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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[609]

No. 39.   1861.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Des Kaufmanns Ehrenschild.

Dr. J. D. H. Temme.
(Schluß.)


Als ich mich auf den Weg zum Schlosse machen wollte, kam jenseits der Brücke von der Chaussee her im Galopp ein Reiter angesprengt. Er warf sich vom Pferde und kam in den Park. Es war ein reitender Bote, den mir der Polizeidirector mit einem versiegelten Packet aus der Stadt schickte. Ich mußte bleiben. Ich riß das Siegel auf und fand mehrere Papiere. Wenige Zeilen des Polizeidirectors lagen bei. Er habe in der Wohnung und unter den Sachen des Todten genaue Nachsuchung gehalten; Näheres über dessen Person habe er nicht vorgefunden; die beikommenden, aufgefundenen Papiere würden aber auf eine in so mancher Hinsicht bedauerliche Weise ein weiter zu verfolgendes Licht auf das aller Wahrscheinlichkeit nach vorliegende Verbrechen eines vorher überlegten Mordes werfen.

In dem Schreiben war noch ein sehr kleiner Schlüssel eingeschlossen; er habe in einer verborgenen Schublade eines Secretairs gelegen und werde zu der auf der Brust des Todten gefundenen Kapsel passen. Der Polizeidirector war erst nach einer äußerlichen Untersuchung der Leiche von Holbergen abgegangen. Ich las zuerst die Papiere, die ein Licht über die That verbreiten sollten. Sie gaben ein für mich entsetzliches Licht. Es war zunächst eine Correspondenz zwischen Holberg und einem Herrn Frank in New-York.

Die Briefe Holberg’s waren im Original da, die Frank’s in zurückbehaltenen Abschriften. Sie waren ungefähr drei Jahre alt und ergaben Folgendes:

Holberg und Frank hatten früher in New-York ein Compagniegeschäft betrieben, unter der Firma Schuler und Compagnie. Frank hatte damals den Namen Schuler geführt. Später war Holberg nach Deutschland zurückgekehrt und hatte hier ein neues Geschäft begonnen, unter seiner eigenen und alleinigen Firma Friedrich Holberg. Es war gleichwohl ein Compagniegeschäft zwischen ihm und Frank, gegründet mit ihrer Beider gemeinsamen Mitteln und auf gemeinsame, gleiche Rechnung. Frank sollte nur nicht als Compagnon genannt werben. Das New-Yorker Geschäft war unterdeß ganz das bisherige Compagniegeschäft geblieben. Einige Jahre später aber hatten die Compagnons sich getrennt; Holberg war aus dem amerikanischen und Frank-Schuler aus dem deutschen Geschäfte ausgetreten. Jeder Austretende war mit seinem Antheile an der bisherigen Gemeinschaft abgefunden. Frank hatte aus dem deutschen Geschäfte baare dreißigtausend Dollars erhalten.

Mit dieser Darlegung früherer Verhältnisse begann der erste Brief der Correspondenz. Er war von Frank an Holberg. Er fuhr aber fort, Holberg habe ihn bei jener Auseinandersetzung betrogen; das deutsche Geschäft habe zur Zeit der Theilung anstatt der sechzigtausend Dollars, die Holberg angegeben, und von denen er mit jener Hälfte zu dreißigtausend Dollars abgefunden sei, ein Vermögen von dreimalhunderttausend Dollars gehabt. Hiervon fordere er nun seine Hälfte, nach Abzug der bereits erhaltenen Summe, mit noch einhundertundzwanzigtausend Dollars, nebst Zinsen seit zehn Jahren. Die Beweise für seine Forderung besitze er in Documenten von Holberg’s eigener Hand, wie dieser wohl wisse. Wenn er seine Rechte nicht früher geltend gemacht, so beruhe das in eigenthümlichen Umständen, die Holberg ebenfalls kenne und zu deren Bekanntmachung dieser ihn nicht zwingen möge.

Es folgte die Antwort Holberg’s. Sie lautete einfach dahin, er sei dem Herrn Frank nichts mehr schuldig. Seine, Holberg’s, Bücher ergäben den klaren Beweis. Welche Bewandtnis es mit den Documenten habe, auf welche Frank sich beziehe, wisse dieser am besten.

Ein zweiter Brief Frank’s erwiderte, er bestehe auf seiner Forderung. Seine Documente seien echt, Holberg’s Bücher, wenn sie anders lauteten, könnten daher nur gefälscht sein.

Holberg entgegnete, er sehe ferneren Schritten Frank’s ruhig entgegen; dieser möge dabei nur bedenken, daß er ein noch immer in Deutschland steckbrieflich verfolgter Betrüger sei.

Hiermit schloß die Correspondenz. Eine Notiz von fremder Hand auf dem letzten Briefe bemerkte, daß Frank bald nach dessen Empfang gestorben sei. Beigefügt war ein Rechnungsabschluß von Holberg’s Hand. Er betraf das deutsche Compagniegeschäft Holberg’s und Frank’s und lautete in der That auf ein reines Geschäftsvermögen von dreimalhunderttausend Dollars.

Holberg, der edle Freiherr von Holberg, der weit und breit hochgeachtete Kaufmann, mein treuester, liebster Freund, also wirklich Betrüger und Fälscher! Betrüger nach seinem eigenen Zeugnisse, und Fälscher nach einem Vorwurfe, auf den er nur mit einer Drohung hatte antworten können! Und jetzt gar, seit der heutigen Nacht –! Ich konnte den Gedanken nicht ausrenken, den ich dennoch nicht von mir weisen konnte. Es schüttelte mich wie Fieberfrost.

Fast mechanisch nahm ich nur noch den kleinen Schlüssel, den der Polizeidirector mitgesandt hatte, um damit die auf der Leiche gefundene Kapsel zu öffnen. Er paßte zu dem kleinen Schlosse. Ich öffnete es. Es lagen zusammengefaltete Papiere darin. Das erste, das ich entfaltete, war ein Taufschein für einen Sohn von Frank. Das zweite ein Originalbrief Frank’s an Holberg. Bei seinem Lesen ergriff mich eine fast tödtliche Angst.

Er war wenige Wochen älter, als jener Vermögensabschluß [610] Holberg’s über das gemeinsame deutsche Geschäft. Frank bat Holberg darin, dem deutschen Geschäfte, als diesem gehörig, eine Reihe speciell benannter Capitalien zum Betrage von mehr als zweimalhunderttausend Dollars zuzuschreiben und ihm darnach unter Hinzurechnung dieser Capitalien schleunig den Vermögensabschluß des deutschen Geschäfts zu übersenden. Den Grund zu dieser Bitte wolle er ihm in seinem nächsten Schreiben angeben; es fehle ihm jetzt an Zeit, da die Sache eilig sei und der Brief sofort zu dem wartenden Dampfboote müsse.

Ich hatte auf einmal Licht. Wie der Brief in die Hände seines Schreibers zurückgekommen war, blieb mir ein Räthsel. Alles Andere stand klar vor mir.

Wenige Monate nach der Zeit, da der Brief geschrieben, war in Amerika eine jener Handelskrisen ausgebrochen, mit denen Schwindel aller Art jenes Land mitunter heimsucht. In den Schwindel hatte sich unzweifelhaft auch Frank hineingeworfen, der erfahrene, gewandte Betrüger. Um ihn mehr zu benutzen, hatte er sich von Holberg den falschen Vermögensabschluß geben lassen; unter Vorzeigung desselben und seines Gesellschaftsvertrags mit Holberg konnte er sich natürlich einen großen Credit verschaffen. Holberg, der ihn erst später als den Betrüger kennen lernte, hatte sich durch sein Vertrauen zu dem Mann, der sich in Amerika zuerst seiner angenommen und dem er den Grund seines Glückes verdankte, zur Aufstellung des Abschlusses verleiten lassen. Die Krisis hatte bald nachher Frank mit ergriffen. Auch seine Trennung von Holberg und die dreißigtausend Dollars, die er dadurch baar erhielt, halten ihn nicht retten können. Später, vor ungefähr drei Jahren, nachdem wahrscheinlich seine Gläubiger selbst unterdeß gestorben, verdorben und verloren waren, hatte er von dem Abschlusse gegen Holberg Gebrauch gemacht, zu der Aufstellung der Theilungsforderung in jener Correspondenz.

Der alte Schurke war darüber gestorben. Sein Sohn, nicht besser als der Vater, hatte sich in neuerer Zeit auf den Weg nach Deutschland gemacht, um die Ansprüche des Vaters an Ort und Stelle zu verfolgen. Vielleicht hatte er nur den Brief Holberg’s an diesen verkaufen wollen. Er war unterwegs von dem verbrecherischen Abenteurer Richter ermordet worden. Diesen hatte jetzt eine andere Mörderhand getroffen. Und dieser zweite Mord? Der erste hatte seinem Urheber keine Früchte eintragen sollen, und der zweite –?

Holberg war kein Betrüger, kein Fälscher. Er hatte wahrscheinlich – nach seiner Unterredung mit mir am vorigen Abende erschien es mir unzweifelhaft – objectiv falsche Eintragungen in seine Bücher gemacht, aber nicht um zu betrügen, sondern nur um sich gegen einen frechen Betrug zu schützen, gegen den er kein weiteres Schutzmittel hatte. Es war ein Fehler, ein großer Fehler; aber es war kein Verbrechen. Wurde der Grund bekannt, es konnte kaum seiner Achtung, die er überall genoß, Abbruch thun. Und die ganze Sache blieb begraben, wenn der Ermordete wenige Stunden früher noch lebend wäre betroffen worden. Welchen furchtbare Schicksal hatte eine bis dahin fleckenlose Hand zum Morde geleitet!

Ich mußte zum Schlosse. Frau von Holberg hatte von Neuem mich bitten lassen. Es war ein schwerer Gang. Ich trat in ein Trauerhaus. Die Diener schlichen gesenkten und bleichen Hauptes einher. Zu der Trauer hallen sich Schreck und Angst gesellt. Ich wurde durch das todtenstille Haus zu dem Zimmer der Baronin geführt. Aus dem Wege dahin öffnete sich leise eine Thür. Therese, die Tochter Holberg’s, stand darin. Sie hatte mich ankommen sehen und winkte mit den, blassen, verweinten Gesichte mich zu sich. Ich konnte nicht an ihr vorbeigehen. Sie ergriff meine Hand.

„O, wo ist der Vater? Wissen auch Sie es nicht?“

Ich wußte es ja so wenig wie sie.

„Und was ist noch mehr vorgefallen? Die Mutter will keins von uns Kindern zu sich lassen, und wir dürfen nicht aus unseren Zimmern. Die Bedienten schütteln stumm, aber weinend den Kopf, wenn wir sie fragen. Es muß noch ein großes Unglück geschehen sein, das wir nicht erfahren sollen.“

Die Arme, sie wußte von dem Tode des Amerikaners noch nichts. Ich mußte sie mit allgemeinen Worten trösten.

„Ich gehe zu Ihrer Mutter, Therese. Ich selbst wünsche von ihr noch so Manches zu erfahren. Vertrauen Sie auf den lieben Gott, der die Schicksale der Menschen regiert.“

Sie nahm noch einmal meine Hände. „Wenn Sie zur Mutter gehen, so bitten Sie sie, daß sie mir verzeiht. Es war ein unbedachtes Wort, das ich zu ihr sprach. Sagen Sie ihr das. Ich will gern Alles thun, um den Vater zu retten.“

Eine schwere Ahnung durchflog mich. „Was müßte die Mutter Ihnen verzeihen? Was hätten Sie zu ihr gesprochen?“

„Als der Mr. Jones fort war, als die Mutter mit dem Vater gesprochen hatte, theilte sie mir mit, daß der Vater Verbindlichkeiten gegen den Mann habe, die er nicht lösen könne, und daß der Amerikaner dafür meine Hand gefordert habe. Ein Schreck fuhr mir durch den ganzen Körper, ein Grausen. „Mutter, es ist nicht möglich!“ mußte ich rufen. „Nie kann der Mensch mein Gatte werden!“ Es war unbedacht, unüberlegt von mir. Ich will ja gern Alles für meinen braven Vater thun. Sagen Sie das der Mutter. O, wenn ich wüßte, wo der Vater ist, ich würde selbst zu ihm eilen, auf der Stelle, und es ihm sagen, daß ich morgen, heute die Frau des Amerikaners werden will.“

„Braves, braves Kind! Ja, Du bist die Perle unter seinen, unter allen Kindern.“ – Armes, armes Kind! mußte ich draußen fast laut aufweinen.

Ich kam zu der Mutter. Sie flog mir mit dem leichenblassen Gesichte entgegen. Weinen konnte sie nicht; die furchtbarste innere Angst hielt ihre Thränen zurück. Mit den trocknen, heißen Augen starrte sie mich an, als wenn sie in meinem Gesichte Leben oder Tod suche.

„Er ist ermordet?“ rief sie.

Ich konnte es ihr nicht verschweigen. „Alle Anzeichen sprechen bis jetzt für eine gewaltsame Tödtung.“

„Und wer ist der Mörder? O, verhehlen Sie mir nichts. Martern Sie mich nicht mit Ungewißheit, wecken Sie keine leeren Hoffnungen in mir.“

„Der Thäter ist noch nicht ermittelt.“

„Der Seiltänzer ist es nicht?“

„Ich halte ihn nicht dafür.“

„So ist er, nur er es – nur er –“

„Gnädige Frau,“ rief ich entsetzt, „wie können Sie selbst –? Nein, nein! Wen halten, wen können, wen dürfen Sie für den Mörder halten?“

„O mein Gott, wenn Sie meinen armen, unglücklichen Gatten gesehen hätten!“

Ich nahm ihre Hand und führte sie zum Sopha. „Setzen wir uns, gnädige Frau, um über den wichtigsten und zugleich schrecklichsten Gegenstand so viel möglich mit derjenigen Ruhe zu sprechen, deren seine Erörterung für uns Beide bedarf. Noch ist kein Beweis da, noch ist der Name Ihres Gatten nicht ausgesprochen. Es liegt eine gewaltsame Tödtung vor. Das Verbrechen ist aller Wahrscheinlichkeit nach an der Parkbrücke verübt. Von der Brücke ist der Amerikaner in das Wasser geworfen worden, in dem er seinen Tod gefunden hat. Weiter ist bis jetzt nichts ermittelt. Theilen Sie mir jetzt Alles mit, was Sie wissen und mir vielleicht noch nicht vollständig gesagt haben. Wir gelangen auf diese Weise vielleicht am ersten zu den Spuren des Thäters; mögen sie dann führen, wohin das Schicksal sie einmal bestimmt hat.“

Sie hatte sich gefaßt.

„Ich hatte Ihnen heute Nacht nicht Alles gesagt,“ sagte sie.

„Ich ahnte es. Sie hatten Geheimnisse, die Sie mir ohne die größte Noth nicht anvertrauen durften.“

„Es galt die Ehre meines Mannes. Verzeihen Sie mir.“

„Sie haben gehandelt, wie Sie handeln mußten. Jetzt kann ich Ihnen sagen, daß die Ehre Ihres Mannes gerettet ist.“

Sie erblaßte doch von Neuem. „Wie?“ rief sie in einer schrecklichen Ahnung.

„Niemand kann Holberg mehr zu einem Betrüger und Fälscher machen. Ich habe die Beweise in den Händen.“

„Allmächtiger Gott, und jetzt ist er ein Mörder!“

Es war ein furchtbarer, herzzerreißender Aufschrei. Sie konnte sich erst nach langer Zeit wieder erholen. Ich theilte ihr dann von den Papieren mit, die der Polizeidirector in der Untersuchung, und die ich auf der Reiche den Amerikaners gefunden hatte; ich legte sie ihr vor, ich hatte sie mitgebracht; ich setzte sie von den weiteren Ermittelungen über die Person dieses letzteren in Kenntniß. Ich fügte meine Combinationen hinzu.

„Sie haben richtig combinirt,“ sagte sie. „Auch in Betreff [611] der Bücher meines Mannes. Nachdem Frank, sein früherer Compagnon, die Gesellschaftsverträge aufgelöst und seinen Antheil herausbezahlt erhalten hatte, fiel meinem Manne seine Unvorsichtigkeit bei Ertheilung des unrichtigen Abschlusses über das Geschäft in Deutschland schwer auf das Herz. Er forderte ihn von Frank zurück. Dieser antwortete nicht. Mein Mann reiste selbst nach Amerika; die Sache war ihm wichtig genug; seine Ehre stand auf dem Spiele. Frank verhöhnte ihn, und erst jetzt lernte mein Mann den Betrüger kennen, der sich lange vor ihm zu verbergen gewußt, weil er zugleich mit dem geachteten Namen meines Mannes speculirt hatte. Er drohete meinem Manne, wenn er ihn noch ferner belästige, ihn als Betrüger verhaften zu lassen, auf Grund jenes falschen Abschlusses, der nur zu betrügerischen Geschäften habe gemacht werden können. Dagegen war mein Mann nun zwar gesichert durch den Brief, in welchem Frank ihn um den Abschluß gebeten hatte. Aber wie groß war sein Schreck, als er von dem Betrüger in seinen Gasthof zurückkehrte und den Brief nicht mehr vorfand! Er hatte ihn nach Amerika mitgenommen, um ihn, wenn Frank es verlange, gegen den Abschluß auszutauschen. Während er bei Frank gewesen, war ihm der Brief mit anderen Papieren aus seinem Zimmer entwendet worden. Der Dieb war durch Nachschlüssel in das Zimmer gelangt. Man hatte zu der Zeit einen verdächtigen jungen Menschen am und im Hause umherschleichen sehen. Frank’s Sohn war in dem gleichen Alter. Mein Mann sah jetzt klar, in welchen Händen er sich befand. Er reiste nach Deutschland zurück. Er hatte nur Einen Gedanken, wie er sich vor dem Verdachte des doppelten Betrugs gegen die Gläubiger Frank’s und gegen diesen selbst schützen könne. In seiner Angst – Sie waren damals noch nicht hier, einen anderen Freund, dem er sich anvertrauen mochte, hatte er nicht – so kam er in seiner und meiner Angst auf den unglücklichen Gedanken, falsche Eintragungen in seine Bücher zu machen. Es hat nachher schwer genug auf ihm gelastet, auf ihm und auf mir, so schwer, daß wir selbst Ihnen uns nicht anvertrauen konnten. – Sie sehen jetzt zugleich das Räthsel gelöst, wie jener Brief in die Hände Franks zurückgekommen ist.

Und mit jenen betrügerischen Ansprüchen unser halbes Vermögen und noch mehr, zuletzt unser Kind fordernd, kam, wie wir meinten, der Sohn des Betrügers hierher, selbst ein gemeiner, frecher Betrüger, wie wir jetzt erfahren, ein gemeiner Mörder, sondirte wochenlang Boden, Personen, Zustände, Verhältnisse, verbarg sich halb und gab sich halb zu erkennen, ließ drohende Winke fallen und schmeichelte wieder, zeigte uns täglich das tödtente, selbst die Ehre vernichtende Schwert über unseren Häuptern, wälzte centnerschwere Last auf uns, nahm meinem Manne seine Kraft und seinen Muth, um dann auf einmal mit einem letzten, gewaltsamen Schlage uns ganz zu vernichten, für sich Alles zu gewinnen. Gestern führte er den Schlag aus.

O mein Freund, ich hatte Ihnen nicht Alles gesagt. Ich konnte es unter dem fürchterlichen Drucke, in der entsetzlichen Angst nicht. Mein Mann hatte mich nicht in jener Ungewißheit zurückgelassen. Er theilte mir seine Unterredung mit dem Amerikaner mit; lassen Sie mich ihn noch so nennen. Mit dem kältesten, frechsten Hohne hatte der Mensch ihn geradezu einen Betrüger, einen doppelten Betrüger, genannt, und von ihm die Herausgabe des seinem Vater und dessen Gläubigern geraubten Vermögens gefordert.

Mein Mann, nachdem er sich von dem ersten Schreck erholt, hatte ihm die Thür gewiesen. Der Amerikaner hatte gelacht.

„Pah, Sir, Sie haben in Amerika profitirt und nicht profitirt. Man streitet den Leuten ab, was man ihnen schuldig ist; aber man wirft sie erst zur Thür hinaus, wenn man ihnen bezahlt hat, was man ihnen nicht abstreiten kann. Und bezahlen müssen Sie, denn ich habe Beweise und Sie haben keine. Der Brief von meinem Vater ist Ihnen gestohlen, sagen Sie, und Sie werden vielleicht gar behaupten wollen, ich sei der Dieb –“

„Du Elender bist es,“ rief mein Mann.

„Haben Sie Beweise, Sir?“

„Frecher Schurke –“

„Sir, durch Schimpfen rettet man sich nicht. Auch hier nicht. Man hat hier vortreffliche Gerichte, und ich sage Ihnen, Ihre Million gehört mir und das Zuchthaus gehört Ihnen. Indeß, Sir, das Zuchthaus will ich Ihnen abkaufen. Sie haben eine liebenswürdige Tochter.“

„Unverschämter Bösewicht!“

„Und ich liebe sie –“

„Kein Wort weiter!“

„Und, Sir – ereifern Sie sich nicht, ich kann von hier geradeweges zu den Gerichten gehen – und, Sir, ich bitte Sie hiermit um die Hand Ihrer Tochter –“

Mein Mann hatte die Thür geöffnet.

„Hm. Sir, ich gehe. Ich sehe, Sie sind hier auf Ihrem Schlosse nur halber Geschäftsmann. In Ihrem Comptoir in der Stadt werden Sie traitabler sein. Morgen Mittag um zwölf Uhr werde ich dort bei Ihnen sein, um Ihr väterliches Jawort zu holen und unser ganzes Geschäft abzuwickeln. Sie haben dann die Wahl, ob Sie schon die morgende Nacht als Betrüger im Kerker zubringen wollen –“

Mit der Drohung ging er. Unter ihrer Last, unter der furchtbaren Last des ganzen Gesprächs fand ich meinen Mann. Er theilte es mir mit. Die Mittheilung konnte ihn nicht erleichtern. Sie rief nur neuen Schrecken, neuen Zorn und eine lockende Wuth in ihm hervor. So mußte er in’s Freie. Ich konnte ihn nicht halten. Daß er mit dem Menschen zusammentreffen könne, meine Seele hatte keine Ahnung davon. Und dürfen wir zweifeln, daß er mit ihm zusammengetroffen sei? Dürfen wir zweifeln an dem fürchterlichen Unglück, an dem Verbrechen? Und das Glück, das rettende Glück stand so nahe bei ihm. Zwei. zwei armselige Stunden später! Und jetzt die Ewigkeit des Verderbens! des Verbrechens! O großer Gott im Himmel, warum mußte es so kommen?“

Ich hatte wohl eine Antwort auf die Frage. Aber wäre sie eine tröstende für die arme Frau gewesen? Und ich, hatte gar keinen Trost, keine Hoffnung mehr für sie. Mit jener kochenden Wuth in der Brust war ihr Mann in die Nacht, in den Park gegangen. Er war mit dem Amerikaner, den der Seiltänzer aufgehalten, zusammengetroffen. Der cynische Mensch hatte ihn mit neuem, rohem Hohn behandelt. Ha, Sir, Sie haben sich besonnen! Jetzt schon? Sie kommen mir nach. Sie wollen mir die Hand Ihrer Tochter geben, selber anbieten. Es ist liebenswürdig, es ist verständig von Ihnen! – Da war die auf den Tod kochende Wuth des braven Mannes, des Edelmannes, des an seinem Vermögen, an seiner Ehre, an seinem Herzen, an der Liebe zu der Perle seiner Kinder verletzten und vernichteten Mannes zur vollen, wild lodernden Gluth emporgeschlagen. Er hatte den Elenden gepackt – er war ein fester, kräftiger Greis – er hatte ihn geschüttelt, er hatte ihn die Brücke hinunter in den Strom geworfen.

Meine Phantasie schuf mir das Bild. Aber konnte ich zweifeln, daß ich die klare, nackte, schreckliche Wirklichkeit sah? Was nun weiter? Die entsetzliche Frage trat wieder an mich heran. Ich sollte diesmal eine Antwort nicht suchen müssen. Ein Wagen fuhr auf den Hof des Schlosses. Wir eilten ahnungsvoll an das Fenster. Holberg stieg aus dem Wagen, langsam, mit bleichem Gesichte. Die Frau sprang von den, Fenster zurück. Sie wollte aus dem Zimmer stürzen, dem Gatten entgegen. Mitten im Zimmer brach sie zusammen.

„Allmächtiger Gott!“ schrie sie auf, aus einer Brust, die die Angst zu erdrücken drohte.

Ich mußte sie zu dem Sopha führen. Da wurde es unten, draußen laut. Heller Jubelruf ertönte. Es waren die hellen Stimmen der Kinder. Das Geräusch des Wagens hatte auch sie an das Fenster gezogen. Sie hatten den Vater erkannt, den vermißten, unter Sorgen und Angst die ganze Nacht gesuchten Vater, um den die Todesangst der Mutter das Herz zugeschnürt hatte, um den kein Schlaf in ihre Augen gekommen, um den die liebenden Kinderherzen so sorgen- und angstvoll sich gebangt halten. Er war wieder da.

„Der Vater, der Vater!“ riefen, jauchzten und jubelten sie. „Der Vater ist wieder da!“

Kein Befehl der Mutter, der sie in ihre Stuben gebannt hatte, hielt sie mehr. Sie stürzten in die Corridors, die Treppen hinunter, aus dem Hause, auf den Hof, zu dem Wagen, zu dem Vater.

„Vater! Vater! Du bist wieder da, Vater!“ Sie umfaßten seine Hände, sie hielten sich an seinem Rock, an seinen Armen.

„Zur Mutter!“ riefen sie. „Wie wird die Mutter sich freuen!“ Sein bleiches Gesicht, seine entstellten Züge hatten sie nicht [612] gesehen. Sie sahen ja nur den wiedergefundenen Vater. Sie zogen ihn im Triumphe in das Haus, die Treppen hinauf. Ihr Jubel durchdrang noch das Innere des Hauses. Aber allmählich wurde er stiller und stiller. Der Vater hatte noch kein Wort gesprochen. Seine Hand hatte noch Keins von ihnen geliebkost. Da sahen sie nach seinem Gesichte; sie sahen, wie bleich, wie entstellt es war. Ihr Jubel wurde weniger laut. Als sie das Zimmer der Mutter erreicht hatten, war er ganz verstummt. Und mit bleichen und entstellten Gesichtern traten sie Alle, still, wie ein Leichenzug, zu der unglücklichen Frau. Sie war aufgesprungen. Auch sie sah nicht zuerst in sein Auge. Sie konnte es nicht, die liebende Gattin.

„Du bist kein Betrüger, kein Fälscher, Friedrich!“ rief sie.

„Hier ist der Beweis. Der Brief ist wieder da.“

Sie hielt ihm den Brief hin, den ich in der Kapsel des Amerikaners gefunden hatte. Er warf einen Blick auf das Papier.

Ich nahm die Hände der Kinder.

„Kommt, kommt! Laßt den Vater und die Mutter jetzt allein. Sie haben mit einander zu sprechen. Ihr sollt ihn nachher begrüßen.“

Sie verließen gehorsam das Zimmer. Als ich mich wieder umwandte, stand Holberg mit verhülltem Gesichte da. Betrüger und Fälscher war er nicht.

„Aber ein Mörder!“ rief er. „Ewiger Gott, warum mußte es sein?“

Auch er fragte es. Dann trat er zu seiner Frau.

„Ernestine, kannst Du dem Mörder verzeihen? Du, Du? Die Anderen dürfen es nicht. Aber Du darfst es. Kannst Du es auch?“

Sie lag schon an seiner Brust, sie hielt ihn mit ihren beiden Armen umschlungen.

„Friedrich, Dir gehört mein Herz, meine Liebe, mein Alles, bis zu meinem letzten Athemzuge.“

„Ich wußte es, mein braves Weib. Aber ich mußte es von Dir hören. Darum kam ich noch einmal hierher zurück.“

Er wandle sich zu mir. „Meine That – ich war nicht Herr meiner Vernunft und meiner Sinne, als ich sie verübte; da sie geschehen war, wie entsetzlich klar war es da auf einmal in mir! Für mich war Alles vorbei. Ich floh zur Stadt, zu Dir, nicht zu dem Freunde, zu dem Strafrichter. Du warst nicht da. Ich erfuhr, daß Du hier seist. Ich mußte das Wort Verzeihung von den Lippen meiner Gattin hören. Jetzt – Aber darf ich noch einmal allein auf mein Zimmer gehen, ehe Du mich verhaftest?“

„Geh!“ sagte ich unter einer entsetzlichen Ahnung.

Er ging. Ich nahm die Hand der Baronin. „Meine Freundin, fassen Sie sich.“

Auch sie hatte errathen, was ich ahnte.

„Muß es sein?“ fragte sie.

„Gott wird entscheiden.“

Wir horchten Beide mit angehaltenem Athem, mit klopfenden Herzen, mit zitternden Gliedern. Nach einer Minute fiel ein Schuß; in dem Zimmer des Schloßherrn.

„Es ist geschehen!“

Die Baronin sank vor dem Sopha auf die Kniee. Sie betete still. Es war geschehen. Warum mußte es so kommen? Ich hatte vorher gemeint, eine Antwort auf die Frage zu haben, aber kann der Mensch sich vermessen, auf die Frage zu antworten? Aber bedenken soll er immer und immer, und es sich tief und fest einprägen, daß der eine Fehler, sei er auch noch so klein und unbedeutend, so leicht weiter und weiter bis zuletzt in den Abgrund führt, und daß auch die edelsten Leidenschaften, wenn die Vernunft sie nicht zu zügeln versteht, den Weg zum Verbrechen und zum Verderben bahnen.






Eine Vorlesung von Charles Dickens.


Der Name Charles Dickens ist in der ganzen Welt mit Recht beliebt und geachtet; seine köstlichen Bücher sind fast ebenso wohl bekannt in Deutschland, wie in England, und wir lesen sie mit immer neuem Vergnügen, obwohl uns die Hälfte ihrer Schönheit entgeht, theils wegen der Übersetzung, theils weil wir nicht im Stande sind, ihnen volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Nur wer lange in England gelebt hat, mit dem Volksleben vertraut und der englischen Sprache vollkommen mächtig ist, vermag zu beurtheilen, wie treffend und wahr seine Schilderungen englischer Zustände und Charaktere sind. Wir bewundern und lieben Dickens als den Schriftsteller des Volks, als den Verfechter des Fortschritts, der mit der scharfen und mächtigen Waffe des Humors schädliche Vorurtheile und Abgeschmacktheiten bekämpft und dessen Bücher sämmtlich von einem so reinen Geiste durchweht und trotz aller Schalkheit in einer Sprache geschrieben sind, die sie jedem Alter und jedem Geschlecht empfehlenswerth und zugänglich macht.

In England ist Dickens so populär, als nur immer ein Mann sein kann; allein natürlich nicht besonders beliebt unter den „obersten Zehntausend“ und den andern Tausenden, die sich an dieselben anhängen; Leute, die, wenn auch nicht das Bewußtsein, so doch stets eine Ahnung von ihrer eigenen Lächerlichkeit und Abgeschmacktheit, kurz sich selbst im Verdacht haben, „Futter für Humoristen“ zu sein.

Da wir Deutsche englische Sitten und Gebräuche mit deutschen Augen und Gefühlen ansehen, so wundern oder empören wir uns über manche Dinge, welche in England nicht den allergeringsten Anstoß, ja nicht einmal Verwunderung erregen.

Nicht nur auf mich, sondern auch auf viele andere Deutsche machte es stets einen peinlichen Eindruck, „anständige Männer“ Monate lang, Abend für Abend, dieselben Worte und Späße, dieselben Gebehrden wiederholen zu hören und zu sehen – einzig und allein um so schnell als möglich „Geld zu machen“. Ich muß gestehen, ich erröthete, als ich zuerst einer Vorlesung des berühmten Jägers Gordon Cumming beiwohnte. Ein großer Saal war mit all seinen afrikanischen Jagdtrophäen geschmückt; sein Reisewagen war aufgestellt; an dem einen Ende war eine Bühne; auf ihr erschien der schöne, stattliche Jäger in dem theatralischen Hochlandscostüm – das blanke Schwert in der Hand! Nachdem so jeder Anwesende für wenigstens zwei Pence von dem Eintrittschilling von seiner Person abgesehen hatte, stieg Herr Gordon Cumming auf eine Tribüne, die durch einen ungeheuern Elephantenschädel gebildet wurde, und während transparente Bilder erschienen, wiederholte er dieselben Geschichten, dieselben Scherze mehr als hundert Abende hintereinander. Verschwand er, um sich zu erfrischen, von der Bühne, dann machte sein Buschmann auf derselben seine Sprünge, und Beide schienen mir in dem Augenblick Wesen ganz derselben geistigen Ordnung.

Hier findet man an dieser Zurschaustellung der Person nichts Anstößiges, denn der Mann macht ja Geld! Freilich, so lange er Geld macht, ist er aus den höheren Kreisen der Gesellschaft ausgeschlossen, denn nur Geld haben ist aristokratisch, Geldverdienen plebejisch; allein man vergißt hier sehr bald, wie Geld gewonnen wurde, sobald es nur da ist. Was man aber nie vergißt und vergiebt, ist, kein Geld zu haben. Bei uns ist das einfach ein Unglück, in England ist es geradezu ein Verbrechen und zwar das größte, was noch hassenswerther und unanständiger als selbst Freigeisterei in religiösen Dingen ist; die Engländer schreiben nur G… statt Gott, um nicht geradezu einzugestehen, daß das Wort in ihrem Herzen meistens Geld ausgesprochen wird.

Wenn uns diese Art von Prostitution schon bei einem Mann wie Gordon Cumming auffällt, der doch nur ein „Gentleman“ und tüchtiger Jäger von nicht übertrieben feinem Gefühl ist, so berührt sie uns noch peinlicher, wenn wir sie von Männern ausgeübt sehen, die wir in Deutschland weit über den bloßen „Gentleman“ stellen, nämlich von talentvollen Schriftstellern. Albert Smith, zum Beispiel war ein solcher, und doch machte er Jahr aus Jahr ein alle Abende in einem aufgeputzten Locale dieselben alten Witze und erntete dafür alle Abende andere neue Schillinge, die sich bald zu Tausenden von Pfunden in der Bank anhäuften.

Als ich vor einigen Jahren hörte, daß Charles Dickens in der Art eines Schauspielers Scenen aus seinen eigenen Werken vorlese und zu diesem Ende überall in England umherreise, that

[613] mir das leid, und ich konnte mich nicht entschließen, eine seiner Vorlesungen hier in London zu besuchen. Dickens schien mir dadurch eine Stufe herunter zu steigen, und andere Deutsche, mit welchen ich hier darüber sprach, hatten ganz dieselbe Empfindung. Es fehlt uns in Deutschland zwar nicht an ähnlichen Schriftstellern, allein wir betrachteten sie immer mehr als Lustigmacher, und unsere Achtung vor ihnen war nicht besonders groß. Ich erinnere an Sapphir und seine Nachahmer, mit denen Dickens wohl nicht gern gleichgestellt werden möchte.


Dickens als Vorleser.


Dramatische Vorleser und Schauspieler wiederholen zwar auch oft dasselbe, und wir hören sie stets mit Vergnügen und denken nicht, daß sie sich dadurch herabsetzen; ja, wir schätzen nicht einmal den Schauspieler gering, der den gestiefelten Kater spielt; allein was würden wir von dem Herrn Hofrath Tieck denken, wenn er hundert Abende hintereinander in dieser Rolle aufträte?

Als ich einst einer Vorlesung von Herrn und Madame Ronge über Kindergärten in der St. Martins-Halle in London beiwohnen wollte, freute ich mich, das Gedränge am Eingange zu sehen. Da wogte ein Meer von Köpfen, und die Leute, welche wegen Mangel an Raum abgewiesen wurden, machten sehr trübselige Gesichter, was mich für unsern Landsmann aufrichtig freute. Aber ach, meine Freude war voreilig, denn als ich am Eingange mein Billet vorzeigte, wies man mich mit der Bemerkung zurück, daß dies eine Vorlesung von Dickens sei. Die unseres Landsmanns fand in einem kleineren Locale desselben Hauses statt, und – am Eingange war kein Gedränge und im Saal viel mehr Platz für Zuhörer als Zuhörer.

Dickens hat großes dramatisches Talent, wie Alle versichern, die ihn auf Privatbühnen auftreten sahen. Erst gestern sah ich in einem Ladenfenster einen von Dickens selbst mit seinem Namen unterzeichneten Abdruck einer großen Lithographie, die ihn in einer Theaterscene darstellt. Da alle Leute, die ihn vorlesen hörten, den gehabten Genuß nicht genug rühmen konnten und ich in der That vor Begierde brannte, ihn ebenfalls zu hören, ein Wunsch, der durch meine persönliche Bekanntschaft mit ihm noch erhöht wurde, so beschloß ich meine vielleicht abgeschmackte Bedenklichkeit zu besiegen und seiner letzten Vorlesung in dieser Saison beizuwohnen.

Dieselbe sollte in der zwischen Piccadilly und Regentstreet sich ausdehnenden St. James-Hall stattfinden, wo Dickens einige Capitel aus „Dombey und Sohn“ und die Gerichtsscene aus den „Pickwickiern“ vorlesen wollte. Die Vorlesung fand am Abend statt. Der sehr große, wunderschöne Saal war so gefüllt, als er nur sein konnte, und es waren wohl zweitausend Zuschauer anwesend, wenn nicht mehr. Das will etwas heißen, wenn man bedenkt, daß Dickens dieselbe Vorlesung schon sehr oft gehalten hat und daß die Plätze von 20 Sgr. bis 1 Thlr. 20 Sgr. kosteten. Das Publicum gehörte meist der höheren Mittelclasse an; allein auf den Zweischillingplätzen sah man auch nicht nur Männer und Frauen aus dem Handwerkerstande, sondern selbst gewöhnliche Arbeiter, Soldaten und Seeleute. Es war angenehm ihre Gesichter zu beobachten. Man konnte auf allen lesen, daß man einen großen Liebling des Publicums erwartete, einen Liebling, den man nicht nur liebte, wie zum Beispiel einen komischen Schauspieler, sondern den man sehr verehrte und achtete, dem man dankbar dafür war, daß er sich herabließ, sein ihm neben dem größern Talent gefällig verliehenes geringeres zur Unterhaltung seiner Freunde und Verehrer auszuüben.

Auf der für das Orchester bestimmten Erhöhung – es werden in dem Saale fortwährend Concerte gehalten – stand ein Tisch mit einem kleinen Pulte und Wasserflasche und Glas. Hinter demselben war eine Wand von dunkelbraunrothem Tuch aufgestellt und vor dem Tisch, in der Höhe von etwa acht Fuß, eine Reihe von acht Gaslichtern angebracht, die das Publicum nicht sah und deren Schein den braunrothen Schirm und den Tisch erleuchtete. Personen gingen zwischen den Reihen der Zuhörer umher und boten „Dombey und Sohn“ und „The trial of Pickwick zum Verkauf aus, wie auch Papierfächer, auf denen Scenen aus diesen Romanen abgebildet waren.

Als Dickens erschien, wurde er mit einem achtungsvollen Applaus begrüßt, von dem er aus Grundsatz keine Notiz nahm, da man sich bestrebt, das widerliche und störende Bedanken für Applaus auch von der Bühne zu verbannen. Dickens ist ein hübscher, noch jung und blühend aussehender Mann, mit klugen Augen und einem humoristischen, etwas sinnlichen Munde. An jenem Abende erschien er mit weißer Weste und weißer Halsbinde und trug eine Blume im Knopfloch; kurz er war „in dress“ d. h. im Gesellschaftsanzug. Die beifolgende Abbildung, freilich in der grellen Beleuchtung von acht Gaslichtern aufgefaßt, ist sehr gut und ähnlich.

Die Vorlesung begann mit „Dombey und Sohn“. Da ich etwas entfernt von dem Vorleser saß, so gebrauchte ich mein Opernglas, welches mich in den Stand setzte, jeden Wechsel in seinen Zügen zu beobachten, wodurch ich das, was er las, noch besser verstand und genoß.

Der Ton und die Art des Vortrags der englischen „lecturers“ – Personen die Vorlesungen halten – ist ganz eigenthümlich und durchaus von den bei uns gebräuchlichen abweichend. Die meisten lesen außerordentlich schnell, und die immer wiederkehrende Modulation im Ton macht diese Vorlesungen sehr monoton. Es dauert eine ganze Weile, ehe ein Deutscher sich daran gewöhnt. Alle Stellen des Buches, in welchen Personen nicht redend eingeführt sind, liest Dickens in ähnlicher Weise; allein er thut es dennoch ebenso verschieden von andern, gewöhnlichen lecturers, als er selbst [614] von ihnen verschieden ist. Bei ihm fällt die Manier nicht unangenehm auf; ich meine selbst einem Deutschen nicht, denn die Engländer sind daran gewöhnt.

Sobald aber die Personen redend eingeführt werden, verwandelt sich der Vorleser in den Schauspieler, und man hat gerechte Ursache über Dickens’ großes Talent zu staunen. Er liest jede Person, wie er, deren Schöpfer, sie sich gedacht hat, und dieser Umstand giebt seiner künstlerischen Leistung ein noch ganz besonderes Interesse. Schließt man die Augen, so hört man nicht Dickens, sondern man hört den Doctor, die Wärterin, den kleinen, kranken Knaben und die andern Personen des Romans. Es ist erstaunlich, wie richtig Dickens alle Eigenthümlichkeiten der Classe von Personen, die er schildert, beobachtet hat, und noch erstaunlicher, daß er sie so täuschend copiren kann. Fast jeder der Zuhörer kennt einen Doctor, eine Wärterin etc., die gerade so reden wie Dickens, indem er sie darstellt, und das Gelächter bei den komischen Stellen ist nicht zu unterdrücken. Mich ziehen diese mehr an, als die rührenden; allein daß Dickens darin nicht weniger Meister ist, wird aus der Wirkung klar, die er hervorbringt, selbst unter den erschwerendsten Umständen. Als er auch die Stimme des kranken Kindes nachahmte, machte dies auf mich zuerst einen befremdenden Eindruck, den ich auch bis zum Ende nicht gänzlich los werden konnte; allein die englischen Zuhörer schienen nicht dasselbe Gefühl zu haben, denn viele Damen hielten ihre Taschentücher an die Augen, und eine, die mit ihrem Manne vor mir saß, weinte so laut, daß der letztere ganz ärgerlich wurde.

Die Gerichtsscene, in welcher Pickwick verurtheilt wird, der Wittwe Bardell für Brechung eines Eheversprechens eine bedeutende Summe zu zahlen, ist eine der besten des ganzen Buches. Sie enthält eine ganz köstliche Satire, deren Trefflichkeit nur von denen begriffen werden kann, welche mit dem englischen Gerichtsverfahren genau bekannt sind, und deren Humor keiner so vollkommen genießen kann, als wer sie von Dickens selbst vorlesen hörte. Alle darin auftretenden Personen waren so scharf und bestimmt durch Ausdruck, Ton und Manier ihrer Rede gezeichnet, daß man jede Individualität augenblicklich erkannt haben würde, wenn auch der Name des Redenden nicht genannt worden wäre. Der Richter Starnleigh war herrlich; der stotternde Mr. Winkle classisch komisch; Sam Weller köstlich; aber der Lichtpunkt der ganzen unübertrefflichen künstlerischen Leistung des Verfassers der Pickwickier war die Rede des Sergeant Bugfug für die Klägerin Mrs. Bardell! Jedes Wort war köstlich, jede Gebehrde der Natur abgelauscht und, obwohl nur ganz gelinde übertrieben, so überwältigend komisch, daß das Lachen kein Ende nahm und manche der Zuhörer beinahe den Lachkrampf vor Vergnügen bekamen. Ich muß gestehen, ich habe in meinem Leben nichts Komischeres und Amüsanteres gehört. Was das Verdienst dieser Vorlesung noch bedeutend erhöhte, war, daß ihre Wirkung nicht durch niedrige Buffonerie erzielt wurde; ein Fehler, in welchen komische Schauspieler so häufig verfallen. Es war da nicht eine Gebehrde, nicht ein Ton, der mich unangenehm für Dickens berührte; das Ganze war eine durchaus künstlerische, eines humoristischen, so bedeutenden Schriftstellers wie Dickens vollkommen würdige Leistung. Ich verließ den Saal, geheilt von meinem Vorurtheil, voll von Bewunderung für das Talent des Vorlesers und dankbar für den köstlichen Abend, den derselbe mir gewährte.

Corvin.





Ein deutscher Colonist in Algerien.

Aus dem Tagebuche eines deutschen Officiers der Fremden Legion in Algier.
(Schluß.)


„Ich schwang mich nun,“ fuhr Wöhler fort, „auf die Höhe der Mauer und sah zu meinem Entsetzen, daß außen herum Alles von weißen Burnussen wimmelte. Allein ich verlor nicht den Muth: die bereits gefallenen Schüsse mußten auf dem Fort (dem bereits erwähnten „Häuserquadrat“) gehört worden sein, und ich konnte von dort aus jeden Augenblick Hülfe erwarten. Inzwischen war es auch den Soldaten gelungen, vollständig der mit ihnen kämpfenden Kabylen Herr zu werben. Wir wandten uns daher nun vereinigt dem äußeren Feinde zu, der seine ganze Stärke auf den einzigen zugänglichen Punkt, die Brücke, concentrirt hatte. Mit Hülfe der in der Mauer auf beiden Seiten des Thores angebrachten Schießscharten gelang es uns, die Angreifer auf einige Zeit im Schach zu erhalten; doch lange konnte dies nicht währen, da die Kabylen, uns hundertfach an Stärke überlegen, endlich den Vortheil behalten mußten. Auch waren bereits drei der Vertheidiger auf unserer Seite kampfunfähig: zwei Soldaten, von denen der Eine einen Schuß in die rechte Schulter und der Andere einen in den Leib bekommen und mein damals 14 Jahr alter ältester Sohn, dem eine Kugel die linke Hand zerschmettert hatte. Plötzlich, als gerade unsere vereinigten Kräfte auf die Deckung des Einganges gerichtet waren, entdeckte ich zu meinem Entsetzen, daß es den Kabylen gelungen war, von der entgegengesetzten Seite die Ringmauer zu erklettern. Als ich mich an der Spitze von vier Mann dem bedrohten Punkte zuwandte, war es bereits zu spät. Einige vierzig dieser blut- und beutegierigen Gebirgsbewohner hatten bereits das Innere erreicht, und nun begann ein Kampf der Verzweiflung Mann gegen Mann, das heißt, Einer gegen Zehn. Schon beim ersten Lärm hatte ich sofort Frau und Kinder in ein sicheres Versteck, ein tiefes und wohlverdecktes, zur Aufbewahrung von Lebensmitteln und Früchten bestimmtes Erdloch von ziemlichem Umfang gebracht, um sie in Sicherheit zu wissen und durch ihr Geschrei und Gejammer nicht in der Vertheidigung von Habe und Leben gehindert zu werden. Und dies war gut; denn die Feinde, sobald sie in überwiegender Menge im Innern der Ringmauer sich befanden, begaben sich sofort an die Plünderung und zündeten an, was nur immer brennbar war.

Im Augenblicke, wo ich, schon der Verzweiflung nahe, unser Häuflein immer mehr zusammenschmelzen sah und nur noch dachte, durch den Tod dem schrecklicheren Loose, nämlich der Gefangenschaft, zu entgehen, hörte ich ganz in der Nähe die wohlbekannten Töne der Signaltrompete. „Gott sei Dank!“ rief mir der Corporal von weitem zu. „Muth, Meister Wöhler! die Cavallerie und Artillerie des Forts kommt zum Entsatz im Galopp heran!“ – Und so war es, und auch Zeit war es!

Kaum vernahmen die Feinde die ihnen nur zu gut bekannten Signale, als ein panischer Schreck an die Stelle des Uebermuthes und der Siegestrunkenheit trat, und nun Jeder von ihnen so schnell als möglich den Ausgang zu erreichen oder über die Ringmauer zu entkommen suchte. Doch jetzt war die Reihe an uns, und was unsern Kugeln oder Bajonnetstößen entging, fiel draußen unter die scharfe Klinge der französischen Cavallerie, vor der die Kabylen allen Respect hatten; nicht zu rechnen, daß zwei Berggeschütze einen Hagel von Kartätschen zwischen die dichten Massen der Räuber warfen.

Gerettet waren wir nun – doch um welchen Preis! Mein Wohnhaus war vom Feuer zerstört, mein Vieh theils verbrannt, theils verschwunden, einer meiner Diener getödtet, ich und mein Sohn verwundet und von den zehn bei mir einquartierten Soldaten nur noch drei kampffähig, vier Andere waren verwundet, drei getödtet. – Doch wir hatten unsere Verluste theuer erkaufen lassen, indem mindestens vierzig todte oder verwundete Feinde den Boden des Hofes bedeckten. Noch größer war die Zahl der Gefallenen draußen, wo die reitenden Jäger und die Artillerie unbarmherzig das verheerende Handwerk des Krieges übten.

Sobald der letzte Feind verschwunden war, ritt der commandirende Officier über die Brücke, kam zu mir und drückte mir sein Bedauern aus, daß es ihm nicht vergönnt gewesen sei, eher auf dem Schauplatze des so ungleichen Kampfes zu erscheinen. Dann machte sich der gleichfalls aus dem Fort angelangte Arzt daran, den Verwundeten die schnellste Hülfe zu leisten und die, welche den Transport vertragen konnten, sofort nach den Hospitälern der Stadt schaffen zu lassen. Unter diesen letzteren befand sich auch mein Sohn. Sodann holte ich meine Frau und Kinder aus ihrem Versteck unversehrt hervor und begann, soviel es für den Augenblick möglich, aus Bretern uns ein provisorisches Obdach zu bauen. Den Truppen war es gelungen, den größten Theil meines zerstreuten [615] Viehes wieder einzufangen, und – glücklicherweise befand sich unter den von den Kabylen geraubten Gegenständen nichts, was einen besonderen Werth für mich hatte oder ein unersetzlicher Verlust gewesen wäre.

Dieser Vorfall hatte mir indessen gezeigt, wie wenig selbst die Nähe der Stadt Algier und des Forts, unter dessen Kanonen gewissermaßen meine Besitzungen lagen, mich vor der zu großen Nachbarschaft der Kabylie schützte, und ich beschloß deshalb die erste günstige Gelegenheit oder Offerte zu benutzen, um in einer besseren Gegend mich niederzulassen. Noch im Laufe des Sommers fand sich ein Malteser, dem meine Ländereien gefielen und der die Absicht hatte, dieselben zur Anlage einer Rübenzuckerfabrik zu benutzen. Ich schloß mit ihm einen sehr vortheilhaften Handel ab und unternahm gleich darauf, nur von meinem aus Deutschland mitgebrachten Diener begleitet, von Algier aus zur See die Reise nach Oran, um in dieser in jeder Beziehung besseren Provinz mich anzukaufen. Nach einer vierzehntägigen Abwesenheit kehrte ich als Eigenthümer der Grundstücke zurück, in deren Besitz Sie mich noch heute sehen und deren Bewirthschaftung ich im Herbst 1841 übernahm. Ich hatte allerdings auch hier im Anfang mit vielen Unannehmlichkeiten zu kämpfen, indem die Provinz nur erst seit Kurzem und noch nicht einmal in ihrer heutigen Ausdehnung sich unter französischer Botmäßigkeit befand; allein hier hatte ich wenigstens die Kabylie nicht zur Nachbarschaft, sondern nur die weit friedlicher gesinnten Stämme nomadisirender Araber, ohnehin schon seit vielen Jahrzehnten an die eingewanderten Spanier gewöhnt, bevölkerten hin und wieder die Umgegend; von ihnen hatte man höchstens kleine Diebereien zu befürchten, vor denen man sich ja schützen konnte. Außerdem war in unmittelbarster Nähe meiner Niederlassung ein permanentes Lager etablirt, in dem sich durchschnittlich 2 bis 3000 Mann Truppen befanden. Noch andere Colonisten kamen nach und nach hinzu, und so entstand mit der Zeit das Dorf, dessen ältester Einwohner und, wenn Sie wollen, Begründer ich bin. Von Jahr zu Jahr ging es mit meiner Haus- und Feldwirthschaft besser und wurde sie einträglicher; mein Viehstand vermehrte sich mehr und mehr. Im Anfang hatte ich mir eine hölzerne Baracke gebaut, dann ein etwas größeres und solideres Gebäude ausgeführt, und endlich – im Jahre 1850 – habe ich das Haus gebaut, welches Sie jetzt vor sich sehen, und ihm die nöthigen Stallungen und Wirthschaftsgebäude hinzugefügt. Das Alles ist mein zwar mühsam und oft gefahrvoll, doch vollkommen rechtmäßig erworbenes Eigenthum. Meine Felder sind in gedeihlichem und gesegnetem Zustande, mein Weizen ist auf dem Markte zu Oran der gesuchteste und ohne Widerrede höher bezahlt als jeder andere; ich bin der Erste, dem es geglückt ist, hier eine Baumwollenpflanzung in’s Werk zu setzen und nicht unbeträchtlichen Gewinn aus ihr zu ziehen; wenn es sich um Lieferungen für die Truppen handelt, werden mir von Seiten der Behörden Privat-Offerten gemacht, bevor öffentliche Bietungstermine angesetzt werden. Ich habe einige Mal Gelegenheit gehabt, der Behörde nicht unwesentliche Dienste zu leisten, und besitze dafür deren unbegrenztes Vertrauen – mit einem Worte, ich bin zufrieden mit meinem Loose und wünschte nur, daß ein jeder deutsche Colonist hier ein Gleiches sagen könnte. Doch dem ist nicht so; denn leider findet man unter den hier lebenden Landsleuten nur wenig wirklich brave und rechtschaffene Leute; den bei weitem größeren Theil der hiesigen Deutschen haben traurige und compromittirende Antecedentien zur Uebersiedelung nach Afrika veranlaßt. Ich habe in dieser Beziehung manche herbe Erfahrung gemacht, um so mehr als ich seit der Gründung des Dorfes Ortsvorsteher (Maire) in demselben bis auf den heutigen Tag gewesen bin.

Nun, Herr Lieutenant, kennen Sie meine Schicksale; sollten Sie einmal nach Deutschland und wohl gar in meine liebe Heimath kommen, so erzählen Sie nur den Leuten dort, daß der Christian Wöhler es nicht bereut, nach Afrika gegangen zu sein, daß er jedoch durch langjährige Erfahrung hier zu der Ueberzeugung gekommen ist, daß nur solche Colonisten glücklich werden mögen, die ein gutes Gewissen mitbringen und an deren Anlagecapital kein Fluch oder gar Schlimmeres klebt!“ ...

„Recht so, mein Freund,“ entgegnete ich und schüttelte die dargebotene Rechte des Biedermannes. Ich hätte gern noch länger mit ihm geplaudert; allein meine Dienstpflichten nahmen jetzt meine Zeit in Anspruch, und ich beschloß, da das Commando noch vor Tagesanbruch die letzte Etappe nach Sidi-bel-Abbès antreten sollte, und ich bis dahin zu viel zu thun hatte, um noch einen Besuch bei der Colonistenfamilie machen zu können, gleich definitiven Abschied zu nehmen. Die sämmtlichen Bewohner des Hauses hatten sich inzwischen nach und nach im Garten eingefunden. Wöhler’s ältester Sohn, ein rüstiger junger Mann von 26 Jahren, zeigte mir auch seine in jener Schreckensnacht verstümmelte Hand, von welcher ihm Zeige- und Mittelfinger abgeschossen waren. Auch den mehrerwähnten treuen Diener Wöhler’s, den dieser noch aus Deutschland mitgebracht, lernte ich kennen. Elise, die kleine Nichte, nahm mich dann noch in Beschlag und wollte mir die Herrlichkeiten der Ställe und des Hühnerhofes, sowie die zahmen Gazellen, Schakals, Strauße etc. zeigen; allein ich brach kurz ab, indem ich herzlich und freundlich dankend mich verabschiedete. Doch mußte ich Allen das feierliche Versprechen ablegen, meinen Besuch unfehlbar jedesmal zu erneuern, wenn ich – was allerdings nicht selten geschah – durch Tlelat passirte.

Als ich mit meinem Fritz die breite, einzige Straße des Ortes hinunterschritt, kamen wir unter Andern an eine offene Hausthür, vor welcher unter dem Schatten einer Akazie zwei Frauen saßen, Mutter und Tochter, wie ich nachher erfuhr. Fritz grüßte sie mit einem „guten Abend!“ – Erfreut erhoben sich Beide, und die Tochter sagte im reinsten und unverfälschtesten Dialekt des Elsaß: „O! sprachet ’r aach dietsch?“

Als wir darauf einige Minuten uns mit den beiden Frauen unterhalten hatten, sagte mir die Mutter ganz treuherzig: „’r spraachet a racht schlachtes Dietsch.“ – Die gute Frau hielt ohne Zweifel den Elsässer Dialekt für das richtige und reine Deutsch und meine Aussprache für eine verdorbene und falsche. Doch ließ sie es sich nicht nehmen, uns mit einem Glase Piquette (eine Art Dünnbier) zu tractiren und uns zugleich mit vieler Zungengeläufigkeit Einiges aus, der Chronique scandaleuse des Ortes zu erzählen.

Endlich waren wir in unserer Zeltstadt angelangt, wo bald ein erquickender Schlummer mich für den letzten starken Marsch stärkte. Die Sonne sank schon gegen die fernen Gebirge des Atlas hinab, als wir am folgenden Tage, von der herrlichen 80 Mann starken Musik unseres Regiments eingeholt, in unser Standquartier Sidi-bel-Abbès einrückten. Noch zu verschiedenen Malen habe ich späterhin meinen Besuch im Hause des braven Wöhler erneuert und mich stets der besten und herzlichsten Aufnahme zu erfreuen gehabt.

Theodor Küster.




Christenverfolgung in Italien.


Die Gartenlaube hat erst jüngst ein Beispiel erzählt, in welcher Weise das Volk in Deutschland beim alten Glauben erhalten oder zu ihm zurückgeführt wurde: die Geschichte von den Salzburger Auswanderern. Wenn nun selbst im deutschen Oesterreich, wo die Inquisition niemals und am wenigsten in spanischer und italienischer Weise Eingang gefunden, eine solche Ausrottung des Protestantismus möglich war, wie sollte in Italien der Kampf des armen verlassenen Volkes gegen die Allgewalt des Papstthums enden?

Alle Schilderungen über die Christenverfolgungen, welche von den heidnischen Römerkaisern, selbst einem Nero, verhängt worden sind, verlieren von dem Gräßlichen ihres Eindrucks, sobald sie neben die Entdeckungen gestellt werden, welche die Durchforschung der Inquisitionsgebäude und Archive in Rom, zur Zeit der römischen Republik von 1849, zu Tage gefördert hat. Martern, wie nur eine teuflische Phantasie sie ersinnen kann, sind hier verübt worden seit jenem 1. April 1543, an welchem Paul III. die ersten Generalinquisitoren ernannte und die „Congregation des heiligen Officiums“ in Rom gegründet hatte, bis fast zur jüngsten italienischen Fürstenflucht. Man hat Protestantischgesinnte mit Pech bestrichen und so lebendig verbrannt, man hat sie öffentlich mit eisernen [616] Ruthen gepeitscht und mit Fackeln todtgeschlagen, man hat sie von Kirchthürmen gestürzt, in Masse abgeschlachtet, wie das Vieh, oder in unterirdischen Folterkammern schrecklich zu Tode gequält. Und sollten die Martergefängnisse für Ketzer in jüngster Zeit dort menschlicher eingerichtet gewesen sein, als wir sie in Neapel für politisch Verfolgte gefunden haben?

Mit der Wirksamkeit der Ketzergerichte begann in Italien eine allgemeine Flucht aller des neuen Glaubens Verdächtigen nach dem protestantischen Norden, und die Mehrzahl dieser Flüchtlinge mußte heimlich, bei Nacht und Nebel, oder unter mancherlei Verkleidung die Grenze zu erreichen suchen, denn den Ketzerrichtern lag vor Allem daran, Exempel zu statuiren, Vermögen zu confisciren und nebenbei Seelen zu retten durch Vernichtung der Leiber. Von den zahlreichen Massenverfolgungen erwähnen wir hier nur eine. Bis nach Neapel hatten die Waldenser sich ausgebreitet; dort lebten in drei Colonien (la Guardia, Baccarizza und San Sisto) ihrer etwa viertausend, von denen selbst katholische Stimmen urtheilten, daß sie „ein einfaches und unterrichtetes Volk“ seien, das sich ganz allein mit dem Spaten und dem Pfluge beschäftige und „auf dem Totbette sich ziemlich religiös gesinnt zeige“. Gegen diese Christengemeinden brach im Jahre 1560 die Verfolgung der Inquisition aus, königliche Soldaten mußten gegen sie marschiren, und selbst eingefangene Banditen und zum Tode verurtheilte Verbrecher begnadigte man zu einem „Kreuzzug gegen die Ketzer“, von dem sie straffrei heimkehren sollten. Und die Verbrecher kehrten heim, nachdem die armen Waldenser bis zum letzten Kinde hingemordet waren.

Während bei den heidnischen Christenverfolgungen wenigstens viele und oft lange Unterbrechungen von der einen zur andern stattfanden, gleichsam Ruhepausen zur Stärkung für den nächsten Sturm, gönnten die päpstlichen ihren Schlachtopfern unter sechs auf einander folgenden Regierungen (von Paul III., dem Vater der Inquisition, 1543, bis zu Gregor XIII., 1585) auch nicht einen Augenblick des freien Athemholens. Zu diesem ununterbrochenen Wüthen von der geistlichen Seite kam in Italien noch die Willfährigkeit der regierenden Fürsten und Herren in der Unterstützung der Kirchenmacht gegen die Städte, in welchen sich noch Reste der ehemaligen Freiheit erhalten und die sich eben deshalb zuerst der Reformation zugeneigt halten. Hier arbeiteten somit Hierarchie und Dynastie Hand in Hand, um dem Absolutismus eine feste Stätte zu gründen und jedes Zugloch irgendwelcher freien Einströmung unbarmherzig zu verstopfen.

Schutz von oben und dadurch die Kraft eines längeren Widerstandes gegen die Inquisition hatte der Protestantismus nur an zwei Punkten Italiens gewonnen: in Ferrara und Modena, das damals einen Staat bildete, und in der Republik Venedig. Dort war es Renata, die Tochter Ludwig’s XII. von Frankreich und Anna’s von der Bretagne, welche, längst dem Protestantismus heimlich zugethan, allen Einfluß auf ihren Gemahl, den Herzog Hercules von Este, aufbot, um die Ketzergerichte von den Grenzen ihres Landes zurückzuhalten; und hier, in dem großen Seehandelsplatze, in welchen der Verkehr Völker aller Nationen zusammenführte, mußte schon die Klugheit ausgedehnte Toleranz gegen Andersgläubige gebieten. Doch lange währte die Duldung an beiden Orten nicht. In Ferrara starb Herzog Hercules im Jahre 1559, und Renata, deren guter Geist schon vorher dem Andringen des römischen Hofs hatte weichen müssen, verließ das arme Land, das plötzlich alle Blüthen der Künste und Wissenschaften von den Pfaffenhänden verwüsten sah, und kehrte nach Frankreich zurück, wo sie 1575 zu Montargis als Protestantin starb. In Venedig aber schlich nun in mancher Nacht das Gondelpaar, zwischen welchem auf einem Brete das Opfer der Inquisition saß, aus dem schmalen Canale unter der Seufzerbrücke hervor und übergab den Lagunen ihre Beute. Wie viele Verbrechen bedecken dort die ewig schweigenden immergrünen Fluthen!

Ganz im Geheimen blieb in Venedig der Protestantismus noch bis in das erste Viertel des 17. Jahrhunderts hinein am Leben, ja, er trat sogar noch einmal entschieden hervor, als es galt, den Anmaßungen des heiligen Stuhls unter Paul V. mit aller Macht entgegen zu treten. Damals (im Jahre 1611) durfte der gelehrte Servitenmönch Paoli Sarpi als theologischer Berather der Republik äußern: „Nichts ist wichtiger, als das Ansehen der Jesuiten zu vernichten. Sind sie gestürzt, so stürzt Rom, und ist Rom verloren, so wird die Religion von selbst sich erneuern … Die Inquisition wird aufhören und das Evangelium emporsteigen!“ – Aber erst dritthalbhundert Jahre später sollte dieses prophetische Wort seiner Erfüllung am nächsten sein.

Als endlich auch Venedig den offenen Kampf gegen die römische Hierarchie aufgegeben hatte, schien der Stern der neuen Lehre vom italienischen Himmel ganz verschwunden; denn die wenigen evangelischen Gesandtschaftscapellen, welche man zu unterhalten gestattete, waren deshalb ohne alle Bedeutung für einen „italienischen Protestantismus“, weil kein Italiener sie besuchen und weil der Gottesdienst nicht in italienischer Sprache begangen werten durfte. Und dennoch schimmerte am äußersten Horizont Italiens noch ein Strahl von jenem Stern des Glaubens: ein armes Bergvölklein wagte es, mit der einzigen Waffe des Gottvertrauens dem geistlichen Weltgebieter in Rom zu trotzen.

Die Waldenser sind diese Glaubenshelden. Sie gehören zu den Vorläufern der Reformation, die Zeit ihrer Entstehung versetzt man am wahrscheinlichsten in das 12. Jahrhundert, für ihren Stifter hält man den Lyoneser Petrus Waldo und sie selbst für dieselben „Armen von Lhon“ (Pauperes de Lugdumo), welche in Böhmen als „Piccarden“, in Straßburg als „Winkler“ bekannt waren und deren Vorposten bis nach Arragonien und Unteritalien vordrangen. Ihrer Ausrottung im Neapolitanischen haben wir oben gedacht. In Oberitalien hatten sie ihre festen Sitze in Piemont, wo sie sich seit dem dreizehnten Jahrhundert in den drei Thälern von Luserna, Perosa und San Martino behaupteten. Ursprünglich bestand zwischen den Waldensern und der herrschenden Kirche keine Trennung in den Glaubenssätzen und dem Kirchendienste; heilig war ihnen die Messe und die Ohrenbeichte, die Siebenzahl der Sacramente und die Brodverwandelungslehre, die Ehelosigkeit der Priester und das Armuthsgelöbniß derselben; aber für unheilig erklärten sie das Leben des Klerus, wie es allenthalben ohne Scheu sich zeigte. Nicht am Glauben, sondern an den Glaubenshütern waren sie irre geworden, und erst durch den Kampf mit der Geistlichkeit bis hinauf zum Haupt der Kirche und durch die Verfolgungen, die sie wegen dieses Kampfes zu erdulden halten, wurden sie zum Forschen in der Schrift und zum Neubau eines gereinigten Christenthums hingelenkt. Als nun bis zu diesem armen Bergvölkchen, diesem „Israel der Alpen“, die frohe Mähr von dem Siege einer großen Kirchenreformation in Deutschland und der Schweiz drang, da verlangte es nach einem Boten der neuen Lehre und schloß sich, nachdem Farel aus der Schweiz zu ihm gekommen war, dem reformirten Glaubensbekenntniß an.

Durch diesen Schritt lenkten die Waldenser den Lauf der großen Ketzerverfolgung auf ihre Spur. Ihre Heimath ist ein Grenzland, das bald der savoyischen, bald der französischen Herrschaft unterworfen, bald zwischen beiden getheilt war; je nach der Theilnahme der einen oder beider Mächte an der Ketzer-Unterdrückung richtete sich der Erfolg derselben. Immer aber führten diese Männer der Berge das Schwert wie Helden. Nach langem Kampfe sah schon Herzog Emanuel Philibert von Savoyen sich bewogen, am 5. Juni 1561 die sogenannte „Capitulation von Cavour“ mit ihnen abzuschließen, die ihnen innerhalb ihrer drei Thäler freie Religionsübung und dazu Verkehrsfreiheit mit ihren katholischen Nachbarn zusicherte. Wieviel jedoch eine solche Zusicherung in jener Zeit werth war, zeigte sich bald genug. Die Worte des Vertrags ließ man bestehen, gab es doch für immer neue Quälereien der der Macht einmal Verhaßten tausend andere Wege. Jede Grenzveränderung zwischen Frankreich und Piemont bot dem geistlichen wie dem weltlichen Arme willkommene Gelegenheit, zahlreiche Familien, ja ganze Gemeinden der Waldenser von Haus und Hof, von Hab und Gut zu vertreiben; bald ging die Flucht nach Frankreichs, bald nach Savoyens Grenzpfählen, und selten fanden die Verfolgten anderen Schutz, als auf dem Schweizerboden.

Eine allgemeine Hetze, abermals ein römischer Kreuzzug, ward im Jahre 1655 über sie verhängt. Alle Grausamkeit der Kriegsknechte, für welche der kaum beendigte Dreißigjährige Krieg eine so entsetzliche Schule gewesen war, schien hier noch einmal austoben zu wollen, ja, so unerhörte Gräuel wurden begangen, daß der Weheschrei aus jenen Alpenthälern das ganze protestantische Europa aufschreckte. Dem entschiedenen Mahnruf desselben gelang es, selbst einen Ludwig XIV. zu einem Einspruch gegen das Wüthen der Piemontesen zu vermögen; die Waldenser wurden in alle Rechte, die sie vor dem Vernichtungskriege besessen, wieder eingesetzt, und aus allen protestantischen Ländern flossen ihnen Gaben zum Wiederaufbau ihrer Wohnstätten und Kirchen zu.

[617] Diesmal hatte das gegebene Fürstenwort eine Dauer von zwanzig Jahren, doch derselbe Ludwig XIV., der hier den Frieden gestiftet, warf dieselbe Brandfackel, mit welcher er eine halbe Million seiner edelsten Bürger aus Frankreich vertrieb, auch in die Hütten der Waldenser; auf sein drohendes Gebot erließ Herzog Victor Amadeus II. am 31. Januar 1686 ein Edict, durch welches aller öffentliche und geheime nichtkatholische Gottesdienst bei Vermögens- und Todesstrafe untersagt und zugleich die Zerstörung aller Gotteshäuser, die Landesverweisung aller Geistlichen und Lehrer und die Taufe aller Kinder der Waldenser durch katholische Priester angeordnet wurde. Das war der italienische Wiederhall der Aufhebung des Edicts von Nantes!

Vergebens drangen Bitten und Fürbitten in den Herzog um Zurücknahme seines Befehls; er blieb für jeden bessern Einfluß verschlossen. Ebensowenig waren die Waldenser zur Auswanderung in Masse zu bereden, wozu namentlich die schweizerischen Glaubensgenossen aufgefordert hatten. Sie griffen zu den Waffen, mit dem heldenmütigen Entschluß, ein Häuflein von kaum zweitausend Männern, gegen zwei Heere, ein französisches und ein savoyisches, die von West und Ost gegen die Thäler heranrückten, um des Glaubens willen den Kampf zu bestehen. Da schien in dem Herzog das Gewissen erwacht zu sein, er beredete mit wahrhaft fürstlichem Aufwand von Versprechungen die aufgestandenen Schaaren zu einer vertrauensvollen Uebergabe, und als nun, nach drei bangen Tagen, die Waldenser voll Vertrauen die Waffen strecken, da wanderten sie, gegen vierzehntausend an der Zahl, ohne jede menschliche Rücksicht auf Alter und Geschlecht, in die Kerker der Festungen, um dort dem Bekehrungseifer eines vorsorglich zusammengezogenen Schwarms von Priestern und Mönchen überliefert zu werden.

Und wie müssen die Bekehrungsmittel dieser heiligen Männer beschaffen gewesen sein! Denn als endlich abermals der Einspruch protestantischer Fürsten und der schweizer Glaubensgenossen wenigstens so viel Gehör bei dem Herzog fand, daß er die Waldenser zur Uebersiedelung nach dem Norden der Alpen frei gab: welche Gestalten krochen aus den Gefängnissen hervor, und wie war ihre Zahl zusammen geschwunden! Arm und bloß, wie sie den Kerker verließen, wankten sie dem Mont Cenis zu; aber trotz aller Sorge und Pflege der Schweizer, die dem Trauerzuge bis Susa und Lans-le-Bourg mir Kleidern, Brod, Wein und Bibeln entgegeneilten, fanden in Genf von jenen vierzehntausend Waldensern nur dreitausend sich wieder. Die andern waren den Kerkern, Bekehrungen und den Alpen erlegen.

Von diesen Waldenser Emigranten siedelten die meisten sich im Brandenburgischen an, wo auch die gleichzeitig vertriebenen französischen Emigranten das freudigste Willkommen empfing. Kleinere Gruppen suchten sich im übrigen Deutschland und in den Niederlanden eine neue Heimath zu gründen; eine nicht geringe Zahl hatte sich von der heimathlichen Natur der Schweizerberge nicht trennen können, und diese pflanzen bald neue Reiser in die verödeten Thäler.

Während nämlich Rom frohlockte über die nun erst vollständige Niederlage der Ketzer in Italien, rüsteten, von unwiderstehlicher Sehnsucht nach ihren Bergen getrieben, Hunderte von Waldensern sich zur gewaltsamen Heimkehr, und zwar ganz in’s Geheim, denn die protestantischen Mächte hatten sich verpflichtet, ihnen jede Rückkehr unmöglich zu machen. Wirklich waren im Jahre 1687 dreihundert und im Juni 1689 siebenhundert derselben durch die Regierung von Bern von der Ausführung ihres Vorsatzes zurückgehalten worden. Am 16. August desselben Jahres gelang es jedoch einer Schaar von neunhundert Männern, das savoyische Ufer des Genfersee’s zu erreichen und sich durch die französische Besatzung der Festung Echelles durchzuschlagen. Ihr Führer war Heinrich Arnaud, ein waldensischer Geistlicher; ihm folgten am 27. August noch siebenhundert Mann in das Thal San Martino, wo sie sich auf einem Hügel verschanzten und den mächtigen Schutz eines früh einfallenden Winters fanden. Desto verzweifelter wurde ihre Lage im kommenden Frühling; französische und piemontesische Truppen besetzten die beiden Ausgänge des Thales und sperrten sie somit sämmtlich ein. Zwar schlug die kleine Schaar einen Sturm dieser Uebermacht zurück, würde aber dennoch erlegen sein, wenn sie nicht das Ungeheure gewagt hätte, unter dem Schutze eines dichten Nebels die steile Felswand hinter ihrem Lager zu erklimmen, auf welcher sie zu den Höhen von San Giovanni gelangte. Hier erreichte die geretteten Männer eine Botschaft des Herzogs, die ihnen Frieden und Freundschaft antrug. Freudig ergriffen sie die dargebotene Hand, neu gestärkt fielen sie über die Franzosen her, schlugen und verfolgten sie bis auf französischen Boden. Dieser Sieg vollendete das neue herzliche Einverständniß zwischen dem Herzog, der damals den Versuch machte, das französische Gängelband abzuschütteln, und den Waldensern, denen nun alle Gefängnisse sich öffneten und deren Lieben aus allen Fernen wieder der Heimath zueilen. Arnaud erhielt sogar den Rang eines Obersten in der Armee des Herzogs.

Das Edict, welches nicht nur allen Waldensern die Religionsfreiheit wieder gab, sondern auch einer großen Anzahl französischer Protestanten die Niederlassung bei ihnen gestattete, ward von Victor Amadeus am 23. Mai 1694 unterzeichnet. Es schließt allerdings die blutigen Verfolgungen in diesen Thälern ab. Mit der Rechtlosigkeit der Ketzer blieb es trotz alledem beim Alten, denn schon am 29. August 1696 unterzeichnete derselbe Herzog den geheimen Tractat von Turin, in welchem er sich Ludwig XIV. gegenüber verpflichtete, in allen von Frankreich an die Krone Savoyen abzutretenden Ländern nur katholische Bewohner zu dulden und alle französische Protestanten und Waldenser aus den savoyischen Thälern zu verbannen. Letzteres Loos traf mit dreitausend Unglücksgenossen auch den kaum erst fürstlich gefeierten Arnaud. Die sogenannten „wälschen“ Gemeinden des östlichen Schwarzwaldes verdanken diesen Auswanderern ihre Entstehung.

Ein eigenthümliches christliches Liebeswerk bildet die Sammlung aller gegen die Waldenser erlassenen Edicte, die im Jahre 1740 veröffentlicht wurde, offenbar um diese zum Theil damals in glückliche Vergessenheil gerathenen Gewaltgesetze der Nachachtung wieder eindringlicher zu empfehlen. Am scheußlichsten erscheint darin ein Edict von 1655, nach welchem den Waldensern ihre Kinder weggenommen werden können, im Fall diese katholisch werden wollten, und dazu erklärt dieses Gesetz für eine solche Selbstbestimmung bei Mädchen ein Alter von 10, bei Knaben von 12 Jahren für genügend!

Während des ersten französischen Kaiserreichs herrschte in diesen Ländern allgemeine Religionsfreiheit; diese wich der Restauration aller alten Zustände, als Victor Emanuel I. als König von Sardinien wieder in Turin einzog. Auch jene Edicte gegen die Waldenser erhielten frische Kraft; ja, sie blieben selbst nach dem Regierungsantritt Karl Albert’s (1831) bestehen. Noch im Jahre 1834 suchte der Bischof von Pinerolo sie in ihrem ganzen Umfange wieder zu Ansehen zu bringen, namentlich kam der „Kinderraub“ in eine wahrhafte Blüthe. Zu Pinerolo bestand ein besonderes Ospizio dei Catacumeni für Waldenserkinder, um deren Rückgabe die Eltern vergeblich alle Mittel versuchten; wohlhabende Waldenser mußten sogar noch ansehnliche Pensionen für die katholische Erziehung ihrer geraubten Kinder bezahlen! Auch alles Besitzthum außerhalb der drei Thäler wurde ihnen von Neuem unmöglich gemacht; kurz, die Bedrängniß des protestantischen Bergvolkes erreichte wieder einen Grad, der ihm abermals die Aufmerksamkeit und Theilnahme des protestantischen Auslandes zuwandte; vor Allen bot Preußens König, der noch im Jahre 1837 den vertriebenen Zillerthalern eine neue Heimath in Schlesien zugewiesen hatte, auch den Waldensern einen sicheren Raum in seinen Staaten an. Diese beharrten jedoch auf dem Boden ihrer Väter, und ihre Heimathtreue ward endlich belohnt.

Die großen Bewegungen in Italien, von jenem 16. Juli 1846 an, wo Pius IX. den Stuhl Petri bestieg, bis heute sind vor Aller Augen vorübergegangen. Wir Alle sahen, daß auch in Italien nur eine glückliche Dynastie es vermochte, dem gebundenen Volke die römischen Fesseln zu zerschlagen. Und es währte lange, bis man in Turin zu der Einsicht gelangte, daß die Befreiung des Gewissens eine große That sei. Mußten doch erst Männer wie R. Azeglio, Graf Cavour und Cesare Balbo ihre gefeierten Namen an die Spitze einer Adresse an den König stellen, ehe auch den armen Waldensern ihr Recht werden konnte. Sogar die von Karl Albert gewährte Verfassung vom 29. Januar 1848 erklärte noch „die katholische apostolische römische Religion“ für die herrschende Religion des Staats, neben welcher alle übrigen Culte nur geduldet werden sollten „nach Maßgabe der bestehenden Gesetze“ – d. h. für die Waldenser nach der Edictsammlung von 1740! – Aber schon am 17. Februar schlug die Stunde des Triumphs für die standhaften Dulder; ein königlicher Erlaß verlieh ihnen alle bürgerlichen und politischen Rechte der [618] übrigen Staatsangehörigen, öffnete ihnen alle Staatsschulen und akademischen Würden und hob alle diesem widersprechenden früheren Gesetze auf.

Nicht blos in den beglückten Thälern der Waldenser leuchteten am Abend dieses Tags die Freudenfeuer, die festlich strahlenden Hotels der Gesandten von Preußen, England und Holland in Turin zeugten davon, daß ein Siegesfest der Humanität in Europa begangen werde.

Am besten weiß stets das Volk für lange Volksleiden zu belohnen. Als man am 27. Februar zu Turin die Verleihung der Verfassung großartig feierte, gewährte die Festcommission bei dem Festzuge den Abgeordneten der Waldenser den Vortritt, und hier, wo sie zum ersten Male als berechtigte Gemeinschaft öffentlich auftraten, ging bei ihrem Anblick dem erregten Volke das Herz auf, und freudig begrüßten die von Priesterbanden sich gleichfalls frei fühlenden katholischen Bürger mit tausend Evviva’s ihre „waldensischen Brüder“, ihre „lieben, wiedergewonnenen Brüder“! Dieser Augenblick höchster Erhebung konnte auf Jahre des Jammers den Mantel der Vergessenheit decken. Noch heute ist der 27. Februar ein Festtag der Waldenser.

Wie lange? – Diese Frage wirft uns die jüngste Zeit entgegen. Savoyen und ein Theil des Völkleins der Waldenser sind unter Frankreich gekommen. Seitdem schwebt eine trübe Wolke über dem kaum aufgegangenen Freudenlicht. Wer will heute ahnen, was die Politik, die in diesem Lande regiert, die Politik der Gelegenheit, morgen dem Volke bringt? Braucht der Kaiser die Pfaffen, so opfert er ihnen die Gewissen, und braucht er sie nicht, so schützt er ihre Feinde. Mehr als irgend ein anderes Land, mehr als Rußland und Spanien, läßt Frankreich und Italien uns klar werden, welche Schlange um Hals und Herz der Völker die Verbindung der Politik mit der Religion erzeugt, und dazu haben sie in Rom wie in Paris immer neue Beweise geliefert für eine alte Wahrheit: Je weniger in ihren Regierungshandlungen Spuren zu finden waren von dem Charakter einer wahrhaft christlichen Regierung, um so ängstlicher fesselten sie von je die Völker an ihr Regierungschristenthum.

Wir schließen hier, obwohl unser Gegenstand noch nicht erschöpft ist. Eine neue Reihe päpstlicher Christenverfolgungen entspann sich nämlich aus der katholischen Abwehr gegen die vordringende Wirksamkeit der protestantischen Bibelgesellschaften. Hier begegnen wir nicht mehr Massenverfolgungen, sondern den Quälereien gegen Einzelne. Diesen regierungspriesterlichen Umtrieben, welche durch den großen politischen Umschwung seit 1859 einen plötzlichen Abschluß erhalten haben, und dem gegenwärtigen Stande des Protestantismus in Italien widmen wir einen besondern Artikel.

Auch für diesen werden wir, wie für den vorliegenden, mit aller Anerkennung für den Fleiß des Verfassers den zeitgeschichtlichen Versuch L. Wille’s über „das Evangelium in Italien“ hinsichtlich der Thatsachen zu Grunde legen. Seine Anschauung von Gott wird uns jedoch fremd bleiben, denn wer nach der furchtbaren Weise der Unterdrückung des reformatorischen Geistes in Italien zu dem Ausrufe kommt: „Man kann nicht anders als Gottes rächende Hand erkennen, welche das unglückliche Land in das selbstverschuldete Gericht dahin gab!“ – wessen Theologie noch heute es zuläßt, solch einen grimmigen Judengott auf den Altar der Religion der Liebe zu setzen, wer solche miserable menschliche Leidenschaften, wie Rachsucht, und noch dazu an Unglücklichen und Unschuldigen, am höchsten Wesen wiederfindet, der könnte leicht vor dem priesterlichen Herrsch- und Verfolgungsfieber nicht sicherer sein, als die treuesten Jünger und eifrigsten Diener des armen unbeflecktheitseligen Pio Nono und seines jesuitischen Generalstabs.

Dr. Fr. Hfm.




Das Renchthal und die Klosterruine Allerheiligen im Schwarzwald.

(Schluß)

Am andern Morgen wandern wir zum Städtchen Oberkirch hinaus in’s duftig dämmernde Thal; die Berge rücken uns näher von der Rechten und Linken. Es ist Sonntag. Aus den Seitenthälern, von den Höfen und Weilern an den Thalwänden her strömen festlich geschmückte Gäste zur Mutterkirche. Die Männer und Knaben in rothbodiger Pelzmütze oder breitrandigem, schwarzem Hut, dem schwarzen, weiß oder roth gefütterten Tuch- oder Zwillichrock, der rothen Weste, langen schwarzen Zeughosen oder kurzen Lederhosen mit Halbstiefeln, selten Schuhen mit weißen Strümpfen, die Weiber mit schwarzer Bänderhaube, die Mädchen, unter denen wir manches edle, liebliche Gesichtchen heraus finden, mit unbedecktem, in verschiedene Form geflochtenem Haupthaar, rothem Halstuch, schwarzer, kurzer Leibjacke und blauem Rock.

In einer halben Stunde haben wir Lautenbach erreicht, dessen berühmte, einst von Allerheiligen aus versehene Wallfahrtskirche ein gutes Altargemälde und zur Linken im Hauptschiff ein nicht minder sehenswerthes Oelbild enthält. Hier haben wir die Wahl zwischen drei Wegen nach Allerheiligen, entweder der Thalstraße nach über Oppenau, und von da weitere zwei Stunden das reizende Lierbacher Thal hinauf, ohne Zweifel der bequemste, aber längste, oder von Lautenbach an über den Soolberg, oder durch das Sulzbachthälchen über den Brunnberg. Wir wählen den Letzten.

Nach zehn Minuten biegen wir links in das enge Thälchen ein, in dem wir nach weitern zehn Minuten das Badhaus Sulzbach erreichen. Zwischen den beiden Badhäusern, unter einem bedeckten Gange hindurch, an dem Ausfluß der Quelle vorbei, steigen wir bergauf in eine einsame, wilde, reiche Gebirgswelt hinein. Eine gute halbe Stunde führt uns so der rauhe Bergweg steil im Walde aufwärts, dann öffnet sich vor uns die Waldgegend, mächtige dunkle Berge ragen zur Linken und Rechten empor, tief eingeschnittene Wiesenecken ziehen sich unter ihnen hin; noch fünf Minuten steigen wir empor; Aepfel- und Birnbäume, an deren entlaubten Aesten noch das spätreifende Obst hängt, sind uns die Verkündiger naher Menschenwohnungen, und nach wenigen Schritten stehen wir in dem Gehöfte des Brunnberghofes. Heerden von Schweinen und Kühen ziehen an den Höhen umher, tief über die niedern Fenster hängt das schützende Strohdach, im untern Stockwerke reihen sich die Stallungen für das zahlreiche Vieh, Scheunen und Schoppen aneinander, in den zweiten Stock, zu den Wohnungen der Familie, führt die hohe starke Holztreppe; das Ganze macht den Eindruck einer wohnlichen Stätte in dieser wilden Gebirgseinsamkeit.

Die rothwangige Bäuerin streckt den Kopf zum Fenster heraus und deutet uns die Richtung des Weges an. Wir folgen über eine kahle Bergwiese der angegebenen Richtung. Eine fliegende Nebelwolke hüllt uns plötzlich in ihren feuchten Schooß, aber ein Windstoß jagt sie stäubend über uns hinweg, die blinkenden Sonnenstrahlen drücken sie an die dämmernde Bergwand zur Rechten; wenige Schritte, und wir stehen an dem Saum der Bergmatte, und – eine ungeahnte, wunderherrliche Gebirgswelt liegt, wie aus dem Schooße der Wolke gezaubert, zu unseren Füßen. Es ist das Lierbacher Thal, in dessen Tiefe das Nordwasser rauscht, an dessen Hängen einsame Berghütten nisten oder durch steigende Rauchsäulen ihre Stätte in der verborgenen Schlucht verrathen, über dem gewaltige Bergrücken mit ihren Waldsäumen und Waldkronen, ihren Wiesengründen, ihren Felsenzinnen sich hinziehen – wahrlich ein Anblick, ein Stück idyllisch schöner Schöpfung, wie uns wohl selten ein zweites begegnet, und wohl werth des Schweißes, den uns der Bergpfad vom Sulzbachthälchen herauf gekostet. Noch einmal werfen wir den Blick hinüber auf jene Felsenspitze über dem Thale. Es ist die Felsenkirche, der Siebenschwesternfelsen, einst ein Kirchlein, in welches sich sieben Schwestern vor der Gewaltthat verfolgender Hunnen geflüchtet hatten. In ihrer Noth flehten sie zur Mutter Gottes, welche das Kirchlein in einen Felsen verwandelte und so die Schwestern hinter den Felsenmauern rettete.

Neugestärkt, nichts mehr fühlend von der Beschwerde des Weges hinter uns, durchrieselt von der reinen, kühlenden Berglust, geleitet vom wärmenden Sonnenstrahl, folgen wir langsamen, zögernden Schrittes dem bequemen, in Sommertagen dicht beschatteten Fußpfade, der uns jetzt durch stolzen Buchen- und Ahornwald, jetzt durch dichten, dunkelgrünen Tannenschlag, jetzt an lichten Gebüschen mit dem zarten, seidenblätterigen Berggras, der [619] rothblühenden Haide, der späten Heidelbeere vorüber, hinunter führt in das Lierbacher Thal. Die warme Herbstsonne hat sich in seinem Schooße gelagert, ihren Lebensodem noch einmal durch die hinsterbende Natur ergießend; es ist, als wollte sich in dem sonnigen Herbstmorgen Alles, Alles noch einmal an ihren Funken erfreuen und neu beleben: an dem erwärmten Felsen rollt bröckelndes Gestein herab, das dürre Laub rauscht, die Elster hüpft durch die Büsche, der schwanke Birkengipfel, das Gras wiegt sich leise träumend im Herbstwinde, die Eidechse huscht über die Baumwurzeln, der letzten Käfer einer glitzert im Sonnenstrahl, und auch um des Wanderers Herz legt sich der Sonnenglanz wonnigen, glückseligen Behagens. Das Rauschen der Wasserfälle dringt, wie aus unterirdischen, verschlossenen Kammern, in gedämpften, ahnungsvollen Tönen fernher aus dem Schooß des Berges herüber. Wir wandern, stillen Träumen nachhängend, des Weges im Thale weiter, die steilen, waldigen Berge treten hochaufstrebend heran, sie schließen unsere Straße – eine Wendung zur Linken, die Schranke öffnet sich, aber nur um uns eine neue zu zeigen. Ein mächtiges Felsenthor erhebt vor uns seine Pfeiler; auf dem linken, in schwindelnder Höhe steht ein einfaches Holzkreuz, um des rechten kahle Zacken schlingen kühne Tannen ihre Wurzeln.

Es ist der Eingang zu den Büttenschröffenfelsen und den Wasserfällen von Allerheiligen. Wir treten über eine schmale hölzerne Brücke ein. Unter vier bis fünf hohen, dichten Tannen reihen sich in dem dämmernden Dunkel ihres Schattens bequeme Rasenbänke im Halbkreise. Von da folgen wir, den Bach zur Linken, dem ebenen Fußwege und erreichen bald den ersten, nur wenige Fuß hohen Fall, dann den zweiten, der über eine etwa zwölf Fuß lange, halb flach liegende Felsenplatte herunterschießt.

Wir stehen in einem tiefen Felsenkessel; unten am Wasser sind die Steinwände mit dichtem Moose bekleidet, weiter hinauf hängen einzelne Büsche, niedrige Tannen mit grüngelben Flechten an den Felsen, und staffelförmig ansteigend schließen in schauerlicher Höhe die kahlen Zinnen den Rand des Wasserkessels, über welchen der Sage nach einst ein von Kaiserlichen verfolgter schwedischer Reiter den Sprung auf Leben und Tod wagte, doch in der Tiefe zerschellte, woher der Felsen noch jetzt den Namen „Reitersprung“ führt. Ein dritter Fall stürzt sich etwa zehn Fuß hoch über eine steile Felsenwand. Wir überschreiten eine zweite Brücke, um nach der anderen Seite zu gelangen. Dort führen uns hart an der linken Felsenwand Treppen mit sicherndem Geländer an den wildrauschenden Fällen empor. Senkrecht, wohl 400 Fuß hoch, starrt drüben die steile Steinwand empor, dürre Tannen und mageres Buschwerk klammern sich in ihre Ritzen, zu ihren Füßen stürzt sich über 20 Fuß hoch der vierte Fall schäumend in das aufgewühlte Steinbecken, über ihm rieselt der Bach in kleinern sprudelnden Fällen von Steinstufe zu Steinstufe, eine dritte schmale Brücke führt gerade über die kleinen Cascaden hinüber auf eine Felsenstaffel, auf welcher ein gar liebliches, herrliches Ruheplätzchen unter der ansteigenden Felswand angebracht ist. Unter uns schäumt der eben bewunderte vierte Fall, über uns aus der Tannenschlucht heraus stürzt dröhnend der fünfte, größte unter der Brücke vor uns vorbei, weiterem Sturze entgegeneilend. Hier, auf dem Belvedere, ist unstreitig der schönste Platz der ganzen Partie. Ringsum, über uns, unter uns, rauscht und sprudelt und schäumt es, rings thürmen sich die Berge, die Felsen, die Klüfte, der dunkelnde Wald um uns empor, und über die Fälle zu unsern Füßen hinaus senkt sich das Auge hinab durch die Tannenschlucht und streift in die duftigen, sonnig beglänzten Berge des Lierbacher Thales. Aber auch an unser traulich Plätzchen wirft die Sonne ihren erwärmenden Strahl und spiegelt sich in tausend und abertausend schäumenden Silberperlen, und spiegelt sich in der freudig verklärten Tiefe unserer eigenen Seele.

Drüben, an dem Felsen des anderen Ufers, steigt eine morsche Treppe zu einem nicht minder zerbrechlichen Gerüste empor. Ob wohl der Maler hier gesessen, als er unsere Ansicht von den Wasserfällen genommen? Wir wissen es nicht, sicher aber ist, daß sich von da aus das schönste Bild der drei größten aufeinander folgenden Fälle gewinnen läßt.

Widerstrebenden Herzens verlassen wir unser Ruheplätzchen, über die Brücke nach dem andern Ufer zurückkehrend. In einer zwanzig Fuß breiten, fünfzig Fuß tiefen Spalte, links am Wege, klafft dort die geborstene Granitwand auseinander, über eine tischförmig runde Felsenplatte stürzt etwa acht Fuß hoch der sechste Fall, und wenige Schritte über demselben strömt über die ganze Breite des Baches der siebente oder, wenn man will, der erste. Die Waldgebirge zu beiden Seiten werden niedriger, wir verfolgen in einem fast ebenen Hochthälchen den Lauf des Baches. Vor etwas mehr als zwanzig Jahren, als ein blutjunges Bürschlein, hat der Verfasser schon diese wildromantischen Gegenden besucht; aber damals war wohl hier eine wilde Bergschlucht, das schäumende Bergwasser brauste durch dieselben hinab, von oben und von unten im Thale konnte man sein Rauschen vernehmen, von einer thurmhohen Felsenspitze zur Seite konnte man da und dort hinabschauen in die schaurige Tiefe; vielleicht mochte auch ein waghalsiger Bergsteiger hinabsteigen in den tosenden Schlund; aber erst 1840 hat ein wackerer Mann, Bezirksförster Eichrodt, Hand an’s Werk gelegt, diesen einzig schönen Punkt zugänglich zu machen, und so selbst dem Fuße des zartern Geschlechtes Weg und Steg sicher zu bereiten. Seitdem ist Allerheiligen mit seinen Wasserfällen ein von Nah und Fern oft besuchter Ort geworden, und allsommerlich wandern die Badegäste von Sulzbach, Freiersbach, Petersthal, Arbogast und Grießbach einzeln ober in Gesellschaften hierher.

Das Waldthälchen, in dem wir fortschlendern, wird licht, ein freundlicher, welliger Wiesenplan breitet sich vor uns aus, und nach einer Krümmung des Weges nach links erblicken wir in dem ringsum von hohen Waldgebirgen umschlossenen Wiesenkessel die Gebäude des ehemaligen Klosters Allerheiligen. Jenseits des forellenreichen Baches stehen noch die Steinpfosten des ehemaligen sogenannten Gastgartens, zur Rechten stand vor dem Thore das Schlachthaus und das lange Werkstättengebäude, links am Thore das ehemalige Gasthaus und die Stallungen. Wir treten durch das Thor ein, von dem noch die Fundamente eines runden Thorthurmes stehen. In gerader Flucht zu unserer Rechten stand der Speisesaal, die Abtei, hinter derselben der Conventsgarten und weiter zurück das Holzhaus. An die Abtei stieß der Bau, welcher oben die Krankenzimmer, unten Kellerei und Küche enthielt, und hinter demselben befand sich, über dem großen gewölbten Keller, der geräumige, viereckige innere Klosterhof; von dem Conventshaus, dem Capitelhaus und an der westlichen Seite von der Klosterkirche eingeschlossen. Neben der Kirche lag der Friedhof, nordwestlich davon eine Sägemühle, und dem Abteigebäude und vordern Klosterhofe gegenüber befand sich südlich der große, noch jetzt in seiner Einfassung erhaltene Abteigarten, in dessen Mitte das Gymnasium stand. Jetzt stehen noch einzelne von den Neben- und Wirthschaftsgebäuden, von wenigen Tagelöhnern bewohnt, zerfallend unter dem wechselnden Einfluß der Monden und Jahre. In dem Abteigebäude hat die Regierung eine Wirthschaft errichtet.

Wir treten durch ein Vorgewölbe, in welchem rechts und links Säulenstücke aller Art, Capitäle, Schäfte, Füße umherliegen, durch das Portal, dessen Wappen die Zahl 1669 trägt, in den Raum des Hauptschiffes ein. Der Baustyl ist ein schöner altdeutscher, der Chorbogen, die Bögen zu den Seitenchören waren Rundbogen, das Hauptschiff und der Chor selbst ein Kreuzgewölbe. Von dem Langhause ist das nordwestliche Seitenschiff ganz verschwunden, 2–3 Fuß hohe Säulenfüße ragen noch aus dem moosbedeckten Boden hervor. Von der südöstlichen Seite stehen noch drei Säulen des Hauptschiffes, die Außenmauern und der Bogen einer Seitencapelle. Durch den Bogen des Chores aber blicken wir hinaus in die waldige Gebirgslandschaft. Auf den zerfallenden Mauern wächst die Dornenhecke, der wilde Brombeerstrauch und die genügsame Zwergtanne, um die Säulenfüße, über die umherliegenden Friese und Säulenschäfte, über den Deckelplatten einsinkender Grabgewölbe wuchert üppiges Moos und weiches Berggras, und unwillkürlich trägt es die Seele auf den Fittigen des Gedankens zurück in jene Tage, in welchen noch Gebet und Gesang in den heiligen Hallen des Gotteshauses ertönten und reges, emsiges, oft lärmendes und heiteres Leben waltete in den Häusern ringsumher, und Hunderte frommer Anbeter zur Wallfahrt um des Tempels Pforten sich sammelten. Die Klosterkirche, ehemals ein schönes, stattliches Gebäude, war aus Quadern erbaut, groß und reich verziert, hatte einen prachtvollen Hauptaltar und sechs Nebenaltäre und ein schönes vergoldetes Ciborium mit biblischen Darstellungen in getriebener Arbeit. Auch die Klosterbibliothek war nicht unbedeutend.

Wir blicken weiter zurück in die Tage, in welchen noch die Grabesstille des Urwaldes über Bergen, Schluchten und Thälern lag, stiller und tiefer als jetzt über diesen zerbröckelnden Trümmern, in die Tage, in welchen zuerst des Menschen Hand die Axt legte an

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Die Wasserfälle von Allerheiligen.
Nach der Natur aufgenommen von C. G. Winckler.

die Bäume des Waldes, und zuerst des Menschen, eines Weibes frommer Wille auch hier in dieser Gebirgseinöde eine Heimathstätte menschlicher Gesittung und traulichen Erdenlebens gründete.

Es war um die Mitte des zwölften Jahrhunderts, als Uta, die Tochter des rheinischen Pfalzgrafen Gottfried und der Luitgardis, der Tochter Berthold’s des Dritten von Zähringen, mit dem in Baiern, Schwaben und Italien länderreichen Herzog Welf IV. sich vermählte. Der einzige Sohn ward ihnen bald entrissen. Der Herzog aber fand keinen Gefallen an den Freuden des Hauses, sondern führte ein unstätes, sittenloses Leben, trennte sich von seiner Gemahlin, welche einsame Jahre der Wittwenschaft in Italien vertrauerte. Da traf die Rache des Himmels den leichtfertigen Gemahl: erblindet, mit reuiger Seele kehrte er zu der vorher Verlassenen zurück. Als ein Büßender, ein Wohlthäter der Kirche und [621] der Armen lebte er bis 1191. Uta aber, welche als ihrer Mutter Erbgut das Zähringische Allod Schauenburg mit umliegenden Gütern erhalten hatte, nannte sich nach dieser Veste und verlebte daselbst ihre letzten Wittwenjahre in frommen Uebungen. Wohl in Folge getroffener Verabredung mit Welf gedachte sie sofort daran, ein Kloster zu stiften. Sie liebte die Regel Norbert’s von Prämonstrat. Ihr Kloster sollte dieser Regel gehorchen.

In dem Bergwinkel, aus welchem das Nordwasser durch wilde Schluchten hinabstürzt, um nach wenigen Stunden sich mit der Rench zu vereinigen, begann sie den Bau einer Kirche, welche, schon 1193 vollendet, allen Heiligen geweiht ward, und beschenkte das Kloster mit reichen Gütern. Anfangs war es eine Propstei mit fünf Geistlichen. Die Geldnoth des Adels, die fromme Sitte der Zeiten mehrte ihre Besitzungen so rasch, daß schon die Grafen von Freiburg fernere Veräußerungen an dasselbe zu verbieten suchten.

Der Ruf guter Sitte, reger Thätigkeit und wissenschaftlichen Strebens mehrte sein Ansehen so, daß demselben schon um 1250 das Kloster Lorsch einverleibt und mit Geistlichen aus Allerheiligen besetzt wurde. Die Mönche, deren Zahl auf 30–40, deren Einnahme über 20,000 Fl. gestiegen war, beschäftigten sich theils mit der Seelsorge im Kloster und auswärts, theils mit dem Unterricht in Elementar- und wissenschaftlichen Gegenständen, und ihre Bodencultur wurde ein Muster für die ganze Umgegend.

1657 war es zur Abtei erhoben worden, aber dennoch entging es nicht den Stürmen der Zeiten. Der Bauernkrieg, Unruhen gegen die Bischöfe von Straßburg, die französische Revolution brachten wirkliche oder doch schwer drohende Drangsale, und das Jahr 1802 endlich führte seine Aufhebung und 1803 die Auswanderung der Mönche nach Lautenbach herbei. Man berathschlagte hin und her, ob man dasselbe seinem Zweck erhalten, oder ein Besserungshaus für Geistliche, oder sogar eine Spinnerei daraus machen wolle, als am 6. Juni 1803 ein Blitz vom Himmel allen Berathungen ein Ende machte, und die Flamme Kirche und Klostergebäude in einen Trümmer- und Schutthaufen verwandelte.

Vor uns, auf der Höhe des Soolberges, rinnt die frische Quelle des Eselsbrunnens, der uns daran erinnert, daß auch an die Gründung dieses Gotteshauses eine Sage sich knüpft.

Lange Zeit, so wird erzählt, war Uta unschlüssig, wohin sie die Zellen ihres Gotteshauses bauen wollte. Da beschloß sie, die Entscheidung dem Himmel (!!) anheimzugeben. Am Tage der h. Ursula ließ sie mit dem zum Bau bestimmten Gelde einen Esel beladen und diesen frei seines Weges gehen. Von ferne beobachtete man, wo er sich zuerst niederlegen würde. Dort sollte das Kloster sich erheben. Das Thier lief zwei Stunden bergan, bis der Durst es zwang, an einer Quelle zu trinken, welche jetzt noch der Eselsbrunnen heißt. Von da setzte es gestärkt seinen Weg durch das Dickicht des Waldes fort, bis auf die Höhe des Soolberges, wo es seine Last abwarf. Hier aber war es zu rauh und winterlich zur Errichtung eines bewohnten Gotteshauses, man baute daher daselbst nur eine Kapelle zur h. Ursula, und wählte zur Gründung des Klosters die Wiesenau am Nordwasser zu Füßen des Berges.

Lange saß ich träumend und alter Zeiten gedenkend in den zerbröckelnden Klostertrümmern, da mahnte der rasche Flug der Stunden zum Aufbruch.

Von den Klostertrümmern hinweg stieg einige hundert Schritte die breite Fahrstraße bergan, dem dunklen Tannenwalde zu, dann neigte sich der breite, aber grasbedeckre Weg schnell bergab. Wohl drei Viertelstunden führt er durch den hohen Tannenforst unaufhaltsam thalwärts hinab, da auf einmal öffnet sich das dämmernde Dunkel des Waldes, und vor uns liegt, nach der fernen Rheinebene sich hinziehend, das liebliche Thal der Acher. Die weithin zerstreuten Häuser von Ottenhöfen, der lebendige Fluß zur Seite, die grünen Matten, die fruchtbaren Hügelgelände geleiten uns freundlich weiter. Das Edelfrauengrab hinter Ottenhöfen, die Veste der Röder von Hohenrod, die Trümmer des Bosensteiner Schlosses, der Herrensitz zum Neuenstein über dem Dorfe Kappel, nichts vermag unsere eilenden Schritte zu hemmen. Durch Kappel, an Oberachern, an der Illenau vorüber, durch Achern geht es ohne Aufenthalt zur Eisenbahn. Es war ein rascher Marsch, die vierthalb Stunden Weges vom Kloster bis zur Station, eines Zwanzigjährigen nicht unwerth, aber wer möchte in solchem vorüberfliegenden, immer neu überraschenden Wechsel der wunderherrlichen Landschaft der gemeinen Prosa blasiger Fersen oder enger Stiefeln gedenken, wer dürfte träge einherschlendern, wenn schon die schwarze Maschine pfeift, die uns mit dämonischer Gewalt im Fluge entführen soll?




Amerikanische Zustände.

Von Otto Ruppius.
Nr. 2.

Von allen amerikanischen Verhältnissen, welche der deutschen Kritik unterlagen, hat noch keines so viel einseitige und zum Theil völlig unrichtige Urtheile hervorgerufen, als das der Negersclaverei, nicht allein vom Standpunkte der Humanität, sondern auch in Beurtheilung des Einflusses, welchen das „eigenthümliche Institut“ auf die innere Politik der Vereinigten Staalen ausübt – wird doch selbst der Grund des jetzigen Conflicts zwischen Süd und Nord vielfach in dem Bestehen der Sclaverei und dem Hasse des Nordens gegen diese gesucht, sprechen doch selbst große leitende Zeitungen Deutschlands mit einer Leichtigkeit von der möglichen Emancipirung der Schwarzen, als stehe dieser nichts als der Egoismus der Sclavenhalter entgegen.

Bei Gründung der Union erstreckte sich die Sclaverei über die sämmtlichen rebellischen Colonien, die späteren Staaten; alle die großen Väter der Republik waren Sclavenhalter, und die naturgemäß niedere Stellung der Schwarzen war als so selbstverständlich angenommen, daß bei der Erklärung der Menschenrechte in der Unabhängigkeits-Erklärung Niemand daran dachte, daß unter diesen „Menschen“ jemals die Schwarzen mit verstanden werden könnten. Erst später, als auf Washington’s Empfehlung die nördlichen Staaten ihre Sclaven zu entfernen begannen, nahmen die Gesetze den Zusatz „jeder freie weiße Mann“ an. Die Republik fand also eine schwarze Bevölkerung, die im Lande geboren und großgezogen war, deren sie sich nicht zu entledigen vermochte, bereits vor und hatte aus dieser Thatsache das möglichst Beste zu machen. Den Schwarzen mit den Weißen gleiche Rechte zu geben, ließ sich aus den gewichtigsten Gründen nicht thun, selbst wenn der Wille dafür vorhanden gewesen wäre. Die erste natürliche Folge einer Gleichstellung wäre die fortlaufende Vermischung beider Racen und die damit verbundene Degenerirung der weißen Bevölkerung gewesen – wissenschaftlich gebildeten Lesern darf nicht erst gesagt werden, daß fortgesetzte Kreuzung zwischen den entstandenen Mischlingsarten sogar bis zu physischer Zeugungsunfähigkeit führt – und die Pflicht der Selbsterhaltung schon mußte die weiße Race zwingen, den geistig und körperlich unter ihr stehenden Schwarzen auch gesellschaftlich in einer niederern Stellung zu erhalten; das vorgefundene Verhältniß der Neger als Sclaven aber schuf die Grenzlinie so scharf und beseitigte so sehr jede Zwitterstellung der Genannten, daß, als die nördlichen Staaten, welche der Negerarbeit am wenigsten bedurften, die Sclaverei gesetzlich aufzuheben begannen, der allergeringste Theil der Sclavenbesitzer daran dachte, seinen Sclaven die Freiheit zu geben, sondern daß die Hauptmasse nach dem Süden verkauft ward.

Für den Süden waren die Neger als Arbeiter eine unbedingte Nothwendigkeit, wenn überhaupt an die Erzeugung südlicher Producte, wie Baumwolle, Reis und Zucker gedacht werden sollte; eine Sonne, welcher sich der Weiße nie ohne die Gefahr eines Gehirnschlages für längere Zeit aussetzen kann, hat nicht die geringste Einwirkung auf den Schädel des Schwarzen, und während die Miasmen der Reisfelder tödtliche Fieber für den Weißen erzeugen, schlägt der Schwarze innerhalb derselben ungefährdet sein Nachtlager auf. Hätte aber auch der Süden seine Neger zu einer freien schwarzen Arbeiter-Bevölkerung umgestalten wollen, so gab es doch, neben den obigen, weitere unwiderlegbare Gründe, den Zustand der Sclaverei festzuhalten. Der Neger arbeitet nicht, wenn nicht ein physischer Zwang ihn dazu treibt, und je weiter [622] sich die niedern Negerarten in körperlicher Kraft und Ausdauer, verbunden mit abnehmender Intelligenz, dem Thiere nähern, je stärker tritt dieser Widerwille gegen jede mühsame, geregelte Beschäftigung hervor. Den schlagendsten Beleg für diese längst feststehende Thatsache liefert Jamaica, während der Herrschaft der Zwangsarbeit seines reichen Ertrags halber so bekannt. Die englische Regierung hob die Sclaverei auf und erwartete, daß schon der eigenen Erhaltung wegen die Neger sich zu bezahlter Arbeit bequemen würden; der allergrößte Theil derselben aber lief nach geschehener Freilassung in die Wälder und war durch kein Mittel und für keinen Preis zu bewegen, zu irgend einer Art von Arbeit zurückzukehren; mit den Thieren zusammen und ähnlich wie diese lebten sie von dem, was der gesegnete Boden wild erzeugte, bauten sich zum großen Theil nicht einmal Hütten und starben wie das Thier, eine Beute der Aasfresser. Fast die gesammte Bodencultur Jamaica’s ging zu Grunde, und die englische Regierung hat neuerdings zwar nicht wieder zur Negersclaverei, aber zu einem noch weit scheußlichern Arbeitssysteme, der Anwerbung chinesischer Coolies, gegriffen. Der Unterschied zwischen beiden Zwangsarbeits-Systemen ist der, daß der Eigenthümer eines schwarzen Sclaven diesen wenigstens so weit schont, als es sein eigener Vortheil verlangt, während die Coolies meist zu Tode geplagt sind, noch ehe ihre sogenannte Lehrzeit zu Ende geht.

Einen fernern eigenthümlichen Beweis für die allgemeine Arbeitsscheu der Neger liefern die freien Schwarzen in den Vereinigten Staaten, die sämmtlich zu einer höhern Species als die soeben genannten Feldsclaven gehören. Niemand wird dort einen solchen bei schwerer Arbeit finden, sollte es auch halb zum Verhungern gehen, und während der Deutsche und Irländer gern seinen Unterhalt mit Eisenbahn- und Canalarbeiten, Holzhacken und Backsteintragen verdient, ist der freie Schwarze Barbier, Aufwärter und Bedienter, oder auch nur der Mann seiner Frau, welche ihn als Wäscherin ernährt. – Wer jemals die Zuckerplantagen besucht hat, dem werden die „Unverbesserlichen“ unter den dortigen Negern, welche oft kein Mittel der Strenge oder Milde zur Arbeit bringen kann, nicht fremd sein, dem wird es ebenso schon vor Augen gekommen sein, daß sich Neger zur Mittagszeit lieber sofort auf den Boden gelegt und sich mit den erlangbaren rohen, einigermaßen genießbaren Erdfrüchten gesättigt haben, ehe sie die verhältnißmäßig kurze Entfernung nach dem Orte des allgemeinen Mittagsmahles zurückgelegt hätten.

Der Neger arbeitet nicht ohne physischen Zwang, und so lange noch an eine Bodencultur in den südlichen Staaten gedacht wird, ist auch die Negersclaverei nicht zu umgehen.

Zur richtigeren Beurtheilung der amerikanischen Sclavenverhältnisse möge nun aber das Folgende dienen.

Unter den jetzt in den Vereinigten Staaten lebenden Negern lassen sich drei Haupt-Species genau unterscheiden. Die niedrigste derselben findet sich hauptsächlich in den Zuckerplantagen von Louisiana, wie überhaupt den südlichsten Theilen der Union, und ist augenscheinlich der Uebergangsstufe vom Menschen zum Affen nicht fern. Die Schädelbildung, die Bildung der Brusthöhle, wie die dürren Arme und Beine mahnen völlig an den letzteren. Das Haar dieses Negers läßt sich wie Thierhaar zu Filz verarbeiten, und schläft er beim Feuer, so wendet er nicht die Füße der Flamme zu, wie der weiße Mensch, sondern den Kopf, wie der Hund. Den Humanisten sollte es ziemlich schwer werden, den gleichberechtigten Menschenbruder auch in ihm anzuerkennen. Wo er zur Arbeit dienen muß, da tritt die Sclaverei in ihrer erschreckendsten Gestalt vor das Auge, denn nur die stets wache Furcht vor der Peitsche vermag ihn bei der Arbeit zu erhalten, während die eigenthümliche Heimtücke in seinem Charakter oft die schärfsten Züchtigungen nothwendig macht. Seiner Heimath sind meist die Schreckbilder entnommen, welche das Blut des deutschen Lesers sieden machen, die aber wohl kaum ein Ende nehmen werden, so lange die Menschheit nicht ohne die Boden-Erzeugnisse leben will, welche nur durch Sclaven-Arbeit erzielt werden können.

Auf einer ungleich höhern Stufe steht eine zweite Species, welche sich größtentheils bis zur nördlichen Grenze der Baumwollen-Districte findet. Wenn sich auch hier durch die mannigfachste Vermischung einiger Negerarten, aus welcher diese Gattung entstanden, sowie durch den nicht unbedeutenden Zusatz vom Blute der Weißen ein bestimmter äußerer Typus kaum feststellen läßt; wenn die Bilder vollster Häßlichkeit mit wurstartigen Lippen und breitgedrückter Nase sich neben ganz erträglichen Gesichtern finden und die Farbe vom Schwarzgrau bis zum schmutzigen Gelbbraun variirt: so hat sich doch fast durchgängig ein gemeinsamer Charakter herausgebildet. Eine eigenthümliche Gutmüthigkeit, mit einer sonderbaren Schmiegsamkeit vereint, die bei roheren Gemüthern unwillkürlich an die Weise einiger Hunderacen erinnert, bei verfeinerteren aber als vollendete Bedienten-Natur auftritt – ein unverwüstlicher Hang zur Lustigkeit und eine wunderbare Musikliebe – allerdings auch die allgemeine Arbeitsscheu, welche sich indessen verdeckter als bei der ersterwähnten Art zeigt, treten dem Beobachter entgegen und erwecken unwillkürlich seine Theilnahme. Dem veränderten Charakter und der höhern Intelligenz dieser Neger gemäß, ist nun auch ihre Behandlung eine von der der frühern Gattung durchaus verschiedene. Die Peitsche kommt selten und meist nur bei unverbesserlich störrischen Charakteren in Anwendung – übermäßige Strenge findet sich eigentlich nur da, wo eine Pflanzung nicht von ihrem Herrn, sondern von einem angestellten Aufseher verwaltet wird; wo die Familie des Eigenthümers auf dem Besitzthume wohnt, besteht fast überall eine Art patriarchalischen Verhältnisses zwischen Herren und Sclaven; die geschlechtlichen Beziehungen der letzteren werden durch Gründung von Familien geregelt, und jeder derselben ein Stück Land um ihre Hütte, zur Zucht von Schweinen, Federvieh und dergl. für eigenes Interesse, wie zur Anlegung eines Gärtchens überlassen; jede Gelegenheit ist recht, um ein abendliches Fest für die Schwarzen zu improvisiren; wo sich ein besonderes Talent für mechanische Verrichtungen zeigt, wird es zu einem entsprechenden Handwerk herangebildet, Mädchen zu Nätherinnen erzogen, und die Manierlichsten unter der Masse zum Dienst für das Haus als Köchinnen, Kammermädchen, Kutscher und Leibdiener herangezogen. Wie sich das Loos dieser Neger zu dem der freien Schwarzen im Norden verhält, mag aus der Thatsache hervorgehen, daß stets mehr zur Flucht verlockte Neger aus den freien Staaten zu ihren alten Herren freiwillig zurückkehren, als die Zahl derer ist, welche auf eigene Faust die gewonnene Freiheit genießen mögen; unter allen den Geschichten aus dem Sclavenleben Amerikas aber, welche gedruckt in die Welt hineingegangen sind, geben die Bilder von Sealsfield wohl allein wahre, auf eigene Anschauung gegründete Zeichnungen, die zu einer richtigen Beurtheilung der Verhältnisse in den Baumwollendistricten nicht genug empfohlen werden können.

Die dritte Species, welche sich nur noch selten rein, aber selbst in ihren Mischungen noch deutlich unterscheidbar findet, hat fast kaukasische Bildung und wird ihres hohen Preises wegen nur zur innern Dienerschaft in reichen Häusern verwandt. Eigenthümlich elegante Körperformen und eine hohe natürliche Grazie zeichnen die Frauen aus, während mancher Mann das Modell zu einem schwarzen Apoll abgeben könnte. Ihnen entstammen die ihrer Schönheit wegen berühmten Quadronen in New-Orleans, welche fast eine ganz besondere Bevölkerungsclasse bilden und das Hauptcontingent zu Maitressen für die reichen Südländer stellen; aber selbst in der Kreuzung mit niedriger stehenden Negerarten verwischt sich die Anmuth und Grazie in ihren Körperformen nur wenig. Für sie existirt die Sclaverei nur dem Namen nach. Eine wunderbare Schmiegsamkeit macht besonders die Mädchen den üppigen Damen des Südens als Kammermädchen, als Mitwisserinnen ihrer kleinen Geheimnisse fast unentbehrlich, und die Gebieterin hat oft mehr von den Launen ihrer Dienerin zu leiden, als diese von der Strenge jener.

Trotz des milderen Looses der beiden letzteren Negerarten bleibt es indessen wahr, daß die größte Abscheulichkeit, der rücksichtslose Handel mit menschlichen Wesen, die Trennung von Familien durch Verkauf, noch immer besteht, daß in einzelnen Staaten, um der Aufreizung der Schwarzen durch das gedruckte Wort vorzubeugen, jede Schulbildung derselben auf das Strengste verpönt ist, und so lange die Sclaverei überhaupt existirt, werden sich auch ihre Consequenzen nicht völlig beseitigen lassen. Die Masse der schwarzen Bevölkerung aber ist nun einmal da, und daß sie bei der Gründung der Union da war, machte das erste und schwerste Unglück derselben aus: sie hat eine Bevölkerung, die tief unter der weißen Race steht und ohne die dringendsten Gefahren nicht auf gleiche Stufe mit dieser gestellt werden kann, die, soll sie nutzbringend für die Allgemeinheit sein und nicht zur völligen Landplage werden, nur im Zustande der Sclaverei zu verwenden [623] ist, und so lange nicht das Geheimniß entdeckt wird, den Charakter der Negerrace völlig zu ändern, wird auch die Sclaverei für die südliche Hälfte der Vereinigten Staaten ein nothwendiges Uebel bleiben. Die schwarze Race besteht so lange als die weiße und gelbe; während aber die beiden letzteren, die weiße voran, eine Culturstufe nach der andern erklommen, befinden sich die Negerreiche Afrika’s noch in demselben rohen, primitiven Zustande, in dem sie vor tausend Jahren waren, und es ist eine eigenthümliche Erscheinung, daß die niederen Negerarten da, wo sie durch das Zusammenleben mit den Weißen eine Art Civilisation angenommen haben, Schritt für Schritt zurücksinken, sobald sie sich selbst überlassen bleiben. Die Neger-Colonie Liberia in Afrika, die gegründet wurde, um nach und nach den befreiten Schwarzen in den Vereinigten Staaten ein passendes Vaterland zu schaffen, giebt schon jetzt, nach der verhältnißmäßig kurzen Zeit ihres Bestehens und trotz der Bemühungen der dortigen Missionaire, einen schlagenden Beleg dafür. Die freien Schwarzen in den nördlichen Staaten Amerika’s aber, einschließlich der beiden (englischen) Canada’s, werden als eins der größten Uebel betrachtet, sie bilden die arbeitsscheue, zum größten Theile bildungsunfähige Hefe der Bevölkerung, und einzelne, neu in die Union eingetretene Staaten haben die Niederlassung freier Schwarzen gesetzlich ganz verboten. Daß sich einzelne Ausnahmen unter den amerikanischen Negern finden, auf welche das allgemeine Urtheil keine Anwendung hat, darf gar nicht abgeleugnet werden; einzelne glücklichere Organisationen aber können natürlich nichts im Verhältniß zu der großen, allgemeinen Masse wiegen. –

Und nun zum weitern Verständniß noch einige Worte über den Einfluß, welchen die Sclaverei auf die politischen Verhältnisse der Vereinigten Staaten übt.

Schon zu Anfange dieser Zeilen wurde bemerkt, daß der Norden bei Beseitigung seiner Sclaven diese zum allergrößten Theile nach dem Süden verkaufte; hierzu möge gefügt werden, daß bei Beschlagnahme amerikanischer Schiffe, welche mit der verbotenen Einfuhr afrikanischer Neger sich abgaben, sich keines vorfand, welches nicht durch nördliche Rheder ausgerüstet worden wäre, und so darf von einem Widerwillen des Nordens, als Ganzes, gegen die Sclaverei durchaus nicht gesprochen werden. Es giebt allerdings dort eine kleine fanatische Partei, die sogenannten Abolitionisten, welche – wie in früheren Jahren unsere radicalen Socialisten die ganze Welt zum Heile der arbeitenden Classen umgewandelt wissen wollten – direct auf eine Emancipation der Neger los arbeiten möchten; sie haben indessen einen kaum merkbaren Einfluß. Was die eigentliche Oppositionspartei gegen den Süden, die Republikaner, nach ihrem Programme erstreben will, ist nur, die Sclaverei auf das bis jetzt eingenommene Gebiet zu beschränken, sie nicht auf neue, noch unbesiedelte Gebietstheile auszudehnen, und hierin muß jeder Vernünftige zu ihnen stehen. Bei alledem aber darf der deutsche Zuschauer amerikanischer Ereignisse nie vergessen, daß diese „Einschränkung der Sclaverei“ nur ein Parteigrundsatz ist, eine Frage, auf welcher die verschiedensten politischen Elemente zu einer Partei sich zu vereinigen vermochten, und nur ein Mittel, zur Herrschaft über die andern Parteien der Union zu gelangen, daß es in Amerika wohl herrsch- und habsüchtige Parteiführer, aber fast nirgends einen wahren Patrioten giebt, und daß die Sclavereifrage immer nur eine Angelegenheit der Politik, nie aber der Humanität und der Cultur bildet. Und wenn jetzt die Abolitionisten und mit ihnen ein Theil verzweifelnder Republikaner das Geschrei erheben, die Sclaven zu befreien und den Süden durch Erregung von Sclavenaufständen zu ruiniren und zu unterjochen, so mag der deutsche Leser auch sicher sein, daß nie im Ernste daran gedacht werden wird, denn der Haupthandel des Nordens beruht auf den Sclaverei-Erzeugnissen des Südens, die Fabriken des ersteren werden zum allergrößten Theile durch den Süden erhalten, Geschäft und „Geldmachen“ aber ist das erste und höchste Evangelium des nördlichen Amerikaners, und der Ruin des Südens, wenn wirklich die ziemlich unausführbare Drohung zur Wirklichkeit würde, müßte ebenso den Ruin der nördlichen Handels- und Fabrikbezirke zur unausbleiblichen Folge haben.




Blätter und Blüthen.

Aus Jahn’s Leben. Die Tage, in denen die deutschen Turner sich in Berlin zusammenfanden, um dort den Grundstein für ein Denkmal des Begründers der deutschen Turnkunst zu legen, sind vorbei. Vieles ist in jenen Tagen über Jahn gesprochen, viele einzelne Züge aus seinem Leben sind erzählt worden, denn Allen war daran gelegen, das Bild dieses Mannes in ganzer Frische zu erfassen. Zwei Züge dürften vielleicht nicht unter den erzählten sein, wir theilen sie deshalb aus dem Munde zweier Augenzeugen hier mit.

Jahn gehörte bekanntlich zu den wärmsten Anhängern des Lützow’schen Corps, hatte er doch vorzugsweise zur Gründung desselben mit beigetragen, und treu hielt er mit ihm aus. Er war Hauptmann in demselben, und durch seine Ruhe und Entschlossenheit in Gefahren, durch seinen offnen, geraden Sinn hatte er sich die Liebe aller seiner Cameraden erworben.

Das Treffen an der Göhrde am 16. September 1813, die einzige Begebenheit, die aus den beschränkten Dimensionen des niederelbischen Krieges heraustrat und unmittelbar von einem wichtigen Erfolge begleitet war, wird mit Recht als der Glanzpunkt in der Geschichte des Lützow’schen Corps angesehen, denn 500 Mann Fußvolk und 500 Reiter unter Lützow’s Führung nahmen daran Theil, und ihnen blieb das Verdienst, durch ihre Entschlossenheit, durch ihre oft an Verwegenheit grenzende Tapferkeit den Kampf zum siegreichen Ausgange geführt zu haben. Freilich hatten die Lützower von allen Truppen, die an dem Kampfe Theil genommen, den schwersten Verlust, die meisten Todten und Verwundeten. Lützow selbst war im Schenkel und Unterleib schwer verwundet, mehrere der älteren und ersten Officiere waren theils getödtet, theils verwundet. Nur einige junge Officiere standen nach dem Kampfe an der Göhrde an der Spitze der Lützower, welche am Gefechte Theil genommen hatten. Diese Abtheilung wurde einstweilen mit dem Reich’schen Corps unter dem Major Reich vereint, mit welchem zugleich sie auch verproviantirt wurde.

Eifersüchtig auf den Ruhm, den die Lützower in dem Kampfe sich erworben, vernachlässigte der Major Reich sie absichtlich, und während seine Leute von Allem vollauf hatten, fehlte es den Lützowern nach dem heißen, mühevollen Tage an den nothwendigsten Bedürfnissen. Unwillen brach in ihren Reihen aus. Verschiedene andere kleine Unbilligkeiten von Seiten des Majors waren hinzugekommen, um ihn bei den Lützowern verhaßt zu machen. Lauter und lauter machte sich die Erbitterung unter ihnen geltend. Da ließ der Major sie und auch sein Corps antreten und hinaus aus dem Lager auf einen freien Platz marschiren. Beide Corps stellte er einander gegenüber auf, ritt dann vor die Lützower und ließ sie mit harten Worten an. Unruhe entstand in ihren Reihen. „Ruhig!“ rief der Major. „Noch ein Zeichen des Unwillens und Ungehorsams gebt, und ich lasse den zehnten Mann von Euch erschießen! Bei meiner Ehre!“

Manche der tapfern Lützower erbleichten vor stiller Wuth, andere stießen gewaltsam die Kolben auf die Erde, andere griffen unwillkürlich an das Schloß, und es zuckte in ihrer Hand loszudrücken und den Major zu erschießen. Die Erbitterung war auf’s Höchste gestiegen; offener Aufruhr und dann ein heftiger Kampf unter Waffengefährten war kaum noch zu vermeiden. Die jungen Officiere sprachen vergebens beruhigende Worte. Da sprengte ein Mann auf kleinem schwarzen Pferde über das Feld daher, er schien zu errathen, daß etwas Wichtiges vorging, denn die unruhige Haltung der Lützower konnte ihm nicht verborgen bleiben. Schon aus der Ferne rief er ihnen ein lautes „Guten Morgen, Cameraden!“ zu, welches die Soldaten mit einem lauten Hurrah und „Guten Morgen, Herr Hauptmann!“ erwiderten. Es war Jahn.

„Was giebt es?“ fragte er sie. Einige der Offieiere traten zu ihm und erzählten ihm Alles. Seine Augen leuchteten, und er warf auf den Major einen erbitterten Blick. Ruhig ritt er vor die Front seiner Leute und rief: „Achtung! das Corps hat mich zu seinem Führer erwählt, so lange der Major durch die Wunde verhindert ist Euch zu führen. Mir habt Ihr jetzt zu folgen und zu gehorchen – ruhig deshalb, Euch soll Euer Recht werden!“ Die Soldaten begrüßten ihn mit einem lauten Hurrah.

Dann wandte er sich an den überraschten Major Reich: „Herr Major,“ rief er, so daß alle seine Soldaten es hörten, „ich danke Ihnen für die Pflege und die Sorgfalt, welche Sie den Lützowern haben zu Theil werden lassen, ich danke Ihnen für Ihre freundliche Gesinnung und Aeußerung, den zehnten Mann erschießen lassen zu wollen, weil die Leute ihr Recht verlangten – ich danke Ihnen – dem General werde ich Bericht darüber erstatten!“

Der Major bebte vor innerster Erbitterung. Jahn wandte sich von ihm ab und zu seinen Soldaten. „Bataillon, rechts schwenkt!“ commandirte er und marschirte mit ihnen ab. – –

Im Jahre 1838 befand er sich mit seiner Frau und seinem Freunde, dem jetzigen Prediger Marschalt – dem er drei Jahre zuvor die „Denknisse eines Deutschen“ oder „Fahrten des Alten im Bart“ in die Feder dictirt hatte, und nicht, wie von Vielen angenommen wird, Karl Schöppach, der nur nach Jahn’s Anleitung die Vorrede dazu geschrieben – auf einer Reise in Thüringen. Zwölf Stunden von Freiburg entfernt, bemerkte ihn ein zufällig dort anwesender Freiburger und lief ihm mit der Botschaft entgegen: „Haben Sie das Unglück schon gehört? Ihr Haus ist niedergebrannt!“

Unwillkürlich trat Jahn erschreckt einen Schritt zurück. „Was macht die alte Großmutter und die Tante? Sind sie gerettet?“ rief er. Als er die Versicherung erhalten, daß Beide wohl und munter seien, trat er zu seiner Frau, welche über diese unerwartete Kunde fast in Ohnmacht gefallen war, und rief: „Frau, die Großmutter und die Tante leben und sind gesund – nun laß den Bettel brennen!“

Er hatte seine völlige Fassung und Ruhe wieder, aber dennoch trieb es ihn heim, um, wie er sagte, „die Todtenwacht auf der Brandstätte [624] seines Hauses zu halten.“ Und seinen Entschluß setzte er durch. Seine Frau dem Freunde anvertrauend, legte er die zwölf Stunden bis Freiburg in einem Wege zurück, traf am Abend dort ein und hielt auf der Brandstätte die Todtenwacht bis zum andern Morgen.

Es waren ihm viele Papiere und Manuscripte verbrannt, auch das Manuscript jener berühmten oder berüchtigten Dissertatio Archaeologica Sacroburschicosa pro Gradu Doctoris Quomodonis (d. i. des Comments), die er verfaßt hatte und die der Studiosus Held 1802 in Greifswald hielt, worauf dieser natürlich relegirt wurde. Freunde, welche diese Dissertation später bei Jahn im Manuscript gelesen, können nicht genug von der urkräftigen, aber zugleich auch humoristischen Weise, in welcher dieselbe abgefaßt war, erzählen.




Ein deutsches Bad. Wer kennt nicht Rehme, das westphälische Bad, nach dessen Heilquelle jährlich Tausende wandern? Wenige dürften aber wissen, daß Rehme eigentlich durch – Schweine entdeckt wurde. Die Purpurschnecke entdeckte ein Hund; die Weinrebe zu beschneiden, lehrte der Esel von Nauplia; ein Hirsch zeigte die Quelle des Carlsbades; warum soll ein Ort seine Prosperität nicht den Schweinen zu verdanken haben? – ja, wenn wir noch Studenten wären, verstände sich das von selber; heute bedürfen wir des Commentars!

In Rehme lebte ein Bauer, den bei Fleiß und Sparsamkeit sein Gütchen nährte. Wäre es immer so geblieben! Unser Bauer haspelte den Faden seiner Tage anspruchslos und in Zufriedenheit ab. Eins nur verursachte ihm beständigen Verdruß: eine Pfütze auf seinem Hofe. Alle Versuche, das Wasser abzuleiten oder den Pfuhl zu stopfen, scheiterten. Es hatte sich da festgesetzt wie ein böses, unabwendbares Verhängniß. Wie ungehalten der Bauer darüber auch war, seine Schweine ließen über die Existenz der Pfütze keinen Kummer vernehmen. Sobald sich die Stallthür öffnete, stürzten die borstigen Quadrupeden grunzend in die Lache und wälzten sich links und rechts und streckten sich zur Ruhe, und die ganze Tonleiter des vollkommensten Wohlbebagens entglitt den halbgeöffneten Rüsseln. Aber dies Wohlbehagen schüttelten die Thiere in ihrem Bade nicht ab; es folgte ein Wohlbehagen der Gesundheit; sie trugen es in den Stall und durch die ganze Lebenszeit, bis die Scheere der Atropos in Gestalt eines Metzgermessers an die Kehle trat. Der Bauer ward endlich durch alle diese Umstände auf die Wirkungen des Wassers aufmerksam. Er sammelte in einer Wanne das Pfützenwasser, steckte seine eigenen Glieder hinein und erfuhr, außergewöhnlich gestärkt durch das Bad, daß das Wasser mehr als die alltäglichen Kräfte enthalte. Die Nachbarn wußten es bald, auch die Vettern und Freunde, und in kurzer Zeit die ganze Umgegend. Nunmehr erschienen häufig neugierige Gäste des Bades wegen und priesen Wirth und Wasser. Unser Bauer ward zum gesuchten Mann, seine Pfütze zur Wunderquelle. Er kriegte – warum gehörte er auch zur träumerischen deutschen Nation? – große Rosinen in den Kopf: es spiegelte sich auf der bescheidenen Pfütze Reichthum, Verdienst und Ehre. – Aber die Menschenmäuler werfen häufig den Teufelsdreck zwischen irdische Projecte. Die Fama schläft nicht gern und macht hyperbolische Sprünge am liebsten. Unsers Bauern Entdeckung stand wie ein meilenlang geschweifter Komet am Horizont der kannegießernden Collegien, und – der Staat hat auch ein Wörtchen zu sprechen in die Gemüthlichkeit des Grundeigenthums. – Jeder Preuße hat das Recht, sich einen Schürfschein zu erstehen, und mit diesem in der Hand darf er überall im Lande, auf wessen Grundbesitz es auch immer sei, einbohren, um Kohlen oder Salz zu finden. Wird nun irgendwo ein Lager genannter Fossilien entdeckt, so ergreift der Entdecker die unteren Schichten als Eigenthum; die obere Schicht mit der Ackerkrume bleibt dem Besitzer, der seine Pfähle darum hatte, und wie es wohl einregistrirt im Hypothekenbuche steht. Nun aber bedarf der Kohlen- oder Salzlager-Entdecker noch eines Platzes oberhalb der Erde zur Ausbeutung des Fundes, und sofern ein freiwilliges Uebereinkommen zwischen Entdecker und Obergrundbesitzer sich nicht ermöglichen läßt, ebnet eine durch Gesetz sanctionirte Expropriation die Schwierigkeiten. Dieses Schürfgesetz ist löblich, wie viele Leute ihm auch die Faust entgegenstrecken mögen. Es förderte schon manche Million Tonnen Kohlen an das Tageslicht und salbt mit immer neuem Lebensbalsam die Schwingen der Industrie. In Rehme trat der Staat selber, durch die Salinenbehörde repräsentirt, zu unserem Bauer. Es sollte sich unter der Pfütze ein Steinsalzlager befinden. Man bohrte ein trotz der Protestationen des Bauers gegen die vermeintlichen Eingriffe der Regierung in die Rechte des Grundbesitzes. Von Steinsalz ward keine Probe zu Tage gehoben. Auch Kohlen, die man nachher absolut erbohren wollte, ließen sich vergeblich nöthigen; dagegen sprudelte ein 27 Grad warmer Quell empor. – Der Bauer sprudelte auch in neuen, nachdrücklichen Einwendungen gegen die anscheinlichen, schreienden Ungerechtigkeiten, als die Behörde von der Quelle für den Staat Besitz ergriff.

Es ging ans Processiren und Appelliren; indessen man stoppelte aus der desfallsigen Gesetzgebung richtig zusammen, daß der Staat lediglich sein gutes Recht beansprucht hatte. Da entschloß sich der Bauer zu einem letzten Verzweiflungsschritt: er bot dem Staate sein Grundstück für 20,000 Thaler an. Ja, wenn er es mit dem Staatsoberhaupte selber zu thun gehabt hätte! Den Beamten gelten hinter dem Bureau nur Paragraphen der Instructionen und buchstäblichen Gesetze; die Gerechtigkeit steht Paragraph so und so, littera X, alinea 1, 2 oder 3; die Großmuth ist viel zu jacobinisch und confus für Gesetzes-Paragraphen. Im Comptoire ward calculirt, inspicirt, allegirt, revidirt und concludirt: unser Bauer hatte blos Ansprüche auf eine Entschädigungssumme von 200 Thaler, und die Gesetzes-Paragraphen waren dem Beschlusse musterhaft beigefügt. – Die redliche, einfache Seele des Bauern starrte erstaunt und entsetzt in das Labyrinth der Gesetzgebung; die tausend Wege und Pfädlein umschlangen ihn mit Polypenarmen, ihm wußte Niemand den Ariadnefaden zu reichen! Es ging zu viel Traum für die Zukunft verloren. Die Wirklichkeit zerknickte mit einer gar zu rauhen Hand die Blüthen der Hoffnungen, die Pfeiler des Vertrauens auf gegründete Voraussetzungen und vermeintliches Menschenrecht. Der Wahnsinn klopfte an des Bauern Schädel, und nicht einmal die Wunderbäder auf des Unglücklichen expropriirtem Hofe ersäuften den schrecklichen, wüsten Eindringling. – Als unser Bauer der Irrenanstalt übergeben ward, hatten die Oberbehörden superrevidirt, und der Staat entschloß sich, mit 20,000 Thlr. zu entschädigen. Der Bauer hatte somit die Summe nun richtig erworben und blos seinen Verstand verloren, und es soll doch nur sehr wenig Verstand sein, der eines einfältigen Bauern!

Wenn Du nun Deine kranken Glieder nach Rehme schleppst und Du gesundet heimkehrst und der Quelle Heilkraft segnest, so vermuthest Du wohl nicht, daß der Entdecker der Quelle Deines Heils im Wahnsinn wimmert.

H. P.


Deutsche Flotte. Noch selten hat ein großer, glücklicher Gedanke Macht und Einfluß im Volke erlangt, ohne daß derselbe dem ursprünglichen Vater aus der Hand genommen und dieser sammt den ersten Anfängen zur Verwirklichung der Idee vergessen worden wäre. Heute enthusiasmirt sich und zahlt das ganze deutsche Volk für die Gründung einer deutschen Flotte, aber lange, ehe die Gothaer und der National-Verein damit sich zu beschäftigen dachten, wurde dieser geboren und auch sofort in die Welt eingeführt. Das geschah nämlich am 30. Aug. 1860 in der Bierhalle der Gebr. Korte zu Magdeburg, wo am selben Abend die erste Flottenbüchse aufgestellt und hier der erste Pfennig für die künftige deutsche Seemacht niedergelegt wurde. Christus ging aus einer Krippe hervor, warum nicht auch die deutsche Flotte aus einer deutschen Bierhalle? Damit nun aber künftigen Zeiten die Nachricht von der wahren Entstehung der jetzigen Bewegung aufbewahrt bleibe, ist die Gesellschaft im Korte’schen Locale am 30. August dieses Jahres zu feierlicher Sitzung zusammengetreten, hat an der Stelle, an welcher die erste Flottenbüchse aufgestellt war, eine marmorne Gedenktafel errichtet, und mögen auch die dort gesammelten Beiträge das Wenigste in der großen, allgemeinen Summe, wie sie jetzt von allen Seiten zusammenströmt, wiegen, so registriren wir doch das Factum, damit der Grundsatz gewahrt werde: „Jedem das Seine!“



Nicht zu übersehen!

Mit dieser Nummer schließt das dritte Quartal, und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das vierte Quartal sofort aufgeben zu wollen.

In dem zweiten Quartal kommen außer den trefflichen Beiträgen eines Bock, Carl Vogt, Schulze-Delitzsch, B. Auerbach, Beta, Max Ring, L. Storch, Fr. Oetker, Temme, G. Hammer, Mor. Hartmann, H. Schmid, Lev. Schücking etc. etc. noch weiter zum Abdruck:

Der Junker von Hohensee, eine alte Geschichte, von Edm. Hoefer – Eine Ansiedelung aus dem Stegreife. Deutsch-amerikanisches Bild von Otto Ruppius – Um Cap Horn, von Fr. Gerstäcker – Die drei Großmächte, von Lev. Schücking – Des Junker von Seidlitz erste Waffenthat, von Ferd. Pflug – Das hundertjährige Jubiläum der Bleistiftfabrik von Faber. Mit Abbildung von Herb. König – Ein Ausflug in’s Teufels-Moor, von J. G. Kohl. Mit Abbildung – Wissenschaft im Spiele. Mit Abbildung – Hamburger Bilder, von E. Willkomm. Nr. 1. Hohes Wasser. Mit Illustration – Der Bouteille-Pfropfen und die deutschen Korkschneider – Ein kostspielig Stück heiliges römisches Reich – Pariser Bilder, von Sigm. Kolisch – J. G. Fichte, von Johannes Scherr – Erinnerungen aus dem schleswig-holsteinischen Kriege, von Graf A. Baudissin – Die Bauden des Riesengebirges, von Rud. Gottschall. Mit Abbildung – Frau Birch-Pfeiffer – Die Plassenburg, von Lud. Storch – Gottfried Kinkel, von H. Beta. Mit Portrait – Bilder aus dem Norden, von A. Brehm. Mit Illustrationen – Drei Tage mit Kaulbach – Eine Emeute unter dem Wasser. Erinnerung – Aus den Zeiten der schweren Noth, von Theod. Oelckers. Mit Illustration – Erinnerungen an Wilhelmine Schröder-Devrient (Fortsetzung) – Vorlesungen über verleumdete Thiere, von Carl Vogt in Genf – Mit dem Dampfer von Callao nach Valparaiso, von Fr. Gerstäcker – Auch eine Erziehung zum Gottesbewußtsein – Ein Stück deutsche Schande – Aus der afrikanischen Wildniß – Das wilde Kaninchen und sein Todfeind. Mit Abbildung – Vom Singemäuschen – Zur Kinderzucht und Kinder-Erziehung – Der elektro-magnetische Telegraph (Fortsetzung). Mit Abbildungen.

Auch die Deutschen Bilder – und – Scenen aus dem Leben deutscher Dichter, mit Illustrationen, werden fortgesetzt.

Leipzig, im September 1861.
Ernst Keil.  

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.