohne Kraft im Innern, ohne Sympathien auswärts, stehen bereits heute Oesterreichs Minister dem „Advocaten“ gegenüber vollständig geschlagen da, noch ganz ungewiß, wohin und auf welchem Wege der Rückzug anzutreten. Wie viel mehr oder was anders hätte wohl überhaupt erreicht werden können?

Der parlamemarische Ruhm Déak’s datirt keineswegs aus der jüngsten Zeit. Bereits seit dem Jahre 1832 ist er Mitglied des ungarischen Landtages, zuerst vom Zaláer Comitat, in dem seine Familie ihren Wohnsitz hat, im letzten Jahre von der Stadt Pesth gewählt. Am 17. October 1803 in Kechida, einem kleinen Dorfe in dem genannten Comitate, geboren, hat er seine Bildung auf der Hochschule in Raab erworben, wo er Jurisprudenz studirte und sich dann in seiner Heimath als Advocat niederließ. Nachdem er bereits auf dem ersten Reichstage die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, trat er 1847 als Führer der gemäßigten Opposition auf, wurde 1848 in das von Ludwig Bathyany gebildete ungarische Ministerium als Justizminister berufen, konnte indeß der radicalen Partei unter Kossuth, Szemère, Madarars etc. nicht Stand halten und legte, als auch die Versuche, durch Vermittelung der Krone eine Einigung zu erzielen, gescheitert waren, am 17. September 1848 seinen Posten nieder. Seit der Zeit hat er, zurückgezogen von allen öffentlichen Angelegenheiten, nur seinem Fachberufe gelebt, bis ihn der October 1860 wieder auf den Schauplatz rief.

Was Déak vor Vielen seiner Landsleute vorheilhaft auszeichnet, [806] ist sein freier Blick über die speciellen Interessen Ungarns hinaus. Von allgemeiner gediegener Bildung, hat er bereits bei seinem ersten Auftreten gegenüber den aristokratischen und particularistischen Bestrebungen der damaligen Parteien für Aufhebung der Steuerfreiheit des Adels, für die Befreiung der Bauern von den drückenden Frohnen, für Gleichstellung aller Bürger vor dem Gesetze gesprochen; seit 1847 fanden seine unausgesetzten Bemühungen allgemeinen Erfolg und praktischen Ausdruck in dem von ihm entworfenen, aus sieben Punkten bestehenden Programm der liberalen Partei, in dem sich unter andern auch vollständige Preßfreiheit und Förderung der Volkserziehung finden. In der letzteren namentlich und in der Culturentwickelung überhaupt erkennt er das Fundament von Ungarns Zukunft, und erst in den jüngsten Tagen, unter dem schweren Druck der gegenwärtigen Verhältnisse, hat er eine ernste Aufforderung an seine Landsleute gerichtet, in der er ihnen, und vor Allen auch den Frauen, den Werth der Wissenschaft und tüchtiger Bildung, der in vielen, selbst höheren Kreisen leider noch nicht genügend erkannt werde, eindringlich an’s Herz legt, wahrlich ein schönes Document für den Werth des Mannes selbst.

Im Uebrigen kann Déak kaum eine besonders glänzende Begabung zugesprochen werden, und seine Landsleute überschätzen ihn ohne Zweifel (wie so Vieles, was Ungarn gehört). Klarer, ruhiger Blick, scharfe Beobachtungsgabe, logische, wenn auch etwas zu breit ausgeführte Deduktion, Schlagfertigkeit, vor Allem aber eiserne Consequenz und unerschütterliche Treue des Charakters zeichnen ihn als Parteiführer und als Redner aus; dagegen mangelt ihm Fülle der Anschauungen, Schwung der Phantasie und jene Formvollendung, welche neben dem „pectus“, allerdings dem ersten Erforderniß des Redners, erst den Koryphäen der Tribüne bildet. Wo es sich um Abwägung des Für und Wider, des Gesetzlichen und Ungesetzlichen, des Zweckmäßigen und erreichbar Möglichen handelt, da ist er an seinem Platze, und sein berühmter Adreßentwurf und die denselben begründenden Reden können als Meisterstücke bezeichnet und den classischen Reden eines Brougham und Peel auf diesem Gebiete an die Seite gestellt werden. Déak gehört zu jener Classe von Rednern, die leichter zu überzeugen, als zu überreden im Stande sind; hinreißen oder gar rühren wird er wohl nie; er bildet auch in dieser Beziehung den schärfsten Gegensatz zu Kossuth. Seine Ausdrucksweise ist weniger gewählt als treffend, seine Gesticulationen sind mehr energisch als anmuthig, wie im Allgemeinen die ungarischen Redner, die im gewöhnlichen Tagesanzuge, Ueberzieher und Hut neben sich, vom Platze aus sprechen; nicht den gewinnenden Eindruck machen, den wir von unseren deutschen Rednern verlangen; selbst der sonst formvollendete Präsident Ghyzy ist weit entfernt von dem Aplomb eines Gagern oder der Eleganz eines Simson. Déak selbst könnte von deutschen Notabilitäten noch am ehesten mit Bincke verglichen werden, mit dem er auch das fast eigensinnige Beharren am „Rechtsboden“ theilt, und dem er auch an Schlagfertigkeit gleichkommt; dagegen erreicht er ihn allerdings nicht in Bezug auf die bereits erwähnte Fülle der Anschauungen, die den deutschen Nestor auf allen Gebieten zu Hause und in allen Sätteln gerecht zu sein befähigt; eben so fehlt ihm (und zwar zu seinem Vortheile) jener Uebermuth und die entsetzliche Nonchalance und Effecthascherei, die den edlen Freiherrn selbst die Rolle des Clown nicht verschmähen läßt, um nur Erfolg zu erzielen. Déak ist auch als Redner, wie in seinem ganzen Privatleben, von außerordentlicher Anspruchslosigkeit und Einfachheit, genießt aber eben deshalb eine unbegrenzte Popularität, die sich oft in rührenden Zügen kund giebt. Sein Aeußeres würde eher auf einen behäbigen Gutsbesitzer, mit einem Anflug an den „jovialen Lebemann“, als auf einen scharfsinnigen Advocaten und gewiegten Staatsmann schließen lassen; die meisten bisher von ihm vorhandenen Portraits sind nicht getroffen, wir glauben deshalb mit unserer sehr ähnlichen Abbildung den Lesern der Gartenlaube einen Dienst zu erweisen.

Ob Déak noch eine große Rolle in dem bevorstehenden Drama der Begebenheiten zugedacht ist, möchte ich bezweifeln; er hat weder das Zeug zu einem Minister, noch zu einem „berühmten Manne“. Wenn er seinen Zweck, Ungarns Rechte zu erkämpfen, erreichen sollte, so würde er vermuthlich in die Stille des Privatlebens zurücktreten, aber ihn freilich dann auch der schönste Lohn begleiten, der ewige Dank und die Anerkennung seiner Nation.




Der Dichter des Frühlings.

Auf seinem Krankenlager in Potsdam lag ein preußischer Officier, Namens Ewald von Kleist. Vor einigen Tagen hatte er aus einer an sich geringfügigen Ursache einen Zweikampf mit einem seiner Cameraden bestanden und dabei eine schwere Wunde am Arme erhalten, die sich unter der Behandlung eines rohen Feldscheers noch verschlimmerte. Gepeinigt von seinen Schmerzen, mißmuthig über die auszustehende Langeweile, da ihm jede anstrengende Beschäftigung untersagt war, ruhte er entkräftet auf dem Bette, den ihm eigenthümlichen hypochondrischen Gedanken nachhängend. Da klopfte es zuerst leise, dann lauter an der Thür; auf das schwache „Herein!“ des Kranken erschien ein junger Mann mir freundlichem Gesicht, sanften, theilnehmenden Mienen und herzgewinnendem Gruß. Der Fremde trug einen braunen Rock mit einfacher Stickerei, seidene Beinkleider und dergleichen schwarze Strümpfe. Das sorgfältig gepuderte Haar bildete zu beiden Seiten zwei zierliche Locken und endete in einen Haarbeutel. Haltung und Kleidung verrieth den angehenden Geistlichen oder jungen Gelehrten, obgleich der frische Glanz der munteren Augen und ein schalkhafter Zug um die rothen Lippen nichts weniger als einen Pedanten bekundeten, sondern weit eher einen heiteren Geist und einen fröhlichen Gesellschafter erkennen ließen.

Der junge Mann stellte sich selbst dem Officier als Candidat Gleim und Erzieher im Hause des Obristen von Schulze vor; sein Kommen entschuldigte er mit der Theilnahme, welche die Familie des Obersten und besonders die Damen an dem Schicksale des Verwundeten nahmen. Er selbst verschwieg nicht das Interesse, welches ihm ein Lieutenant einflößen mußte, der nach Allem, was er über ihn gehört, eine Ausnahme unter seinen damaligen Standesgenossen bildete, indem Kleist eine wirklich gelehrte Bildung genossen, mehrere Jahre die Universität in Königsberg besucht, sich ungewöhnlicke Kenntnisse im Lateinischen und Griechischen erworben und auch für die damals erst aufblühende deutsche Poesie eine große Vorliebe gezeigt hatte, letzterer Umstand trug am meisten dazu bei, den Candidaten Gleim für den verwundeten Officier einzunehmen, da er selbst in seinen Mußestunden den Musen huldigte und allerliebste, scherzhafte Liedchen sang, die ihm die Anerkennung seiner Freunde erwarben. Außerdem war Gleim ein echter Patriot und ein begeisterter Verehrer des großen Friedrich, der damals in Preußen regierte und die Welt mit Bewunderung erfüllte.

Kein Wunder, daß die beiden jungen Männer trotz der Verschiedenheit ihrer Stellung schnell mit einander bekannt und befreundet wurden. Der Kranke beklagte sich besonders darüber, daß er nicht lesen dürfe, und nahm daher hocherfreut das Anerbieten des Cantidaten an, ihm vorzulesen.

„Soll ich,“ fragte Gleim, „Ihnen aus dem Cäsar vorlesen, den ich hier auf dem Tische aufgeschlagen finde?“

„Lassen wir den Cäsar,“ entgegnete der Verwundete. „Sie würden mich verbinden, wenn Sie mir ein Liedchen vorlesen wollten, das Sie selbst gedichtet. Ich habe so viel Gutes von Ihrem Talent gehört, daß ich begierig bin, eine Probe zu hören. – Sie müßten,“ setzte Kleist scherzhaft hinzu, „kein echter Dichter sein, wenn Sie nicht ein kleines Manuscript in der Tasche trügen, oder Ihre Gedichte auswendig wüßten.“

„Wo denken Sie hin!“ rief der muntere Gleim. „Ich werde mich hüten, Ihre Leiden durch meine schlechten Verse noch zu vermehren.“

„Im Gegentheil. Apollo ist nicht nur der Gott der Lieder, sondern auch der Vater Aesculap’s, der alle Schmerzen heilt. Vielleicht gelingt es Ihnen besser, als meinem Arzt, unter dessen Behandlung mein Zustand sich eher verschlimmert, als verbessert hat.“

„Wenn dies mir glücken sollte, so wäre ich hinlänglich belohnt. Man heilt das Fieber mit Spinnweben und Sägespänen; vielleicht wohnt meinen Versen eine ähnliche medicinische Kraft bei. Darum will ich es auf einen Versuch ankommen lassen.“

[807] Mit diesen Worten zog Gleim etwas verschämt aus den weitläufigen Taschen seines gestickten Rockes ein kleines Buch hervor, in welches er seine Verse einzutragen pflegte, wie Kleist ganz richtig vorausgesetzt hatte. Mit wohltönender Stimme las er ihm verschiedene heitere Liedchen und unter anderen folgende anakreontische Strophen vor:

Tod, kannst Du Dich auch verlieben?
Warum holst Du denn mein Mädchen?
Hole lieber ihre Mutter,
Ihre Mutter sieht Dir ähnlich! –
Frische, rosenrothe Wangen,
Schöngefärbt von meinem Kusse,
Blühen nicht für blasse Knochen!
Tod, was willst Du mit dem Mädchen?
Mit den Zähnen ohne Lippen
Kannst Du es ja doch nicht küssen!

Herzlich lachte der Kranke über den komischen Einfall und besonders über den Schluß des Gedichtes so heftig und ausgelassen, daß durch die Erschütterung die Wunde des Armes von Neuem aufbrach und eine heftige Blutung eintrat. Der erschrockene Gleim klagte sich als die Ursache des Unfalls an und eilte, so schnell er nur vermochte, nach dem nächsten Arzt, der auch sogleich erschien und die nöthigen Anordnungen traf. Bei der Abnahme des alten Verbandes, den der bornirte Feldscheer entweder schlecht angelegt oder vernachlässigt hatte, zeigten sich bereits die Spuren des Brandes, der unfehlbar ohne diesen Vorfall weiter gegriffen und den Verlust des Gliedes, wo nicht des Lebens nach sich gezogen hätte.

„Preisen Sie den Zufall,“ sagte der Doctor, „oder vielmehr die Wunder der Poesie, der Sie Ihr Leben schulden. Ohne das Gedicht und seine Wirkung hätten Sie wahrscheinlich sterben müssen. Jetzt aber stehe ich dafür, daß Sie schon in wenig Wochen wieder ausgehen und den Arm gebrauchen werden. Auch der Blutverlust ist mir nur willkommen, da dadurch die Heftigkeit des Fiebers gemildert und die Heilung der entzündeten Wunde nur beschleunigt wird.“

„Gott Lob!“ rief der erschrockene Candidat, der sich noch immer nicht von seinem Entsetzen erholen konnte und sich laut als die unschuldige Ursache des traurigen Ereignisses angeklagt hatte. „Ich hätte auch niemals mehr ein Lied dichten können, wenn meine Verse den Tod eines so trefflichen Mannes veranlaßt hätten.“

„Beruhigen Sie sich!“ lächelte der Kranke. „Ich preise Sie als meinen Wohlthäter; denn der Dichtkunst und Ihnen verdanke ich meine Genesung. Die Poesie wird fortan meine Geliebte, und ihr Jünger Gleim mein Freund sein.“

Der wiedergenesene Kleist hielt Wort und wurde der Freund des liebenswürdigen Gleim und der Sänger des Frühlings, der Dichter so manches schönen deutschen Liedes. Seine Muse war ein liebenswürdiges Mädchen, Wilhelmine von Golz, die er bei einem Besuche in Ostpreußen kennen gelernt hatte. Leider war dieses Verhältniß kein glückliches und steigerte nur die dem Dichter angeborene Schwermuth. Von einem Verwandten erhielt Kleist die Nachricht, daß seine Geliebte von ihrer Mutter zu einer ihr widerlichen, aber sehr vortheilhaften Verbindung gezwungen sei. Briefe, die er deshalb an Wilhelmine richtete, wurden von ihren wachsamen Angehörigen unterschlagen, so daß sie sich von Kleist verrathen glaubte und schließlich ihre Einwilligung zu der verhaßten Heirath gab. In seiner Verzweiflung war ihm der Wiederausbruch des Krieges jetzt doppelt willkommen, aber auch hier verfolgte ihn das Mißgeschick. In den Jahren 1744 und 45 machte Kleist den Feldzug in Böhmen mit; zu seinem größten Leidwesen sah er sich jedoch zu einer ihm unwillkommenen Unthätigkeit verdammt, indem er nach der Uebergabe von Prag bei der Besatzung dieser festen Stadt bleiben mußte. Bei dem unglücklichen Rückzuge der Preußen aus Böhmen wurde auch Kleist von manchem schweren Unfall getroffen. Fünf Tage und fünf Nächte sah sich das kleine Corps, zu dem er gehörte, von einer sechsfachen Uebermacht des Feindes bedrängt und schwebte in fortdauernder Gefahr, auf gefährlichen Gebirgswegen und in kaum zugänglichen Defiléen aufgerieben zu werden. Dennoch schlug sich das tapfere Häuflein seitswärts durch das Riesengebirge glücklich nach Schlesien durch, nur daß es in den engen Pässen seine Bagage gänzlich einbüßte. Kleist selbst mußte, von den übergroßen Anstrengungen angegriffen, schwer krank in Hirschberg zurückbleiben, wo ihn wieder ein ungeschickter Feldscheer durch einen unzweckmäßigen Aderlaß hart an den Rand des Grabes brachte. Sobald er genesen, folgte er seinem Regimente nach Brieg, wo er sich nach und nach wieder erholte und ein Jahr verweilte, ehe er nach Potsdam zurückkehrte.

Mitten im Getümmel des rauhen Krieges war er der Poesie treu geblieben, hatte er manches schöne Lied gedichtet, das er seinem Gleim mittheilte. Durch ihn war er mit anderen und bereits berühmten Dichtern, wie Ramler, Uz und vor Allen mit Lessing bekannt geworden, die den poetischen Officier in seinem Streben aufmunterten. Von ihnen angeregt schrieb er sein „Landleben“, das er aus Gleim’s Rath umtaufte und unter dem Namen „der Frühling“ veröffentlichte. Nicht leicht machte ein deutsches Gedicht, und noch dazu von einem unbekannten Verfasser, ein so großes Aufsehen. Ursprünglich nur für seine Freunde gedruckt, erlebte es in kurzer Zeit vier Auflagen, die es hauptsächlich der Reinheit seiner Sprache, dem natürlichen Gefühl und den glücklichen Bildern des Dichters verdankte. Von allen Seiten erhielt Kleist Zeichen des Beifalls und der Anerkennung; selbst der Präsident der Akademie, Herr von Maupertuis, erkundigte sich nach dem poetischen Officier, in der Absicht, ihn zum Mitgliede derselben vorzuschlagen.

Trotz dieses schnell erworbenen Dichterruhms fühlte sich Kleist nicht glücklich: wiederholte Kränklichkeit verstimmte ihn, das müßige Garnisonleben sagte ihm nicht zu, das Avancement ging nur langsam von Statten, und er sah sich vielfach zurückgesetzt, so daß er ernstlich daran dachte, seinen Abschied zu nehmen und um die Stelle eines Forstmeisters sich zu bewerben, wobei er seine Liebe zur Natur, die wie ein rother Faden durch sein ganzes Leben läuft, zu befriedigen hoffte. Waren ihm doch die liebsten Stunden in Potsdam die, welche er auf einsamen Spaziergängen zu seiner „poetischen Bilderjagd“ benutzen durfte. Aber der Dichter mußte vor dem Soldaten zurückstehen, sobald die Trommel schallte und der große König rief. Kleist folgte diesem in das Lager bei Pirna, wo die sächsische Armee vor der preußischen Tapferkeit und dem Genie Friedrich’s die Waffen strecken mußte. Sein kriegerischer Ehrgeiz war erwacht, und er brannte vor Begierde sich auszuzeichnen; er wünschte sich nichts mehr, als „nur einmal mit zweihundert Mann commandirt zu sein, und dann von zweitausend Oesterreichern angegriffen zu werden.“ – „Wenn ich mich ergäbe,“ fügte er hinzu, „möchte mich der König immer zum Schelme machen lassen. – Aber zu etwas Großem werd’ ich nie kommen; es sind nur Wenige, denen so etwas aufgehoben ist.“

Ein andermal schreibt er seinem Gleim: „Sie schreiben mir, daß es Ihnen graut, Nachricht zu erhalten, daß ich im Kriege getödtet ober verwundet worden. Sie müssen sich gewöhnen, diese Nachricht einmal mit kaltem Blute zu lesen, oder zu hören. Wenn es geschehen sollte – woran ich aber sehr zweifle, denn ich hab’ in gewissen Stücken gutes Glück – oder Unglück, ich weiß nicht, wie ich es nennen soll – so sollen Sie es lesen, und ich will Ihnen meinen Tod selber ankündigen. Ich will, wenn ich eine Action vermuthe, vorher an Sie schreiben und meinem Kerl befehlen, daß er den Brief, im Fall ich bleiben sollte, sogleich auf die Post bringe, sonst aber nicht. Der Brief wird anfangen: „Im Fall Sie dies Schreiben erhalten, so bin ich todt etc.“ Der Einfall ist doch lustig, daß man seinen Tod selber meldet; aber ich glaube, es wird nichts daraus, und Sie werden den Brief nicht bekommen. Geschieht es aber, so bin ich wohl daran. Ich bin so viel glücklicher, als wenn ich Sie überlebte. Ich freue mich auf den Tod, wie ein Schiffer nach Sturm und Ungewitter auf den Hafen.“

Im Verlaufe des Krieges kam Kleist nach Leipzig, wo er mit seinem Freunde Lessing zusammentraf. Von diesem aufgemuntert, faßte er daselbst den Plan zu einem Trauerspiele „Seneca“, von dem er nur einige Scenen schrieb. Die Nachrichten vom Kriegsschauplatze regten ihn indeß immer von Neuem wieder auf und erfüllten sein muthiges Herz mit Sehnsucht, an den Gefahren seiner Waffenbrüder Theil zu nehmen. „Während die ganze Armee in beständiger Gefahr ist,“ klagt er ärgerlich, „bin ich ruhig und mache Verse. Dabei schlaf’ ich doch nur alle Sonntage einmal aus, sonst exercire ich immer von Morgens vier Uhr bis gegen Abend; ich möchte statt dessen zehnmal lieber Gefahr haben.“ – Unter solchen Verhältnissen mußte es ihm doppelt unangenehm sein, daß ihm auf besonderen Befehl des Königs die Direction des Feldlazareths übertragen wurde, ein ehrenvolles Amt, das er als Beweis des ihm geschenkten Vertrauens nicht zurückweisen konnte. „Ich bin untröstlich,“ ruft er bei neuen Siegesnachrichten, „daß ich [808] hier sein muß; komme ich zu nichts Rechtem in diesem Kriege, so nehme ich gleich nach dem Kriege den Abschied und gehe Kohl zu pflanzen. Ich habe so viel Ehre, wie alle die, die besser geachtet werden als ich, und muß hinter der Mauer sitzen!“

Endlich ging sein Herzenswunsch in Erfüllung. – „Mein Gebet ist erhört,“ schreibt er an Gleim aus Leipzig den 2. Mai 1758, „wir marschiren den 11. hujus hier aus, zum Corps des Prinzen Heinrich. Mir ist, als wenn ich im Himmel wäre, und ich bin nun mit meinem Schicksale, das mich durch die Versetzung aus der Potsdamschen Garnison geführt hat, sehr zufrieden. Ich glaube zwar nicht, daß ich bleiben werde, indessen ist es doch möglich. In diesem Falle geben Sie doch die 200 Thaler, die über 1000 sind, an Herrn Ramler und Lessing, jedem die Hälfte. Oder vielmehr geben Sie sie ihnen gleich, sie sollen sie mir einmal, im Fall ich lebe, wiedergeben, wenn sie recht reich geworden sind. Ja, geben Sie sie ihnen jetzt gleich; ich habe genug, wenn ich tausend Thaler behalte. Die tausend Thaler schicken Sie, wofern ich sterben oder todtgeschossen werden sollte, an meine Schwester, verwittwete Kleist, geborne Kleist, zu Cunitz über Stargard und Neu-Stettin.“

Auf dem Marsche nach Hof dichtete Kleist seine berühmte „Hymne“, die er, wie er selbst sagte, seinen Soldaten zu verdanken hatte. Diese pflegten nämlich jeden Morgen, ehe sie ihre Lieder zum Lobe des großen Friedrich anstimmten, ein geistliches Lied zu singen. Kleist wurde von dem schlichten Gesange der dem Tode entgegenziehenden Krieger so tief ergriffen, daß ihm die Thränen in die Augen traten. Um sie nicht sehen zu lassen, eilte er voraus und dichtete, indem er der aufgehenden Sonne entgegenritt, das bekannte Lied:

Groß ist der Herr! die Himmel ohne Zahl
Sind Säle seiner Burg;
Sein Wagen Sturm und donnernde Gewölk’
Und Blitze sein Gespann.
Die Morgenröth’ ist nur der Wiederschein
Von seines Kleides Saum;
Und gegen seinen Glanz ist Dämmerung
Der Sonne flammend Licht.

Aus der kriegerischen Stimmung jener Tage ging auch das Gedicht „Cissides und Paches“ hervor, in welchem er den Muth und die Tapferkeit zweier edler Helden verherrlichte. Während er aber den Musen huldigte, wurde Friedrich der Große von den Oesterreichern unter Daun bei Hochkirch überfallen. Zu anschaulicher Weise schildert Kleist die Schreckensnacht, indem er seinen Bericht mit den Worten schließt: „Geduld, ihr stolzen Sieger! ihr sollt bezahlt werden; Alles ist bei uns bis zur Raserei aufgebracht.“ Er selbst theilte gewissermaßen das Schicksal seines angebeteten Königs; die Russen waren auf seinem Gute gewesen und hatten, nach ihrer gewohnten Weise, ihm Alles genommen. „Nun bin ich,“ schreibt er an Gleim, „mit meinen armen Bauern und Geschwistern ganz ruinirt. Ich habe immer gedacht, noch einmal zu Hause zu sterben, wenn ich’s im Krieg nicht würde, aber nun –“

Bald fand Kleist jedoch die Gelegenheit, sich an dem übermüthigen Feinde zu rächen und seine Tapferkeit zu beweisen. Mit seinem Bataillon zur Deckung des Dorfes Plauen gegen die vordrängenden Oesterreicher commandirt, fügte er den Gegnern sehr erhebliche Verluste zu und führte seinen Auftrag in einer Weise aus, die ihm die Anerkennung seiner Vorgesetzten und selbst die Friedrichs des Großen erwarb. Sein Haß gegen die Russen wurde noch durch die unmenschliche Behandlung gesteigert, die sein nächster Verwandter von ihnen erfuhr. „Die Russen,“ meldet er tief betrübt, „haben meiner alten Mutter Bruder, einen ehrwürdigen Greis, Namens Manteuffel, mit mehr als dreißig Wunden auf seinem Gute ermordet und sein Haus geplündert. Ein sehr trauriger Fall für mich. Er war Einer von Denen, die ich von meiner ganzen Familie am meisten verehrt habe; er war die Redlichkeit und der Verstand selber und die Zuflucht der Armen in der ganzen Gegend. Er hatte ein schneeweißes Haupt und ein so ehrwürdiges Ansehen, daß ein Wolf ihn respectirt hätte, nur kein Russe. Ich kann mich der Thränen nicht enthalten, wenn ich an ihn denke.“

Mit Freude begrüßte er daher den Tag der Schlacht, wo ihm die Gelegenheit geboten wurde, sich an dem grausamen Feinde zu rächen und unter den Augen seines angebeteten Monarchen auszuzeichnen. Kleist stürmte mit Todesverachtung gegen die Batterien der Russen bei Kunnersdorf; er achtete nicht die Wunde an seinem rechten Arm und focht mit der linken Hand. Ein Grenadierbataillon, das sich ihm entgegenstellte, wurde zu Boden geschlagen. Hoch zu Pferde führte er die tapfere Schaar gegen die vierte Batterie, nachdem er drei bereits erobert hatte. Er selbst nahm den Fahnenjunker beim Arme, der schon drei gewonnene Standarten trug, und drang gegen die Feuerschlünde vor, die Tod und Verderben ihm entgegenschleuderten. Eine Musketenkugel traf ihn, aber mit jeder Wunde verdoppelte sich sein Siegeseifer. Nur wenige Schritte von dem ersehnten Ziele entfernt, zerschmetterte ein Kartätschenschuß sein rechtes Bein, so daß er sogleich vom Pferde sank. Die Seinigen eilten ihm zu Hülfe, er aber wies sie mit dem Rufe zurück: „Kinder, verlaßt Euern König nicht!“

Zwei seiner Krieger trugen ihn endlich aus dem Schlachtgetümmel und übergaben ihn einem Wundarzt; eben beschäftigt, ihm das Bein zu verbinden, ward dieser selbst durch den Kopf geschossen und fiel todt neben dem verwundeten Kleist zu Boden. Ein Trupp plündernder Kosaken fand ihn in diesem elenden Zustande; beutegierig warfen sie sich über den Unglücklichen, dem sie alle seine Kleider, selbst das Hemde raubten. Sie hätten ihn getödtet, wenn sie ihn nicht für einen Polen gehalten hätten, da er sie in dieser Sprache, die er von Jugend auf kannte, anredete. So begnügten sie sich nur, den Ausgeplünderten in einen nahen Sumpf zu werfen, worin er einige Stunden ohne Bewußtsein lag. Vorüberziehende russische Husaren hatten Mitleid mit dem Ohnmächtigen, zogen ihn in’s Trockene, bereiteten ihm auf Stroh neben ihrem Wachtfeuer ein Lager und erquickten den Verschmachtenden mit Brod und Wasser. Als sie am nächsten Morgen ihn verlassen mußten, bedeckten sie ihn noch mit einem warmen Mantel und beschenkten ihn mit etwas Gelde. Aber ein zweiter Kosakenhaufe plünderte ihn von Neuem aus und ließ ihm nichts als das nackte Leben. –

Von Schmerzen gebeugt, ohne Schutz und Hülfe lag Kleist mehrere Stunden am Wege, bis er einen russischen Officier, von Stackelberg, erblickte und anrief, indem er diesem seinen Rang zu erkennen gab. Der edle Feind ließ ihn sogleich zu Wagen nach Frankfurt an der Oder bringen, wo er zum ersten Male ordentlich verbunden wurde. Auf die Bitte des dortigen Professors Nicolai wurde der Verwundete in dessen Haus gebracht, wo er zwar die sorgfältigste Pflege genoß, aber an Erschöpfung und Blutverlust in der Nacht vom 22. zum 23. August 1759 starb. – Seine Leiche wurde von den feindlichen Officieren und den Professoren der Universität zu Grabe begleitet. Als der Sarg aufgehoben wurde, fehlte der Degen, den Kleist so muthvoll getragen. Herr von Stackelberg bemerkte den Mangel und gab seinen eigenen Degen mit den Worten: „Nein, ein solcher Krieger darf nicht ohne dieses Ehrenzeichen beerdigt werden!“ – Ein Denkmal, das ihm die Freimaurer-Loge in Frankfurt a. d. O. setzte, bezeichnet die geweihte Stätte, wo der Dichter des Frühlings ruht. Den Schmerz über seinen Verlust drückt aber am besten der berühmte Lessing in einem Briefe an Gleim aus: „Ach, liebster Freund, es ist leider wahr. Er ist todt. Wir haben ihn gehabt. Er ist in dem Hause und in den Armen des Professors Nicolai gestorben. Er ist beständig, auch unter den größten Schmerzen, gelassen und heiter gewesen. Er hat sehr verlangt, seine Freunde noch zu sehen. Wäre es doch möglich gewesen! Meine Traurigkeit über diesen Fall ist eine sehr wilde Traurigkeit. Ich verlange zwar nicht, daß die Kugeln einen andern Weg nehmen sollen, weil ein ehrlicher Mann dasteht. Aber ich verlange, daß der ehrliche Mann – sehen Sie, manchmal verleitet mich der Schmerz, auf den Mann zu zürnen, den er angeht. Er hatte schon drei, vier Wunden; warum ging er nicht? Es haben sich Generale mit wenigern und kleinern Wunden unschimpflich bei Seite gemacht. Er hat sterben wollen. Vergeben Sie mir, wenn ich ihm zu viel thue. Er wäre auch an der letzten Wunde nicht gestorben, sagt man; aber er ist versäumt worden. Versäumt worden! Ich weiß nicht, gegen wen ich rasen soll. Die Elenden, die ihn versäumt haben!“

Max Ring.



[809]

Ein Stück preußischer Schande und preußischer Ehre.

Nr. 1.
Die Schande.

Blicken wir in die Vergangenheit zurück, so bleibt uns manche That in derselben unbegreiflich. Wir vermögen wohl die Begeisterung und den Todesmuth zu fassen, mit denen so Mancher sein Leben der Ehre und dem Vaterlande zum Opfer gebracht hat, wir sind im Stande, den kühnen Geistesaufschwung, der so Viele zu edlen und kühnen Thaten bewogen hat, nachzufühlen, vergebens bemühen wir uns indeß, in das Innere so manches Mannes zu blicken, der, sei es aus unbegreifbarer Feigheit oder aus niederer Selbstsucht, Ehre und Pflicht mit Füßen getreten und für immer einen Schandfleck auf seinen Namen gehäuft hat.

Und leider nennt uns die Geschichte Deutschlands neben einer Fülle großer und edler Männer auch so manchen Namen und so manche That, von denen wir uns immer mit innerer Erbitterung abwenden und die dennoch durch nichts auszulöschen und durch nichts zu sühnen sind. Namentlich die Geschichte des für Preußen und damit für ganz Deutschland so unheilvollen Jahres 1806 ist reich daran. Während Blücher nach der Schlacht bei Jena sich mit seiner muthigen Schaar bis Lübeck durchschlug, zweimal auf die Aufforderung zu capituliren entschlossen trotzig erwiderte: „Ich capitulire nie!“ und, als er dennoch endlich, durch die höchste Noth gezwungen, bei Ratkau die Waffen strecken mußte, unter den Vertrag schrieb: „Ich capitulire, weil ich kein Brod und keine Munition habe,“ – ergab sich Hohenlohe ohne Schwertstreich bei Prenzlau mit 10,000 Mann und 1,800 Pferden, welche so leicht zu retten gewesen wären. Während in Kolberg der siebenzigjährige Bürger Nettelbeck einen schlaffen Befehlshaber fast mit Gewalt zur Vertheidigung der Festung zwang, bis Oberst Gneisenau zur Hülfe eintraf; während in Graudenz der General Courbière, als man ihm vorspiegelte, Friedrich Wilhelm sei aus seinem Reiche geflüchtet und Preußen habe aufgehört zu sein, entschlossen erwiderte: „Nun gut, so bin ich in Graudenz König,“ – wurden die Festungen Erfurt, Magdeburg, Küstrin, Spandau, Stettin, Hameln etc. alle ohne einen einzigen Schwertstreich, meist durch die kopflose Feigheit oder die schmachvolle Verrätherei ihrer Commandanten, dem Feinde übergeben. In Hameln steckte Schöler an der Spitze von 10,000 Mann, hinter den starken Wällen der Festung geborgen, bei dem Nahen von 6000 Franzosen die weiße Fahne auf; Stettin mit 5000 Mann wurde durch die Feigheit des Generals von Romberg an 800 Husaren übergeben, so daß Napoleon übermüthig an Mürat schreiben konnte: „Es scheint, als ob man die schwere Cavallerie ganz entbehren kann, da die preußischen Festungen jetzt durch Husaren erobert werden.“ Der feige Oberst von Ingersleben, Commandant von Küstrin, rings durch Moräste gegen jeden Angriff geschützt, mit 2,700 Mann Besatzung und 90 Kanonen auf den Wällen, ritt sogar, als eine einzige französische Division Infanterie sich näherte, dem Feinde entgegen, ihm die Uebergabe anzubieten, und er mußte den Feinden erst Kähne senden, um über den Arm der Oder zu gelangen und von der Stadt Besitz zu nehmen; und der Commandant einer andern Festung übergab dieselbe um den Preis, daß er seine Küchengeräthschaften mit sich nehmen dürfe.[1]

Von größter Bedeutung war die schmachvolle Uebergabe Magdeburgs, der stärksten und wichtigsten Festung des ganzen preußischen Staates, des Hauptstützpunktes an der Elbe. Und der diese Festung übergab, trug den Namen Kleist. Er war ein siebenzigjähriger Greis, aber das Alter kann eine ehrlose That nicht entschuldigen; hart, schonungslos ist seiner Zeit über ihn geurtheilt worden, weil man die Schuld von all dem Unglück, welches seiner That folgte, ihm aufhäufte; die Geschichte pflegt in solchen Fällen ruhiger zu blicken und milder zu urtheilen – es sind über fünfzig Jahre seitdem entschwunden, und dennoch suchen wir vergebens nach einem Grunde, der die Schmach seiner That mildern könnte. Sie muß heute wie damals gleich schonungslos verdammt werden.

Als nach der Schlacht von Jena die ganze preußische Armee zerrissen, zerstreut und ohne einheitliche Leitung nach verschiedenen Gegenden eilte, suchten die meisten Abtheilungen Magdeburg zu erreichen, um sich dort zu sammeln und wieder zu ordnen, denn in der Brust der meisten Soldaten lebte die feste Hoffnung, daß sie auf’s Neue gegen den Feind geführt und Gelegenheit erhalten würden, den Tag von Jena und Auerstädt wieder auszugleichen.

Der König Friedrich Wilhelm war am 17. October in Magdeburg angelangt, verließ indeß die Stadt schon am folgenden Tage, um bei Tangermünde über die Elbe zu gehen, nachdem er den Generälen in Magdeburg aufgetragen, die versprengten Truppen zu reorganisiren. Ueber 100,000 Mann, mit Einschluß des Trains, sammelten sich an den folgenden Tagen in der Festung. Viele von ihnen blieben ohne Quartier. Die breitesten Straßen waren mit Gepäck- und anderen Wagen dicht verfahren. Es fehlte die Hand, welche Ordnung hätte schaffen können. Selbst die zum größten Theile nach Magdeburg gerettete Kriegscasse wurde nicht einmal bewacht und von unwürdiger Hand geplündert. Die Pferde waren zum Theil in den Kirchen (Johannis-, Katharinen-, Petri- und Jacobikirche) untergebracht. Die Disciplin hatte aufgehört, denn es war nur ein wildes Chaos von Soldaten.

Was Fürst Hohenlohe zu sammeln und zu ordnen vermochte, führte er am 21. October, statt an Vertheidigung zu denken, aus der Stadt über die Elbe. In der Festung blieben noch über 23,000 Mann zurück unter dem Oberbefehl des Generals der Infanterie und Gouverneurs Graf von Kleist. Er war ein siebenzigjähriger Greis, kopf- und herzlos, nur auf eigenes Interesse bedacht und nur zum Gamaschendienst brauchbar. Ihm zur Seite standen der General Graf von Wartensleben, von Ingersleben, von Renouard, von Schack, von Tscheppe, der Commandant der Festung Du Trossel und Andere. Auf den Wällen standen mehr denn 800 Kanonen, Munition war in reichster Menge vorhanden, und die Stadt war für ein Jahr verproviantirt.

War durch Hohenlohe’s Abzug mit den gesammelten Regimentern auch nur ein Gemisch der verschiedensten Montirungen zurückgeblieben, befanden sich auch nur 400 Mann Cavallerie in der Stadt, welche einen Ausfall ziemlich unausführbar machten: so waren die Truppen doch leicht zu ordnen und reichten vollständig zur Vertheidigung der Festung, deren Werke und Wälle sich im besten Zustande befanden, aus. Freilich war der Gouverneur von Kleist nicht der Mann dazu, da er schon bei dem Gedanken an eine Belagerung erbitterte, obschon er wissen mußte und auch wußte, daß das französische Heer auf eine Belagerung nicht vorbereitet war, da ihm jegliches Belagerungsgeschütz fehlte.

Auf Napoleon’s Befehl war mit der Einschließung Magdeburgs so lange gezögert, bis sich sämmtliche in der Umgegend zerstreute Truppen des preußischen Heeres in der Stadt versammelt hatten, um mit einem Schlage so viele Gefangene als möglich zu machen. Ney’s, Soult’s und Davoust’s Corps hatten zu dem Zweck sogar die Gegend in einem Umkreise von funfzehn Meilen durchstreifen müssen, um alle preußischen Soldaten nach Magdeburg zusammen zu treiben.

Die Truppen in der Stadt selbst wurden endlich so weit geordnet, daß sie in vier Brigaden getheilt wurden, welche unter den Generälen von Alvensleben, von Schack, von Tscheppe und von Renouard standen und von denen eine jede ihren bestimmten Alarmplatz hatte.

Bereits am 20. October hatte der Feind auf dem linken Elbufer seine Vorposten um die Stadt her aufgestellt, und von Seiten des Gouverneurs war nichts geschehen, dies zu verhindern, so leicht es auch war. Darauf legte sich Marschall Ney mit seinem 7000 Mann starken Corps vor die Festung, während er selbst in dem drei Stunden entfernten Schönebeck sein Hauptquartier aufschlug. Durch die aufeinander folgenden Siege, durch die schmachvollen Capitulationen Erfurts und Hamelns übermüthig gemacht, schickte Ney den Capitain Regnard als Parlamentair in die Stadt, um dieselbe zur Uebergabe aufzufordern. Kleist empfing ihn in Gegenwart seines Stabes, der Generäle und Commandanten. In [810] seiner kopflosen Angst war schon der Gedanke der Kapitulation in ihm aufgetaucht, dennoch schämte er sich ihn auszusprechen und erklärte: „Ich werde die Stadt nicht eher übergeben, als bis mir das Schnupftuch in der Tasche brennt.“

In der Stadt wurde die Antwort des Gouverneurs bekannt, und Bürger und Soldaten wurden von neuem Muthe beseelt. Sahen die ersteren auch nicht ohne Bangen den Schrecknissen einer ernstlichen Belagerung entgegen, so hatten sie eine Eroberung der Stadt doch nicht zu befürchten, und die Mehrzahl war fest entschlossen, tapfer auszuhalten, zumal der Feind seine eigene Schwäche nicht zu verbergen vermochte. Die Soldaten hofften noch immer das Beste, sie hatten Muth und Lust zum Kampfe, es fehlte ihnen nur an Leitung und Einheit.

Die kostbare Buhne am rothen Horne, welche bestimmt war, den Hauptstrom der Elbe längs der Quaimauer der Stadt hinzuleiten, wurde durchstochen, die schönsten Gärten um die Stadt, auch der zu Kloster Bergen wurden demolirt, die naheliegenden Windmühlen in Brand gesteckt, viele Land- und Gartenhäuser wurden abgebrochen – Kleist ließ Alles ruhig geschehen, auch nicht durch einen einzigen Schuß wurden die Belagerer in ihrem Vorhaben gestört. Von der Magdeburger Kriegs- und Domänen-Kammer wurden drei Räthe als Deputirte zu Ney nach Schönebeck gesandt, um ihn zur Milde zu bewegen, und dieser, über die Furcht vor seinem schwachen Corps lächelnd, zwang sich zum Ernste und drohte, er werde, ein zweiter Tilly, die Stadt mit Sturm einnehmen und das Gradirwerk zu Salza zerstören lassen, wenn sich Magdeburg nicht bald ergebe. Und die Räthe ließen sich einschüchtern, des Gouverneurs Verzagtheit vergrößerte ihre Angst, und die Kammer in Magdeburg zahlte 33,000 Thaler an Ney, damit er seine Drohung nicht verwirkliche.

Napoleon war am 24. October in Berlin eingezogen. Ihm konnte es nicht lieb sein, eine so bedeutende Festung wie Magdeburg mit über 20,000 Mann Besatzung in seinem Rücken zu lassen, es war deshalb an Ney der Befehl ergangen, die Belagerung möglichst zu forciren. Dieser vermochte mit seinen 7000 Mann nichts zu unternehmen, rückte indeß so nahe als möglich an die Stadt heran, und am Abend des 1. November sah man von den Wällen der Festung aus die nahen Elbdörfer Krakau und Prester, von den Franzosen angezündet, in hellen Flammen auflodern, ohne irgend etwas dagegen zu thun.

Die Truppen in der Stadt waren immer besser geordnet, und ohne daß der Gouverneur es befohlen hatte, war von den Befehlshabern die Vorkehrung getroffen, daß ein Drittel der dienstthuenden Garnison, welche sich auf ungefähr 16,000 Mann belief, jede Nacht in den Quartieren angezogen und ausgerüstet blieb, um bei einem etwaigen Ueberfall sofort zur Hand zu sein. Ihre Ruhe wurde nicht gestört, weil Ney die Unmöglichkeit einsah, mit seinen 7000 Mann, welche nur durch zwei Haubitzen unterstützt wurden, gegen die festen Wälle einer Festung anzustürmen, welche von mehr als 800 Feuerschlünden und mehr als 20,000 Mann vertheidigt wurde.

Der Gedanke des Verraths und der Capitulation waren währenddem bei dem greisen Gouverneur immer mächtiger angewachsen. Die Generäle und selbst einige Bürger drängten ihn, energische Maßregeln zur Vertheidigung und gegen das weitere Vordringen des Feindes zu ergreifen. Er bebte davor zurück, weil er dadurch den Feind zu erzürnen fürchtete.

Am späten Abend des 1. November, während die Dörfer Krakau und Prester als Kriegsfackeln leuchteten, verließ ein Officier das Sudenburger Thor. Als der wachthabende Officier ihn anhielt, zeigte er ein Schreiben des Gouverneurs vor und passirte ungehindert. Langsam ritt er auf der nach Schönebeck führenden Straße, bis er in die Nähe der feindlichen Vorposten gelangte und angerufen wurde. Auch hier zeigte er ein Schreiben des Gouverneurs von Magdeburg vor und verlangte zum Marschall Ney geführt zu werden. Seine Forderung wurde erfüllt, sobald die Ablösung des Vorpostens erschien.

Der Morgen war bereits hereingebrochen, als er im Hauptquartier in Schönebeck ankam. Er wurde zu Ney geführt. Dieser empfing ihn kalt, weil er seine Botschaft nicht kannte. Bald klärte sich indeß sein Gesicht auf, als der Officier den Auftrag des Gouverneurs meldete. Kleist erklärte sich bereit, die Festung zu übergeben, verlangte aber Geheimhaltung seiner Absicht und Verzögerung um einige Tage, bis Ney durch einige Scheinangriffe auf die Festung die Capitulation einigermaßen motivirt habe und diese öffentlich abgeschlossen werden könne. Für seine Person verlangte Kleist nach der Uebergabe französischen Schutz, der ihm bereitwillig zugesagt wurde.

In der Stadt hatte Niemand eine Ahnung von dem Verrathe des Gouverneurs, selbst seine nächste Umgebung nicht. Ney ließ die Meldung desselben sofort durch eine Estafette an den Kaiser nach Berlin gelangen, und sowohl in seinem Hauptquartier, wie auch zwei Tage später schon in Braunschweig, sprach man mit Bestimmtheit davon, daß Magdeburg in wenigen Tagen capituliren werde.

Zum zweiten Male sandte Ney, der Verabredung gemäß, einen Parlamentair in die Stadt, um sie zur Uebergabe aufzufordern – der Gouverneur wies die Forderung zurück. Gegen Abend dieses Tages suchte der Feind von der Neustadt her, welche der Major von Hollwede mit dem dritten Bataillon des Regiments von Kleist besetzt hielt, sich der Stadt zu nähern, setzte sich in einem großen, verlassenen massiven Cichoriengebäude fest, wurde indeß durch Hollwede durch einen entschlossenen Angriff sofort wieder daraus vertrieben. Hollwede erhielt am folgenden Morgen den Befehl des Gouverneurs, sich zurück zu ziehen. Hollwede’s entschlossener Sinn paßte nicht zu einem Scheingefechte.

Am Abend des dritten November versuchte der Feind zwischen dem Sudenburger und Ulrichs-Thor in Schußweite Wallaufwürfe zu machen, zog sich indeß nach einigen Schüssen von den Wällen zurück. In der Nacht vom 4. auf den 5. November schlich sich der Feind in der Nähe des Kröckenthores an die Stadt heran und warf einige Granaten in dieselbe, von denen indeß nur drei trafen und nur eine einzige Schaden anrichtete, indem sie in das Wohnzimmer des Regierungsraths Guischard in der braunen Hirschstraße flog und diesen an der Schulter verletzte. Sofort wurde die Lärmtrommel gerührt, und die ganze Stadt gerieth in Unruhe. Die Soldaten versammelten sich auf den Alarmplätzen. Der Gouverneur war erschrocken aus dem Bett gesprungen, er fürchtete, daß der Feind wider die geheime Verabredung einen wirklichen Angriff im Sinne habe. Er versammelte die ersten Generale um sich. Einige derselben verlangten, daß eine Abtheilung Soldaten aus der Stadt gesandt werde, um den Feind zu vertreiben; Kleist war dagegen. Die Ruhe wurde ohnehin nicht weiter gestört.

Wieder kamen am folgenden Tage zwei französische Parlamentäre in die Stadt. Die Unterhandlungen mit ihnen wurden geheim gehalten, und der Hauptmann Le Blanc wurde gegen Abend als preußischer Parlamentair zu Ney gesandt, dessen Stab schon bis Buckau vorgeschoben war.

Schon am 7. November verbreitete sich in der Stadt das Gerücht, daß Kleist wegen Uebergabe mir Ney unterhandle. Bürger und Soldaten waren gleich erbittert darüber. Die Soldaten sammelten sich auf der Straße, zogen drohend vor des Gouverneurs Haus, der sich durch starke Wache geschützt hatte, und drohten, die ganze Stadt anzuzünden. Immer weiter wuchs der Aufruhr. Die Polizei erließ den Befehl, daß jeder Hauswirth auf die Treppen gefüllte Wassereimer setzen solle. Gegen die Soldalen selbst, welche nichts von Uebergabe wissen wollten, welche drohend verlangten, zum Ausfall und Kampfe geführt zu werden, wagte Niemand einzuschreiten. Der Gouverneur befand sich in der verzweifeltsten Stimmung und auf’s Neue sandte er einen Vertrauten an Ney, um die Verhandlung zu beschleunigen.

Am 8. November wurden die Verhandlungen beendet, der Capitain Regnard brachte die ausgefertigten und von französischer Seite von dem Brigadegeneral Du Taillis, dem Adjutant Liger-Belair und ihm selbst unterzeichneten Capitulations-Bedingungen, um sie dem Gouverneur vorzulegen. Regnard las sie vor. Mehrere anwesende Generäle waren dagegen, ihr Muth reichte indeß nicht so weit, daß sie entschieden ihre Pflicht und Ehre vertheidigt hätten – sie gaben nach, und eine Stunde später war die Capitulation abgeschlossen und im Auftrage „Sr. Excellenz des Generals der Infanterie von Kleist, Ritter des königlich preußischen schwarzen und rothen Adlerordens und des kaiserlich russischen heiligen Alexander-Newskyordens, Militärgouverneur der Stadt und Festung Magdeburg“, von dem Generalmajor v. Renouard, dem Oberst und Commandant Du Trossel und dem Hauptmann Le Blanc unterzeichnet.

Preußen verlor in dieser Stunde seine stärkste Festung, ein [811] neuer Schandfleck war in die Blätter der deutschen Geschichte durch die Feigheit und Ehrlosigkeit eines einzelnen Mannes eingegraben, schwere unheilvolle Folgen gingen aus diesem einen Schritte hervor. Die Hauptbedingungen der 18 Artikel der schmachvollen Capitulation waren folgende:

Die Stadt und Festung Magdeburg wird den Truppen des sechsten französischen Armeecorps mit sämmtlichen Geschütz-, Munitions- und anderen Vorräthen übergeben.

Die Garnison marschirt am 11. November Morgens 11 Uhr mit allen kriegerischen Ehrenzeichen vor das Ulrichsthor, streckt das Gewehr, und die Cavallerie giebt die Waffen und die Pferde ab. Die Garnison wird zu Kriegsgefangenen. Die Soldaten werden nach Frankreich geführt, die Officiere können auf ihr Ehrenwort, nicht gegen Frankreich zu dienen, gehen, wohin sie wollen.

Die Soldaten behalten nur ihre Tornister und Mantelsäcke, die Officiere ihre Degen, Bagage und Pferde. Verwundete und Kranke können bis zu ihrer Genesung in Magdeburg bleiben; ebenso die dort verheirateten Officiere etc. Und in einem der acht Nachtragsartikel war noch bemerkt, daß der Commandant Du Trossel im Besitz seiner Amtswohnung bleibe und von jeder Einquartierung und anderen militärischen Lasten befreit bleibe.

Es ist unbegreiflich, wie Männer so feig und schmachvoll handeln konnten. An der Spitze von 19 Generälen, welche zusammen 1300 Jahre zählten, übergab Kleist Preußens stärkste Festung.

Die Feinde jubelten über einen so leichten Sieg. Napoleon erließ am 12. November in Berlin den stolzen Tagesbefehl, daß einem französischen Corps von 7000 Mann mit zwei Haubitzen gegenüber 20 Generäle, 800 Officiere, 20,000 Mann Infanterie, 400 Mann Cavallerie und 2000 Mann Artillerie in Magdeburg die Waffen streckten, und daß den Siegern 51 Fahnen, 8 Standarten, 800 Stück Kanonen, ein Train von Pontons, 1 Million Pfund Schießpulver und beträchtliche Magazine in die Hände fielen.

Als die Soldaten am Abend des 8. November die Capitulation erfuhren, entstand ein neuer Aufruhr unter ihnen, aber auch jetzt hatte keiner der angesehenen Officiere den Muth, sich an ihre Spitze zu stellen. Mit Begeisterung würden sie ihm gefolgt sein. Die ganze Nacht hindurch währte der Aufruhr und die Unruhe auf den Straßen. Am folgenden Morgen wurden sämmtlichen Soldaten die scharfen Patronen abgenommen. Nachmittags zwei Uhr am 10. November besetzte eine Compagnie französischer Grenadiere nach der Uebereinkunft das Ulrichsthor und die Außenwerke desselben.

Um elf Uhr des folgenden Tages rückten die einzelnen Regimenter mit Trommelschlag und klingendem Spiel auf das Glacis vor dem Ulrichsthor. Viele der Soldaten weinten vor Erbitterung und Scham. Es war wohl berechnet von dem Gouverneur gewesen, daß er ihnen die scharfen Patronen hatte abnehmen lassen: in diesem letzten Augenblicke würden sie dieselben angewendet haben, denn die Wuth brach bei Vielen so gewaltig hervor, daß sie Fenster und Laternen auf dem Wege zertrümmerten.

Auf dem Glacis hielt der ehrlose Gouverneur zu Pferde zwischen dem Marschall Ney und General Vandamme. Die Regimenter defilirten an ihnen vorüber und mußten darauf im Angesicht weniger gegenüber aufmarschirter französischer Bataillone das Gewehr strecken. Manche bittere Thräne floß, mancher laute, heftige Fluch über den Gouverneur wurde ausgestoßen. Soldaten und Unterofficiere machten darauf rechtsum – und wurden nach Frankreich transportirt. Die Officiere steckten den Degen ein und kehrten in die Stadt zurück, welche sie noch an demselben Tage verlassen mußten.

Erst jetzt rückte der Marschall Ney in die Stadt, neugierig die Festungswerke zu besichtigen, und er war erstaunt, als er sie sämmtlich im besten Zustande fand. Er nahm in der Domdechanei am Neuen Markte Quartier, und sein erstes Werk war, daß er der Stadt, unter Androhung der Plünderung, 150,000 Thaler abpreßte. Vandamme raubte auf eigene Hand, nahm aus Rechnung der Commun die besten Pferde für sich und plünderte selbst Kaufmannsläden. Der Gouverneur Graf von Kleist verließ am 12. November die Stadt, das Grab seiner Ehre, und reiste nach Berlin, wo er bis zu seinem bald nachher erfolgenden Tode unter französischem Schutze lebte.

Der König von Preußen erließ am 1. December 1806 von Königsberg aus die Verordnung, nach welcher die Commandanten von Magdeburg, General Kleist und Oberstlieutenant Du Trossel, sowie sämmtliche in Magdeburg anwesend gewesene Generäle, welche bei dem versammelten Kriegsrathe für die Uebergabe gestimmt hätten, ohne Abschied zu entlassen seien. Kleist’s Familie faßte sogar den Entschluß, ihren so tief geschändeten Familiennamen aufzugeben – das Alles vermochte eine That nicht zu sühnen, für die es keine Sühne und keine Rechtfertigung giebt! Die Geschichte hat darüber zu Gericht gesessen! –




Rettungsstationen an deutschen Küsten.
Eine Mahnung an die deutsche Nation.

Es ist bereits im November 1860 öffentlich von dem bremischen Hafenstädtchen Vegesack aus der Plan in Anregung gebracht worden, „im Wege des Aufrufs an die gesammte deutsche Nation deren Wohlthätigkeitssinn für Errichtung von Rettungsstationen an den deutschen Nordseeküsten zu erwecken.“

Nur der traurigen Zersplitterung unseres Vaterlandes ist es zuzurechnen, daß auch nach der angegebenen Richtung hin für Deutschlands Küsten noch nichts geschehen ist.[2] Die Nordsee, soweit sie nicht deutsch ist, bietet dem mit der Wuth der Elemente ringenden Seemanne überall die Möglichkeit einer Rettung. Selbst Dänemark zeichnet sich wenigstens in dieser Hinsicht vor den Deutschen aus. Und wenn der englische Seemann sich den Küsten seines Vaterlandes nähert, so weiß er, daß auch in furchtbarer Wetternacht offene Augen für ihn wachen; kehrt der deutsche Seemann oder Reisende heim, so muß er befürchten, selbst angesichts der Küsten seines eigenen Vaterlandes noch elendiglich umzukommen, weil die unselige innere Zersplitterung und der Particularismus desselben es unfähig macht, von Staatswegen auch nur die allernothwendigsten Vorkehrungen zu seiner Rettung zu treffen.

Wenn es nun auch natürlich ist, daß die ersten Schritte zu einem Unternehmen, welches hier Abhülfe bringen soll, von den Bewohnern der deutschen Uferstaaten ausgehe, so ist die Sache selbst doch ihrer Natur nach eine nationaldeutsche, wie irgend welche andere. Denn ist es nicht die Pflicht Aller, zur Rettung derjenigen nach Kräften beizutragen, welche unter unablässiger Mühe und stetem Wagniß ihres eigenen Lebens die Vermittler sind der Segnungen, welche durch die Seefahrt sich auch über ganz Deutschland verbreiten? Befindet sich nicht unablässig eine bedeutende Zahl auch von Binnenländern als Passagiere oder Auswanderer auf der See? Und ist es für ein deutsches Herz gleichgültig, wenn es nach einem Blick über die civilisirten Nationen Europa’s wahrnimmt, daß gerade Deutschland wiederum dieser großen Pflicht der Humanität einzig nicht genügt, während der Engländer, der Franzose, der Holländer, ja selbst der Däne, seine Küsten mit Rettungswerken überall versehen hat?

Die unaufhörlichen Hülferufe, welche unsere Zeitungen bringen, wenn Feuersbrünste oder Ueberschwemmungen irgendwo im deutschen Vaterlande oder auch auswärts stattgehabt, bezeugen dagegen durch ihren Erfolg noch stets in erhebender Weise den Wohlthätigkeitssinn unserer Nation. Und dennoch ist die Wohlthätigkeit, wenigstens soweit das Element des Feuers die Zerstörung schuf, vielleicht nicht einmal am rechten Platze. Die gemeinnützigen Unternehmungen aller Art, welche heutzutage so recht zum Wohle der Menschheit geschaffen sind, Versicherungsanstalten oben an, machen den zu einem Fahrlässigen, welcher versäumt, gegen eine geringe Leistung seinem Besitzthume denjenigen Schutz angedeihen zu lassen,

[812] ohne welchen er dasselbe einem gänzlichen Ruine ausgesetzt weiß. Bei den Anstalten zur Rettung aus Seegefahr dagegen wird der edle Zweck durch keinen, wenn auch noch so geringen, Nachtheil des Mittels beeinträchtigt, und auch darum hoffen wir, daß sich mit der Zeit der Wohlthätigkeitssinn aller Deutschen bei diesem Unternehmen mit allem Nachdruck bethätigen werde.

In dem von Vegesack aus erlassenen Aufruf an die gesammte deutsche Nation ist angedeutet worden, daß man s. Z. detaillirten Bericht und Vorschläge über diesen Gegenstand mittheilen würde. Während der Aufruf da, wo das Bedürfniß von Rettungsstationen am lebhaftesten gefühlt wurde, das erfreulichste Resultat gefunden, in Ostfriesland mit der Bildung eines allgemeinen Rettungsvereins für die dortigen Küsten zu Emden, auch zu Hamburg und an einigen anderen Plätzen mit der Bildung von Comité’s wenigstens ein Anfang in der Sache gemacht ist: scheint man

Rettung durch den Raketenapparat. Verbindung mit dem Schiff mittels der Raketleine.

in Bremen mit der Inangriffnahme der Sache zu zögern, weil man sich durch das Gutachten eines einzelnen Seemannes, „die Sandbänke und Riffe der Nordsee, auf denen die Strandungen meistens vorkämen, seien von der Küste zu weit entfernt, als daß Rettung dahin gebracht werden könne, auch beim Vorhandensein geeigneter Rettungsboote sei die seekundige Bevölkerung der Inseln so schwach, daß es an Mannschaft zur Bedienung mangeln würde,“ wie es scheint, gänzlich hat zurückschrecken lassen. Es stehen diesem Gutachten aber Erklärungen anderer tüchtiger, der Nordseeküsten kundiger Seeleute direct entgegen, und es versteht sich von selbst, daß bei einem Unternehmen, welches auf die Rettung von Menschenleben abzweckt, große, ja die größten Hindernisse und Schwierigkeiten überwunden werden müssen! Daß die Schwierigkeiten an den englischen Küsten nicht geringer gewesen sind, als an den deutschen, ist wohl überflüssig zu erwähnen. Wären sie aber auch tausendfach schwieriger gewesen, der Engländer würde sich niemals durch bloße Muthmaßungen von der Ausführung haben zurückschrecken lassen.

Bei der gemeinnützigen Natur der Sache selbst und ihrer nationalen Bedeutung, namentlich aber um die Anregung zur Ausführung derselben möglichst allgemein zu machen, folgen hier nunmehr diejenigen Andeutungen und Vorschläge, welche auf Grund des vorhandenen Materials überhaupt gegeben werden können. Es muß demzufolge dem Urtheile Sachverständiger und der Kritik im Allgemeinen vorbehalten bleiben, etwaige Irrthümer aufzudecken, etwaige Mängel auszufüllen. Natürlich wird jeder Wink darüber und jede Besprechung, auf welchem Wege sie auch geschehen mag, mit Dank entgegengenommen werden.

Das einzige ausreichende und brauchbare statistische Material über die Unglücksfälle zur See, sowohl in Bezug auf die Fahrzeuge als in Rücksicht auf den Verlust oder die Rettung von Menschenleben, bieten die Erfahrungen der Royal national life boat institution in England. Selbstredend geben diese nur Kunde von den Ereignissen an den Küsten Großbritanniens. Nach Ausweis derselben war das Jahr 1859 (über das verflossene Jahr liegen die officiellen Berichte hierorts noch nicht vor, doch übersteigt dasselbe das vorhergehende in seinen Schrecknissen sicherlich) bis dahin das schiffbruchreichste in der englischen Geschichte. Es hat 1645 Menschenleben und Eigenthum für nahe an zwei Millionen Pfd. St. verschlungen. Bei dieser Entsetzen erregenden Zahl ist freilich zu erwägen, daß England der Mittelpunkt des Welthandels ist, daß es als solcher die größte Zahl Kauffahrer beschäftigt und von allen Theilen der Erde wie ein Magnet an sich zieht; daß im Jahre 1859 allein 300,580 Fahrzeuge von 31,712,500 Tonnen Gehalt in britischen Häfen ein- und aus denselben wieder ausliefen, daß sich über eine Million Menschen auf diesen Schiffen in die See hinauswagte, und daß die Küsten Englands zu den gefährlichsten Europa’s gehören. Dazu kommen noch besondere Unglücksmomente: die heftigen Stürme im Herbste 1859, die allein den Tod von 798 Menschen veranlaßten; sowie der Untergang des „Royal Charter“ mit 446, der „Pomona“ mit 424 und des „Blenvic Castle“ mit 56 Personen.

So fürchterlich nun jene Jahre auch den Schiffen gewesen sind, so ist es doch ein Trost, aus den officiellen Nachrichten zu erfahren, daß namenloses Unglück durch den Verein für Rettungsboote und andere zur rechten Zeit angewandte Rettungsmittel verhütet worden ist. Allein im Jahre 1859 wurden 2233 Personen dem sicheren Tode durch Rettungsboote, Raketenapparate und dergleichen entrissen; im Ganzen sind seit 36 Jahren nicht weniger als 11,401 Menschenleben gerettet worden!

Anders ist’s in Deutschland. – In Deutschland existirt leider eine Statistik über diese Ereignisse gar nicht, und wer und wie viel Mitmenschen an den deutschen Küsten umgekommen sind, darüber breitet sich, wie über so manche andere deutsche Angelegenheit, [813] ein schwer zu lüftender Schleier. Es muß hier zunächst die durch einzelne notorische Fälle gerechtfertigte Muthmaßung genügen, daß auch schon Tausende angesichts der deutschen Küsten einem Tode erlegen sind, der heutzutage in jedem einzelnen Falle gewiß nicht zur Ehre Deutschlands gereichen kann, nachdem andere Nationen seit 37 Jahren leuchtende Beispiele gegeben haben, wie dem tödtenden Elemente wenigstens der herbste Stachel zu brechen sei.

Wir geben den Lesern zunächst eine Anschauung der Art solcher Rettungen, die wir durch zwei Illustrationen erleichtern. Die eine zeigt, wie mittelst des Raketenschusses eine Verbindung durch eine Leine mit dem bedrohten Schiff hergestellt wird, und die andere stellt die Beförderung der Personen an das Land dar, und zwar mittels der „Schlinge“ oder „Länge“ (s. unten 4).

Den Raketenapparat zu beschreiben, ist unnöthig; wir gehen gleich zum Boote über. Ein gewöhnliches Rettungsboot, wie sie am

Beförderung an das Land mittels der „Schlinge“.

häufigsten und namentlich an Ufern, welche denen unserer Nordsee ihrer natürlichen Beschaffenheit nach am nächsten kommen, gebraucht werden, ist 26 Fuß lang, 61/2 Fuß breit, 21/2 Fuß tief, aus tadellosem Holzmaterial und durchweg solide gebaut. Inwendig befinden sich sowohl am Boden, wie unter den Sitzbänken Reihen luftdicht verschlossener, kupferner Kasten. Dabei hat das Boot einen flachen eisernen Kiel von solcher Schwere, daß dasselbe, falls es umschlägt, sich von selbst wieder emporrichtet, vermittelst der luftdichten Kasten sich hebt und aus einem am Boden angebrachten Auslauferohre (Ventil) das ausgeschöpfte Wasser in sehr kurzer Frist wieder abgiebt. Unter Wasser ist der Bau schärfer als vorn, denn dies fördert die Leichtigkeit des Ganges. Das Gewicht des Bootes beträgt ungefähr 2000 Zollpfund, der Tiefgang 81/2 Zoll.

Die Bemannung eines englischen Rettungsbootes besteht aus einem Bootsmann, dessen Stellvertreter, einem Bugmanne und so viel Ruderern, als das Boot Riemen führt. Die Bemannung bilden Matrosen und Fischer, die in der Regel am Strande sind. Die Boote dienen nur zur Rettung von Menschenleben; Güter dürfen darin nicht geborgen werden. – Für gewöhnlich steht das Boot völlig ausgerüstet in seinem Schuppen auf einem mit mechanischem Apparate versehenen Fuhrwerke. Ereignet sich ein Schiffbruch in einiger Entfernung von der Station, so wird das Boot mit der Mannschaft auf dem Fuhrwerk durch Pferde längs der Küste so weit nöthig und möglich transportirt. Durch Herausziehen eines eisernen Bolzens klappt der obere Theil des Wagens nach der See zu nieder, und das Boot mit der Mannschaft rutscht von selbst in’s Wasser. In jedem Bootshause befinden sich Instructionen über die Behandlung anscheinend Ertrunkener, nebst allen erforderlichen Medicamenten und Apparaten. – Der Bootsmann auf jeder Station führt ein Journal über alle Dienste des Boots, über die Namen der Schiffe und der geretteten Personen und muß nach jedem Vorfall sofort an das Centralgouvernement in London Bericht abstatten.

Wir müssen die specielle Aufzählung der vielen Bestandtheile und Bedürfnisse eines solchen Rettungsbootes hier unterlassen. Außer dem Rettungsboote und dem Raketenapparate oder Mörser ist (nach Giersberg’s Instruction) zur Lebensrettung bei einem Schiffbruch an Werkzeugen Folgendes unentbehrlich: 1) Eine dünne Leine (Wurfleine, Raketleine), die an einem Ende an ein Kabeltau befestigt und von der Rakete (oder dem Mörser) geschleudert wird. 2) Ein Tau (Kabeltau) von 3 bis 31/2 Zoll Stärke und 40 bis 120 Faden Länge, je nach der Steilheit oder Flachheit des Ufers. 3) Eine dünne Leine von Manilahanf, ungefähr 11/2 Zoll dick, durch einen einzigen Schwanzblock gezogen und wenigstens zweimal so lang, als die Entfernung vom Ufer zum Wrack beträgt: sie wird durch Aneinandersplitzen ihrer Enden in ein endloses Tau verwandelt. 4) Eine Schlinge („Länge“), Floß, Korb oder sonst ein Gefäß zur Aufnahme der zu rettenden Personen. 5) Ein sogenannter „Reisender“ („Kinnbackblock“), der, an der Schlinge befestigt, auf dem Spanntaue hin und her läuft. 6) Ein Doppelblock, um das Tau straff zu spannen. 7) Ein Anker mit einem Spaten, um ihn in die Erde oder den Sand senken zu können und das Spanntau mittels des Doppelblocks an denselben zu befestigen. Ist das Ufer nicht für den Anker geeignet, so nimmt man als Ersatz desselben eine 5 bis 6 Fuß lange Planke, welche man 4–5 Fuß tief eingräbt und an die man das Tau in ähnlicher Weise mittels des Doppelblocks befestigt. 8) Eine rothe Flagge für den Tag, eine farbige Laterne für die Nacht, als Signale. 9) Einige Spaten, eine Handkarre, eine Rettungsboye, einige Extrastücke Tauwerk für Nothfälle, einige Räder oder Sparren, letztere, um an flachen Ufern als Triangel benutzt zu werden, damit das Tau darüber höher läuft und dadurch über der Wasserfläche erhalten werden kann.

[814] Sobald ein Schiff in erreichbarer Nähe von der Küste in Gefahr erscheint, kommt der Raketenapparat zur Anwendung. Gelingt es nicht beim ersten Wurf, die Leine nach dem Schiff zu führen, so wird sie sofort wieder eingeholt, zugleich auf die Erde in oblongen Buchten gelegt, so daß diese in derselben Richtung liegen, wie geworfen wird. Man nimmt an, daß ein solcher Raketenapparat in der Regel auf eine Entfernung von 400 Ellen ausreicht. Ist es gelungen, die Leine nach dem gestrandeten Schiff zu werfen, und ist sie von der Mannschaft ergriffen worden, so wird (nach Giersberg’s Darstellung der englischen Rettungsweise, die uns hier vor der Hand noch maßgebend ist) irgend ein bestimmtes Signal gegeben. In England tritt ein Mann der Bedienung seitwärts und schwenkt, also getrennt von den Anderen, seinen Hut, oder die Hand, oder eine Flagge. Bei Nacht wird eine Rakete von blauem Lichte oder ein Kanonenschuß abgefeuert oder ein Licht nach dem Deck des Wracks gezeigt und nach kurzer Zeit wieder verdeckt (Blickfeuer). Sobald dieses Signal am Ufer gegeben ist, wird das dem Lande zustehende Ende der Wurfleine an die oben unter 3) genannte Leine von 11/2 Zoll Stärke (das endlose Tau) befestigt, indem man sie etwa 2 Faden von dem durchscharten Block umschlingt. Hierauf giebt abermals einer der Leute am Ufer, getrennt von den Anderen, ein bestimmtes Signal. In England schwingt er bei Tage eine kleine rothe Flagge oder zeigt Nachts ein rothes Licht, welches er nach ungefähr einer Minute wieder bedeckt. Bei Anblick dieses Signals wird die Mannschaft eines Wracks, welche nicht ohne alle Kenntniß der Instructionen solcher Rettungsapparate herumfährt, die Wurf- oder Raketenleine anholen, bis sie das Tau ohne Ende und den daran befestigten geschwänzten Block erreicht hat; dann befestigt sie den Schwanz des Blocks an einen sicheren Theil des Schiffs, wirft die Wurfleine ab und giebt wo möglich ein ähnliches Signal für die Leute am Lande, die nun das Tau ohne Ende bemannen, das Verbindungstau etwa 3–4 Faden von seinem Ende um jenes schlingen und es durch das Tau ohne Ende an Bord befördern. Sobald die Mannschaft des Wracks dieses Tau ergriffen hat, befestigt sie es an dem Wrack ungefähr 18 Zoll über der Stelle, wo der Schwanz des Blocks sich befindet, und trennt hierauf das Verbindungstau von dem Tau ohne Ende. Nun giebt man abermals das obige Signal, worauf der sogenannte „Reisende“ (vergl. oben Nr. 5.) mittels des Taus ohne Ende an Bord gebracht wird. Ist dieser „Reisende“, eine gegen Abgleiten vom Seil geschützte Rolle, mit einer Vorrichtung verbunden, an der die „Schlinge“ (oben Nr. 4) befestigt wird, an Bord angekommen, so sind alle Vorbereitungen zur Rettung der Menschenleben vollendet. Man befestigt eine Person (stets wird mit den Frauen und Kindern der Anfang gemacht) in die Schlinge (auf unserm Bilde ein Korb) und giebt das Signal, die Leute am Ufer handhaben das Tau ohne Ende und holen so den ersten Geretteten an das Land. Sobald die Schlinge wieder frei ist, wird sie durch das Tau ohne Ende wieder an Bord gezogen, und so wiederholt sich die Manipulation, bis alle Mannschaft des Wracks am Lande ist. Das ist die Operation, wenn das Wrack an einer Stelle des Strandes liegt, wo das Boot wegen Untiefen oder zu starker Brandung nicht in Anwendung kommen kann. Wo dies nicht der Fall ist, tritt das Rettungsboot in seine rascher fördernde Wirksamkeit, für das Ankerleine und Kabelleine eine Sicherheitsthätigkeit entfalten, deren nähere Beschreibung uns hier zu weit führen würde.

Es ist natürlich, daß schon Tages- und Jahreszeit bedeutende Unterschiede in die Weise der Rettung bringen und daß das Maß der Mühen und Gefahren für die Rettungsmannschaft selbst hiernach ein sein verschiedenes ist. Trotz alledem leben an den deutschen Küsten allenthalben Männer, die der Gefahr so trotzig entgegentreten, wie die Leute auf Albions Kreidefelsen; man gebe ihnen nur erst die Mittel, um diesen edelsten Trotz zu bewähren.

Sollte dies dem großen Deutschland zu viel zugemuthet sein? Man prüfe!

Das ganze Unternehmen solcher Rettungsstationen theilt sich in zwei verschiedene Theile. Als erster wird die Herbeischaffung des Capitals, als zweiter die technische Ausführung und die Organisation der Verwaltung anzusehen sein.

Wir wenden uns zunächst dem Kostenanschlage und den Vorschlägen zu, welche wir auf Grund des englischen Materials zu machen haben.

Zur Herstellung eines Rettungsbootes von 26 Fuß Länge mit 30 Rudern, nach dem anerkannt besten Principe, nach welchem jetzt die meisten englischen Boote erbaut sind, sowie mit vollständigem Inventar, würde in England ein Kostenaufwand von 234 Pfd. Sterl. = 1404 Ld’or-Thlr. erforderlich sein.

Die Haltbarkeit, resp. Diensttüchtigkeit eines solchen Bootes wird durchschnittlich auf 30–40 Jahre berechnet. Da es nun rathsam erscheint, zunächst mit fünf Stationen den Anfang zu machen, nämlich am Weserleuchtthurm, auf Wangerooge, Norderney, Borkum, Helgoland, je 1 Boot, so würde zur Erbauung dieser fünf Boote die Summe von 7020 Ld’d’or-Thlr. erforderlich sein.

Zur Aufbewahrung der Boote kommt für jede Station ein Bergeschuppen etc. à. 500 Ld’or-Thlr. = 2500 Ld’or-Thlr., ein Wagen mit mechanischer Vorrichtung für den Transport der Boote, à. 300 Ld’or-Thlr. = 1500 Ld’or-Thlr.; also ist zur Errichtung der Boote an fünf Stationen ein Capital von 11,020 Ld’or-Thlr. zu beschaffen.

Die jährlichen Betriebs- und Verwaltungskosten würden sich ferner belaufen auf 1) für Unterhaltung und Reparatur der Boote, je 1 Boot 120 Ld’or-Thlr. = 600 Ld’or-Thlr. 2) für Verwaltungskosten, Gehalte à. 250 Ld’or-Thlr. = 1250 Ld’or-Thlr. 3) für Besoldung der Mannschaften à. 150 Ld’or-Thlr. = 750 Ld’or-Thlr. Summa 2600 Ld’or-Thlr., welche jährlich herbeizuschaffen wären und, zu 5%, capitalisirt, ein Vermögen von 52,000 Ld’or-Thlr. repräsentiren werden. Dazu die Anlagekosten, Raketenapparat etc. 13,000 Ld’or-Thlr., in Summa 65,000 Ld’or-Thlr.

Dies ist die Capitalsumme, welche nach Analogie des englischen Materials der anfänglichen Ausführung des Unternehmens zugewandt werden müßte. Es unterliegt indeß keinem Zweifel, daß, wenn zuvörderst nur ein Exemplar der in England patentirten Boote, sowie der übrigen Rettungsapparate nach Deutschland gebracht würde, die übrigen nach dem Muster um ein Bedeutendes wohlfeiler angefertigt werden könnten. Diese englischen Rettungsboote sind aus einem sehr zähen amerikanischen Holze gezimmert, was allerdings bei Weitem kostspieliger ist, als unser Eichen- oder Eschenholz, doch würde sich letzteres auch hinreichend als Baumaterial qualificiren. Nach genau eingezogenen Erkundigungen würde man hierorts für etwa die Hälfte des englischen Preises ein solches Boot vollständig herstellen könnten. (Auch würde es ganz in der Ordnung sein, eine Probe mit dem vielbesprochenen ganz neuen Rettungsboote unsers „deutschen Erfinders“, Wilhelm Bauers, für diese Nordsee-Stationen zu veranstalten.)

Wenn auch ein Maßstab der in England zur Unterhaltung und Erweiterung des Institutes stattfindenden Betheiligung in einmaligen und jahrlich wiederkehrenden Spenden sich nicht unmittelbar auf Deutschland anwenden läßt, so darf doch nicht übersehen werden, daß in Deutschland, bei gleicher Nothwendigkeit der Einführung von Rettungsstationen, der Ausdehnung nach nur ein Verhältniß von etwa 100 zu 10 stattfindet. Es würden also von der gesammten deutschen Nation verhältnißmäßig weit geringere Opfer erheischt werden, als es bei der englischen erforderlich ist; hinwiederum, was dem ganzen Volke ein Leichtes sein wird, würde für einzelne Staaten eine drückende Last werden. Wenn aber die Nation die Sache in die Hand nimmt, so wird und muß sie nicht nur als eine deutsch-nationale angefaßt, sondern auch durchgeführt werden, um gleich vom Anfang wie aus einem Gusse in Einrichtung und Verwaltung als ein einheitliches Werk des deutschen Volkes zu erstehen.

So würde denn zunächst in einer der größeren Seestädte ein Hauptcomité sich bilden müssen, welches für die Errichtung von Comités in den übrigen Städten Deutschlands in der Weise Sorge trüge, daß an die Spitze derselben womöglich öffentiche Personen träten. Dadurch würde dem Publicum am besten Die Garantie der bezweckten Verwendung der Gelder geboten sein.

Wird auf diese Weise der Wohlthätigkeitssinn aller Deutschen herangezogen, so dürfte auch eine Betheiligung der Deutschen in England, Amerika und anderwärts jenseits der Meere bei einem Unternehmen nicht ausbleiben, welches längst eine Pflicht der deutschen Humanität gewesen wäre.

Möchten tiese Worte dazu beitragen, die Sympathie aller Deutschen einer solchen Anstalt zuzuwenden, und möchte die Sache überall diejenige Würdigung finden, welche sie als deutsche zu finden verdient!



[815]

Ein Beamtenleben.

Von Dr. J. D. H. Temme.
(Fortsetzung.)


„Höre mir zu, Adalbert,“ sagte die Directorin. „Du hast Recht, Du mußt wissen, was ich gethan habe, nur ich muß es Dir mittheilen. Aber nicht, um mich besser zu machen, als ich bin. Ich will nicht Dein Mitleid erregen. Was weiter geschehen muß, weiß ich. Ich will aber auch in Deinen Augen nicht schlechter sein, als ich bin. So höre. Wir haben noch Schulden, Du weißt es, wie ich. Gott ist mein Zeuge, nur Du weißt es ebenfalls, daß ich redlich gearbeitet, daß ich gespart habe, wo ich konnte, daß ich selbst entbehrt habe, wie Alle, auch Du, um aus der alten Schuldenlast herauszukommen, um nicht in neue hineinzugerathen. Wir konnten es dennoch nicht erreichen. Es war einmal ein Unglück, was Verhältnisse und Widrigkeiten über uns gebracht hatten. Wir hatten freilich in Deiner Beförderung zum Präsidenten die Aussicht, es von uns abzuschütteln. Unter den Schulden sind auch Haushaltungsschulden. Namentlich war die Forderung des Fleischers auf nahe an hundert Thaler angewachsen. Er hatte mich schon mehrmals gemahnt. Ich hatte ihn zu vertrösten gewußt. Er hatte von Neuem geborgt. Vor drei Wocken brachte er mir wieder die Rechnung, er verlangte auf der Stelle sein Geld und erklärte, mir von nun an gar nichts mehr borgen zu wollen, bis er vollständig befriedigt sei. Er wollte nicht länger warten, sich nicht länger zum Narren halten lassen und drohete, den sämmtlichen Fleischern der Stadt und Umgegend mitzutheilen, daß er von uns sein Geld nicht bekommen könne, er wollte sie auffordern, daß sie uns gleichfalls nichts mehr borgten. Noch den nämlichen Tag wollte er seine gerichtliche Klage gegen Dich einlegen: er ist ein roher, heftiger, zäher Mensch. Ich hatte kein Geld, um ihn zu befriedigen, und meine Bitten, noch einmal zu warten, nur noch drei Wochen, bis zu dem Tage der nächsten Gehaltszahlung, waren vergeblich. Er setzte mir eine Stunde Frist, und ich wußte Niemanden, von dem ich das Geld erhalten könne. Du warst gerade unwohl, Du hattest schon eine Zeit lang gekränkelt; ich hatte ein Nervenfieber befürchtet, und der Arzt, dem ich meine Befürchtung mittheilte, hatte mit bedenklichem Gesichte mir anempfohlen, Dich besonders vor jeder Aufregung zu bewahren. So konnte ich auch Dir nichts sagen, und unsere Ehre stand auf dem Spiele, unsere Existenz, Deine Ehre, Deine Zukunft.

„Gerate damals war der Präsidentenposten vacant geworden, der Dir jetzt übertragen ist; führte der Mann seine Drohung aus, so warst Du öffentlich in einer Weise compromittirt, daß von Deiner Beförderung nicht mehr die Rede sein konnte. Ich verlor den Kopf. Da hatte der Gerichtsbote die Postsachen hierher gebracht. Du lagst unwohl zu Bette, und ich mußte sie Dir dahin bringen. Du öffnetest und durchliefst sie, und hierauf mußte ich sie denn in Dein Arbeitszimmer zurücktragen, von wo sie später der Gerichtsdiener wieder abholen sollte. Es waren mehrere Geldbriefe darunter. Ich hatte Blicke hineingeworfen. Einer enthielt hundert Thaler in Cassenanweisungen, zugleich die Bemerkung, daß das Geld zwar erst in sechs Wochen eingezahlt werden müsse, daß es dem Absender aber bequem sei, es schon jetzt einzuschicken. Ich sah eine Rettung in meiner Noth. In drei Wochen war Gehaltzahlung, gerade morgen wird sie sein. Du warst bis dahin wieder ganz hergestellt; ich konnte Dir dann Alles mittheilen, das Geld wieder in den Brief legen. Der Fleischer hatte mich vor drei Viertelstunden verlassen und in einer Viertelstunde, in wenigen Minuten war er wieder da. Was dann? Ich war wie betäubt und nahm den Brief und das Geld zu mir. Ich fühlte nicht einmal Angst, als ich es that; ich hatte nur die eine Angst vor dem Fleischer. Als ich den rohen Menschen bezahlen konnte, fühlte ich mich leicht und von einer schrecklichen Last befreit, erst nachher kam die andere Angst, über das, was ich gethan hatte; sie kam jetzt furchtbar. Ich sah klar, Alles, wovon ich vorher keine Ahnung gehabt hatte, denn ich hatte ein Verbrechen begangen, und ein Verbrechen, das auf Dich zurückfallen mußte. Ich hatte unsere, Deine Ehre und Existenz retten wollen und hatte sie vollständig preisgegeben, der geringste Zufall konnte, mußte sie unrettbar vernichten. Ich betete zu Gott, daß er diesen Fall, die Gefahr, das Unglück abwenden möge; ich betete stündlich, unablässig. Zuletzt konnte ich es nicht mehr. Nur Du konntest die Gefahr abwenden, aber nur, wenn ich Dir mein Vergehen entdeckte. Konnte ich das? Ich mußte es! Einmal mußte ich es gewiß, und dennoch konnte ich es nicht, um Deinet- um meinetwillen nicht. Das war meine neue entsetzliche Angst; sie nahm mir von Neuem die Besinnung, den Willen. Jeden Tag wollte ich dennoch, keinen Tag konnte ich; zuletzt hatte ich es bis auf heute verschoben, auf Deinen Geburtstag. Da hoffte ich für Dich, in der Freude werde der Schlag Dich weniger hart treffen, für mich, Du werdest mir leichter Deine Verzeihung schenken. Da erbrachst Du den zweiten Brief, ich sah es Dir an, was er enthielt. Ich wollte an Deine Brust fallen und Dir Alles sagen. Da waren die Kinder dabei, da stürztest Du fort, ehe mein Entschluß klar werden konnte; ich dachte in meiner Angst, der Brief könne doch etwas Anderes enthalten; da warf sich endlich mit ihrem Jammer, mit ihrem zerrissenen Herzen die arme Emilie an meine Brust. Ich wollte nachher noch einmal zu Dir, als ich hörte, daß der Präsident gekommen sei. Aber nun war es zu spät, und meine Kraft war ganz gebrochen. – Du weißt jetzt Alles.“

Die unglückliche Frau war während ihrer Mitteilung immer klarer und ruhiger geworden. Jener Entschluß, mit dem sie begonnen hatte, war zugleich klarer und fester in ihr gereift und er hatte ihr die Kraft verliehen.

„Erzähle Du mir jetzt, Adalbert,“ fügte sie ihrer Mittheilung hinzu, „und laß uns dann mit Ruhe und Besonnenheit das Weitere überlegen.“

Den Director hatte die Klarheit und Festigkeit der Frau nicht in gleicher Weise erheben können. Ihre Erzählung hatte ihm von Neuem seine Vernichtung gezeigt. Eine unbedeutende Schuld, eine leichtsinnige That, ein einziger unglücklicher Augenblick hatte ihm auf einmal und für immer das endlich erreichte Ziel seines Strebens und Lebens wieder aus der Hand gewunden, warf ihn zurück in eine dunkle, gar schmachvolle Existenz, ihn, den Mann der Ehre, des Stolzes, des Ehrgeizes. Ihn, den völlig Unschuldigen! Konnte er der Schuldigen, der allein Schuldigen, verzeihen? Sie war seine Gattin, sein treues Weib, die Mutter seiner Kinder und hatte so lange und so viel mit ihm und für ihn und für die Kinder gearbeitet, gemüht, entbehrt, gelitten! Sie liebte ihn, er liebte sie, sie liebten sich über Alles. Aber nur wenn er einen andern Schuldigen bringen konnte, war er gerettet, blieb ihm seine Carriere, eine glänzende Zukunft. So hatte der Präsident ihm gesagt, so war es.

„Ich soll Dir erzählen?“ sagte er. „Ich kann es mit wenigen Worten. Der Absender des Geldes hatte vierzehn Tage vergeblich auf eine Quittung gewartet. Er beschwerte sich beim Obergerichte. Ich wurde heute davon benachrichtigt und untersuchte, wohin das Geld könnte gekommen sein. Ich war für mich darüber in’s Klare gekommen, als der Präsikent zu dem nämlichen Zwecke eintraf und zu einem ähnlichen Resultate gelangte, wie ich, daß das Geld hier in meinem Hause geblieben sein müsse; nur hielt er mich für den Nehmer. So steht einfach die Sache.“

Er hatte nicht ohne Bitterkeit sprechen können. Die Direktorin hatte ihm mit Ruhe zugehört.

„Und was hat der Präsitent Dir weiter gesagt?“ fragte sie.

„Ich muß meinen Abschied nehmen, wenn ich nicht –“ !

„Wenn Du nicht?“

Er konnte doch den Satz nicht vollenden, auf ihre Frage nicht antworten. Aber sie wußte, was er ihr nur sagen konnte. Sie hatte es von vornherein nicht anders erwartet. Darauf war ja ihr Entschluß gebaut, der fester und fester in ihr geworden war, den sie ihm nur nicht mittheilen durfte.

„Hast Du dem Präsidenten schon Deine letzte Erklärung abgegeben?“ fragte sie den Gatten.

„Nein.“

„Du mußtest mich erst sprechen?“

„So war es.“

„Und jetzt – Adalbert, erfüllst Du mir eine Bitte?“

„Welche?“

„Nicht eher einen Entschluß zu fassen und nicht eher ihn dem Präsidenten mitzutheilen, als bis Du mit mir darüber gesprochen hast.“

[816] „Was hast Du vor?“ fragte der Director.

„Gewähre nur die Bitte.“

Er sah sie fragend, mißtrauisch, dann ahnend an.

„Es sei,“ sagte der ehrgeizige Mann.

Er fragte nicht noch einmal, was sie vorhabe.

„Und nun noch eine Bitte, Adalbert,“ konnte sie in ihrer klaren Ruhe fortfahren.

„Sprich sie aus.“

„Tröste Emilie, das arme Kind. Hat der Präsident Dir von ihr gesprochen?“

„Ja.“

„Ich ahne, was er Dir kann gesagt haben. Es sind Worte des Stolzes, des Hochmuths gewesen. Um so mehr Worte des Trostes wirst Du für sie haben.“

Die beiden Gatten trennten sich.


5.

Es war Abend. Die Directorin Heilsberg saß in ihrem Schlafzimmer. Dasselbe theilten mit ihr zugleich ihre beiden jüngeren Töchter, die fünfjährige muntere Hanna und die an Körper und Geist schwache Clementine. Der siebenjährige Bruno schlief in einem Alkoven nebenan. Die sorgsame Mutter hatte es sich nie nehmen lassen, auch in der Nacht zum Schutze der kleineren, der Hülfe bedürftigen Kinder in der Nähe zu sein. Die kranke Clementine war schon in ihrem Bette und schlief. Auch der Knabe war in seinem Bettchen. Aber er schlief noch nicht, und der Vorhang, durch den der Alkoven von der Stube getrennt wurde, war noch nicht niedergelassen. Die kleine Hanna war noch auf, aber sie schlief. Sie saß an einem Tische, der in der Mitte der Stube stand. Auf dem Tische lagen ihre runden Aermchen. Auf den Aermchen ruhte der müde blonde Lockenkopf. Sie war die Lebhaftere und wollte immer die letzte sein, die zu Bette gebracht werde. So auch heute. Aber heute war sie darüber eingeschlafen. Neben ihr saß wachend die Mutter. Die Directorin hatte den ganzen Abend geschrieben.

Am späten Nachmittage, nachdem er lange mit seiner Tochter Emilie gesprochen, hatte der Director Heilsberg das Haus verlassen. Er war seitdem noch nicht zurückgekehrt. Gleich nachdem er ausgegangen, hatte die Directorin sich in ihr Schlafzimmer begeben. Sie war bis dahin unten im Wohnzimmer gewesen. Als die Kinder hineingekommen waren, hatten sie die Mutter mit blassem, eingefallenem Gesichte, mit Thränen in den Augen, mit gerungenen Händen, auf und ab schreiten sehen; oder sie hatte auch wohl so am Fenster gestanden und zum Himmel hinaufgestarrt. Die Kinder hatten sich fragend, weinend zu ihr stürzen wollen; aber sie hatte sie mit so weicher, schluchzender Stimme gebeten, sie allein zu lassen. Sie hatten sich still und gehorsam entfernt. Welchen furchtbaren Kampf mochte die unglückliche Frau gekämpft, mit wie heißen Gebeten mochte sie vom Himmel Kraft erfleht haben, in dem Kampfe nicht zu unterliegen, ihrem Entschlusse treu zu bleiben! In ihrem Schlafgemache hatte sie sich dann eingeschlossen.

Als, wie gewöhnlich, um sieben Uhr Abends die drei jüngeren Kinder kamen, um sich zur Ruhe zu begeben, lagen zwei große Briefe fertig geschrieben und versiegelt auf dem Tische. Auf dem einen fehlte nur noch die Adresse. Die Kinder waren still angekommen. Das blasse, verweinte Gesicht der Mutter sahen sie ja noch vor sich, und die schluchzende Bitte, sie nicht zu stören, tönte noch in ihren Ohren. Sie hatte zuerst die Kranke zu Bette gebracht, dann den Knaben. Die kleine Hanna, die still sein mußte und nicht plaudern durfte, war unterdeß am Tische eingeschlafen. Sie hatte sich, ermüdet und erschöpft, zu dem Kinde gesetzt und schrieb die Adresse auf den einen Brief. Dann starrte sie beide Briefe an, als wenn sie ihr Verhängniß, ihr dunkelstes Verhängniß enthielten. Dann fiel ihr Blick auf das schöne, freundliche Kind, das so süß neben ihr schief. Dann mußte sie nach der anderen Seite blicken, wo das Bett der kranken Clementine stand. Auch die Kranke schlief, aber es war ein so trauriger, erschreckender Schlaf. Und je trauriger er war, desto fester haftete Auge und Herz der Mutter darauf. Auch zu dem Knaben schweifte ihr Blick. Er schlief noch nicht und verfolgte mit seinen großen, dunklen, treuen Augen jede Bewegung der Mutter. Ihre Augen begegneten diesen Augen. Da konnte das Kind nicht mehr an sich halten.

„Mutter!“ rief es leise.

Das Wort, die Stimme durchfuhr sie elektrisch. Sie mußte aufspringen zu dem Kinde.

„Was willst Du, Bruno?“

„Mutter, gieb mir Deine Hand. Es ist mir, als wenn Du uns hier allein lassen wolltest.“

„Großer Gott!“

„Als wenn wir Dich nicht wieder sehen sollten.“

„Nein, nein!“ mußte sie laut aufschreien.

„Du bleibst bei uns, Mutter?“

„Kind, wie kamst Du auf solche Gedanken?“

„Ich weiß es nicht; aber wie ich Dich so traurig sah und wie ich nicht einschlafen konnte – und den Vater hatte ich den ganzen Tag nicht wieder gesehen, und es ist doch heute sein Geburtstag, und da hatten wir Alle so fröhlich sein wollen – da kamen so schreckliche Gedanken über mich, ich kann es Dir gar nicht sagen, Mutter.“

„Schlafe Du ruhig ein, mein guter Bruno.“

„Du gehst also nicht von uns?“

„Eure Mutter ist immer um Euch, und mit ihr der liebe Gott mit seinen Engeln. Schlafe, mein liebes Kind. Ich muß jetzt auch die kleine Hanna in ihr Bettchen bringen.“

Sie küßte den Knaben. Er legte sich zurück, um zu schlafen. Aber sie konnte noch nicht gleich die kleine Hanna zu Bett bringen. „Muß es denn sein?“ ging sie händeringend in dem Gemache umher. „Diese schönen, lieben, armen Kinder! Mein Herz, mein Herz! Aber er! Sein Stolz, seine Ehre! Ich muß! Nur ich stehe vernichtend in seinem Wege. Es muß sein.“ Sie trocknete die Thränen, die ihr mit Gewalt aus den Augen geschossen waren, und ging zu dem schlafenden Kinde, es zu Bett zu bringen. Das Kind lag in dem festesten Kindesschlafe. Sie weckte es nicht. „Möchtest Du nicht wach werden!“ sagte sie. Sie wollte es entkleiden und in sein Bettchen legen, ohne daß es erwachen solle. „Wenn ich Deine hellen Augen noch einmal sähe, mein süßer Engel –“ Sie konnte nicht weiter sprechen. Die Thränen stürzten ihr wieder aus den Augen, sie mußte laut, heftig aufschluchzen.

„Liebe Mutter, weine nicht so,“ bat leise der Knabe aus seinem Bettchen heraus.

Sie kleidete still das Kind aus und legte es in sein Bettchen. Sie küßte es. Es war nicht erwacht. Ein Dienstmädchen war eingetreten.

„Das Abendbrot ist unten fertig,“ meldete sie.

„Ist mein Mann da?“ fragte die Directorin.

„Der Herr Director ist noch nicht zurückgekehrt. Fräulein Emilie und der Herr Oskar sind unten.“

„Bitte sie, ohne mich zu essen. Ich bin nicht wohl und wünsche, hier oben allein zu bleiben.“

Das Mädchen ging. Aber da durchzuckte sie ein heftiger Schmerz. „Ich muß sie sehen! Noch einmal! Noch einmal!“ Sie rief das Mädchen zurück.

„Ich lasse meine Kinder bitten, mir vorher hier gute Nacht zu sagen.“

Wie stark war das weiche Herz der unglücklichen Frau! Ihre beiden älteren Kinder erschienen, Beide bleich, den schweren Kummer im Gesichte, Emilie verweint. Die Mutter konnte ihnen mit trockenem Auge, mit gefaßter, ruhiger Miene entgegentreten.


(Schluß folgt.)


Nicht zu übersehen!

Mit Nr. 52 schließt das vierte Quartal, und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das erste Quartal des neuen Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen.

Ernst Keil.

  1. Die Commandanten der drei glücklich vertheidigen preußischen Festungen Graudenz, Pillau und Cosel waren Bürgerliche, die Befehlshaber der übrigen, so schändlich preisgegebenen Bollwerke Preußens sämmtlich – Adelige. Wie stolz muß sich die Brust der neucreirten preußischen Krönungs-Barone und Freiherren heben, wenn sie den Staub einer Atmosphäre von sich abschütteln, aus der in Zeiten der Noth so tüchtige Patrioten und unerschrockene Kämpfer hervorgingen!
    D. Red.
  2. An der Ostsee hat Preußen von Derfer-Ort im Reg.-Bez. Stralsund bis zur russischen Grenze 19 Rettungsstationen errichtet; es erschienen darüber zwei Schriftchen, das eine vom Major Trost, „Ueber den Gebrauch des an der preußischen Küste üblichen Rettungsapparates“, das andere vom Hauptmann Giersberg, „Instruction für den Gebrauch des an der preußischen Küste üblichen Rettungsapparates etc.“; welche Erfolge bis jetzt dort erzielt worden sind, ist uns nicht bekannt.
    A. d. Red.