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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 32.   1861.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Ein Deutscher.

Roman aus der amerikanischen Gesellschaft.
Von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)

Die dritte Woche war zu Ende gegangen, und Reichardt fühlte in einzelnen Stunden eine so trostlose Leere in sich, während es ihm doch zu andern Zeiten ward, als möge er sich hinsetzen und sein übervolles Herz einmal recht gründlich ausweinen, daß er am liebsten seine Stellung ganz verlassen und sich ein anderes Schicksal gesucht hätte, wenn er nur gleich gewußt, wohin. Es war am Freitag Abend, als er sich plötzlich des Kupferschmieds entsann, den er so lange nicht gesehen hatte, und auch, kaum daß er ein kurzes Abendbrod eingenommen, den Weg nach dessen Wohnung einschlug; aber keine Ahnung über die eigenthümliche Wendung seines Schicksals, welcher er damit entgegenging, stieg in ihm auf; er dachte an nichts, als sich nur einmal das Herz frei zu sprechen.

Meißner „der Kupferschmied“ empfing den Freund mit einem herzhaften Halloh, als er diesen in das allgemeine Gastzimmer seines Boardinghauses treten sah. „Haben Sie wirklich den Weg noch gefunden?“ fragte er, während er den Angekommenen nach einer entfernten Ecke führte; „ich hätte beinahe einmal den kühnen Gedanken ausgeführt, Sie in Ihrer Wohnung heimzusuchen, wenn man nur immer wüßte, zu welcher Zeit man solchen feinen Herren am wenigsten ungelegen kommt.“

„Höhnen Sie nur, ich hab’s diesmal verdient!“ gab Reichardt zurück, während er sich bequem an einem der Tische niederließ. „Wenn Sie sonst nichts vorhaben, Meißner, so bleiben wir hier, ich denke, wir sind hier ungestörter als irgendwo anders!“

„All right, Sir!“ erwiderte der Kupferschmied, seinen Stuhl näher heranziehend und einen aufmerksamen Blick in das Gesicht des Anderen werfend, „wenn Sie etwas vom Herzen herunterzuthun haben, so sitzen wir hier wenigstens unbehorcht. Zuerst aber,“ fuhr er fort, dem herbeikommenden Aufwärter die vollen Biergläser abnehmend, „trinken Sie jetzt herzhaft, damit Leib und Seele in die rechte Stimmung kommen, und dann packen Sie aus, gründlich und frischweg.“

„Muß ich denn stets etwas auf dem Herzen haben, wenn ich zu Ihnen komme?“ fragte Reichardt lächelnd, „oder habe ich etwas Derartiges angedeutet?“

„Brauchen auch nichts anzudeuten,“ erwiderte Meißner, „ich darf nur Ihr Gesicht ansehen und weiß dann immer so ziemlich, was los ist; heute aber gefallen Sie mir weniger als je – und deshalb sage ich, trinken Sie!“ Er stieß sein Glas gegen das des Andern, und als dieser endlich seiner Aufforderung gefolgt, setzte er sich bequem zum aufmerksamen Hören zurecht. Reichardt mußte über die Bestimmtheit lächeln, mit welcher jener seinen Mittheilungen entgegen sah, indessen that es ihm wohl, ohne weitere Einleitung über das, was ihn bedrückte, sprechen zu können, und nach kurzer Zögerung, als suche er nach einem Anfange, sagte er: Ich glaube nicht, Meißner, daß ich noch lange in meiner jetzigen Stellung werde aushalten können; da haben Sie gleich Alles, was mir auf der Seele liegt!“ Er hielt inne und warf einen Blick in des Kupferschmieds Gesicht; dieser aber verzog keine Miene; nur seine sich vergrößernden Augen zeigten die Spannung an, mit welcher er das Folgende erwartete, und Reichardt, den Kopf in die Hand gestützt, begann zu erzählen, was in seinen äußeren Verhältnissen ihm die letzten Wochen gebracht. Er sprach zuerst von der herzlichen Freundlichkeit der beiden Frosts und dem eigenthümlichen Vertrauen, das ihm geworden war; er erzählte, wie sehr er in einzelnen Momenten sich dadurch gehoben und glücklich gefühlt – eine warme Anhänglichkeit an Vater wie Sohn klang aus jedem seiner Worte – mit einem halben Seufzer aber, als verweile er zu lange bei diesen Bildern, brach er ab und begann die Schilderung des Cassirers und seiner Erlebnisse mit diesem, erzählte von den anfänglichen stillen Kämpfen, dem herbeigeführten Bruche, und wie endlich die gegenseitigen Beziehungen, das ganze Leben und Arbeiten in der Office zur völligen Unerträglichkeit geworden. Es war eine Art Selbstgenugthuung, die sich Reichardt durch das in seiner ganzen Schroffheit und Kälte hingestellte Bild des Cassirers schuf, es erleichterte ihn, das einmal in Worte fassen zu können, was er nur immer still mit sich hatte herumtragen müssen; daneben aber war es ihm, als habe er sich selbst zu beweisen, daß Bell und dessen Verfahren ganz allein hinreichend seien, um ihm das Verbleiben in dem Geschäfte zur Unmöglichkeit zu machen – und dieses Letztere glaubte er auch dem Kupferschmiede beim Schlusse völlig klar gemacht zu haben. Er fühlte sich leichter und freier, als er gegen ein befreundetes Herz einmal heruntergesprochen hatte, was, nach und nach angesammelt, wie ein Alp auf ihm gelastet.

Was sonst noch im Hintergründe seiner Seele lag, schmerzend und schwer, das sollte ein verhülltes Heiligthun bleiben, und er hatte sich das Wort gegeben, es nicht einmal gegen sich selbst mehr zu berühren.

Der Kupferschmied war mit sichtlichem Interesse Reichardt’s Erzählung gefolgt, als dieser aber jetzt schwieg und ihn, wie eine Aeußerung erwartend, anblickte, legte sich ein Zug von leichtem Spott um seinen Mund. „Und ich soll wirklich glauben, Professor,“ sagte er nach einer kurzen Pause, „daß es Ihr steifbeiniger Cassirer ist, dem Sie das Feld räumen und dem Sie so Ihre [498] besten Hoffnungen opfern? No, Sir!“ fuhr er kopfschüttelnd fort, während ein leises Roth in Reichardt’s Gesicht stieg. „Sie sind nicht der Mann, der sich von so einem Steine aus seiner Straße sprengen ließe – ich habe Sie in schwierigeren Verhältnissen gesehen, Mann, und kenne Sie! – Und so soll ich wohl auch glauben,“ fuhr er, scharf in des Andern Gesicht blickend, fort, „daß Sie nur wegen des Cassirers Ihre Farbe verloren haben, während Ihre Verhältnisse doch sonst die angenehmsten sein könnten, daß Sie wie in stillem Harme beinahe schon eine ganz spitze Nase bekommen, nur weil Sie dem Ladestock in Ihrer Office den Gefallen thun müssen, sich über ihn zu ärgern? No, Sir!, das dürfen Sie dem Meißner nicht sagen –“

„Aber Sie haben doch gehört, daß es eben diese Verhältnisse sind, die mich so peinigen!“ unterbrach ihn Reichardt, ohne einen Anflug von Verlegenheit ganz unterdrücken zu können.

„Ich kann mir ja wohl denken,“ fuhr der Andere fort, ohne auf den Einwurf zu achten, „daß Sie nicht jetzt schon eine Zukunft aufgeben würden, die vor kurzem noch ein lebendiges Paradies für Sie war, wenn nicht eine ganz bestimmte gewichtige Ursache dafür vorhanden wäre – ich werde Ihnen aber natürlich nicht abfragen, was Sie verschweigen wollen – immer laufen lassen, was sich nicht halten läßt – und so sagen Sie mir nur wenigstens, ob Sie schon andere Aussichten haben, oder was Sie sonst zu thun gedenken.“

„Sie gehen zu rasch, Meißner, so weit bin ich noch lange nicht,“ versetzte Reichardt, in das Glas vor sich sehend, als wolle er des Andern Blick vermeiden, „weiß ich doch noch nicht einmal, wie ich meine Stelle aufkündigen soll, ohne wie ein Narr oder ein Undankbarer zu erscheinen.“

„Das mögen wirklich Viele für die richtigen Bezeichnungen halten,“ erwiderte der Kupferschmied trocken, „ich sehe aber, wie kalt Sie die Dinge betrachten, und es wird sich freilich wenig gegen die Unmöglichkeit, in Ihren jetzigen Verhältnissen zu bleiben, sagen lassen.“

„Es ist so, Meißner!“ sagte der junge Mann, mit voller Bestimmtheit dem Blicke des Fragers begegnend, „ich habe mich gegen Sie ausgesprochen, so weit es möglich war, und so lassen Sie das abgethan sein.“

„Gut! aber Ihr ferneres Unterkommen ist damit nicht abgethan,“ warf der Andere, sich jetzt ereifernd, ein, „und danach haben Sie zu sehen, ehe Sie zur Kündigung gehen. Mr. Frost, denke ich, wird wenig Lust haben, Ihrer Ausdauer ein großes Zeugniß auszustellen; der Geschmack zum Porterspielen wird Ihnen jetzt wohl auch vergangen sein; Bekanntschaften haben Sie schwerlich schon genug, um etwas Anderes ergreifen zu können – “

„Ich weiß Alles, was Sie sagen wollen,“ unterbrach Reichardt den Sprechenden und ließ den Kopf schwer in die Hand sinken, „ich habe mir den größten Theil davon schon selbst gesagt, und doch werde ich mich dem Glück oder Unglück überlassen müssen -“

„Gut, so sind wir damit fertig – ein anderes Bild!“ rief der Kupferschmied, mit einer eigenthümlichen Mischung von Aerger und Humor. „Das gnädige Fräulein vom Schiffe ist wieder hier, wenn Sie es noch nicht wissen – sie scheint aber jetzt im Ernste eine gnädige Frau geworden zu sein.“

„Wer – Mathilde?“ fragte Reichardt überrascht aufsehend. Der Andere nickte. „Ich begegnete ihr gestern Mittag am Broadway, wie sie in Sammt und Seide einen alten Gentleman mit sich schleifte. Ich hätte gern gesehen, was sie bei meinem Anblicke für ein Gesicht ziehen würde, aber sie bogen in’s Prescott-Haus ein, eben als ich mich bemerkbar machen wollte.“

Reichardt sah, wie von einem Gedanken berührt, in des Erzählers Augen. „Und Sie sind sicher, daß Sie sich nicht getäuscht haben?“ fragte er.

„Ich denke, wenn man fast eine Viertelstunde braucht, um sich zu überzeugen, ist man ziemlich sicher!“

Reichardt schien noch immer seinen früheren Gedanken zu verfolgen. „Ziehen Sie Ihren andern Rock an, Meißner,“ sagte er endlich, „wir machen ihr einen Besuch!“

„Ich?“ rief der Kupferschmied sich wie entsetzt von seinem Stuhle erhebend, „soll mich der Himmel bewahren! In meiner Bekanntschaft mit ihr steht nichts von einem Vergiß mein nicht; sie hat mir auf dem Schiffe meine Gedanken über ihre Verhältnisse vom Gesicht ablesen können.“

„Aber ich versichere Sie, daß sie gegen mich mit der größten Freundlichkeit von Ihnen gesprochen hat!“

„Das ist ihre Sache, ich mag aber solche Frauenzimmer nicht, die auf Spekulation nach Amerika gehen und sich da lieber einen reichen Graubart einfangen, als zu leben und zu arbeiten wie die andere Jugend –“

„Meißner!“

„Nun ja, das ist ein Punkt, in dem wir noch niemals übereingestimmt haben, also lassen wir die Sache, und Sie gehen allein. Werden wenigstens gleich hören können, was aus dem Menschen geworden ist, den Sie damals in St. Louis – – Sie wissen ja! – Dummes Zeug!“ unterbrach sich der Redende, als Reichardt’s Gesicht sich in der plötzlich wachgerufenen Erinnerung verfärbte, „wir hätten längst irgend eine Andeutung, wenn nicht Alles in Ordnung wäre! – aber noch eins,“ fuhr er fort, als sich der Andere erhoben hatte, und faßte dessen Hand, „ich habe eine Art Ahnung, was Sie so schnell zu der Gnädigen treibt – thun Sie keinen raschen Schritt, der Sie aus Ihrer jetzigen Stellung bringen könnte, Reichardt! Ich weiß nicht, welche Mücken Ihnen im Kopfe stecken; aber wenn Sie mit dem alten Herrn wie mit dem jungen so stehen, wie Sie sagten, so kann es doch gar nichts geben, was sich nicht ausgleichen ließe – denken Sie daran, wie schwer das erlangt wird, was sich so leicht aufgeben läßt!“

Reichardt drückte mit warmer Empfindung die ihm gebotene Hand. „Sie sind ein lieber, treuer Freund, Meißner, und Sie wissen, wie ich es anerkenne,“ sagte er, „wenn ich Ihnen aber auch Alles zeigen wollte, was in mir lebt, so würden Sie meine Gefühlsweise doch eben so wenig verstehen, als ich oft die Ihrige; glauben Sie mir, was ich thun werde, muß ich thun, um meiner selbst willen!“

„So gehen Sie denn Ihren Weg – ’s ist schon richtig, daß wir nicht Einer wie der Andere sind; der Herrgott wird ja aber wohl Kostgänger von meiner Sorte auch nothwendig haben!“ erwiderte der Kupferschmied, und man wußte nicht, war es Aerger oder Weichheit, was in seinem Tone klang. „Wenn Sie aber einmal wieder Ihren Vortheil „Ihrer Gefühlsweise“ halber weggestoßen haben, und Sie wissen nicht mehr wie sich zu helfen, so denken Sie wieder daran, wo der Kupferschmied zu Hause ist!“

Er nickte kräftig mit dem Kopfe, stürzte den Rest seines Bieres hinab und geleitete dann schweigend den Andern nach dem Ausgange des Zimmers.

Reichardt wanderte schnellen Schritts durch die Straßen. Noch war er sich nicht völlig klar, welchen Zweck er bei dem rasch unternommenen Besuche verfolgte; die Verhältnisse, welche er antraf, sollten ihn erst zurechtweisen – er wußte aber, daß dem neuen, trostlosen Bilde seiner Zukunft gegenüber, wie es Meißner vor ihm aufgerollt, die Nachricht von Mathilde’s Anwesenheit ihn wie eine neue Hoffnung, wie ein Ausgangspunkt seiner jetzigen Kämpfe berührt hatte; er wußte, daß er auf dem Wege war, möglicherweise Alles von sich zu werfen, was ihn bisher gequält, und damit auch alles Glück seines Herzens, alle Befriedigung durch seine jetzige Stellung; aber dies Glück war schmerzlicher für ihn geworden, als jede äußerliche Plage, und alle geschäftliche Befriedigung wollte er gern opfern, wenn er nur fortkommen konnte aus diesem Wirrsale mit sich selbst, das ihn aufzureiben drohte.

Er hatte kaum einen raschen Blick in das Fremdenbuch des „Prescott-Hauses“ gethan, als ihm auch schon die Einzeichnung: „Fonfride and Lady“ entgegenblickte; ohne langes Besinnen sandte er seine Karte nach dem angemerkten Zimmer, und die rückfolgende Einladung brachte ihn schnell vor die ihm bezeichnete Thür. Von innen klang ihm eine leicht hingeworfene Cadenz entgegen, die aber alle seine Nerven in Erregung setzte, und mit leise bebendem Finger klopfte er.

Es war Mathilde, und doch war sie es auch nicht, welche dem Eintretenden lächelnd entgegenkam. Trotz ihrer augenscheinlichen Ungezwungenheit lag etwas in ihrer Haltung, in der Art ihrer Bewegung, selbst in ihrem Blicke, was an die „große Dame“ erinnerte und ihre ganze Erscheinung in einer Weise verändert hatte, wie es Reichardt in den wenigen Monaten seit ihrer Trennung kaum für möglich gehalten. Als er ihre Hand ergriff, die sich nur mit einem leichten, flüchtigen Drucke um die seine schloß, mußte er unwillkürlich an das Wiedersehen zwischen ihnen auf der [499] Bühne in St. Louis denken, und als ob sie die Gedanken in seinem Auge lese, stieg ein leichtes Roth in ihren lächelnden Zügen auf, und mit einem wärmeren Drucke schlossen sich ihre Finger auf’s Neue um die seinen.

„Da ist er, Fonfride,“ wandte sie sich an den Mann zurück, der sich bei Reichardt’s Eintreten langsam aus einem Lehnstuhle erhoben hatte und dem jungen Deutschen, trotz des leichten Grau in seinem dunkeln Haare, mit seinen lebendigen Augen und frischen Zügen um fünf Jahre jünger erscheinen wollte, als er ihn zuletzt gesehen, „da ist er, der uns beinahe in einen Criminalproceß verwickelt hätte –“

„Sein Sie völlig ruhig, Monsieur – ich freue mich, Sie wieder zu sehen,“ rief der Angeredete lachend, dem Deutschen die Hand entgegenstreckend, „ich weiß, daß Sie nur die Ehre Ihrer damaligen Schwester, meiner jetzigen Frau, vertreten haben; der Stevens, der fou, glaubte, noch als Sie schon weg waren, einen grand coup auszuführen, wenn er mir Ihr Geschwister-Verhältniß mittheilte. Zu seinem Glücke ist er mit einem Stiche in’s Fleisch davon gekommen – gut war es aber immer, daß Sie sich allen difficultés entzogen – doch nehmen Sie Platz!“

„Bei alledem ist er ein ungetreuer Mensch,“ begann Mathilde wieder, als sich Reichardt mit fühlbarer Erleichterung, trotzdem er während seiner letzten Erlebnisse wenig an sein Abenteuer in St. Louis gedacht, niedergelassen hatte; „seine klangreiche Geliebte hat er aller Gefahr preisgegeben, während er seinen prosaischen Koffer sorgsam gerettet hat!“

Ein Blitz des Verständnisses ging durch die Seele des jungen Mannes. „Sie haben von meiner Geige etwas gehört?“ fragte er erregt; trotz seiner augenblicklichen Bewegung aber fühlte er seine Unsicherheit in der Weise, der jetzigen Mistreß Fonfride zu begegnen, und sein „Sie“ war mit einem Blicke auf beide Anwesende begleitet. Fast schien aber Mathilde eine ähnliche Schwierigkeit in Gegenwart ihres Mannes zu fühlen; nur mit einem Lächeln, welches dem jungen Manne die ganze frühere Zeit seines Zusammenlebens mit ihr zurückrief, nickte sie ihm zu und erhob sich, um in dem anstoßenden Zimmer zu verschwinden.

„Sie hoffte damals bestimmt, noch einmal mit Ihnen zusammenzutreffen,“ sagte Fonfride, welcher ihre Bewegungen verfolgt hatte, „und so nahm sie das Instrument, als wir Ihre Entweichung entdeckten, an sich.“

Eine kurze Pause erfolgte, in welcher es dem jungen Manne fast wurde, als gehe er dem Wiedersehen mit einer geliebten Person entgegen; war ihm doch die Geige immer wie eine lebendige Vertraute gewesen, welcher er Alles klagen durfte, die ihm geantwortet und ihn getröstet hatte, und er konnte sich einer lebhaften Bewegung nicht erwehren, als Mathilde mit dem ihm so wohl bekannten Kasten zurückkehrte.

„Hier, Bruder Max, ist die Verlorene,“ sagte sie, und alles Fremdartige, was Reichardt in ihrem Wesen gefunden, schien völlig daraus hinweggestrichen; „noch keine Hand hat sie wieder berührt, und ich wünsche nur, daß auch Du ihr durch keine neue Nebenbuhlerin entfremdet sein magst.“

„Sie hat nichts zu fürchten gehabt,“ erwiderte jener, wohlthuend von dem zwanglosen gewohnten „Du“ angeregt, „habe ich doch in New-York noch nicht einen einzigen Bogenstrich gethan, bin sogar der Kunst ganz untreu geworden – aber,“ setzte er mit leichtem Sinken des Tones hinzu, „bin auch wohl bestraft dafür.“

„Das heißt – Du hast den Rückweg in Deinen früheren Beruf gefunden,“ fragte Mathilde aufmerksam, „und – fühlst Dich nicht glücklich darin?“

Reichardt neigte den Kopf und öffnete den Violinkasten; es war ihm, als sei er eben dabei, eine Unwahrheit zu sagen; war ihm doch sein gegenwärtiger Beruf so lieb, daß er unter andern Verhältnissen seine vollste Befriedigung darin gefunden haben würde, daß er selbst während aller Kämpfe der letzten Zeit den Verlust seiner Geige nur in einzelnen flüchtigen Augenblicken empfunden hatte. „Bist Du wohl ganz glücklich, Mathilde, daß Du der Kunst entsagt hast?“ fragte er langsam aufsehend.

Sie blickte ihn wie verwundert an; an ihrer Stelle nahm der frühere Director das Wort. „Madame Fonfride der Kunst entsagt, Monsieur?“ rief er, den Kopf rasch aufrichtend, „wie kommen Sie zu der Annahme? Ah, Sie treffen uns hier unthätig und allein – eh bien, wir sind für den Augenblick zu einem Stillstand gezwungen; der Stevens war ein großer coquin, aber ein guter Agent, und seit Sie ihn unbrauchbar für uns gemacht, sind unsere Arrangements zum großen Theile fehlgeschlagen. Jetzt habe ich für das äußere Management unserer Angelegenheiten eine andere Verbindung angeknüpft, und sobald wir damit in Ordnung sind, werden wir auch unsere unterbrochene Reise wieder aufnehmen. – wir haben übrigens viel von Ihnen, Monsieur, gesprochen,“ fuhr er lebhaft fort, „obgleich ich Ihre Fertigkeit noch nicht einmal habe bewundern können – nehmen Sie Ihr Instrument und lassen Sie etwas hören!“

Reichardt hatte, indem er seine Geige erblickt, auf der noch nicht einmal eine Saite gerissen war, nur der Aufforderung bedurft, um dem in ihm plötzlich erwachten Drange zum Spiel zu genügen. Mit einer lebhaften Befriedigung aber hatte er auch von der neu in Aussicht stehenden Kunstreise gehört, und die Hoffnung, sich durch einen Anschluß an die Gesellschaft mit einem Male Allem, was jetzt auf ihm lastete, entziehen zu können, war in bestimmten Umrissen vor ihn getreten. Es galt wohl jetzt nur, dem Manne vor ihm zu zeigen, was er konnte, und ihm damit das Vortheilhafte seines Engagements vor die Augen zu stellen. Er hatte das Instrument aus dessen weichem Lager genommen, stimmte es, prüfte den Bogen und warf dann einen hellen Blick in Mathildens Augen. Ein Lächeln des Verständnisses antwortete ihnen, und er begann in großem, kräftigem Tone die Einleitung zu dem variirten Proch’schen Liede, in welchem er und Mathilde sich zum ersten Male zusammen gefunden hatten. Reichardt fühlte, daß er in seinem Spiele nichts verloren hatte, daß sich im Gegentheil alle aufgesparte Kraft und die ganze Tiefe seiner Empfindung in die Töne zu ergießen schienen, und als bei Beginn des Themas Mathildens Stimme, die er noch nie in dieser Fülle und klaren Sicherheit gehört zu haben meinte, einsetzte:

„Ziehn die lieben, goldnen Sterne,“

stieg eine stille, lichte Begeisterung in ihm auf, die, sobald Mathilde bei der beginnenden Durcharbeitung die ursprüngliche Melodie übernahm, sich auch auf diese zu übertragen schien. Fonfride, der während des Anfanges sich in seinen Stuhl geworfen und mit der Miene eines mehr und mehr befriedigten Kritikers Reichardt’s Spiel verfolgt hatte, that bei Mathildens Einsatz überrascht die Augen groß auf; bald aber begann er sich langsam in die Höhe zu richten, sein Gesicht röthete sich, und als endlich Violine und Stimme, einander begleitend, im Nachklang des Themas am Schlusse erstarben, schien er wie in Verzückung noch immer den entschwundenen Tönen zu lauschen, bis Mathildens aufbrechendes Lachen ihn wieder zu sich selbst zu bringen schien. „Oh, mon dieu“ sagte er mit einem tiefen Athemzuge, „warum habe ich denn das nicht früher gehört! Setzen Sie sich doch gleich einmal hierher, Monsieur,“ fuhr er fort, als finde er erst jetzt seine Lebhaftigkeit wieder, „Sie dürfen uns ja nicht wieder verlassen, Sie haben ja zehntausend Dollars in Ihrem Bogen, wie Stevens sagen würde – oh cher enfant, warum mußte ich denn das jetzt erst hören!“

Reichardt that lächelnd seine Geige bei Seite und nahm seinen frühern Platz ein, während Mathilde mit einem Leuchten in ihren Mienen, als sei ihr selbst die größte Genugthuung geworden, sich auf dem Divan ihm gegenüber niederließ. – Eine volle Stunde währte ein erregtes Gespräch zwischen den Dreien, und als Reichardt endlich das Hotel verließ, war es in seine Hand gegeben, seine gegenwärtige Lage mit einer leichten, gewinnbringenden Stellung in Fonfride’s Concert-Truppe zu vertauschen; zu seiner Sicherheit hatte sogar der Director die Garantie für ein volles Jahr übernommen.

Je weiter indessen Reichardt seinen Weg durch die stillen Straßen verfolgte, je langsamer wurden seine Schritte – er hätte niemals geglaubt, daß es ihm so schwer werden könnte, sich durch einen raschen Entschluß seinen augenblicklichen Verhältnissen zu entreißen – und doch wußte er, daß er nicht bleiben durfte, nicht bleiben konnte.

Als er sein Boardinghaus erreicht hatte, trat ihm aus dem bereits leeren Parlor plötzlich der Kupferschmied entgegen. „Gott sei Dank, daß Sie endlich kommen,“ rief dieser bei seinem Anblicke, „ich dachte schon, Sie würden die halbe Nacht ausbleiben, und, doch mußte ich Ihnen noch sagen, was ich aus purer Eselei heute Abend vergessen hatte!“

„Was – wirklich nur der vergessenen Mittheilung wegen [500] haben Sie sich den Weg gemacht und bis jetzt gewartet?“ fragte Reichardt mit einem Lächeln voll halben Zweifels und führte den Gast nach dem Parlor zurück. „Wollten Sie nicht auch nebenbei hören, zu welchem Punkte meine Verhandlungen mit der „Gnädigen“ geführt?“ fuhr er launig fort, als ihn ein Blick durch den Raum versichert, daß sie allein waren.

„Hatte nicht daran gedacht!“ erwiderte Meißner, den Kopf schüttelnd, „jetzt allerdings sehe ich, daß etwas darauf ankommt, ob Sie noch dasselbe Interesse für das Geschäft Ihres Principals haben, als früher!“

„Etwas Geschäftliches?“ fragte der Andere aufmerksam, „ich werde immer mein Interesse für Frost’s bewahren, Meißner, selbst wenn ich bereits aus ihrer Office geschieden wäre, was noch nicht einmal der Fall ist.“

„So hören Sie eine Minute und thun Sie dann, was Ihnen gut dünkt; nennen Sie mich auch einen Esel, wenn Sie wollen, daß ich erst jetzt damit herausrücke,“ sagte der Kupferschmied, sich vorsichtig umsehend und dann nach einer der Fenstervertiefungen gehend. „Seit Sie von Johnson’s weg sind,“ fuhr er fort, nachdem ihm Reichardt mit einiger Befremdung gefolgt war, „scheint der alte Black sein besonderes Zutrauen auf mich übertragen zu haben. Ich muss wenigstens jeden Abend vor dem Geschäftsschlusse zu ihm kommen, und er hat immer einige besondere Aufträge für mich. Als ich heute Abend nach der Office kam, sitzt der alte Mann bleich wie der Tod vor einem Briefe, der eben angekommen sein mußte, und steht, als er mich sieht, von seinem Sessel auf, als könne er kaum seinen Beinen trauen. „Bill, holen Sie mir rasch einen Wagen,“ sagt er, „lassen Sie sich aber vor den Anderen nichts Besonderes anmerken!“ Als ich aber mit dem Wagen zurück bin, liegt der Alte mit dem Kopfe auf seinem Pulte und weiß von sich selbst nichts. Zum Glück war der Doctor nebenan zu Hause, der ihn wieder zu einer Art halber Besinnung brachte, sich aber dann auch gleich mit ihm in den Wagen setzte und den Kranken nach seinem Quartier schaffte. Ich hatte mir nichts anmerken lassen sollen, sagte also auch dem Doctor von dem Briefe nichts; schickte aber den Porter fort, um Einen von den jungen Johnson’s aufzutreiben – der alte Herr liegt schon seit einer Woche hart krank von denen war aber wie gewöhnlich kein Einziger daheim, und so hielt ich es für das Beste, selbst einmal in den Brief, der offen dalag, zu sehen. Ich bin noch immer schlecht in Meinem Englischen beschlagen, aber ich buchstabirte doch so viel heraus, daß das Schiff Mary Lee zu Grunde gegangen und nur die Mannschaft gerettet worden sei, daß die telegraphische Depesche darüber, allem Anscheine nach im Interesse einer Versicherungs-Compagnie, die irgend einen Schlag auszuführen beabsichtige, zurückgehalten werde, und daß jeder an der Ladung Betheiligte am Besten thue, sofort nach dem Rechten zu sehen. Ich wußte nicht, ob ich nicht mit jedem Worte, das ich über den Inhalt redete, mehr verderben, als gut machen konnte, und ließ die Schrift, wo sie war und wo sie morgen früh doch von den Johnson’s sogleich entdeckt werden muß. Als Sie zu mir kamen, vergaß ich über Ihrem blassen Gesichte sogar die ganze Geschichte, und erst später fiel mir ein, daß Frost’s an der Sache wohl ebenso betheiligt sein könnten, als Black oder Johnson’s, und daß ich Ihnen jedenfalls noch ein Wort darüber sagen müßte –“

„Und wo ist der Brief jetzt – wird ihn nicht der alte Black längst haben holen lassen?“ unterbrach ihn Reichardt eifrig.

„Der Alte ist noch immer nicht ganz bei rechter Besinnung,“ erwiderte der Andere, „ich fragte in seinem Hause nach, ehe ich hierher ging, und gerade deshalb habe ich Ihnen jedes Wort von der Geschichte erzählt.“

Reichardt machte sichtlich erregt einen raschen Gang durch das Zimmer. „Ich muß das Papier selbst sehen, Meißner,“ sagte er, plötzlich stehen bleibend; „Frost’s sind wirklich zu einem großen Theile an der Ladung der Mary Lee betheiligt, und was geschehen kann, um einen Schwindel der Versicherungsgesellschaft zu verhindern, muß sofort geschehen. Dazu gehört aber wenigstens ein gegründeter Verdacht, der sich nur durch den Brief selbst feststellen läßt – können wir jetzt nach der Office von Johnson’s gelangen? der Porter schläft ja wohl im untern Raume, und ein Vorwand muß sich finden –“

„Können? Natürlich können wir!“ rief der Kupferschmied, fuhr sich aber auch zugleich mit der Hand hinter die Ohren, „was dann aber, wenn der Brief morgen früh nicht mehr da ist? dann um das einfache Hineinsehen wird es Ihnen ja wohl nicht zu thun sein!“

„Hören Sie, Meißner,“ rief Reichardt, den Andern bei beiden Armen ergreifend, „morgen ist der Brief wahrscheinlich nicht mehr werth als ein Stück Papier; heute aber können wir neben Frost’s Capitale wohl auch das Interesse von Johnson oder Black retten. Wagen Sie einmal für den schlimmsten Fall Ihre Stelle, Sie machen damit, wenn Sie Ihr Englisch nicht betrogen hat, den Einsatz für einen viel bedeutenderen Gewinn „Vorwärts also!“ rief der Kupferschmied, seinen Hut fester auf den Kopf schlagend, „die Sache ist mir ein Bischen spitzig, aber Sie haben wohl noch keinem Menschen zu etwas Unrechtem gerathen –“

„Und hoffe es auch niemals zu thun, verlassen Sie sich darauf!“ gab Reichardt zurück, und in der nächsten Minute hatten die beiden jungen Männer scharfen Schritts den Weg nach Johnson’s Geschäftshause eingeschlagen. „Es ist kaum elf,“ sagte der Kupferschmied, welcher an der nächsten Laterne seine Uhr gezogen hatte, nachdenklich, „und wahrscheinlich ist der jetzige Porter, der seine Abende gern lange benutzt, noch nicht einmal zu Hause. Wir könnten uns wohl, wenn wir nicht zwei oder drei Stunden warten wollen, einen Weg von dem Hinterhause nach der Office bahnen, könnten aber auch dabei als ganz ordinaire Einbrecher abgefaßt werden – wenn’s aber durchaus sein müßte –“

No, no!“ erwiderte Reichardt, der sich über den todesverachtenden Ton von Meißner’s letzten Worten eines Lächelns nicht erwehren konnte, „wir sind die Personen, von denen jetzt Alles abhängt, und dürfen uns deshalb keiner unnöthigen Gefahr aussetzen. Sehen wir, wie wir die Sachen finden, und nehmen dann unsere Maßregeln – vorläufig vertraue ich auf gutes Glück; die ganze Sache ist zu sonderbar an mich gekommen, als daß ich einen Fehlschlag sehr fürchten sollte!“

„Auch ein guter Glaube – aber nur los; einmal eine Sache unternommen bin ich zu Allem fertig!“ brummte der Kupferschmied, und schweigend setzten Beide nebeneinander ihren Weg fort.

(Fortsetzung folgt.)

Aus den Zeiten der schweren Noth.
Nr. 3.
Ein Secondelieutenant.

Die beiden unheilvollen Schlachten bei Jena und Auerstädt (am 14. October 1806) waren beendet. Nicht durch den fehlenden Muth der Soldaten waren sie verloren, sondern durch eine unbegreifbare Sorglosigkeit und Verwirrung ihrer Führer und durch ein Geschick, das sich mit aller Schwere gegen Preußen wendete. Preußen hatte große Verluste in den beiden Schlachten erlitten; es würde sie verschmerzt haben, hätte es Männer besessen, welche die aus beiden Schlachten geretteten Trümmer seines Heeres mit besonnenem Muthe gesammelt hätten, wären nicht so schmachvoll feige Männer unter denen gewesen, welchen es einen Theil seiner Macht anvertraut hatte. Es verlor hundert Mal mehr durch die Folgen dieser Schlacht, als durch sie selbst. Die letzten Monate des Jahres 1806 sind die trübste Zeit in Preußens ganzer Geschichte.

Durch den Verlust dieser beiden Schlachten war der ganze preußische Operationsplan vernichtet. Das geschlagene Heer zog sich nicht zurück, es war gleichsam in alle Winde zerstreut, seine Führer hatten jede Besinnung verloren, es dachte nur auf seine Rettung und floh in heilloser Verwirrung. Es wußte nicht, wohin es sich wenden sollte. Ein Theil wendete sich gegen die Unstrut, ein anderer schlug die Straße nach Sondershausen ein, um von dort im Norden des Harzes auf Magdeburg zu ziehen, ein dritter flüchtete gegen Erfurt.

[501]

Lieutenant Hellwig bei Eisenach.

[502] Erfurt war eine schöne, starke Festung. Hundertundzwanzig Kanonen, alle in gutem Stande, blickten drohend von den Wällen herab. Mit Munition war die Festung reichlich versehen, und die großen Magazine in ihr waren gefüllt. Vierzehntausend Preußen warfen sich in sie, an ihrer Spitze der Prinz von Uranien, der Feldmarschall Möllendorf, die Generäle Larisch, Grawert, Lissan und Zweifel. Dem überlegensten Feinde hätte sie tage- und wochenlang erfolgreich Trotz bieten können. Ueberdies hatte die Festung noch durch den Petersberg und die Cyriaksburg zwei sehr starke Stützpunkte.

Bereits am Morgen des 15. Octobers umzingelte der Großherzog von Berg Erfurt. Waren seine Truppen auch an Zahl bedeutend der Besatzung überlegen, so waren sie doch von den starken vorhergehenden Märschen und namentlich von der Schlacht am Tage zuvor erschöpft. Außerdem führten sie kein grobes Belagerungsgeschütz mit sich. Die Festung hatte nichts zu befürchten, denn ein Sturm auf die wohlerhaltenen Mauern wäre ebenso thöricht gewesen, wie er erfolglos geblieben sein würde. Der Großherzog von Berg dachte auch nicht an eine ernstliche Belagerung, die ihn vielleicht wochenlang an diesen Platz gefesselt haben würde, durch Capitulation hoffte er sich in den Besitz der Festung zu setzen, um dann mit seinen Truppen ungesäumt die einzelnen Theile des zerstreuten preußischen Heeres zu verfolgen und aufzureiben, ehe sie Zeit gewännen, sich wieder zu sammeln und zu vereinigen.

In der Stadt herrschte die größte Verwirrung und Furcht. Die Soldaten waren zum großen Theil erbittert und zeigten Lust, sich trotz der am Tage zuvor erlittenen Niederlage auf’s Aeußerste zu vertheidigen oder durchzuschlagen. Ein Theil der niederen Officiere stand auf ihrer Seite und begriff, wie unendlich viel für Preußens Wohl und Rettung davon abhing, wenn der Feind durch Belagerung der Festung außer Stand gesetzt wurde, die einzelnen Theile des preußischen Heeres zu verfolgen, und diese Zeit gewannen, sich zu vereinen. Aber die Führer hatten Kopf und Besinnung verloren. Der Commandant der Festung wie der Citadelle, der Major Karl von Prüschenek, war so verwirrt durch die Furcht und so muthlos, daß er selbst die geringsten Vorkehrungen zu treffen versäumte. Und keiner der in der Stadt anwesenden Generäle trat ihm unterstützend zur Seite – sie waren ebenso muthlos wie er selbst. Die Rettung des Vaterlandes vergaßen sie bei dem Gedanken an ihre eigene Gefahr, so gering diese auch war.

Schon am Nachmittage schickte der Großherzog von Berg einen Parlamentär in die Festung, um sie zur Uebergabe aufzufordern. Der Commandant rief einen Kriegsrath zusammen, an welchem die ersten Generäle, welche sich in der Stadt befanden, Theil nahmen. Die schmachvollste Furcht beherrschte ihre Gemüther, sie schützten die vielen Verwundeten vor, welche sich in der Stadt befanden, hielten die Festung zu schwach besetzt, obschon sie an zehntausend kampffähige Mann in sich barg, und kein Einziger im Kriegsrathe besaß Muth genug, eine Uebergabe mit Entschlossenheit und Verachtung zurückzuweisen und die Andern an ihre Pflicht und Ehre zu erinnern, welche ihnen gebot, die Festung bis auf das Aeußerste zu vertheidigen. Der Commandant stimmte zuerst für die Uebergabe, und Alle sannen nur darauf, die günstigsten Bedingungen zu erhalten.

Der französische Oberst Preval war als Parlamentär in die Stadt geschickt und er selbst war erstaunt, als er die Mittheilung erhielt, daß die Festung capituliren wollte. Die Verwirrung und Muthlosigkeit hatte einen so hohen Grad erreicht, daß er sogar, was nirgends Sitte war, mit unverbundenen Augen durch die Stadt auf die Citadelle geführt wurde. Er hatte Gelegenheit genug gehabt, sich auf diesem Gange von der Stärke der Festung zu überzeugen. Er erhielt die Bedingungen, unter denen die Festung sich übergeben wollte, und da er nicht Vollmacht besaß, dieselben zu genehmigen und zu unterschreiben, kehrte er mit denselben zu dem Großherzog von Berg zurück, um ihm dieselben vorzulegen.

In der Eile des Kriegsraths hatte man folgende Hauptpunkte als Bedingungen aufgesetzt: 1) Die Besatzung solle am 17. October mit allen Kriegsehren, mit Waffen, Effecten und Gepäck, die Bataillonsstücke, Feldbatterien, Bäckerei und Armeetrain mit eingeschlossen, ausziehen. Sie soll mit klingendem Spiel, fliegenden Fahnen und brennenden Lunten nach Halle marschiren.

2) Die verwundeten Officiere, Unterofficiere und Soldaten, welche sich in der Stadt befinden, sollen unter dem ersten Artikel mit inbegriffen sein. Die Transportirungsunfähigen bleiben auf Kosten Sr. preußischen Majestät zurück; sobald sie geheilt sind, kehren sie mit Pässen zu ihren Corps zurück.

3) Um die Mittagszeit des folgenden Tages solle das Johannisthor übergeben werden und von außen besetzt werden, am innern Thor indeß so lange preußische Wache bleiben, als preußische Besatzung in der Festung sei.

4) Da die Effecten der zur Besatzung gehörenden Personen nicht sofort fortgeschafft werden konnten, so solle ein Termin von drei Monaten dafür anberaumt werden.

In ängstlicher Erwartung harrte der Commandant und der Kriegsrath der Wiederkehr und der Antwort des Großherzogs von Berg. In der Festung hatte sich unter den Soldaten das Gerücht, daß die Festung übergeben werden solle, verbreitet und bei den meisten den größten Unwillen hervorgerufen. Eine Anzahl Soldaten eilte sogar vor das Thor der Citadelle, um von dem Commandant eine Erklärung zu verlangen und ihm die Erklärung zu übergeben, daß sie sich in eine so schmachvolle Capitulation nicht fügen würden. In die Citadelle selbst wurden sie nicht eingelassen.

Es war Abend geworden, als der Oberst Hippolyt Preval mit dem Bescheid des Großherzogs und der Vollmacht zur Unterschreibung der Capitulation in die Stadt zurückkehrte. Ganz im Stillen, um den Soldaten das Vorhaben zu verheimlichen, wurde er auf die Citadelle geführt. Der Kriegsrath wurde auf’s Neue versammelt. Der Großherzog von Berg hatte aus der Muthlosigkeit seiner Feinde erkannt, daß er Alles von ihnen verlangen könne, und hatte die Bedingungen der Uebergabe verschärft. Die Thore der Festung sollten sogleich für die französischen Truppen geöffnet werden, und schon am Mittag des folgenden Tages, am 16. October, sollte die Besatzung mit Waffen, Gepäck, fliegenden Fahnen und den Bataillonskanonen ausziehen, aber auf dem Glacis der Festung die Waffen niederlegen und kriegsgefangen bleiben. Die Officiere sollten ihre Degen und Gepäck behalten, nach Preußen zurückkehren, indeß ihr Wort geben, bis zur Auswechslung nicht zu dienen. Transportmittel für sie und ihr Gepäck sollten ihnen verschafft werten. Die verwundeten Officiere, Unterofficiere und Soldaten sollten unter dieser selben Bedingung stehen, für ihre Pflege sollte man sich auf die französische Großmuth verlassen.

Diese zum Theil so schmachvollen Bedingungen waren selbst den meisten Generälen zu hart, und sie protestirten dagegen und suchten mildere zu erringen. Der französische Bevollmächtigte erwiderte, nicht mehr bewilligen zu dürfen. Da drängte der Commandant Karl von Prüschenek zur Annahme derselben. Er schien nicht frei aufathmen zu können, so lange er sich in der Nähe des Feindes befand. Der Gedanke an eine Belagerung, vielleicht gar an einen Sturm auf die Stadt raubte ihm fast die Besinnung. Was kümmerte es ihn, ob sein König durch ihn mehr denn 10,000 brave Soldaten einbüßte? was kümmerte es ihn, daß sie dem französischen Hochmuthe und Spott preisgegeben wurden, daß sie gezwungen werden sollten, in den Reihen ihrer Feinde vielleicht gegen ihr eigenes Vaterland zu kämpfen? er kam mit unverletzter Haut davon, selbst sein Eigenthum wurde nicht angetastet. Vielleicht hatte er gar auf eine Belohnung des Kaisers für seine bereitwillige Capitulation einer so starken und wohlversorgten Festung zu hoffen.

Abends 11 Uhr, während Tausende in der Stadt keine Ahnung davon hatten, welche schmachvolle That auf der Citadelle vor sich ging, wurde dort die Capitulation von Karl von Prüschenek und Hippolyt Preval unterzeichnet. Preußen hatte eine wichtige Festung verloren, ein schwarzes Blatt war für immer in Preußens Geschichte eingeschrieben, das Leben von Tausenden braver Krieger war durch diesen einzigen Schritt dem Verderben preisgegeben. Am folgenden Mittag zog die ganze Besatzung aus. Auf dem Glacis mußten sie die Waffen niederlegen. Manches Herz blutete, in dem Auge manches Soldaten standen Thränen des Schmerzes und der Verzweiflung, mancher zerbrach die Waffen, die er mit Ehren bis dahin getragen und die er nun niederlegen mußte, weil seine Führer aufgehört hatten, Männer von Ehre zu sein.

Die Kunde von dieser schmachvollen Capitulation der Festung und Citadelle Erfurt, auf deren Widerstand Viele so zuverlässig gebaut hatten, und die von der größten Wichtigkeit war, verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die ganze Umgegend und erregte die allgemeinste Entrüstung. Eine That rief sie aber hervor, welche neben diesem düsteren Flecken wie ein helles Licht erglänzte, welche zeigte, daß es an tapferen Männern und unerschrockenen Herzen [503] in Preußen nicht fehlte, daß alles Unheil dieses Krieges nur von wenigen der Großen verschuldet war. In der Geschichte wird diese That meist gänzlich übergangen, weil es ein einfacher Secondelieutenant war, der sie ausführte. Wir wollen sie der Vergessenheit entreißen, die sie wahrlich nicht verdient. Solche Thaten sind immer ein schöner begeisternder Ruf für die Zukunft.

Die zweite Schwadron des preußischen Husarenregiments von Plöz war durch die Gefechte bei Saalfeld abgeschnitten und dadurch in den Rücken der französischen Armee gekommen. Es stand in der Gegend von Eisenach, während Erfurt übergeben wurde. In dieser Schwadron befand sich der Secondelieutenant Hellwig, ein junger, feuriger und tapferer Mann, der unter all seinen Kameraden für einen der Bravsten galt. Auch er hörte von der schmachvollen Kapitulation, und sein Herz bebte vor Unwillen. Sein Leben würde er hingegeben haben, hätte er diese That ungeschehen machen können, denn sie warf einen Flecken auf die ganzen preußischen Waffen. Zugleich erhielt er aber auch die Nachricht, daß man in Eisenach den Durchmarsch der ganzen gefangenen Garnison von Erfurt, über 9000 Mann, unter einer nur schwachen Bedeckung erwarte.

Ein Gedanke blitzte in ihm auf. Wenn es ihm gelänge, durch eine kühne That zum Theil wieder gut zu machen, was in Erfurt verschuldet war! Und dieser Gedanke wurde sofort bei ihm zum Entschluß, ohne daß er nach den Schwierigkeiten und Gefahren, welche sein Vorhaben darbot, fragte. Ohne Zögern eilte er zu dem anwesenden Flügeladjutanten des Königs, Major Graf v. Götzen, und trug ihm vor, daß er entschlossen sei, die durchmarschirenden Gefangenen zu befreien. Dem Grafen gefiel des jungen Mannes kühner Plan, doch zweifelte er an dem Gelingen; er versprach es in Ueberlegung ziehen zu wollen.

„Nein!“ rief Hellwig, „sogleich müssen Sie sich entscheiden. Gestern in der Frühe sind die Gefangenen von Erfurt abmarschirt, jede Stunde können sie hier ankommen!“

„Es sind über 9000 Gefangene, die Bedeckung wird nicht gering sein,“ erwiderte der Graf. „Ohne einige Compagnien Bedeckung ist ein solcher Transport nicht möglich, und ich kann nicht viel Leute an ein solches gewagtes, ja ich muß sagen tollkühnes Unternehmen setzen.“

„Ich verlange auch nicht viel!“ rief Hellwig begeistert. „Geben Sie mir fünfzig Husaren, lassen Sie mich dieselben aus dem Regiment aussuchen, und ich stehe dafür, daß mein Vorhaben gelingen wird!“

Der Graf lächelte.

„Die Bedeckung wird nicht daran denken, daß sie angegriffen wird,“ fuhr Hellwig fort, „sie weiß nicht, daß wir hier stehen, und sie hat nach der Schmach von Erfurt nicht Ursache, sich vor den preußischen Waffen zu fürchten!“

„Es geht nicht – es ist unmöglich!“ rief der Adjutant, so sehr ein solches Unternehmen auch ihm selbst zusagte. „Sie und all die fünfzig Braven würden sich nutzlos opfern!“

„So lassen Sie uns zum Opfer fallen!“ rief Hellwig. „So wollen wir zeigen, daß es unter den Preußen noch Männer giebt, welche ihr Leben gern für die Freiheit ihrer Cameraden in die Schanze schlagen. Wir wollen zeigen, daß Ehre und Ruhm uns höher gilt als das Leben! Nur fünfzig Mann geben Sie mir, Freiwillige, obschon ich weiß, daß Alle von unserm Regiment mit Freuden bei solchem Unternehmen in den Tod gehen würden! Nur fünfzig Mann!“

Der Adjutant zögerte noch.

„Nun, so sei es!“ rief er endlich, indem er Hellwig die Rechte entgegenstreckte. „Schlagen Sie ein, Lieutenant! Zehn Jahre meines Lebens wollte ich darum geben, hätte nur ein Mann mit Ihrem Herzen und Ihrem Muthe in dem Kriegsrathe zu Erfurt gesessen! Bei Gott, es wäre anders gekommen!“

„Wir wollen die Schmach sühnen!“ entgegnete der junge Mann, indem er die dargebotene Rechte ergriff. „Falle ich, so soll zum wenigsten ein Jeder sagen: Er hat seine Pflicht gethan, wie’s sich für einen braven Soldaten gebührt!“

Der Graf vermochte eine innere Bewegung nicht zu verbergen. „Kommen Sie – kommen Sie, Lieutenant!“ sprach er und eilte mit ihm hinaus zu den Husaren. Mit wenigen Worten theilte er ihnen Hellwig’s Vorhaben mit, und über hundert meldeten sich sofort als Freiwillige.

Fünfzig Husaren und fünf Unterofficiere wählte Hellwig selbst sich aus, und keiner von ihnen zweifelte an dem Gelingen, denn sie kannten den kühnen und unerschrockenen Sinn des Lieutenants.

„Wir bringen Euch 9000 freie Cameraden mit!“ rief er heiter seinen zurückbleibenden Gefährten zu und sprengte mit seiner kleinen Schaar rasch davon. Er ritt auf die Landstraße zu, welche von Erfurt über Gotha nach Eisenach führt, und dort bei Eichrodt, kaum eine Viertelstunde von Eisenach entfernt, stellte er seine Husaren in einem kleinen, bis an die Straße reichenden Gehölze versteckt auf. Mit seinem Plane hatte er sie bereits bekannt gemacht. Die große Anzahl der Gefangenen mußte einen langen Zug bilden. Wie es bei solchen Transporten in der Regel zu geschehen pflegte, marschirte eine Abtheilung der Bedeckung voran, während die andere den Zug beschloß. Zu beiden Seiten pflegten Voltigeurs zu marschiren oder Husaren zu reiten, um das Entweichen einzelner Gefangenen zur Seite zu verhüten.

Ruhig, ohne sich zu verrathen, wollte er fast den ganzen Zug an sich vorbei marschiren lassen und sich dann plötzlich mit Ungestüm auf die letzte Abtheilung werfen. Erst nachdem diese überwältigt, wollte er auf die vordere Abtheilung der Bedeckung sich stürzen, und der mehrfach erprobte Muth seiner Husaren gab ihm die Gewißheit, daß keiner von ihnen zagen werde, wenn der Feind ihnen auch an Zahl mehrfach überlegen war. Auf das Strengste hatte er den Husaren befohlen, sich nicht eher zu rühren und auch durch günstigste Gelegenheit sich nicht zum Hervorbrechen bewegen zu lassen, als bis er ihnen das Zeichen dazu gegeben.

Er selbst stieg, von einem Unterofficier begleitet, auf eine kleine Anhöhe in der Nähe des Gehölzes. Ihre Pferde hatten sie zurückgelassen. Um sich zu verbergen, streckten sie sich hinter einen Busch und schauten erwartungsvoll durch ein Fernrohr die nach Gotha und Erfurt führende Straße hinab. Stunde auf Stunde verrann, und die Erwarteten erschienen nicht. Einzelne kleine versprengte Haufen des preußischen Heeres zogen auf der Straße vorüber, und der Unterofficier schlug vor, sie an sich zu ziehen, um sich durch dieselben zu verstärken. Hellwig lehnte es ab. „Wir sind stark genug,“ sprach er, „und wir dürfen unsern Plan nicht Unbekannten anvertrauen. Hätte ich den Major von Götzen um eine größere Schaar gebeten, er würde sie mir gegeben haben, aber ich freue mich darauf, daß man später erzählen wird, ein halbes Hundert preußischer Husaren haben dem Feinde 9000 Gefangene abgenommen. Die Bedeckung wird auf unsern Ueberfall nicht vorbereitet sein, er muß gelingen, und glaubst Du, daß die Gefangenen, sobald wir nur einen geringen Vortheil errungen haben, uns nicht selbst unterstützen werden?“

„Sie sind ohne Waffen,“ warf der Unterofficier ein.

„In der Noth wird jeder Stein am Wege, jeder Stock zu einer gefährlichen Waffe, und die bloße Faust eines unerschrockenen muthigen Mannes ist noch mehr zu fürchten, als ein Säbel in der Hand eines Feiglings!“ rief der junge Lieutenant mit begeistertem Muthe. Er richtete das Fernrohr wieder auf die Landstraße und er hätte laut aufjubeln mögen, denn in der Ferne erblickte er die Erwarteten in langem Zuge. Es war gegen 5 Uhr Abends.

„Sie kommen – sie kommen!“ rief er seinem Begleiter zu. „Eile hinab zu unsern Gefährten und präge ihnen noch einmal ein, daß sie bis auf meinen Befehl ganz ruhig bleiben! Doch nein – warte,“ fügte er seinen Entschluß ändernd hinzu, „ich selbst will hinabeilen!“

Er sprang auf, verließ vorsichtig, halb kriechend die Anhöhe, und eilte in das Gehölz, wo die Seinen in größter Ungeduld harrten.

„Haltet Euch in Bereitschaft!“ rief er ihnen zu. „Sie kommen! Aber noch einmal hört meinen Befehl: keiner rührt sich, bis ich das Zeichen gebe!“

Er eilte wieder hinauf auf die Anhöhe. Das Herz schlug ihm schnell, laut. Der Augenblick nahte, der die Entscheidung für ihn brachte: Sieg und Ruhm oder – Tod!

Der Zug war nahe gekommen. Auf’s Deutlichste erkannte er die den Gefangenen voran schreitenden französischen Soldaten. Ihre Gewehre blitzten in der Abendsonne. Er konnte sie überblicken, sie marschirten ziemlich sorglos, aber in Einem war er falsch berichtet: die Bereitung war nicht so schwach. Eine ganze Compagnie Linien-Infanterie marschirte dem Zuge voran und eine nicht geringe Anzahl Voltigeurs zu beiden Seiten. War die den Schluß bildende Bedeckung ebenso stark, so hatte er eine schwere [504] Aufgabe – gleichviel, er blieb fest entschlossen, den kühnen Streich zu wagen.

Ruhig ließ er den Zug vorbei marschiren. Es war ein langer Zug. Das Herz blutete ihm, als er auf die Reihen der Gefangenen niederschaute, die ein Opfer der Feigheit ihrer Führer geworden waren. Er glaubte, den Schmerz und die Niedergeschlagenheit auf ihren Gesichtern lesen zu können, und im Geiste hörte er schon ihren Jubel, wenn sie wieder frei waren – befreit durch ihn. Schon nahte der Schluß des Zuges, auch er bestand aus einer Compagnie Linien-Infanterie. Schnell hatte er ihn überblickt. Er gab seinem Begleiter ein Zeichen, und ungesehen glitten sie von der Anhöhe hinab. Wenige Augenblicke darauf stand er vor seiner kleinen Schaar, die ihn zum Kampfe bereit empfing. Schnell schwang er sich auf sein Pferd, zog den Säbel, gab das Zeichen zum Losbrechen und sprengte der Schaar voran aus dem Gehölze. Kaum hundert Schritte war er noch vom Feinde entfernt. Dieser war indeß nicht so sorglos, wie er erwartet hatte. Die Franzosen wandten sich gegen ihn, eine Reihe von Gewehrläufen blickte ihm drohend entgegen, aber unerschrocken rief er den Seinen zu: „Immer vorwärts!“ In einer Entfernung von ungefähr 60 Schritt empfing ihn eine Gewehrsalve der ganzen Compagnie, die Kugeln pfiffen über den Köpfen der Husaren hin, diese sprengten unerschrocken auf sie zu und hieben ein. Der Kampf war nur ein kurzer, so heftig sich die Franzosen auch wehrten. In kaum zehn Minuten war die ganze Compagnie überwältigt und streckte die Waffen. In größter Eile wurden ihnen dieselben abgenommen und eine Anzahl der Gefangenen damit bewaffnet.

Hellwig’s tapfere Schaar hatte in diesem Kampfe einen nur unbedeutenden Verlust erlitten. Ohne Zögern wollte sich der Lieutenant nun auf die erste Compagnie werfen, aber die Voltigeurs hatten sich in ein Gebüsch geflüchtet und feuerten aus demselben. Mehre Husaren und Pferde wurden schwer dadurch verwundet. Ein Husar und ein Gefangener fielen dicht an Hellwig’s Seite. Erbittert sprengte er auf das Gebüsch zu, seine Tapfern folgten ihm, und in wenigen Minuten waren die Voltigeurs, welche im Ganzen 140 Mann stark gewesen waren, zum Theil gefangen, zum Theil in die Flucht getrieben.

Hellwig nahm sich nicht Zeit, sie zu verfolgen. Die Spitze des Zuges mit der ersten Compagnie der Franzosen hatte bereits das Thor von Eisenach erreicht, und er wollte sich auf sie werfen, ehe sie Zeit gewannen, sich in den Häusern festzusetzen. Er erreichte sie vorn in der Stadt, hier wurde der Kampf indeß gefährlicher für ihn, da die Franzosen sich in mehrere Straßen vertheilten und ein nachdrückliches Feuer unterhielten. Ihr Oberst fiel durch den Säbelhieb eines Husaren. Dies erbitterte sie noch mehr. Der bis dahin errungene Erfolg hatte indeß die Kühnheit der Husaren bis zur todesfreudigen Begeisterung gesteigert. Einzelne von ihnen stürzten sich unerschrocken auf den zehnmal überlegenen Feind, ein Theil der Gefangenen, der sich Waffen verschafft hatte, unterstützte sie, und noch war keine halbe Stunde verflossen, so war der Kampf beendet. Die ganze französische Compagnie war zerstreut, geflohen, ein Officier und 15 Soldaten wurden zu Gefangenen gemacht.

Die Gefangenen waren befreit. Mit lautem Jubelrufe wurde der kühne junge Lieutenant begrüßt, und er konnte diesen Gruß dreist annehmen, denn 9000 brave Krieger hatte er seinem Könige und Vaterlande erhalten. Er selbst hatte eine Wunde empfangen, er achtete indeß nicht darauf, denn eine andere Sorge ruhte schwer lastend auf ihm. Der erste Schritt seines Unternehmens war geglückt; sollte es ganz gelingen, so blieb ihm noch die schwere Aufgabe, die Befreiten sicher aus dieser rings von Feinden umgebenen Gegend zu führen. Er ließ den Muth nicht sinken. Die Befreiten wurden mit all den Waffen, welche aufzutreiben waren, und mit den Carabinern und Pistolen der Husaren armirt, die Bürger Eisenach’s brachten Alles, was sie besaßen, zur Erfrischung derselben herbei, und nach kurzer Ruhe brach Hellwig noch an demselben Abend mit ihnen auf und führte sie bis Creutzburg und von dort nach Hannöversch-Münden. Dort übergab er sie dem General Zweifel, der sicher nicht ohne Beschämung auf diese That des Secondelieutenants blickte, denn er selbst war in Erfurt gewesen, als die Festung capitulirte und die nun Befreiten dem Feinde preisgegeben wurden. Hellwig kehrte zu seinem Bataillon zurück, welches er bei Nordheim antraf.

Der edle Herzog von Weimar, Karl August, beschenkte jeden der tapferen Husaren, welche an diesem kühnen Handstreich theilgenommen, mit einem Louisd’or. Die Unterofficiere verbaten sich dieses Geschenk und wünschten dafür ein Ehrenzeichen. Der Commandant von Erfurt, Major Karl von Prüschenek, wurde durch einen Befehl des Königs Friedrich Wilhelm vom 11. December 1806 seiner unverantwortlichen Capitulation wegen ohne Abschied aus dem Militärdienste entlassen – und der Secondelieutenant Hellwig? Wir wissen nicht, ob er eine Belohnung für seine herrliche That empfangen.

Der Moniteur in Paris veröffentlichte wenige Tage darauf ein Bülletin aus Weimar vom 16. October, in welchem mit hochtrabenden Worten und in übertriebener Weise die Capitulation der Festung und Citadelle und die dadurch erlangten Vortheile mitgetheilt wurden, selbst die Bedingungen der Capitulalion wurden wörtlich beigefügt, aber in keinem der folgenden Bülletins, welche stets neue Siege verkündeten, ist erwähnt, daß ein preußischer Secondelieutenant mit fünfzig Husaren 9000 Gefangene befreit.

Mögen diese kurzen thatsächlichen Zeilen ein Denkmal für den Braven sein!

Fr. Fr.


Die Mormonen-Hauptstadt und deren Sultan.


Ungefähr in der Mitte des noch unbewohnten ungeheueren nordamerikanischen Continents, umgrenzt von Wüsten und Wildnissen, hat sich während des letzten Jahrzehends ein neuer Staat, eine neue Religion, eine aus allen Völkern der Erde zusammengeschneite Gemeinde von etwa 100,000 Seelen erhoben. Missionäre in allen Theilen der Erde, China und Japan nicht ausgenommen, und die religiös geweihte Glorie der Polygamie, der Vielweiberei blos für den physischen Zweck der Vielkinderei, in ihren eigenen Häusern bereichern dieses fabelhafteste aller modernen Gebilde jährlich um viele Tausende neuer Mitglieder.

Es ist der religiöse Mormonenstaat in Utah am großen Salzsee, westlich von den Felsengebirgen und diesseits der Sierra nevada, von welcher man auf Californien und den stillen Ocean herabblickt, im Norden der Wahsatsch-Gebirge. Die Mormonen-Hauptstadt ist binnen 10 Jahren wie ein Paradies mit Palästen und Gärten und mannigfaltigster Industrie aus der Wüste emporgestiegen, etwas westlich von dem 114. Längengrade und nördlich von dem 40. der Breite, dieser Durchschnittslinie aller menschlichen Culturgeschichte. In ihrem Entstehen auf das Grimmigste verfolgt, von Vertilgungskriegen aufgerieben und zweimal in Masse vertrieben, zogen sie endlich, wie einst die Kinder Israel, durch unendliche Wüsten und kletterten über die Felsengebirge hinunter in das Salzseethal, wo nach Erfahrungen und Forschungen wissenschaftlicher Reisenden und heldenmüthiger „Freifänger“ kein einzelner Mensch zu leben im Stande war. Hier ließen sich die vertriebenen Mormonen nieder und schufen in kürzester Zeit die merkwürdigste Oase einer ganz neuen Cultur, Religion, Staatsform, Gesellschafts- und Sittlichkeits-Organisation.

Es ist schon unendlich viel, das Empörendste und Beste, das Widerspruchvollste über diese „Heiligen der letzten Tage“, wie sie sich nennen, geschrieben worden. Vertrauen wir uns jetzt einem Naturforscher an, der die ganze Mormonenschaft aus eigenster Forschung und Erfahrung zuletzt und am ausführlichsten und unparteiischsten geschildert hat. Zwei ungeheuere illustrirte Prachtbände in englischer Sprache von dem Franzosen Jules Remy und dem Engländer J. Brenchley, die sich ausschließlich mit den Mormonen und der Reise zu und von ihnen beschäftigen, liegen vor uns.[1]

Lassen wir uns zunächst mitten in die große Salzsee-Stadt, das „neue Jerusalem“ der Mormonen, einführen.

„Am 58. Tage nach unserm Aufbruche von Sacramento in Californien, den 25. September 1855, Nachmittags 3¼ Uhr, marschirten wir auf einer Hauptstraße in die Mormonenstadt ein.

[505] Rechts und links dufteten uns Blumen- und Obstgärten an, besonders Pfirsichbäume schwer fruchtbeladen. Also mitten in der großen Salzseestadt, dem neuen Jerusalem, modernen Zion oder „Deseret“, was „Land der fleißigen Biene“ bedeuten soll. Es liegt am Fuße der Wahsatsch-Gebirge in einer Ebene und am Flusse Jordan. Der obere Stadttheil steigt allmählich an einem Gebirgsabhange amphitheatralisch empor, so daß das Auge mit einem Male den ganzen Umfang übersehen kann. Die Straßen laufen in geraden Linien nach den Ufern des Jordan herunter und sind rechtwinkelig von Querstraßen durchschnitten. Eine starke Lehmmauer zum Schutze gegen Indianer umgiebt die ganze Stadt. Die Einwohner hielten uns für die Post-Karawane, die jeden Monat einmal aus den Vereinigten Staaten ankommt, sodaß wir nicht weiter auffielen. Wir fragten uns sofort nach dem Rathhause, wo wir uns von Gouverneur, Papst und Dictator Brigham Young Quartier ausbitten wollten. Statt „Seiner Excellenz und Hoheit, Heiligkeit und Majestät“ trafen wir nur Beamte und Schreiber, die uns an den Oberrichter des ganzen Utah-Landes und Besitzer des Union-Hotels, Mr. Kinney, wiesen. Ein untersetzter, fetter, achtbar gekleideter und aussehender Herr, gemüthlich vor seinem Hotel sitzend und rauchend, das war Mr. Kinney, Oberrichter von Utah im Namen des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Er zeigte sich höflich und herzlich und räumte uns nicht nur seine besten Gast-, sondern auch seine Privatzimmer ein. Erst wurden wir mit Porter und Cognac, dann mit Thee und Zubehör tractirt. Ein großes, schönes Haus, ein Feen-Palast nach zweimonatlicher Wüste! Ein niedliches junges Gebirgs-Schaf, mehr ein Reh, als ein Repräsentant der Dummheit, spielte um uns in der Stube herum und neckte sich mit uns und einem großen straußähnlichen Vogel, dessen langer Schnabel jedoch alle Verwandtschaft mit dem afrikanischen Original widerlegte.

Diese seltsamen, niedlichen, vollkommen zahmen Hausthiere in der Stube, diese Cultur, Stille und Behäbigkeit um uns erfüllten uns mit ungemeiner Freude und Erquickung. Abends hatten wir das Schauspiel eines Einzugs von England angekommener Mormonen, die mit großer Feierlichkeit und dem Orchester der Kirche empfangen und für die Nacht auf einem öffentlichen Platze zum Bivouakiren reichlich versorgt wurden. Diese Lagerscenen mitten in der Stadt, die gebräunten Gesichter, Maulesel, Ochsen und zahmen Indianer, welche ab und zu wanderten, brachten einen ungemein malerischen Eindruck hervor.

Am folgenden Tage durchwanderten und studirten wir die Stadt. Jede Straße ist 130 Fuß breit und geradlinig und ist auf beiden Seiten von einem kleinen Bergstrome klaren Wassers durchzogen, da man auf geniale Weise ein Gebirgsgewässer so zertheilt und gerichtet hat, daß es in so vielen Armen durch jede Straße doppelt herabfließt. Jedes dieser Flußärmchen ist mit doppelten Reihen baumartiger Weiden („Baumwollenholzbaum“) geziert. Da sich die Straßen rechtwinklig durchschneiden, bilden sie viereckige „Blöcke“ von Häusern von je 6–700 Fuß Länge auf jeder Seite. Jedes Haus steht wenigstens 20 Fuß hinter der Straßenlinie und ist von Obst- und Blumengärten umgeben, so daß die neueste und vollkommenste Stadt zugleich alle Annehmlichkeiten des offenen Landes und Dorfes einschließt (ein sociales Problem, das wir mit unserer alten Cultur noch nicht gelöst haben, so daß wir es erst aus der Mormonen-Hauptstadt lernen müssen). Dies giebt der verhältnißmäßig kleinen Stadt freilich auch eine Ausdehnung von mindestens drei englischen Meilen Durchmesser. Die meisten Häuser sind einfach, alle sehr rein, oft ziemlich elegant und auch in einzelnen Fällen palastartig und fast immer geräumig und gesund. Die Residenz Brigham Young’s ist ein Palast 100 Fuß lang und 40 breit, aber nicht zu groß für seine 17 Frauen und seine zahlreiche Nachkommenschaft, die in Abraham-, Isaak- und Jacob’scher Weise als ein himmlischer Segen, als Glorie vor Gott und den Menschen betrachtet wird, da „viele Kinder“ als das Hauptstück religiösen Verdienstes gelten. –

Die Residenz des Mormonen-Papstes ist von Granit und andern kostbaren Gesteinen gebaut, sieht mit ihren hervorspringenden Ogiven über den langen Fenstern sehr majestätisch aus und soll im Innern fürstlich ausgestattet werden für 30 Sultanas, die sich dieser alte Held von Sultan und Papst noch anzuschaffen gedenkt. Jetzt (1855) wohnt er mit seinen 17 Ehehälften in einem Hause dicht daneben, das einen großen Bienenkorb als Symbol des Fleißes auf dem Dache trägt. Daneben befinden sich die Staats- und Regierungsgebäude und eine unentgeltlich zugängliche Bibliothek, unweit davon die große Gesellschaftshalle und der ummauerte Raum, auf welchem sich der große Mormonentempel mit sechs hochemporsteigenden gothischen Thürmen erheben soll, über 150 Fuß lang, 119 breit und mit Granitmauern von 9 Fuß 9 Zoll Dicke, eine Schöpfung kirchlicher Baukunst, die alle andern in der Welt übertreffen wird, wie sich wenigstens die Mormonen selbst rühmen. Bis jetzt halten sie ihren Gottesdienst in einem großen Tabernakel daneben, das von der „Bowery“ begrenzt wird, einem ungeheuern Schuppen für neue Ankömmlinge, die noch kein Dach und Fach haben. Neben dem Tabernakel das Stiftshaus für die Mysterien der eigentlichen Heiligen, Bischöfe und obersten Hierarchen, das kein Mormone niedrigeren Grades betreten kann. Hier nehmen die Heiligen die noch immer lebendigen Offenbarungen ihres Stifters und Propheten, des von amerikanischer Volkswuth ermordeten Joseph Smith, und die Eingebungen des heiligen Geistes in Empfang. Hier werden die höchsten Kirchenbeamten geweiht und vereidigt und mit der heiligen Tunika bekleidet, einem langen, weißen Gurt, der vor jeder Gefahr schützt, so lange er den Körper umgiebt. In der Nähe dieser Staats- und Kirchengebäude sind auch Werkstätten und Schlafstellen für jeden Mormonen ohne Beschäftigung und Arbeit, außerdem Magazine und Kornkammern der Kirche.

Auf unsern Wanderungen durch die Stadt fiel uns nichts so angenehm auf, als die durchgehende Reinlichkeit, Behäbigkeit und Arbeitsamkeit, die friedliche Ruhe und Ordnung und der gebildete Wohlstand an allen Häusern und Menschen. (Es ist wirklich ein Deseret, ein Bienenschwarm, aber ohne – Drohnen, ohne Militär und Polizei und Beamte – als besondere vom Volke lebende Stände. Jeder arbeitet und schämt sich auch der gemeinsten Arbeit nicht – das ist das ganze Geheimniß.) – Maurer und Zimmerleute bauen, schneiden, sägen und behacken Holz, Tischler Hobeln und leimen, Gärtner graben und wässern, Schmiede hämmern zwischen sprühenden Funken, Kürschner bearbeiten kostbare Felle und Rauchwerke, Kinder enthülsen Mais, Hirten weiden fröhliche, runde Heerden, Holzfäller kehren mit schweren Lasten aus bewaldeten Felsenklüften zurück, Wollkämmer bereiten schneeige Vließe zum Spinnen und Weben, Erdarbeiter graben Canäle für Bewässerung der Gefilde und Gärten, Schneider, Schuster, Ziegler, Töpfer, Salpeter- und Pulvermacher, Müller, Säger, Waffenschmiede – alle Sorten und Arten von Handwerkern und Fabrikanten arbeiten lustig darauf los und brauchen wenig oder nichts für ihre Heiligen und Heroen zu steuern, da diese alle selbst tüchtig mit arbeiten. (Müßiggänger und Arme giebt es nicht, darf es nicht geben, da die Aermsten ohne Mittel oder ohne augenblickliche Arbeit sofort von der „Kirche“ – allen Respect vor ihr in dieser Eigenschaft! – mit dem Nöthigen versehen werden.)

Keine Spiel- und Trink-, keine Spur von „liederlichen“ Häusern. Ihre Erholung sind Kirche, Schule, Turn- und Exercirplatz (Jeder ist Vaterlandsvertheidiger, deshalb Keiner Soldat) und die große Gesellschaftshalle, wo gesungen, getanzt, musicirt und Theater gespielt wird, wenn die wissenschaftlichen Vorlesungen zu Ende sind. Niemals Rohheit oder Trunkenheit auf der Straße, keine Verbrechen, so daß die Gerichtshöfe kaum etwas zu thun haben, als Streitpunkte über „Sollen und Haben“ zu schlichten. Das Trinken gebrauter und spirituöser Getränke ist nicht verboten, aber man verkneipt sein Geld und seine Zeit nicht. Abends plaudern, lesen, predigen und singen die Familien mit einander, da sie fast alle gläubig und abergläubisch unter dem Einflusse ihrer alttestamentlich fabricirten Bibel und der Autorität ihrer Apostel und Heiligen stehen. Mit Eintritt der Dunkelheit sieht man kein weibliches Wesen mehr auf der Straße.

Die Vielweiberei bringt etwas Türkisches mit sich, eine auffallende Sittenstrenge, womit man von sich und der Welt den naheliegenden Verdacht der Unsittlichkeit und geschlechtlichen Ausschweifung abzuwehren sucht. Auf Ehebruch folgt Todesstrafe, die noch nie Jemandem zuerkannt worden ist. Was die Frauen betrifft, so ist es psychologisch nothwendig und deshalb auch Thatsache, daß sie ihre durch „Colleginnen“ Verlorne innerste Ehre durch möglichste Sittlichkeit mit Religiosität zu entschädigen suchen. Sie berufen sich auf ihre religiöse Vorschrift, auf das alte Testament und die vielbeweibten Erzväter.

„Ein seltsamer Anblick“, fährt unser Gewährsmann fort, „diese Gesellschaft so arbeitsam und nüchtern, so friedlich und ordentlich, namentlich wenn man erwägt, aus welchen widerspruchsvollen und [506] ausgeworfenen Elementen der verschiedensten Zonen und Nationen sie zusammengesetzt ist und sich immer frisch bereichert. Sie besteht aus Engländern, Amerikanern, Schotten, Canadiern, Dänen, Schweden, Norwegern, Deutschen, Schweizern, Polen, Russen, Italienern, Franzosen, Negern, Hindu’s, Indianern, Australiern und Chinesen (das ist die Reihenfolge der Zahl der einzelnen Bestandtheile nach). Alle Nationen, Racen, Farben, Religionen, Sprachen, Sitten und Gebräuche schmelzen hier in Eine friedliche Gemeinschaft von großer Kraft und Energie zusammen (die erst neuerlich, 1856–1858, der ganzen Regierung aller vereinigten Staaten und den Truppen derselben trotzte, sich anfangs wehren wollte und dann zum dritten Male auszuwandern im Begriff war, statt sich zu beugen, so daß die amerikanische Regierung nachgeben mußte). Diese Elemente und Widersprüche aller Nationen leben hier in praktischer Verbrüderung und Harmonie und vermehren sich fast noch täglich aus allen Himmelsgegenden. Hier im Herzen der amerikanischen Wildniß ist eine kosmopolitische Nation emporgeblüht, unabhängig, compact und durchweg aus eigener Kraft und fanatischer Energie hervorgewachsen – eine Vorbildung (und vorläufig auch noch eine Verbildung als erster Versuch) der allgemeinen, kosmopolitischen Verschmelzung aller Nationen und Religionen zu Einer großen Menschengemeinde, die den Heiligen der letzten Tage denn auch wirklich als Ideal und Ziel vorschwebt,“ – an deren Verwirklichung in anderer Weise besonders die in aller Welt zerstreuten Deutschen unbewußt aus ihrer wahren Natur und Bestimmung heraus arbeiten.

Dies Mormonenreich am Jordan ist wesentlich ein Werk Brigham Young’s, des Präsidenten, Papstes, Sultans und Souverains, des aus der Volkswahl hervorgegangenen Gouverneurs von Utah, des Propheten, Offenbarers und Sehers. Er ist ein Mann von 54 Jahren (im Jahre 1855), hellhaarig, mittelgroß, stark und dick. Sein Gesicht ist regelmäßig, die Stirn breit und hoch, die Augen scharf und fest, der Mund freundlich umzogen. Auf den ersten Anblick sieht er wie ein ehrlicher Landmann aus, doch merkt man bald aus seinen Thaten und Reden den geistig und physisch energischen Mann heraus.

Bruder Brigham, wie ihn seine Heiligen nennen, hat einen Serail mit 17 Frauen verschiedenen Alters. Eine, die wir zufällig im Garten sahen, war auffallend schön. (Wahrscheinlich ist jetzt sein Palast für 30 Ehehälften fertig und der jetzige Sechziger doppelt beweibt.) Die Zahl seiner Kinder ist unbekannt. Im vorigen Frühlinge (1854) wurden ihm in einer Woche neun Stück geboren. Jedermann fließt über vom Lobe über die Sorgfalt dieses Patriarchen für seine Nachkommenschaft. Zu diesem Autokraten der Seelen und Leiber seiner Unterthanen sollten wir nun in unseren schmutzigen Reisecostümen eingeführt werden. Wir fanden ihn in seinem officiellen Bureau, Schreibern dictirend und ein Stück virginischen Tabak zum Kauen zurechtschneidend. Er kauerte in einem Lehnstuhle mit einem breitkrämpigen Filzhute auf dem Kopfe und einen für seine Dicke immer noch viel zu weiten grünen Rock an. Er dictirte noch eine halbe Stunde fort, ohne von uns Notiz zu nehmen. Endlich wurden wir ihm vorgestellt. Er gab uns die Hand und hieß uns Platz nehmen, während er sich selbst wieder setzte, ohne uns eines Wortes zu würdigen. Stumm mir dem Kopfe bis beinahe auf die Kniee gebeugt blieb er sitzen. Ich richtete endlich eine Frage an ihn, die er mit Nein beantwortete, ohne weiter zu reden. Wir baten ihn mehrmals um eine Privat-Audienz, um besondere Anliegen anzubringen. Er antwortete jedesmal bejahend, ohne sich zu regen. Endlich sagte er: „Auf der Straße“. So gingen wir zur Privat-Audienz auf die Straße. Hier antwortete er uns gefällig, aber zurückhaltend, bis er uns plötzlich stehen ließ und rasch davon lief, um ein Paar durchgehende Zugochsen aufzuhalten. Er packte sie und hielt sie, bis der Knecht oder Eigenthümer herankam. „Warum läßt du die Ochsen durchgehen?“ fragte er den Mann.

„O Bruder Brigham! Wie geht’s heute? Ja, diese Ochsen wollten heute nicht pariren, wie ich auch manchmal,“ war die Antwort des Ochsenmannes.

Der Sultan und Papst wendet sich jetzt wieder zu uns, giebt Jedem die Hand und läßt uns stehen.

Wir sprachen unser Erstaunen über diese seltsame Behandlung gegen einen ihm näher Stehenden aus, der ihn und uns bald aufklärte. Er ist mißtrauisch gegen Fremde, die ihm nicht von zuverlässigen Freunden vorgestellt werden, da er Feindschaft, Gift, Dolch oder Kugel von Attentätern der Frommen in den Vereinigten Staaten fürchtet. Ordentlich vorgestellt wurden wir am nächsten Tage um so freundlicher und zutraulicher behandelt. Er nahm uns mit in sein Schlafzimmer, wo er als Junggeselle schlummert und keine seiner Frauen ohne besondere Erlaubniß Zutritt findet. Da wir nicht Alle Stühle fanden, mußten sich der Vice-Papst Kimbal und ein Anderer auf’s Bett setzen. Hier sprachen wir über eine Stunde, wobei er sich’s angelegen sein ließ, seine Ueberzeugung recht klar und warm auszusprechen, daß sein Glaube und sein Reich bald die ganze Menschheit umgestalten und erlösen werde. – Dieser Glaube ist bei ihm ehrlich, fest und feurig. Das ist hauptsächlich seine Kunst und die Quelle seiner sonst nicht sehr feinen Beredsamkeit. Er war einst Tischlergeselle und hat sich nie große Gelehrsamkeit verschaffen können. Aber er hat das merkwürdigste Reich geschaffen und bisher entwickelt, die verschiedensten Nationen unter Einem rohen, seltsam aus Christenthum, Köhlerglauben, Heidenthum und Cynismus zusammengebrauten Cultus und geistlichen, wie weltlichen patriarchalischen Absolutismus vereinigt und ihn ausgedehnt über alle Welt, der in keinem Lande der Erde mehr seine Missionäre und Agenten fehlen, die ihm jährlich immer mehr Tausende zusenden.




Der Frauenverein für Gesundheitspflege in England.

Eine Mittheilung von Dr. Schildbach,
zweitem Director der Schreber’schen gymnastisch-orthopädischen Heilanstalt zu Leipzig.

Immer allgemeiner wird die Erkenntniß der Wahrheit, daß die Völker selbst es sind, welche sich ihre Zustände schaffen, und daß die Entwickelung ihrer geschichtlichen Bedeutung, ihres innern Staatswesens und ihres Wohlstandes gleichen Schritt hält mit der Zu- und Abnahme ihres sittlichen und geistigen Werthes. Es ist eine Frucht dieser Erkenntniß und eine praktische Anwendung der alten Regel, daß man beim Bauen mit dem Grund anfangen müsse, wenn diejenigen, die für das Volk ein Herz haben, ihr Hauptaugenmerk gegenwärtig auf die Erziehung richten.

Solchem Streben für die Hebung des Volks durch Verbesserung der Erziehung verdanken wir bereits eine große Anzahl Schriften. Der Erfolg derselben mußte aber so lange ein mangelhafter und beschränkter bleiben, als man nicht dafür sorgte, daß die große Masse des Volks solche Schriften auch wirklich in die Hände bekam. Diese Erwägung hat jetzt in England und Deutschland Unternehmungen hervorgerufen, welche richtige Grundsätze über Erziehung und Gesundheitspflege zum Eigenthum des ganzen Volks machen wollen.

„Wir machen die Erfindungen, und die Engländer beuten sie aus!“ so hat wohl mancher Deutsche in patriotischem Unmuthe gerufen, und so ist in der That oft genug der Gang der Dinge gewesen. Aber solch ein Wort trifft doch nicht immer zu; und ich glaube, es läßt sich auch in dem Falle, über den ich berichten will, behaupten, daß ein auf fremdem Lande gewachsener und sorglich gepflegter Gedanke doch erst bei uns einen ihm völlig zusagenden Boden gefunden habe.

Oft ist uns erzählt worden von der entsetzlichen Verkommenheit des englischen Proletariats, welches uns als eine Menschenclasse geschildert wird, für die nicht nur die staatsbürgerlichen Rechte nicht vorhanden sind, sondern auch das erste natürliche Recht jedes Geschöpfes, zu leben und die für Gesundheit und Leben schädlichen Einflüsse abzuwehren, in hohem Grade gefährdet erscheint. Wo der dritte Theil aller lebend gebornen Kinder vor dem fünften Jahre wieder zu Grunde geht, wie es uns von England berichtet wird – da müssen wirklich die sittlichen und Lebensverhältnisse trostlose sein; denn die durchschnittliche Lebensdauer giebt sicherlich den besten [507] Maßstab für dieselben ab. Dieser Schluß aber wird noch berechtigter, wenn man ihn auf die Classen beschränkt, um welche es sich eigentlich handelt, und welche trotz der überaus günstigen Lebensverhältnisse der begünstigten Stände und der Landbevölkerung jene ungünstigen Ziffern veranlassen. Es sind dies die Proletarier der großen Städte und der Fabrikbezirke.

Mögen nun die Zustände dieser Classen in England wirklich schlimmer sein als anderswo oder bei der großen Oeffentlichkeit der dortigen Verhältnisse nur bekannter sein, jedenfalls haben die Engländer zuerst das richtige Mittel dagegen ergriffen, indem sie eine Reform des Erziehungswesens angebahnt haben.

Bei diesem Wort aber muß man nicht, wie es aus Gewohnheit oder Bequemlichkeit oft geschieht, blos an die öffentliche Erziehung, an die Schule, denken, sondern wohl berücksichtigen, daß außer dem Geist, welchen die Schule in Pflege nimmt, auch ein rüstiger, gesunder Körper und ein edler, willensstarker Charakter gezogen werden muß, bis ein ganzer Mensch fertig ist, und daß diese wichtigste Hälfte der Erziehung die Aufgabe des Hauses, der Familie ist.

In der Erkenntniß, daß ein gesunder Körper der unentbehrliche Boden ist, auf welchem allein die edlen Früchte des Strebens und Denkens gedeihen können, und „daß der bei weitem größte Theil von Schwächlichkeit, Krankheit und vorzeitiger Sterblichkeit aus vermeidbaren Ursachen entspringt“, hat sich nun ein Verein in England gebildet, welcher die Hauptgrundsätze der Gesundheitspflege zum Gemeingut des Volkes, besonders der niederen Classen desselben, welche dieser Kenntniß noch am meisten entbehren, zu machen sucht. Dieser Verein nennt sich Ladies’ sanitary association, besteht hauptsächlich aus hochstehenden Frauen, so wie Aerzten (unter denen unser Landsmann Dr.Roth eine hervorragende Stelle einnimmt) und Menschenfreunden verschiedener Stände, und hat im verflossenen Jahre seinen dritten Jahresbericht ausgegeben.

Die Mittel, deren sich der Verein zur Erreichung seiner Zwecke bedient, sind seinem Programm nach folgende:

„1) Die Abfassung und Veröffentlichung interessanter, einfach geschriebener Abhandlungen über alle Gegenstände, welche die Erhaltung der Gesundheit betreffen. Die Mehrzahl derselben wird hauptsächlich für die Armen geschrieben. Frauen übernehmen bezirksweise die Sorge für Verbreitung und Befolgung dieser Anleitungen.

2) Die Errichtung von Leihbibliotheken interessanter, volksthümlicher Bücher über alle Gegenstände der Gesundheitspflege.

3) Die Veranstaltung populärer Vorträge über Gesundheitspflege.

4) Die Errichtungen von Anstalten, in welchen Lehrerinnen und Lehrer, die an Schulen für die arbeitenden Classen angestellt sind, einen theoretischen und praktischen Unterrichtscursus über alle Gegenstände der Gesundheitspflege durchmachen können, um diese Wissenschaft ihren Schülern lehren zu können. Auf diese Weise würden Schulmädchen, die künftigen Frauen und Mütter der arbeitenden Classen, eine Unterweisung erhalten, welche, obgleich Allen nothwendig, gegenwärtig nur im Besitz Weniger ist. Auch würden Classen für Privat-Lehrerinnen und andere Damen gebildet werden. Besondere Aufmerksamkeit würde dem Unterricht in der Pflege der Säuglinge und Kinder, als einer der wichtigsten Pflichten des Weibes, gewidmet werden. Um diesen Theil des Unterrichts vollkommen praktisch zu machen, beabsichtigt man, einige Waisenkinder in den Anstalten zu erziehen. Damit würden Schullehrerinnen Gelegenheit haben, eine völlig praktische Kenntniß aller auf die kindliche Gesundheit sich beziehenden Dinge zu erlangen, und durch sie würde diese Kenntniß den arbeitenden Classen mitgetheilt werden, welche gegenwärtig wenig Gelegenheit haben, solche zu erlangen, ausgenommen durch theuer erkaufte Erfahrungen oder durch Bücher, welche sie in vielen Fällen weder Neigung noch Mittel zu kaufen noch Verständniß zu begreifen haben. Es wird beabsichtigt, zu diesem Theil des Unterrichts Kindermädchen zuzulassen, und der Verein hofft dadurch verständig gezogene Kindermädchen zu liefern, denen Kinder sicher anvertraut werden können. Geistliche, Aerzte und Alle, welche sich für gesundheitliche Reform interessiren, werden dringend ersucht, ihren Einfluß zur Errichtung solcher Anstalten in Verbindung mit Zweigvereinen in ihren Wohnorten zu verwenden.

Der Verein ist ganz auf freiwillige Beisteuern angewiesen und bittet dringend um den Beistand Aller, welche sich für seine Bestrebungen interessiren.“

In Bezug auf den ersten Punkt ist der Verein rüstig vorgegangen. Die erste Serie von Schriftchen, welche auf seine Veranlassung speciell zur Vertheilung unter die Armen geschrieben sind, führen folgende Titel: „der Werth der frischen Luft“; „der Gebrauch des reinen Wassers“; „der Werth guter Nahrung“; „der Einfluß gesunden Getränks“; „der Vortheil warmer Kleidung“; „die Gesundheit der Mütter, mit Zeichnungen von neuen Schnitten zu Kinderkleidern“; „wie ein Kind zu behandeln ist“; „die Macht von Seife und Wasser“; „wann bist du geimpft?“ „der wohlfeile Arzt, ein Wort über frische Luft“. Aus der zweiten Reihe sind folgende Schriften angeführt: „Bemerkungen über die Aufgabe des Weibes bei gesundheitlicher Reform“; „die Gesundheit des Kirchspiels und die Wohnungen des Volks“; „die Tödtung der Unschuldigen“.

Die Mehrzahl dieser Schriftchen, jede zu ungefähr 30 Kleinoctavseiten, kostet 2 Pence das Stück, 12 – 16 Schilling das Hundert, für Vereinsglieder 9–12 Schilling. Zufolge des dritten Jahresberichts sind vom Verein seit seiner Gründung 76500 Exemplare davon ausgegeben worden.

In den Abhandlungen ist der volksthümliche Ton in vorzüglicher Weise getroffen, d. h. sie geben in anziehender, verständlicher Form ihre Rathschläge, wie sie ein verständiger, gereifter Mann dem Unerfahrenen giebt, dem Gedankenkreis und den Verhältnissen desselben entsprechend. Wo die Anschauungen von den unsrigen abweichen, wollen wir uns mit einem Hinblick auf die Sitten und Gewohnheiten des Landes beruhigen; es können sich aber viele deutsche Volksschriftsteller ein Muster nehmen an der praktischen Behandlung der Gegenstände, wie sie uns hier vorliegt. Auch zu Vorlesungen in öffentlichen Versammlungen könnte ein Theil dieser Schriften ohne Weiteres benutzt werden; es ist somit durch sie auch denen, welche nicht selbst derartige Vorträge ausarbeiten können, Gelegenheit geboten, durch Belehrung des Volks über Gesundheitspflege segensreich zu wirken.

Es ist nur eine natürliche Folge dieser glücklichen Wahl und Behandlungsweise des Stoffes, wenn die Jahresberichte von den vorzüglichen Erfolgen und der allgemeinen Beliebtheit der Schriftchen zu erzählen haben. Selbst in Ungarn hatten dieselben Propaganda gemacht, desgleichen in Amsterdam und Hobart-Town (Tasmania).

Vorlesungen über Gegenstände der Erziehungs- und Gesundheitslehre, zum Theil öffentlich, zum Theil ausschließlich für Damen oder Lehrerinnen, wurden auf Veranlassung des Vereins an vielen Orten gehalten, auch unter ärztlicher Aufsicht eine Abtheilung von Lehrerinnen in der Ling’schen erzieherischen Gymnastik praktisch unterwiesen.

Eine Leihbibliothek im Vereinslocal war zwar noch in der Bildung begriffen, aber dennoch bereits lebhaft benutzt. Der Verein hofft für dieselbe, auf derartige Erfahrungen gestützt, auf reichliche Schenkungen von Seiten der Schriftsteller und Verleger und wünscht sie zu einer Sammlung aller guten Bücher über öffentliche und private Hygieine zu machen.

Die Bildungsanstalt für Kinderwärterinnen war aus Mangel an hinreichenden Mitteln noch nicht ins Leben getreten.

Wenn der Verein mit der bisherigen Energie in seiner Wirksamkeit fortfährt und der Wichtigkeit seiner Zwecke entsprechend an Ausdehnung zunimmt, muß er ein wahrer Segen für die englische Bevölkerung werden. Er faßt die socialen Uebel bei der Wurzel; und wenn es auch zumeist erst die nächsten Generationen sind, denen seine Bemühungen zu gute kommen, so ist dieser Erfolg um so sicherer und nachhaltiger.

Ein Hauptvorzug des Vereins ist der, daß er wesentlich aus Frauen besteht. Es ist überaus erfreulich, wenn Frauen sich in einer ihnen angemessenen Sphäre eine öffentliche Wirksamkeit bilden; erfreulich, nicht nur weil sie uns ein Stück Arbeit abnehmen, sondern auch weil sie diese Arbeit wahrscheinlich erfolgreicher treiben. Dies ist ganz unbestreitbar hier der Fall, wo es gilt, Frauen zu reformiren. Es ist bekannt, wie abweisend, mißtrauisch, oder wenigstens schwerfällig ein großer Theil des weiblichen Geschlechts sich allen Neuerungen gegenüber verhält, sobald dieselben nicht Mode oder Comfort betreffen, wie hartnäckig sie den größten Autoritäten und augenscheinlichsten Erfolgen gegenüber an den Ueberlieferungen ihrer Mütter und Großmütter festhalten. Wenn aber, wie hier, die Neuerer im eignen Lager sind, dann ist allerdings einige Hoffnung vorhanden, daß – zwar nicht eine Revolution, welche gar nicht erwünscht wäre – aber eine Evolution, eine allmähliche Umgestaltung [508] zum Bessern in den Gemüthern und Ansichten, dann in den Gewohnheiten, endlich in den Leistungen der Frauen und ihrer Familienglieder eintrete. Also: wacker ausgehalten!

In Deutschland haben sich die erzieherischen und hygieinischen Reformbestrebungen noch nicht in eine compacte Masse vereinigt, sondern sind vereinzelt hervorgetreten. Auch bei uns haben Viele durch das lebendige Wort das Volk über das, was dem Leibe frommt, zu belehren gesucht, aber ohne besonders dazu gebildete Vereine[2], vielmehr wo sich Gelegenheit bot, so in Leipzig in Gesellen- und Turnvereinen. Nur in Leipzig bildeten früher eine Anzahl Frauen und neuerdings ein Verein von Lehrern eine – wahrscheinlich einzige – Ausnahme. Auf Prof. Bock’s Anregung traten sie zusammen und ließen sich von ihm eine Reihe Vorlesungen über angewandte Anatomie und Physiologie halten.

Solche Belehrungen können natürlich nur einem kleinen Bruchtheil der Bevölkerung zu gute kommen und sind nur darum noch Bedürfniß, weil fast Niemand aus der Schule gesunde und ausreichende Anschauungen über das, was ihn zunächst angeht, sein leibliches Ich, mitbringt. Gerade dies aber ist es, was wir vor allen Dingen zu erstreben haben; nur im heranwachsenden Geschlecht kann allmählich eine der ganzen Bevölkerung zu gute kommende Reform angebahnt werden. Um von ärztlicher Seite die Hand zu bieten, hat vor ein bis zwei Jahren Dr. Schreber in seinem „Anthropos“ eine mit Abbildungen ausgestattete Belehrung über den Menschen als Leitfaden für Lehrer herausgegeben; es fehlt blos noch, daß durch entsprechende Bestimmungen in den Schulregulativen die gebotene Hand ergriffen werde. – Von den gewichtigen und wohlgezielten Streichen, welche Prof. Bock gegen Unverstand, Vorurtheil und Naturwidrigkeit in allen die Gesundheit angehenden Dingen bereits seit Jahren führt, brauche ich den Lesern dieser Blätter nicht erst zu erzählen. Auch in vielen andern Unterhaltungsblättern finden sich Belehrungen über Menschenkunde und Leibespflege, welche ferner in einer Unzahl selbstständiger Schriften systematisch vorgetragen werden, am ausführlichsten wohl in Bock’s Buch vom gesunden und kranken Menschen und in Schreber’s Kallipädie.

An solchen Schriften fehlt es in England wahrscheinlich auch nicht, und dennoch wurde der oben geschilderte Verein durch das Bedürfniß hervorgerufen, denn alle die bezeichneten Schriften und Aufsätze kommen nur einer kleinen Zahl von Gebildeten und Wohlhabenden zu Händen und zu gute; die große Masse des Volkes bleibt davon unberührt; und doch ist ein gesunder Körper gewöhnlich ihr einziges Capital und oft unumgängliche Bedingung der Existenz. Diese Betrachtung schuf den englischen Frauenverein für Gesundheitspflege, und derselben Betrachtung verdanken wir auch eine ähnliche deutsche Bestrebung. Eine ähnliche und doch wieder in Vielem abweichende Bestrebung. Sie ist nicht das Panier eines Vereins, sondern die Herzenssache eines einzelnen Mannes, des oben genannten und den Lesern der Gartenlaube nicht fremden Dr. Schreber. Die Belehrung verzettelt sich nicht in einzelnen Abhandlungen, welche erst nach längerer Zeit, nach größerem Aufwand und in Form einer ganzen kleinen Bibliothek vollständig werden, sondern erschöpft den Gegenstand mit einem Male. Sie beschränkt sich nicht auf den leiblichen Menschen, sondern berücksichtigt in gleicher Weise auch den denkenden und wollenden, vor Allem in seiner Entwicklungszeit, als der einzigen, welche die Möglichkeit einer umfassenden und nachhaltigen körperlichen und geistigen Zucht gewährt. Diese hervorgehobenen Gegensätze bezeichnen zugleich die Mängel des englischen und die Vorzüge des deutschen Unternehmens, wie sie meinem Auge erscheinen. Ob aber auch der Weg, welchen Schreber für die Verbreitung seiner Schrift gewählt hat, dem des englischen Vereins vorzuziehen sei, muß erst der Erfolg zeigen. Es kam ihm darauf an, seine Anweisung in alle die Hände zu bringen, für die sie bestimmt ist, und er erkannte ganz richtig, daß dies nur durch die Staatsgewalt, durch die Regierung und ihre Organe geschehen könne. Er sandte daher je ein Exemplar seiner Schrift mit einem gedruckten Begleitschreiben an sämmtliche deutsche Cultus- und Unterrichtsministerien und erbot sich, denselben „behufs unentgeltlicher Vertheiluug der Schrift durch Ortsgeistliche, Schulmänner, Gemeindevorsteher, Armenverwaltungen etc.“ beliebige Summen davon für den technischen Herstellungspreis zu liefern. Von diesem Anerbieten hat die Sachsen-Coburg-Gothaische Regierung einen schleunigen und umfassenden Gebrauch gemacht; zwei andere, die königlich Sächsische, die Schwarzburg-Rudolstädtische und eine Reußische, haben einen vorläufigen Versuch unternommen, die königlich Bairische hat sich auf amtliche Empfehlung der Schrift beschränkt, sämmtliche übrige haben bis jetzt gar nichts von sich hören lassen. Es wird also auch hier sich doch wohl die Privatthätigkeit noch in’s Mittel schlagen müssen.

Die Schrift heißt: der Hausfreund, enthält auf wenigen Bogen einen vollständigen Abriß der Erziehungs- und Gesundheitslehre, und ist in edler, von sittlichem Geiste durchdrungener und zugleich warmer und verständlicher Weise geschrieben, so daß sie auch die lebhaftesten Bestrebungen zu ihrer Verbreitung rechtfertigen würde.

Aber Eines schließt das Andere nicht aus; wenn das Schreber’sche Unternehmen das englische ergänzt, so kann dieses auch jenes wieder ergänzen. Die Engländer mögen die Hauptsätze der Erziehungs- und Gesundheitslehre in ein Werkchen zusammenfassen und auch die Geistes- und Charakterbildung berücksichtigen; wir wollen uns ein Muster nehmen an ihrem Gemeinsinn und an ihren Tractätlein lernen, wie man dem Volke Vorträge hält.

Ich mache mir keine Illusion darüber, es wird noch mancher Tropfen den Rhein hinabfließen und noch manche Woge an die englische Küste schlagen, bis die Lehren, wie sie der englische Frauenverein und Dr. Schreber zu verbreiten suchen, allgemeines Eigenthum des Volks geworden sein werden; aber die Ueberzeugung lasse ich mir nicht rauben, daß von ihnen das Streben nach wahrer Volksbeglückung seinen Ausgang nehmen muß und daß sie daher früher oder später zu voller Anerkennung gelangen werden. Schon jetzt sind Anzeichen vorhanden, daß einzelne Funken gezündet haben, und es steht zu hoffen, daß sie sich mit der Zeit zu einer kräftig emporlodernden, ringsum erwärmenden Flamme vereinigen werden. Mögen Schreber und seine Geistesbrüder in England jetzt noch den einsamen Pionieren gleichen, die mit Axt und Spaten in den Urwald dringen: sie kämpfen für den Fortschritt der Menschheit, und die Menschheit wird' fortschreiten.




Jagddaguerrotypen.

Von Ludwig Beckmann.
IV.
Das Schwarzwild und seine Jagd in alter und neuester Zeit.


Nachdem wir in den frühern Artikeln die Hochjagden beschrieben haben, müssen wir zum Schluß unter den eingestellten Jagen noch des Fangjagens erwähnen, welches angewendet wird, um Wild – behufs eines Transportes – lebendig einzufangen. Die äußere und innere Einrichtung ist im Wesentlichen dieselbe, wie bei den übrigen eingestellten Jagen, nur werden quer über den Laufplatz die hohen oder mittlern Fanggarne locker gestellt, welche beim Einfallen der Hirsche ober Sauen niedergleiten und das Wild bedecken und verwickeln. – Sobald ein Stück gefangen und ausgelöst ist, bringt man es sofort in die mit einer Fallthür und Luftlöchern versehenen Wildkasten, welche bei weitern Transporten auch mit Schütten und Raufen versehen sind, und ohne Verzug auf Wagen geladen und Tag und Nacht weiter gefahren werden. Die Fangjagen wurden nicht selten mit den großen Haupt- und Festinjagen vereinigt.

Der Saufang.

 „Aufgrunzt die list’ge Bache, hebt windend das Gebräch,
 Nach quiekt die Frischlingsrotte der wilden Mutter Weg.“

Die Saufänge, welche im Freien zum Einfangen der wild lebenden Sauen hergestellt sind, bestehen meistens aus einer etwa

[509] 150 Fuß im Durchmesser haltenden kreisförmigen oder viereckigen Umzäunung von starken 8–10 Fuß hohen eichenen Pfosten, welche dicht neben einander mehrere Fuß tief in den Boden gerammt sind. Die etwa 3 Fuß breite und 4 Fuß hohe Fallthür kann in den Riegeln der Thürpfosten senkrecht auf und nieder bewegt werden und wird durch einen einfachen Stellapparat fängisch gestellt.


Bachen mit Frischlingen vor dem Saufang.


Ein langer Abzugsdraht reicht vom Stellapparat bis in die Mitte des Saufanges und trägt hier am äußersten Ende den Abzugsbrocken oder steht mit einer Druckleine in Verbindung. Sobald eine der eingewechselten Sauen letztere berührt, schnellt der Stellapparat los und die Fallthüre schließt sich. Um die Sauen in den Fang zu locken, streut oder körnt man Eckern, Bucheln oder Korn vom Fang aus in langen schmalen Streifen nach verschiedenen Richtungen durch den Wald.

Bei den meisten Saufängen befindet sich an der Hinterseite noch ein zweiter umzäunter Raum, der Beigarten, welcher dazu dient, die eingefangenen Sauen bis zu weiterer Verfügung aufzunehmen. Der Beigarten steht durch zwei Fallthüren mit dem Saufang in direkter Verbindung und ist in verschiedene Kammern abgetheilt, um die Sauen nach Alter und Geschlecht separiren zu können. Jede Kammer hat nach außen ebenfalls eine Fallthür, in welche die zum Transport bestimmten Saukasten passen.

Will man die Sauen an Ort und Stelle schießen oder unter den Hunden abfangen, so wird an dem Beigarten noch ein Hatzlauf angebracht, welcher im Wesentlichen mit den bei eingestellten Jagen üblichen gleich ist; nur mit dem Unterschied, daß hier statt der Tücher und Garne eine Einzäunung von starken Eichenbohlen angewendet wird.

Die Park-Saufänge sind meistens einfacher und bestehen nur in einer kreisförmigen Bohlenwand von etwa 8–10 Fuß Höhe. Der Durchmesser des Saufanges beträgt etwa 40 Fuß, die Wände haben eine Eingangs-Fallthür, deren Abzugsdraht bis zu einem nahen Wachthäuschen geleitet ist, wo der Jäger die Ankunft der Sauen erwartet. Oft benutzt der Jäger auch den nächsten besten mit einigen Steigbretern versehenen Baum zum Ansitz, da hier im Park die Sauen nicht so lange auf sich warten lassen, wie im Freien.

An der Hinterseite dieser einfachen Saufänge befindet sich eine kleine, mit Vorder- und Hinterfallthür versehene Bucht oder Kammer. In diese Bucht werden die eingefangenen Sauen, welche lebend transportirt werden sollen, durch Körnung gelockt und eingeschlossen, worauf sie durch die hintere Fallthür in die bereit stehenden Saukasten getrieben werden. – Hauptsächlich dienen diese Saufänge indeß, um während einer im Park abzuhaltenden Jagd diejenigen Sauen, welche nicht erlegt werden sollen – z. B. jüngere Bachen etc. – aufzubewahren.




Erinnerungen an Wilhelmine Schröder-Devrient.

Von Claire von Glümer
XI.

Eine der unglückseligsten Episoden in Wilhelminens Leben ist ihre Verbindung mit Herrn v. Döring. Er war Officier in sächsischen Diensten, Wilhelmine lernte ihn zu Anfang der vierziger Jahre kennen, und es gelang ihm, der Künstlerin eine Leidenschaft einzuflößen, die sie alles Urtheils, aller Willenskraft beraubte. Es war dies um so unerklärlicher, da Wilhelmine gerade in den letzten Jahren so glücklich gewesen war, wie nie zuvor. Nach mancher Täuschung hatte sie endlich einen treuen, edeln Freund gefunden, dessen Liebe sie für alle Qualen der Vergangenheit entschädigte, bis ihr ungestümes Herz in den äußern Verhältnissen neue Ursache zu Kämpfen und Schmerzen fand. Die Stellung ihres Freundes machte ihm die Ehe mit einer Schauspielerin unmöglich, und er war zu stolz seinen Beruf aufzugeben, um nur der Mann einer berühmten Frau zu sein. Wilhelmine war durch einen zehnjährigen Contract an das Dresdner Hoftheater gebunden; erst nach Ablauf desselben konnte sie an Pension Anspruch machen. Vermögen besaßen Beide nicht genug, um sich der bindenden Fesseln zu entledigen, denn Wilhelmine hatte erst seit einigen Jahren angefangen, für sich zu erwerben; bis dahin hatte sie für ihre Kinder gearbeitet.

Wilhelmine hat in spätern Jahren der achtungswerthen Gesinnung jenes Mannes volle Gerechtigkeit widerfahren lassen – sie hätte es ihm vielleicht nicht vergeben, wenn er anders gehandelt hätte – aber zu jener Zeit wollte und konnte sie die Rücksichten nicht gelten lassen, die ihren Wünschen entgegenstanden. Sie begann an der Liebe ihres Freundes zu zweifeln und gab ihn endlich auf, um der unheilvollsten Täuschung ihres Lebens zu verfallen.

Die Gewalt, die Döring über sie gewann, kannte keine Grenzen; seinetwegen brach sie mit den meisten ihrer Freunde, weil diese nicht abließen, sie vor der unheilvollen Verbindung zu warnen; sie opferte ihm ihr Vermögen, die Frucht jahrelanger Thätigkeit; sie brachte sogar durch übermäßige Anstrengungen ihre Gesundheit und – wie sie selbst mehr als einmal gesteht – ihren Ruhm als Künstlerin in Gefahr. Im Widerspruch mit ihrem ganzen Wesen fing sie jetzt an, bei ihren Erfolgen auch den pecuniairen Ertrag zu berechnen. Sie arbeitete nicht mehr für sich selbst, sondern für den Mann, den sie liebte, und dieser brauchte Geld und wieder Geld.

Ich habe niemals mit Wilhelminen über ihre zweite Ehe gesprochen. Jede Erinnerung daran versetzte sie in die äußerste Aufregung; selbst den Namen des Herrn von Döring nannte sie nie. „Der Teufel!“ sagte sie, wenn sie nicht vermeiden konnte, ihn zu erwähnen. Aber eine Menge Briefe und Tagebuchblätter

[510] von ihrer Hand liegen vor mir, und diese genügen, um ein helles Licht auf das unglückselige Verhältniß zu werfen.

So lange die Leidenschaft sie gefangen hält, d. h. fünf ganze Jahre, ist Wilhelmine unaufhörlich bemüht, Herrn von Döring gegen die Beschuldigungen zu vertheidigen, die von allen Seiten gegen seinen Charakter erhoben worden. Sie will nichts von allem glauben, klammert sich mit der ganzen Kraft ihrer Seele an diese Liebe, und dennoch ist sie nicht glücklich.

Bald nachdem das Verhältniß mit Döring angeknüpft war, schreibt sie:

„Danzig, den 16. Mai 1843.

„… Leider geht es mit meiner Gesundheit schlecht. Die schnelle Veränderung des Wetters und das überhaupt etwas strenge Klima hier hat einen sehr nachtheiligen Einfluß auf meinen Körper gehabt; ich sehe bleich und elend aus, und Ihr würdet Euch über die Veränderung, die mit mir vorgegangen ist, nicht wenig wundern. Zu allen meinen großen Anstrengungen kommt nun auch noch das schrecklichste Heimweh, was Sie sich denken können, bester H…., und es bedarf all meiner Vernunft, all meiner Fassung, um den unglückseligen Spleen nicht überhand nehmen zu lassen. Sie wissen ja, was ich für ein Gewohnheitsthier bin, und fühlte ich auch die Nothwendigkeit mich einmal von Allem loszureißen, so wußte ich auch im Voraus, daß ich an dieser Umwälzung aller meiner Verhältnisse lange zu kämpfen haben würde. Nun, es mußte so sein, mein Geschick mußte eine andere Wendung nehmen, und bezahlte ich diesen Kampf auch mit meinem Herzblut, er war nothwendig, denn wie es bisher war, stand kein Glück zu erwarten. Ich fühle es wohl, daß ich an einem ernsten Wendepunkte meines Lebens stehe, und wie mein Schicksal sich in der nächsten Zukunft noch gestalten wird, das muß noch zur Klarheit in mir werden. Nur predigt mir nicht von Ruhe vor, für mich giebt es hier keine. Ich muß fort, unaufhaltsam fort, und was mir in den Weg tritt, reiße ich mit mir. Ob nun der Strom meines Lebens zu einem Abgrunde führt, oder sich noch ruhig in die Sandfläche der Alltäglichkeit verlaufen wird – wer kann es wissen? Jetzt eile ich mit einer kranken Brust von Anstrengung zu Anstrengung, von Aufregung zu Aufregung, von Triumph zu Triumph, und jeder Schritt führt, Gott sei Dank, näher dem Grabe. Ich habe Alles, und die Welt beneidet mich, und doch habe ich mir den Tod nie sehnlicher gewünscht, als eben jetzt.“


„Königsberg, 18. Juni 1843.

„Liebe theure Freundin! Nehmen Sie meinen herzlichen Dank für Ihre freundlichen Zeilen vom 13. d. M., die seit gestern in meinen Händen sind. Ihr Gebet zu Gott, daß er meinem Herzen endlich Ruhe schenken möge, wird wohl nicht eher in Erfüllung gehen, als bis dies Herz ganz stille steht, denn leider sehe ich immer mehr ein, daß ich Phantomen nachjage, nie erreichen werde, wornach ich strebe, und so ewig unbefriedigt bleiben werde. Darum, liebe Freundin, je eher dies unruhige Herz aufhört zu schlagen, je früher geht mein heißester Wunsch in Erfüllung.

… „Wünschen Sie mir ja nicht mehr Prosa in mein Leben, liebe Freundin, es ist davon so viel darin, daß sie mich fast erdrückt, und mache ich hier und da einen extravaganten Streich, so ist es nur, um nicht in der ewigen Prosa zu versumpfen. – Das Leben lastet schwer, schwer auf mir, und gewaltsam strebt meine Seele aus dem lästigen Kerker hinaus!“


„Zürich, 11. September 1843.

„Nehmen Sie meinen aufrichtigen, herzlichen Dank, theure Freundin, für Ihr liebevolles Schreiben vom 25. v. M. Bin ich doch überzeugt, wie es aus Ihrem wohlwollenden Herzen in die Feder geflossen ist, und wie Sie es treu und wahr mit mir meinen. Geben Sie sich aber keinen zu bangen Sorgen um mich hin, und sein Sie überzeugt, daß der Schritt, den ich thun werde, das Resultat einer reiflichen Ueberlegung sein wird, indem ich für alle Fälle mit mir einig bin und in meinem Innern abgeschlossen habe. Sie werden gewiß die Freude haben, mein Herz bald auf irgend einem Wege zur Ruhe kommen zu sehen. Mein Loos falle wie es wolle, so bin ich ja der innigen Theilnahme treuer Freunde gewiß, die mich nicht im Glück, viel weniger im Unglück verlassen würden, wenn das Letztere wirklich über mich kommen sollte. Ich werde sehr bald zu Ihnen zurückkehren, und dann muß sich mein Geschick auf die eine oder andere Weise rasch entscheiden. Wendet es sich auch nicht nach Eurem Wunsch und Willen, so werdet Ihr nur nicht durch zu große Bedenklichkeiten, die, ich weiß es ja, aus liebender Sorge für mich entstehen, ein Glück verkümmern, das ich nun eben für mein Glück erkannt habe. Ich sollte meinen, es wäre kein ganz verfehlter Lebenzweck, dem besten, liebenswürdigsten und liebenswerthesten Menschen sein durchaus nicht vom Glück begünstigtes Dasein erleichtern zu helfen, statt ihm die Hand zu entziehen, die er voll Zuversicht und Vertrauen ergriffen hat, und um so weniger werde ich mich jetzt aus ängstlicher Sorge für meine Zukunft von ihm lossagen, da er unglücklich ist und keine Freundeshand, als die meinige, auf dieser Welt hat. Ich werde nur nach seinem Willen handeln, und nur sein Wille kann mich von ihm trennen. Bis jetzt habe ich zu allen meinen Handlungen mich bestimmen lassen und habe nicht selten Ursache gehabt, zu bereuen, daß ich nicht meinem eigenen Willen gefolgt bin. Diesmal nun bin ich fest entschlossen, so selbstständig zu handeln wie möglich und mich nur dem Willen des Einen unterzuordnen, dem ich aus voller Ueberzeugung mein Geschick in die Hand gegeben habe. Ich glaube durch diese Handlungsweise Niemandem zu nah zu treten, da durch sie keiner Pflicht, die ich sonst noch zu erfüllen habe, Eintrag geschehen wird. Meine Mutter ist eine alte Frau von 63 Jahren, die allerdings jetzt Ruhe und Sorglosigkeit allem Andern vorzieht und wohl auch in ihrer Aengstlichkeit zu weit geht, denn meine Zukunft ist ja in jedem Fall gesichert, und wäre es nöthig, würde ich mich einzuschränken wissen und mir gern jede Entbehrung auferlegen, ehe ich mich von den theuersten Pflichten lossagte. Sein Sie daher ganz außer Sorge, liebe Freundin, Sie werden sehen, daß ich nichts thue, was nicht reiflich überlegt ist. Ich werde den 28. bis 30. in Dresden eintreffen – wie lange ich bleiben werde, kommt auf die Umstände an. Meine Reise in die Schweiz beschränkt sich nur auf Zürich, da mein Gastspiel mich bis Mitte des Monats aufgehalten hat. Meine Schwester Betty hat die ganze Tour gemacht und ist erst gestern nach vierzehntägiger Abwesenheit zurückgekommen. Ich habe mich in der fürchterlichsten Hitze schrecklich plagen müssen und habe heute zum elften und vorletzten Male gesungen. Das sind die Freuden, die ich von solcher Reise habe.“

Wilhelmine kehrte nach Dresden zurück, allein die Ruhe, nach der sie sich sehnte, wurde ihr nicht zu Theil. Das Verhältniß zu Herrn von Döring spann sich im stürmischen Wechsel von Qual und chimärischem Glücke jahrelang fort. „Was ist unergründlicher, als das Herz eines Weibes, wenn es liebt?“ schrieb sie später, als der Wahn verflogen war, „und ich liebte ihn treu und innig. Trotz aller Täuschungen, die er mir bereitete, hielt ich seine Reue immer wieder für wahr, seine Thränen für echt, seine Zerknirschung für aufrichtig.“ Ihre Liebe schien nur zu wachsen in den Schmerzen, die er ihr verursachte, und jedes Mißtrauen gegen ihn empfand sie im nächsten Augenblicke wie ein unverzeihliches Unrecht. Im Juni 1846 schreibt sie aus Nürnberg:

… „Gott sei Dank! mein Glaube an diesen einen Menschen hat mich nicht betrogen, und nicht zu hart möge mich die Strafe heimsuchen, die ich darum verdiene, daß ich einem schnöden Argwohn gegen ihn auch nur einen Augenblick Raum in meiner Seele gönnen konnte! In welchem Zustande ich nach Leipzig kam, nachdem ich mir noch zwei Tage lang den fürchterlichsten Zwang in Hannover auferlegen mußte, werden Sie begreifen, der einen so tiefen Blick in mein Inneres gethan hat. Ich war todtkrank an Leib und Seele. Meine Schwester war meiner Aufforderung sogleich gefolgt, und ich fand nicht nur sie, sondern auch Döring dort und war schon den Tag vorher von ihnen erwartet worden. Ich habe nun eine ernste Auseinandersetzung mit Döring gehabt, und es hat sich denn herausgestellt, daß nur schwarze Verleumdung in den Hauptsachen sich an ihn gewagt, daß er unbesonnen, aber nicht schlecht und verrätherisch war und nur bis jetzt den Muth nicht hatte, mir seine Unbesonnenheit einzugestehen. Er hat weder gespielt, noch den Fleiß meiner Hände verkauft, denn ich habe Alles selbst gesehen, und gesehen, wie hoch und heilig er diese kleinen Gaben der Liebe hielt. Fluch also über die Menschen, die ihre Lust nur am Bösen finden und sich nicht schämen, das Reinste und Heiligste zu betasten! Und doch muß ich diesen Menschen wieder danken, denn sie haben es dahin gebracht, was sie freilich nicht bezweckten, daß mein Glaube an den Mann, für den mein Herz die treueste und reinste Liebe hegt, für dieses Leben unerschütterlich fest steht, und nichts mich wankend machen wird in dem Entschluß, mein ganzes Leben mit all seinen edelsten Kräften nur ihm [511] zu widmen. Schelten Sie mich nicht exaltirt, theurer Freund, es ist nun einmal so und kann nicht anders sein und werden. Ich bin dem Leben und der Kunst zurückgegeben und trete nun mit neuer Kraft, mit belebtem Muth allen Plagen entgegen, die meiner noch bis zum Spätherbst warten.“

„Berlin, 6. October 1846.

„… Nun wollen Sie als theilnehmender Freund auch wissen, wie es mir geht? Gut und schlecht! Gut, weil Sie nicht ganz Unrecht haben, daß „die kleine Welt von Glück, die ich mein eigen nenne“, eine Gleichgültigkeit gegen alles Uebrige geschaffen hat, die nur wenige Ausnahmen duldet, unter denen Sie aber oben an stehen, da ich Ihre Freundschaft hoch und werth halte. Schlecht, weil mich meine Verhältnisse zwingen, mit und in einer Welt zu leben, die mich anekelt, da sie die warmen Pulsschläge meines Herzens nicht verstehen kann und nur ausruft: wie spielt sie schön Komödie!! Ich sehne mich nach Ruhe und ungestörtem Genuß dessen, was ich einzig und allein mein Glück nenne.“

1847 ging Wilhelminens Contract mit dem Dresdner Hoftheater zu Ende. Er wurde nicht erneuert; eine Menge kleiner Widerwärtigkeiten und kleinlicher Intriguen, welche die Künstlerin in ihrer gereizten Stimmung doppelt schwer empfand, hatten ihr die alte Heimath verleidet und sie zu dem Entschlusse gebracht, eine längere Kunstreise zu unternehmen.

Zu derselben Zeit waren endlich auch die Schwierigkeiten beseitigt, welche ihre Heirath mit Herrn von Döring so lange verhindert hatten. Ihre Freunde, aufs Höchste bestürzt bei dieser Nachricht, erschöpften sich noch einmal in den eindringlichsten Warnungen – aber Wilhelmine blieb fest in ihrem Entschlusse. Sie nannte Alles Verleumdung, was gegen Döring sprach, und ein Packet von Papieren, durch die sie von seiner Unwürdigkeit überzeugt werden sollte, warf sie ungelesen ins Feuer. Am entschiedensten sprach sich Wilhelminens fürstlicher Freund, der Herzog von …. aus; er schreibt:

„Jetzt muß ich noch ein Wort reden, was mir sehr schwer auszusprechen wird, was ich aber doch aussprechen muß, wenn ich anders Ihr Freund bin. Die Nachricht, daß Ihr Verhältniß mit Herrn von Döring nicht allein noch fortbesteht, sondern sogar zur Ehe führen soll, hat mich mit dem tiefsten Schrecken erfüllt. Von allen Seiten und schon lange ist dieser Döring nämlich als einer der allerverächtlichsten Menschen mir geschildert worden, als ein Mensch, der nur darauf ausgeht Sie auszubeuten und der dabei mit dem Luxus groß thut, den er mit dem Ihnen abgenommenen Gelde treibt. Dies letztere soll sogar seine Cameraden schon mehrere Male zu Deliberationen darüber gebracht haben, ob es ihnen möglich bleibe, mit ihm fort zu dienen. Ich wiederhole, wie weh es mir thut, Ihnen so Schmerzliches sagen zu müssen; ich wiederhole aber zugleich nochmals, daß, wenn ich Ihr wahrer Freund bin, ich das Gesagte nicht verschweigen durfte.“

Dieser Brief ist am 29. August 1847 geschrieben; an demselben Tage wurde Wilhelmine in Kleinzschocher bei Leipzig mit Herrn von Döring getraut. Ob das nicht geschehen wäre, wenn sie den Brief zur rechten Zeit erhalten hätte?

Vor der kirchlichen Ceremonie unterschrieb Wilhelmine den von Döring vorbereiteten Ehecontract, ohne ihn gelesen zu haben. Ihrer Meinung nach mußte sie dem vielverkannten, vielverleumdeten Manne das unbedingteste Vertrauen zeigen. Mit der linken bedeckte sie die letzten Zeilen, um auch nicht ein Wort zu lesen, und schrieb ihren Namen, ohne Ahnung, daß sie mit diesem Federzuge Alles was sie besaß und je besitzen würde, sogar die Hälfte der Pension, die sie vom Dresdner Hoftheater beziehen sollte, Herrn von Döring zuschrieb.

Es war eine entsetzliche Zeit, die nun folgte. „Ich war in die unwürdigsten Bande geschlagen“, schreibt Wilhelmine, „an einen Mann gefesselt, der mich um mein sauer erworbenes Vermögen gebracht hatte und der Jahre lang ein teuflisches Spiel mit meinen heiligsten Empfindungen trieb, denn während er mir in’s Antlitz Liebe heuchelte, war, wenn er von mir ging, Hohn und Spott mein Lohn für alle Opfer, die ich ihm brachte. Und nachdem ich ihm das Letzte gegeben hatte, was ich noch besaß, nachdem ich mich ihm gerichtlich fast mit Leib und Seele verschrieben hatte, warf er die Maske ab und stand vor mir, ein vollkommener Teufel.“

Wilhelmine war nahe daran, in Verzweiflung und Selbstverachtung zu Grunde zu gehen, während sie der Welt gegenüber den Schein des Glückes zu behaupten strebte und auf’s Angestrengteste in ihrem künstlerischen Berufe thätig war. Im Herbst trat sie eine Kunstreise an, die sie gen Norden führte. Petersburg war das Ziel, dem sie zustrebte; aber die Unterhandlungen mit der dortigen Theaterdirection führten zu keinem Resultate. Nachdem sie in Kopenhagen die glänzendsten Triumphe gefeiert hatte, ging sie nach Riga, wo sie als Romeo am 29. December 1847 das Publicum zum letzten Male zu begeisterter Bewunderung hinriß. Sie ahnte nicht, daß sie die Bühne nie wieder betreten würde. Von Riga ging sie nach Dorpat, und hier erfolgte im Februar 1848 ein vollständiger Bruch mit Herrn von Döring. Nun erst erfuhr sie die Bedeutung des Ehecontracts, und während Döring nach Sachsen zurück ging, um seine Ansprüche an Wilhelminens Eigenthum geltend zu machen – er belegte sogar ihre Möbel mit Beschlag – blieb die unglückliche, verlassene Frau in der Fremde. „Ich war vernichtet, zertreten, eine Bettlerin!“ schreibt sie, „an Leib und Seele todtkrank, und ohne Hoffnung, mich jemals wieder aus meinem Elend erheben zu können.“

Ende Februar kehrte Wilhelmine nach Deutschland zurück, um den Schutz der Gesetze gegen Herrn von Döring in Anspruch zu nehmen. Sie ging zuerst nach Berlin, wo eben der Nachhall der Pariser Ereignisse alle Gemüther durchbebte. Zu jeder anderen Zeit würde auch sie auf’s Gewaltigste davon ergriffen worden sein; aber sie war jetzt so müde von den Stürmen, die in der letzten Zeit über sie hingegangen waren, daß sie sich über ihr persönliches Leid nicht zu erheben vermochte. Und hatte sie sich auf Augenblicke davon losgemacht, fing sie an in die Weite zu sehen, so wurde sie durch die zahllosen Widerwärtigkeiten, die ein Ehescheidungsproceß unvermeidlich mit sich bringt, immer wieder auf das alte Leid zurückgewiesen.

Damit war übrigens das Maß ihrer Schmerzen noch nicht erschöpft. Im Mai erhielt sie die Nachricht, daß ihre Tochter Sophie Devrient, die in Hannover bei dem Vater lebte, gefährlich erkrankt war. Sie eilte sogleich zu ihr und fand eine Sterbende. Am vierten Tage nach ihrer Ankunft verschied das arme junge Wesen unter namenlosen Qualen in den Armen der Mutter, und Wilhelmine kehrte vollständig gebrochen nach Berlin zurück. Noch im Juli schrieb sie ihrem langjährigen Freunde, dem Kammerherrn von Dokop in Detmold:

„Berlin, 20. Juli 1848.

„Wie soll ich Ihnen für die freudige Ueberraschung danken, mein werther Freund, die Sie mir durch den Empfang Ihres lieben Briefes bereitet haben? Er war in meinem ganz freudlosen Dasein ein Lichtpunkt. Nehmen Sie meinen innigen, aufrichtigen Dank für Ihre Theilnahme, die mir in meiner gegenwärtigen Lage doppelt wohl gethan hat. Goethe läßt seinen Harfner singen:

„Wer sich der Einsamkeit ergiebt, ach! der ist bald allein.
Ein jeder lebt, ein jeder liebt und läßt ihm seine Pein!“

So geht es auch mir. Ich bin todt für diese Welt, und nur mit sehr wenigen Ausnahmen fragt man nach mir.

Indessen bin ich damit ganz zufrieden, denn zum Glück brauche ich die Welt nicht, und vermisse sie daher auch nicht. – Was Sie fürchten, muß ich Ihnen bestätigen, ich bin verstummt und zwar für immer – und was Sie hoffen, wird nicht in Erfüllung gehen, denn ich werde weder als blutdürstige Lady Macbeth noch als racheschnaubende Medea auftreten, und ständen mir selbst in Wirklichkeit die Zauberkräfte der Letztern zu Gebot, ich würde keinen Gebrauch davon machen, denn mein Jason ist keiner Verfolgung werth! Ich war und bin über allen Ausdruck unglücklich, und die grausigen Geschicke, die in dem letzten halben Jahre gleich schweren Gewittern sich über meinem Haupte entluden, haben eine so vollständige Zerstörung sowohl in meinem Innern als Aeußeren hervorgebracht, daß schon darum an ein vollkräftiges neues Auftreten in der Welt für mich nicht mehr zu denken ist. Meine Seele ist todeswund, und jede leise Berührung macht ihr Schmerzen. Seit einem halben Jahre singe ich nicht mehr, da ich kaum Musik hören kann. Diese Seelenzustände haben nur zu deutliche Spuren auf meine äußere Erscheinung geprägt – ich bin elend und krank – aber frei!! Den Gnadenstoß hat mir der Tod meiner Tochter gegeben, die am 22. Mai in Hannover in meinen Armen verschieden ist.

Seit drei Monaten lebe ich hier in dem bewegten Berlin ganz allein, abgeschieden und vollständig vereinsamt [512] ich wollte hier die gerichtlichen Differenzen mit Herrn von Döring abwarten, die sich aber leider so in die Länge ziehen, daß ich ihr Ende wohl nicht mehr erleben werde. Von wenigen mir treu gebliebenen Freunden gedrängt, will ich nun anfangen, etwas für meine tieferschütterte Gesundheit zu thun, und, nachdem ich hier eine Molkencur beendigt haben werde, nach dem nahen Seebade Heringsdorf gehen und dann im Herbst am Rhein eine Traubencur gebrauchen. Für den Winter suche ich nach einem stillen, bescheidenen Orte, wo ich vielleicht mit einigen treu gesinnten Seelen zusammen leben könnte, die die Mühe nicht scheuen, mich etwas wieder aufzurichten und meinen ganz erstorbenen Muth neu zu beleben. Noch habe ich keine Wahl getroffen, da sie keine leichte Aufgabe ist. Berlin ist mir durch meinen jetzigen Aufenthalt unerträglicher als je; Dresden durch die Erinnerung auf immer verleidet; Weimar, Coburg, Gotha nur im Sommer erträglich. Wo also hin? In eine große Stadt mag ich nicht – kann ich nicht, denn meine pecuniären Verhältnisse gebieten mir die größte Einschränkung, da Herr von Döring Alles, was ich mein nannte, für sein Eigenthum erklärt hat. Gott mag also wissen, wohin mich das Schicksal noch schleudern wird; doch was ist an mir gelegen?“




Blätter und Blüthen.

Das Auswachsen des Getreides. Die so ganz abnormen Witterungsverhältnisse des vorigen Jahres haben auf das glückliche Einbringen des Getreides in sehr vielen Gegenden einen höchst nachtheiligen Einfluß ausgeübt. Die fortdauernde Nässe des Bodens ließ einestheils ein rechtzeitiges Schneiden der Feldfrüchte nicht zu, anderntheils verhinderte die Feuchtigkeit der Atmosphäre ein völliges Trockenwerden, und die Folge dieser mißlichen Umstände war, daß in den Körnern chemische Umwandlungen vor sich gingen, die ihren Werth als Nahrungsmittel herabsetzen mußten.

Das Getreide fing an auszuwachsen, das heißt, die kaum gereiften Körner einwickelten schon eine selbstständige Lebensthätigkeit, sie keimten. Mit dem Keimen ist nun aber eine Veränderung der innern Eigenschaften der Körnerbestandtheile derartig verbunden, daß das Stärkemehl sowohl als der Kleber sich in Stoffe verwandeln, von denen der Keim und die daraus sich entwickelnde junge Pflanze zu leben, und aus denen sie ihre ersten Organe herzustellen im Stande ist. Diese Stoffe müssen daher vor allen Dingen löslicher Natur sein, damit sie sich in den Gefäßen ausbreiten können. Aus dem Stärkemehl entstehen zuckerartige Verbindungen, und diese geben den jungen Trieben der Pflanzen, sowie den Keimen jenen süßen Geschmack, der uns die ersten Gaben des Frühlings so angenehm macht.

Der Kleber, eine unter gewöhnlichen Verhältnissen im Wasser unlösliche Verbindung, wird ebenfalls in eine Form übergeführt, welche den Zellen seine Aufnahme gestattet. Er wird flüssig gemacht, und zu dieser Umwandlung wirken sowohl Wärme, Luft und Feuchtigkeit, als noch unerforschte Agentien im Innern der Pflanze zusammen. Der Kleber ist der Stickstofflieferant, und als solcher auch uns in den Körnern, welche wir zu unsrer Nahrung verwenden, ganz besonders werthvoll. Ohne ihn würden wir nicht im Stande sein, ein gesundes Brod zu backen, denn seine plastische Eigenschaft, die den Teig zu einer zusammenhängenden zähen Masse macht, ist Ursache, daß wir aus dem Mehle ein lockeres poröses Gebäck herzustellen im Stande sind, weil dadurch der Teig die Gasblasen, die sich beim sogenannten „Aufgehen“ in Folge eines eigenthümlichen Gährungsprocesses entwickeln, zusammenhält, sich durch dieselben aufbläht und der ganzen Teigmasse eine ungemein große Oberfläche giebt, welche den Einwirkungen des Magensaftes Vorschub leistet, also leicht verdaulich ist.

Diese wichtige Eigenschaft verliert der Kleber aber beim Keimen vollständig oder doch zum größten Theil, je nachdem der Proceß mehr oder weniger weit vorgeschritten ist. Er verwandelt sich in einen Schleim, der sich mit den wäßrigen Bestandtheilen vereinigen kann und an der Bildung neuer Organe Theil nimmt. Man kann ihn in diesem Zustande durch Wasser aus dem Mehle ausziehen, und macht davon in der Bierbrauerei wirklich Anwendung, indem man der Gerste die Bedingungen einer raschen Keimung darbietet, um die Stärke theilweise in Zucker überzuführen, den nahrhaften Kleber aber löslich zu machen und dem Biere einverleiben zu können. Das Malz ist eine solche in einem gewissen Stadium des Keimens unterbrochene Gerste.

Das ausgewachsene Getreide verbäckt sich daher nicht mehr ohne Weiteres zu einem lockern Brode, weil in ihm der Kleber die plastische Eigenschaft verloren hat und mehr oder weniger in jenen löslichen Schleim übergegangen ist, der beim Backen auseinandergeht und, statt ein poröses, mürbes Gebäck zu geben, eine feste, schliffige, nasse Masse liefert, die für den Magen ganz unverdaulich ist. Er ist in der That in diesem Zustande derjenige Bestandtheil, welcher den Werth des Mehles ungemein erniedrigt.

Wir glauben daher, weil auch in diesem Jahre aus einigen Gegenden uns Klagen über das Auswachsen des Getreides zugehn, unsern Lesern einen Dienst zu erweisen, wenn wir ihnen ein Mittel an die Hand geben, aus ausgewachsenem Getreide sich doch noch ein gesundes, wohlschmeckendes Brod bereiten zu können. Es besteht dies darin, daß man den Kleber aus seinem schleimigen Zustande wieder in die frühere plastische, unlösliche Form zu bringen sucht. Wenn man den umgewandelten Kleber mit gewissen Salzlösungen, als kohlensaurem Natron (Soda), kohlensaurem Kali (Pottasche), Kochsalz und ähnlichen behandelt, so giebt er seine Löslichkeit auf. Er wird auf’s Neue zähe und plastisch und gewinnt alle seine früheren Eigenschaften wieder. Setzt man daher dem Mehle, woraus man Brod backen will, etwas von den genannten Salzen (und unter ihnen würde sich das Kochsalz am besten zu diesem Zwecke eignen) zu, so wird der Teig durch die in Folge der Säuerung sich entwickelnden Luftarten sich aufblähen lassen, weil er durch den wieder unlöslich gewordenen Kleber Zusammenhang gewonnen hat, als ob er aus Mehl von gesunden Körnern bereitet wäre, das Brod wird locker und porös werden.

In dieser Beziehung angestellte Versuche haben ergeben, daß ein Zusatz von zwei Loth Kochsalz für je drei Pfund Mehl aus ausgewachsenem Getreide ein ganz ausgezeichnetes Brod lieferte, das nicht nur vollständig leicht verdaulich und höchst wohlschmeckend war, sondern das sich auch wochenlang in Räumen aufbewahren ließ, welche durchaus nicht die günstigsten Bedingungen der Erhaltung erfüllten, und das trotzdem frei von Schimmel und völlig genießbar blieb.

Das Salz wird in dem Einteigewasser aufgelöst und der Teig ganz in derselben Weise wie der von gesundem Mehle behandelt. Der Geschmack des Brodes wird durch den Zusatz eher verbessert; kurz das Mittel ist seiner Einfachheit und seiner Wirksamkeit wegen so ausgezeichnet, daß wir es für unsre Pflicht halten, diejenigen unserer Leser daraus aufmerksam zu machen, welche fern von den Kreuzungspunkten der Intelligenz erst nach langen Jahren der Erfolge der Wissenschaft und Technik durch zufällige Uebermittelung theilhaftig werden, und von denen Viele sorgenvoll an die Verwendung ihrer vielleicht bescheidenen Ernte denken.




Eine photographische Druckmaschine. Eine Lyoner Zeitung kündigt die Ankunft einer solchen Maschine aus Amerika an, welche in einer Stunde 4000 Photographien von einem einzigen negativen Bilde drucken kann. Das gebrauchte Papier soll mit Gelatin präparirt und mit Silber-Jodin getränkt sein, dem andre Substanzen beigemengt sind, welche es äußerst empfindlich machen. Es wird auf einen Cylinder gerollt und durch ein Uhrwerk in der Weise abgewickelt, daß jeder Theil etwa eine Secunde dem Negativ gegenüber bleibt, welches, während das Papier sich abwickelt, durch dieselbe Maschinerie mit einem Deckel verdeckt wird. Die Sonnenstrahlen sind durch eine kräftige Linse auf dem Original concentrirt. Vermittelst dieser Maschine kann man die Abdrücke für einen Sou das Stück liefern.




Kleiner Briefkasten.

Blg. in Hbg. Gönnen Sie dem Londoner „Punch“ das billige Vergnügen, die Verdienste Blücher’s in’s Lächerliche zu ziehen – die Weltgeschichte spricht deshalb doch das letzte Wort! Als die zarten englischen Ladies dem Marschall Vorwärts bei seiner Ankunft in London die Hände dermaßen beleckten, daß er schließlich durch Ueberziehen wildlederner Handschuhe sich vor den Zärtlichkeiten seiner Anbeterinnen zu retten suchte, als die ganze englische Presse den alten Helden als den Retter Englands und Besieger Napoleon’s pries, wer sprach damals von „Zweiter Hand Lorbeern“? Die Unverschämtheit der englischen Presse bleibt sich stets gleich.

M. in O–n. Das Manuskript Ihres Herrn Gemahls, Mitglied der preußischen Expedition, ist uns aus Hongkong mit Postgelegenheit zugegangen. Der Brief kostet nicht weniger als 4 Thlr. 16 Ngr. Porto. Ob wir den Beitrag zur Aufnahme bringen können, ist noch sehr die Frage.

S. S. in Frkf. „Komm doch zur Ruh’, bewegt Gemüth!“ Das Schützenfest in Gotha wird nächstens schon durch Text und Bild zur Darstellung kommen. Die Ausführung guter Zeichnungen und Holzschnitte nimmt viel Zeit weg, und da bei der großen Auflage zur Druckherstellung einer Nummer außerdem drei Wochen erforderlich sind, so dürfte es Ihnen begreiflich werden, daß die gewünschten Schilderungen und Illustrationen nicht gut vor Mitte August erscheinen können. Der Name des Künstlers, Professor Schneider in Gotha (der Maler des Barbarossa an dem Gabentempel) bürgt übrigens für die Wahrheit und malerische Ausführung unsrer Illustrationen. – Auch das Nürnberger Sängerfest wird Anfang September in unsrer Zeitschrift durch Text und Illustrationen gefeiert werden.

F. R. in S. Wir selbst kennen den Luc. Herbert’schen Roman „Louis Napoleon“ gar nicht und müssen Sie auf das Prutz’sche Museum verweisen. Prutz nennt das Buch „echtes Leihbibliothekenfutter, von dem sich jeder Gebildete mit Unlust abwenden müsse.“ Sie werden also das Opus wohl in einer benachbarten Leihhibliothek finden und sich selbst ein Urtheil bilden können.

R. S. in T. Ihre Mittheilung stimmt mit einer andern, die wir direct aus Stanz erhalten. Man schreibt uns von dort: „Noch lange werden die Maidli des Vierwaldstädter Sees sich der hübschen schlanken Söhne Norddeutschlands erinnern. Um Verwechselungen vorzubeugen, wurde der eine der Bremer Schützen, die besonders auffielen, „der ganz Große“ und ein anderer „der ganz Schöne“ genannt. Die Uebrigen rangirten unter dem Namen: „die nicht so gar Großen“.“

Br. in Tr. Werden nächstens Ihren Wunsch erfüllen und eine Berichtigung des angezogenen Artikels geben.

K. in L. Danken herzlich für den liebenswürdigen Brief. Ihre weiteren Zusendungen erwarten wir und werden sofort entscheiden.


  1. „A Journey to the Great Salt Lake City“ u. s. w. London, W. Jeffs. Berlin, Asher u. Co.
  2. Einen allgemeinen Aufruf zur Bildung von Erziehungsvereinen enthält ein kürzlich erschienenes Schriftchen des Lehrers Rockland in Nossen: „Die Erziehung der deutschen Jugend und ihre Bedürfnisse, Leipzig 1861.“