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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[465]

No. 30.   1861.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Der Holzgraf.

Eine oberbairische Geschichte.
Von Herman Schmid.
Fortsetzung.)


In den innern Räumen der Bühne herrschte ein buntes unübersehbares Gewirr von Farben, Trachten und Gestalten. Dort legten die Schutzgeister die schönen bunten Mäntel und die glänzenden Diademe wieder ab; hier schlüpfte eine zahlreiche Schaar aus den Sandalen mit Kitteln, in welchen sie das empörte Judenvolk dargestellt hatten. Auf der einen Seite legte das Kriegsheer Pharao’s, das soeben vom rothen Meer verschlungen worden, Helm und Panzer ab, während gegenüber Jonas der Prophet in der Nähe des ungeheuerlichen Haifisches stand und sich das Gewand losgürtete. In stiller Sammlung schritt der Bilderschitzer Jakob Zwink die Stufen hinab, noch ganz erfüllt von dem Gewichte der ihm gewordenen Aufgabe, der Darsteller des Erlösers zu sein.

In einer einsamen Ecke, an einem Fenster, welches die Aussicht über die Wiesen gegen die Berge hin bot, lehnte ein junger Mann im langen faltigen Apostelgewande. den hohen Wanderstab in der Hand, und sah in den beginnenden Abend hinaus, als habe er völlig vergessen, daß es Zeit sei, in die Wirklichkeit zurückzukehren.

Es war Domini, der junge Bildschnitzer, noch um Vieles bleicher, als er an jenem Abend der Begegnung mit dem Holzgrafen gewesen. Er beachtete es gar nicht, daß ein Mädchen an ihm vorüberschritt, ihn mit eigenthümlichem Blick betrachtete und dann Miene machte, ruhig ihrer Wege zu geben. Schon nach einigen Schritten aber besann sie sich anders, kehrte zu dem Sinnenden zurück und legte ihm leicht die Hand auf die Schulter.

„Will der Apostel Jakobus noch heut auf die Wanderung gehen, weil er noch aufgeschürzt ist und den Pilgerstab in der Hand hat?“

Dem Angeredeten schoß das Blut in's Gesicht. „Vesi!“ stammelte er, „ … Du bist es?“

„Nicht Vesi,“ erwiderte sie … „Basthi, die Verstoßene – ich habe sie nit blos gespielt, ich bin’s wirklich …“

„Ich hab’ davon gehört … auch ich bin wirklich Jakobus der Wanderer – denn ich gehe noch heute fort, um nicht wiederzukommen.“

„Und wohin gehst Du?“

„Nach Rußland. Du weißt, daß es von den Ammergauern heißt wie von den Nünbergern … Ammergauer Witz und Hand geht durch jedes Land! Ueberall trifft man unsre Landsleute – in Petersburg ist Andreas Steinbacher, ein weitschichtiger Vetter von mir – er ist ein reicher Kaufmann geworden! Auf den hab’ ich mich besonnen, zu dem will ich hin …“

„Und warum willst Du fort, Domini?“

„Wie kannst fragen? Du weißt, daß ich meiner Lebtag nichts sehnlicher gewünscht hab’, als ein Bildhauer zu werden – der Vetter in Petersburg wird mir wohl dazu verhelfen, daß ich das erreich’ nur einen richtigen Meister finde …“

Vesi sah ihn durchdringend und vorwurfsvoll an. „Hab’ ich das um Dich verdient, Domini.“ sagte sie, „daß Du mir nit die Wahrheit sagst? – Ist das der wahrhaftige Grund, der Dich, forttreibt – und ist es nit meinetwegen, daß Du gehst?“

„Und wenn es so wär ?“ fragte der Bursche stockend.

„Dann thu’s nit – und bleib’ da. Ich bin die Zeit her, seit ich fortgemußt hab’ vom Durnerhof, bei der Base im Dorf gewesen – es ist meiner seligen Mutter Schwester – ich hab’ mir derweilen um einen Platz für mich umgeschaut. Jetzt hab’ ich einen solchen gefunden – also kannst Du bleiben und warten, bis Dir Pater Ottmar den versprochenen Meister verschafft. Ich, mein’ alleweil, bei den Russen in Petersburg wird’s nit weit her sein damit …“

„Nein, Vesi,“ entgegnete der Bursch eifrig, „laß mich gehn – aber Du sollst um meinethalben nit fort aus Deiner Heimath und aus Deinem väterlichen Haus! Ich weiß, warum Du fort bist – Du hast dein Wort halten wollen, das Du mir gegeben hast – aber ich hätt’ keine ruhige Stund’, wenn ich an Deinem Unglück und Deinem häuslichen Unfrieden Schuld sein sollt’ … ich geb’ Dir Dein Wort zurück!“

Vesi sah ihm warm und herzlich in die gutmüthigen, thränenschimmernden Augen. „Du bist brav in allen Stücken,“ sagte sie, „– aber ich nehm’s nit an! Ich hab’ Dich gern, Domini – Dich allein, und es wär’ eine Sünd’, wenn ich mit einem Andern zum Altar gehn wollt – und ohne das ist kein Frieden zu machen mit dem Vater …“

„Ist es wahr, Vesi? Wirklich wahr?“ rief Domini entzückt. „Du bleibst mein? Du willst aushalten bei mir und warten, was mir der liebe Gott bestimmt?“

„Gewiß,“ entgegnete Vesi, ihm die Hand hinreichend, in die er kräftig einschlug.

„Und wenn es nicht ist?“ begann er wieder. „Wenn ich zu Grund gehn muß und mein Wort nit halten kann?“

„Dann wollen wir uns damit trösten, daß wir eine Lieb’ im Herzen getragen haben – so treu und engelrein wie die unsrige – und daß es eine andre Welt giebt, in der sie nicht verboten ist, und in der alles Herzweh, das wir jetzt ertragen müssen, nur eine Perl’ mehr ist in unserer Seligkeit!“

[466] Ein tiefer Blick in die verschwimmenden Augen – eine innige Umarmung – ein rascher glühender Kuß – dann schritt zur einen Seite Apostel Jakobus, zur andern Königin Basthi. die Verstoßene, in die Welt hinaus.



3.

Die Vorgänge auf dem Durnerhofe hatten trotz aller Vorsicht und Zurückhaltung Vesi’s und des Wachtmeisters dennoch den Weg in die Oeffentlichkeit gefunden und machten nun mit den abenteuerlichsten Zuthaten und Ausschmückungen die Runde in den Kunkelstuben und an den Wirthstischen des Dorfes. Dazu kamen noch allerlei sonderbare Nachrichten über das Leben und Treiben, das der Holzgraf nach der Vereinsamung seines Hauses begonnen hatte. Dem anfänglichen Gerede, daß er das Bauernleben ganz aufgeben, sich auf den Holzhandel verlegen und nach München ziehen wolle, um in der Residenz seinen Reichthum glänzen zu lassen, war bald eine andere Mittheilung gefolgt. Vesi hatte in der Stadt einen Platz gefunden, das war Grund genug für den Holzgrafen, mindestens den ersten Theil dieses Planes aufzugeben und ein, wenn auch nur zufälliges Zusammentreffen mir seiner Tochter zu vermeiden. Desto eifriger ließ er sich die Aufführung des zweiten Theils angelegen sein und suchte jede Gelegenheit auf, seinen Reichthum zu zeigen und das Geld nach Sinn und Ausdrucksweise der Bevölkerung zum Fenster hinaus zu werfen. Nirgends in der ganzen Umgegend wurde eine Kirchweihe begangen, eine Hochzeit gefeiert oder irgend ein Tanz gehalten, ohne daß das Gespann des Holzgrafen erschienen wäre. mit einem prachtvollen Trottelgeschirre von schwarzem Glanzleder, das er erst um schweres Geld angeschafft hatte und das die Bewunderung aller Kenner und Roßtäuscher war. Aber auch ohne solchen besondern Anlaß fand er sich bald da, bald dort in einem Wirthshause ein und ließ sieden und braten und Wein und Bier und Kaffee herbeischaffen, und regalirte und tractirte, wer Lust hatte mitzuhaben. Natürlich fehlte es so wenig als anderswo an arbeitsscheuen und genußlustigen Leuten, welchen solche Gelegenheiten, wohlfeil etwas mitzumachen, höchst willkommen waren, nur so hatte der Holzgraf bald ein wüstes und meist übel berufenes Gefolge um sich, das ihn begleitete oder sich anscheinend zufällig immer da einfand, wo er erwartet werden durfte. Es waren ein paar Bauern, die über’m Handel mit Vieh und Getreide die schlichte landmännische Beschäftigung verlernt und die üblen Gewohnheiten des halb städtischen Treibens noch leichter erlernt hatten; einige ledige Burschen, welche der Arbeit den Müßiggang und der strengen häuslichen Ordnung die lockere Zucht des Wirthshauses vorzogen. Tage lang saßen sie mit dem Holzgrafen um den Bierkrug oder die Weinflasche zusammen, bald zechend und jubilirend, bald mit Karten oder Würfeln oder auf der Kegelbahn bemüht, möglichst viele von den Kronthalern an sich zu bringen, welche dem verschwenderischen Holzgrafen buchstäblich aus der Tasche fielen.

Diesem gefiel die Art und Weise, wie dies Gelichter sich an ihn drängte und sich gegen ihn benahm; es lag darin eine Gattung von Auszeichnung und Ehrerbietung, wornach er immer mehr verlangte, je mehr er, wenn auch unklar und uneingestanden, fühlen mochte, daß er des Einen wie des Andern stündlich unwürdiger wurde. Aus dem gleichen Grunde war es ihm auch am behaglichsten in den Wirthshäusern, denn die Besitzer derselben hatten allen Respect vor einem Gaste, der gerate das, was ihnen das Liebste war, so gering achtete, daß er es ihnen ohne Mühe zukommen ließ – sein Geld.

Der Holzgraf hatte auch nicht Unrecht, wenn er grollend wahrzunehmen glaubte, daß sein Ansehen im Volke nicht im Steigen begriffen war. Das Volk hat eine gewisse heilige Scheu vor dem Reichthume und vor dem, der ihn besitzt, aber diese Scheu ist durch den richtigen Gebrauch desselben bedingt und schlägt, wo dieser fehlt, leicht in’s Lächerliche oder in Verachtung oder geradezu in offenen Haß um. Sie Stimmung gegen den Holzgrafen schwankte zwischen beiden letztern Regungen; war man ihm zuvor seines Hochmuths wegen nicht eben freundlich gesinnt gewesen, so zürnte man ihm jetzt, weil der Hochmuth zur Härte gegen Weib und Tochter geworden war; man zuckte die Achseln, wenn man seine sinnlose Verschwendung und Schwelgerei sah – und es bedurfte nur noch eines Anstoßes, um den Haß hervorzubringen.

An einem solchen ließ es der übermüthige Bauer auch nicht fehlen. War er schon früher von allen Gottesdiensten und von Allem, was sich auf die Kirche bezog, ferne geblieben, so hatte er sich doch den Schein gegeben, als wolle er sein Thun durch irgend einen Vorwand bemänteln, als scheue er sich, die frömmere Anschauung der Bevölkerung zu verletzen. Jetzt that er gerade das Gegentheil und fuhr dem gläubigen Landvolk offenbar und mit herausfordernder Absichtlichkeit durch den Sinn. Er ließ keine Gelegenheit unbenützt, seine Geringschätzung gegen Alles, was Kirche, Gebet und Glauben betraf, an den Tag zu legen, und wenn ein betender Zug von Wallfahrern durch ein rücksichtslos daher tobendes Gespann auseinander gesprengt wurde, oder wenn irgendwo das Wort des Predigers für die Andächtigen vor Rädergerassel und Peitschenknallen kaum mehr verständlich war, wußte man ohne Frage, daß der wilde Holzgraf seinen Unfug getrieben habe.

Es war daran, daß die Behörden nicht mehr umhin konnten, einem so seltsamen als störenden Betragen ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden, und in gleichem Maße, als dies geschah, zog sich die Bevölkerung, wo er mit ihr in Berührung kam, von ihm zurück. Namentlich war dies der Fall bei den Bewohnern und Bürgern von Ammergau; allein je unlieber sie es zu bemerken schienen, wenn der Holzgraf sich in das Herrenstübchen drängte, wo sie sich zum Abendtrunk zusammenfanden, je mehr schien er es darauf anzulegen, sich zu ihnen zu drängen.

So war mehr als ein halbes Jahr vorübergegangen; der strenge Winter war zu Ende und der lustige Auswärts begann. Er war aber diesmal nicht so lustig wie sonst, wo er den fröhlichen Vorläufer des Frühlings machte. Diesmal kamen mit den Schwalben und Stahren allerlei andere trübselige Vorboten und zeigten, daß die Besorgnisse des invaliden Wachtmeisters nicht ungegründet gewesen waren. Man erzählte sich offen und heimlich, Kaiser Napoleon habe es auf Rußland abgesehen und wolle mit einer Armee, wie die Welt noch keine gesehen, in dasselbe eindringen. Daß etwas Wahres an der Sache sein müsse, bewiesen die Rüstungen in Baiern, das, damals noch an den Zwingherrn gebunden, Tausende und Tausende seiner kräftigsten Söhne zu dessen Heer stellen mußte. Auch aus Oberammergau hatte eine beträchtliche Schaar junger Burschen fortgemußt, und in manchem Hause waren darüber die Gesichter von Kummer bleich und die Augen roth geworden vom Weinen.

Eines Abends saßen die angesehenern Bürger des Dorfs in der obern Stube des Sternwirths beisammen, wo der Erker vorspringt und die Aussicht nach drei Seiten frei giebt. Es ging ein Frühlingsregen nieder, die Tropfen schlugen an die Scheiben, manchmal rüttelte ein Windstoß an den Fenstern und ließ den blechernen Stern knarren, der draußen von einem Kranze umgeben hin und wieder schaukelte. Desto heimlicher saß es sich in der wohlverwahrten Stube und desto traulicher ließ es sich plaudern. wie der furchtbare Komet, welcher in dem vorigen heißen Sommer so unheimlich niedergeleuchtet habe, doch nicht so ohne Bedeutung gewesen sei und wohl den neuen Krieg verkündigt haben könne, der furchtbarer zu werden drohte, als alle vorher.

Im Gespräche war eine kleine Unterbrechung eingetreten, denn das abendliche Gebetläuten scholl von der Kirche durch Sturm und Dunkel herüber, und die ganze Versammlung saß schweigend, mit entblößten Häuptern mit gefalteten Händen leise das Ave sprechend. Nur an einem Seitentische, etwas abgesondert von den Uebrigen saß der Holzgraf, den Hut auf dem Kopfe und mit absichtlicher Theilnahmslosigkeit vor sich hinstarrend.

Das „Gelobt sei Jesus Christus“ des Wirths mit dem üblichen „Guten Abend, meine Herren“ unterbrach die feierliche Pause und das Gespräch nahm wieder seinen vorigen traulichen Gang. Von dem abweichenden Benehmen Korby’s nahm Niemand Notiz, obwohl hie und da Einer dem Andern bezeichnend zunickte oder mit den Augen winkte.

„Ja, das muß wahr sein,“ sagte der Förster, ein rothes Gesicht mit ein Paar falkenschnellen Augen, indem er mit dem Halbeglas an das des Wachtmeisters anstieß, „die Reime versteh’n Sie zu drechseln, trotz Pater Ottmar in der Passion! Die Grabschrift auf den alten Ettaler Klosterrichter ist ein wahres Meisterstück, und wenn ich vor Ihnen abfahre, werd’ ich mir die Grabschrift auch bei Ihnen bestellen. Sollte mich wundern. wenn Sie nicht für sich selbst auch schon eine ausstudirt hätten.“

„Das hab’ ich gerade nicht,“ erwiderte der Wachtmeister, „wenn mir auch hie und da schon der Gedanke gekommen ist. Was braucht’s bei einem invaliden Soldaten viel Ausstudiren? [467] Für mich kann man die Grabschrift aus dem Stegreif fertig machen!“

„Ah, darauf wären wir doch neugierig!“ rief der Förster mit mehrern Andern. „Wie hieße dann die Grabschrift?“

„Sie heißt:

Der Mann, den hier die Erde deckt,
Ward oft zum Kampf und Streit der Waffen
Von Kriegstrompeten aufgeweckt;
Jetzt läßt der Tod ihn ruhig schlafen,
Bis zum Appell aus dieser Gruft
Ihn wieder die Posaune ruft –
O himmlischer Feldherr, reihe dann
Ihn Deinem rechten Flügel an!“ –

Alle Anwesenden brachen in Ausrufungen der Verwunderung und des Beifalls aus, nur der Holzgraf stieß das Glas, aus dem er eben getrunken, stark auf den Tisch und lachte höhnisch.

Augenblicklich war es still im Zimmer; Alles blickte betreten nach dem Eindringling, und der Wachtmeister, dem das Blut zu Kopfe stieg, sah scharf nach ihm hin. „Habt Ihr etwas einzuwenden gegen die Grabschrift?“ rief er ihm zu.

„Gar nichts für meinen Theil,“ erwiderte der Bauer, „ich muß nur lachen, daß man sich um so was auch kümmern kann!“

„Was liegt d’ran, was sie mir oben auf die Tafel schreiben, wenn ich d’runter doch verfaulen muß!“

„Das ist, wie man’s nimmt,“ war die Antwort, „die eigentliche Grabschrift macht sich freilich ein Jedes selbst … und für alle Fälle möchte ich die Eurige nicht zu machen haben …“

„Und warum etwa?“ fragte der Bauer lauernd und tückisch. offenbar begierig, ein Häkchen zu finden, um einen Wortwechsel daran zu hängen und seinem Grolle Luft zu machen. Beides wäre auch sicher nicht ausgeblieben, denn der Invalide hatte bereits eine bittere Antwort auf der Zunge. Seit dem Vorgange, dessen Zeuge er gewesen, hatte er eine unüberwindliche Abneigung gegen den wilden und ungefügen Menschen gefaßt.

Gerade im rechten Augenblick unterbrach Pochen an der Thüre die unangenehme Spannung, und ein Mann in tyrolischer Kleidung trat ein, die hochbeladene Kraxe auf dem Rücken, und bot in etwas fremd klingender Mundart seine Waare zum Kaufe au. Das Unwetter hatte ihn früh zur Herberge getrieben: es litt ihn nicht, so müßig zu liegen, und so kam er aus der untern Zechstube herauf, bei den Herren sein Glück zu versuchen. Die Waare bestand in einer Menge zierlich geschnitzter Spielsachen, krauswolliger Pudel und Lämmer, schlanker, rothwangiger Puppen und Hanswürsten mit curiosen Bärten und scheckigem Gewand: auch an Gemsjägern und Sennerinnen, an Engeln und Heiligen war kein Mangel, sämmtlich sehr fein gearbeitet und doppelt sauber anzusehen durch die angenehme weißgelbliche Farbe des geschmeidigen Holzes der Zirbelkiefer, aus dem sie geschnitzt waren.

Der Händler stellte seine Kostbarkeiten auf einem der Tische zur Schau, und die Anwesenden drängten sich hinzu und lobten die feine Arbeit und die Zierlichkeit der Zeichnung. „Aber, guter Freund,“ sagte der Eine derselben, selbst ein wackerer Bildschnitzer. „das heißt doch Wasser in den Fluß tragen, daß Du mit Deinen Schnitzereien nach Ammergau kommst, wo wir selber so viel von solchen Dingen zusammenschnitzeln, daß wir die halbe Welt versorgen könnten damit! Nach Deiner Sprache scheinst Du ein Grödner zu sein?“

„Ja,“ erwiderte der Tyroler mit starker welscher Betonung, „ich bin aus Urteschei im Val Gherdeina.“

„Nun ja,“ sagte der Andere, „das heißt in gutem Deutsch: Sanct Ulrich im Grödnerthal. Es heißt, daß Ihr vor hundert Jahren die Schnitzerei von uns gelernt habt – Du willst uns wohl zeigen, daß uns die Schüler keine Unehre machen ...?“

Der Grödner konnte nicht antworten, denn er mußte Mehrern Bescheid geben, welche nach dem Preise des einen oder andern Stückes fragten, die laute Stimme des Holzgrafen übertönte das Gespräch „Was kostet Dein ganzer Kram, Tyroler?“ fragte er rasch. Verwundert sah ihn dieser an und als er in der Miene des Fragenden die Bestätigung seiner Rede las, nannte er eine nicht unbedeutende Summ.

Korby griff in die Tasche und warf klirrend eine Hand voll Thaler auf den Tisch.

„Mein ist der Bettel.“ rief er lachend, während der Verkäufer, seelenvergnügt über das unvermuthet rasche und günstige Geschäft sich daran machte, das Geld zu zählen und einzustreichen.

„Aber,“ fragte er mit einem Male innehaltend. „was willst Du mit all den feinen Sachen anfangen? Du siehst mir nit aus, als wenn Du auch ein Schnitzer oder ein Händler wärst.“

„Was ich damit anfangen will?“ entgegnete der Holzgraf wild. „Das geht Dich nichts an. Tyroler! Ich zahle Dir den ganzen Kram, und wenn ich auch nichts weiter wollte, als meinen Zorn darüber auslassen, daß es Leut’ giebt, die nichts Besseres wissen, als ihre Zeit mit solchen Spielereien zu verderben!“

Damit ergriff er einige der Figürchen und drückte sie in seiner plumpen Hand, daß sie in Stücke brachen.

Ein lautes Murren des Unwillens flog durch die Versammlung; der Grödner aber hatte im Augenblick Alle weggedrängt und stand abwehrend und schützend zwischen seinen Schnitzereien und dem sie bedrohenden Bauer. „Ho,“ rief er zornig, „so ist es nit gemeint, übermüthiger Bauer, daß ich Dir meine lieben Figuren verkaufen soll, daß Du sie zerbrichst! Ich hab’ sie geschnitzt, daß ein gutes Gemüth sich daran ergötzen und erbauen soll, und nicht zum Spott für Dich! Da hast Du Dein Geld wieder – um solchen Preis sind mir meine Figuren nicht feil!“

Hingeschleudert rollten die Thaler über den Tisch; der Holzgraf wollte über die Schnitzereien hin und behauptete, sie seien sein und Niemand habe ihm vorzuschreiben, was er damit thun dürfe.

Abwehrend stellte sich jetzt der Wachtmeister neben den Grödner. „Haltet Ruh’, Durnerbauer.“ sagte er finster zu dem Lärmenden. „Nehmt Euer Geld, und der Händler nimmt seine Schnitzereien wieder – merkt es Euch einmal, daß es gar Manches auf der Welt giebt, was man um Geld nicht haben kann! – Was haben Euch die schönen unschuldigen Schnitzereien gethan? – Der Grödner da ist nickt der Schnitzer Domini, auf den Ihr’s doch abgesehen habt, – und wenn er’s wäre und Ihr all’ diese Sachen zerbrecht, könnt Ihr’s doch nicht ändern, daß er Euer Schwiegersohn ist!“

„Der Teufel ist mein Schwiegersohn!“ rief der Bauer wüthend. „Ja, wenn’s auf's Wollen ankäme – aber da haben andere Leute auch ein Wörtl darein zu reden ...“

„Wie? So wüßtet Ihr nicht ...?*

„Was?“ fragte der Korby, dessen Augen sich im Zorn verdunkelten. „Was weiß ich nicht?“

„Was sonst, als daß der Domini nach Petersburg gegangen ist? Daß ihn sein Vetter dort mit offenen Armen aufgenommen und ihm eine prächtige Stellung gegeben hat ? Daß er in München war und die Vesi abgeholt und mit sich genommen hat als seine Frau?“

„… Und das wär’ wahr?“ stammelte der Bauer.

„Wahr.“ entgegnete der Wachtmeister. „ich weiß es vom alten Zehentbauer, der in München war und selber gesehen hat, wie sie getraut worden sind am Antonius-Altar in Sanct Peter.“

Der Holzgraf wurde wechselnd roth und blaß; er vermochte einige Secunden lang nicht zu sprechen. „Niedergütler,“ rief er dann einen seitwärts sitzenden Bauer an, der etwas stark getrunken zu haben schien und mit gläsernen Augen vor sich hinstarrte. „Du hast den Durnerhof kaufen wollen? Was willst Du geben dafür?“

„Ich steh’ mein Wort nicht um,“ lallte der Angereredete, „die Dreißigtausend, wenn Du willst ...“

„Eingeschlagen! In acht Tagen zahlst Du mir das Geld auf den Tisch mir kannst aufzieh’n!“

„Morgen, wenn Du willst!“

„Aber den alten Thurm nehm ich aus und den Steinbruch dazu! Ich zieh’ in die Stadt – aber ich will meine Sommerwohnung auf dem Lande haben, wie die anderen Herren aus der Stadt …“

„Auf die Baracke und den Steinhaufen soll’s mir nit ankommen!“

Beide gaben sich den Handschlag. Der Holzgraf stülpte den Hut auf den Kopf und stürmte aus der Stube.

– – – Jahre gingen vorüber: der Holzgraf war wirklich in die Hauptstadt übergesiedelt und kam nicht wieder. So war es nicht zu verwundern, wenn er vergessen wurde und zuletzt in der Erinnerung des Volks vollständig verlosch. Gab es doch genug der Dinge, welche Kopf und Herz in Anspruch nahmen und vollauf [468] beschäftigten. Die Ereignisse gingen ihren gewaltigsten Gang: vom Einmarsch in Rußland bis zum Rückzug aus dem brennenden Moskau und über die eisige Beresina, von der Erhebung Deutschlands bis zur Leipziger Schlacht, zum Eindringen der Alliirten in Paris und zum endlichen Sturze der Fremdenherrschaft. Auch Ammergau hatte sein reichliches Contingent zu den russischen Opfern gestellt, und als die Volksbewaffnung begann, stand Alles in Waffen, in die Nationalgarden- und Gebirgsschützen-Compagnien eingetheilt, welche mit dem Wachtmeister Luipold ein paar andere Veteranen aus dein Preußenkriege bildeten und commandirten, der riesige Florlmartl als Hauptmann und als sein Oberlieutenant der gewandte Franzist.

Auch von Vesi halte nichts mehr verlautet: von Domini war nicht einmal an seine nächsten Befreundeten eine Nachricht gekommen.

So war es Friede geworden in der Welt, und allerorten tauchten mit seinen Segnungen auch die Freuden und Beschäftigungen des Friedens wieder empor. Darum dachten auch die Oberammergauer wieder daran, ihr Passionsspiel aufzuführen, als ein Friedensfest, wenn auch die Zeit, in welcher sonst die Wiederholung zu erfolgen pflegte, noch lange nicht vorüber war.

Wie vier Jahre vorher geschehen war, ging es auch in den Pfingstwochen von 1815 gar lebhaft und geräuschvoll zu neben der Kirche von Oberammergau, denn auf dem Gottesacker wurde wieder die Bühne zur Passion gezimmert, gemalt und aufgeschlagen. Die Arbeiter waren wieder lustig und guter Dinge und sangen wie damals.

Niemand beachtete einen großen Mann in halb städtischer Kleidung, der an dem Bau und an den Werkleuten vorüberschritt und ebenfalls nicht zu bemerken schien, was vorging. Er kam die Dorfgasse herauf und nahm die Richtung den letzten Häusern zu, von welchen die Landstraße nach Ettal führt und dann unterwegs sich abzweigt in's Graswanger Thal.

Es war Korby, der Holzgraf.

Er ging rüstig und hochaufgerichtet daher, wie sonst; aber das Haar war dünn und silberweiß geworden, und die Augen, die sonst so herausfordernd um sich geblickt hatten, hingen starr und finster an der Erde. Wenn er sie zeitweise erhob, um nach einem Fenster zu sehen, hinter welchem ein bekanntes Gesicht hervorsah, blitzte in denselben noch der alte ungebeugte Trotz; um den Mund lag der Hohn sogar in weit stärkern Linien eingegraben aber in den schlaff gewordenen Zügen des Gesichts war doch nicht zu verkennen, daß die Kraft des Körpers dem wilden Gemüthe den Dienst zu versagen begann.

So verändert sein Aussehn war, hatte es doch nicht an Augen gefehlt, die ihn erkannten, und bald ging es wie ein Lauffeuer durch das Dorf, der Holzgraf sei wieder da. Man fragte, erkundigte sich, erzählte und bald wußte Jedermann, daß es mit seinem Reichthume zu Ende war. Er hatte in der Stadt sein verschwenderisches Treiben noch kostspieliger fortgesetzt, zuletzt aber sich in Lieferungs-Geschäfte eingelassen, die mit großen Verlusten für ihn endigten. So hatte er einen letzten unansehnlichen Rest zusammengerafft und war zu nicht geringer Verwunderung des neuen Besitzers auf dem Durnerhofe plötzlich erschienen, um den Thurm zu beziehen, den er sich vorbehalten hatte bei dem Verkaufe.

Bald ließ sich auch seine Anwesenheit in den Wirthshäusern spüren, in denen er früher sein Wesen getrieben hatte und nun wieder begann, als ob gar keine Zeit dazwischen gelegen wäre. Das Geld strömte nur so und lockte bald die alte Schmarotzergesellschaft wieder um ihn zusammen. Wer ihn beobachtete, konnte nicht glauben, daß es mit seinem Reichthume zu Ende sei; man mußte eher vermuthen, er habe einen Schatz gefunden und denselben verdoppelt. Niemand ließ es sich in den Sinn kommen, daß er nichts mehr besaß als einen Sack voll Thaler, in welchen er jeden Morgen mächtig hineingriff, obwohl er schon die Tage zählen konnte, innerhalb deren sein Inhalt verschwunden sein würde.

Das Eine, was er unterließ, war, mit eigenem Gespann zu fahren; er nahm dafür häufig Lohnfuhrwerk und erklärte es damit, daß er in seinem „Geschloß“ keinen Raum habe. Pferd und Wagen nach seinem Sinn unterzubringen, ein „Gefrett“ könne er nicht ausstehn.

Unverändert war er geblieben in seiner Scheu vor Allem, was mit Religion und Kirche zusammenhing, und er ließ keine Gelegenheit unbenützt, seine höhnische Nichtachtung durch Wort und That zu zeigen. Wohl vermochte er nicht mehr den Ton der Orgel oder die Stimme des Predigers durch Peitschenknall und Rädergerassel zu übertönen oder zu stören; aber er fehlte nie an der Kirchenthüre oder bei einem Wallfahrtszuge, um in entgegengesetzter Richtung daran vorüberzuschreiten und den Hut fester in die Stirne zu ziehen.

An einem schönen Maitage Abends kam Pater Ottmar Weiß, der Exbenedictiner von Ettal, das von dort herführende Sträßchen entlang. Am Tage hatte eine der ersten Passionsvorstellungen stattgefunden, denn Pfingsten war damals ungewöhnlich früh gefallen, nur der Pater hatte den Abend benutzt, sich von der Aufregung und Anstrengung des Tages durch einen Ausflug in’s Freie zu erholen, zugleich dem alten lieben Kloster einen Besuch zu machen, in welchem er so manche schöne und ernste Stunde verlebt hatte und das nun mitten in der großartigen Bergeinsamkeit verlassen und trauernd, vergessend und verfallend dalag. Nichts hatte den Schritt des einsamen Besuchers gehemmt als er durch den hallenden Hauptgang über das lückenhafte Pflaster dahinging und in die Zelle trat, welche einst die seinige gewesen war. Sie war leer bis auf einiges alte Ackergeräth, zu dessen Aufbewahrung sie nun diente: ein aufgescheuchter Vogel huschte durch das zerbrochene Fenster hinaus und über der Ecke, in welcher der Arbeitstisch gestanden, hatten Spinnen ihre freien Webstühle reichlich aufgehangen.

Sinnend und erweichten Gemüths stand er davor und trat in dieser Stimmung den Rückweg an. Es war ihm friedlich um das Herz, und diesen Frieden, der strahlend auch außer ihm auf der abendsonnigen Natur lag, gönnte und wünschte er Allem, was ein Menschenherz in der Brust trug. War doch die Zeit nicht arm an neuen Besorgnissen, denn die Flucht Napoleons von Elba hatte die Welt aus dem kurzen Traume der Ruhe emporgeschreckt, und mit Bangen sah man der Entscheidung des neuen Kampfes entgegen. In solchen Gedanken und Empfindungen war der Pater an die Wendung der Straße gekommen, wo hart an derselben rechts eine ungeheuere schroffe Felsenwand emporstarrt, während gegenüber, beinahe nur durch das kleine Flußgebiet der Ammer getrennt, die Kofelspitze in die Höhe ragt, und gegen die Mitte zu der Kirchthurm von Oberammergau zuerst über die Anhöhe herübersieht. In der Felswand befindet sich der Eingang einer mächtigen, tief eindringenden Höhle, jetzt mit einem hochragenden Kreuze geschmückt, damals höchstens als Zuflucht von einem Jäger benützt, dem ein Unwetter oder anfallender Nebel die Gebirgsjagd verleidet haben mochte.

Mit stillem Wohlgefallen ruhte das Auge des Paters auf den Felshöhen, die im Widerschein des Abendroths leuchteten; dann glitt es abwärts zu den Baumniederungen und den Felstrümmern, welche vor Jahrhunderten herabgerollt waren und nun unter moosiger Decke auszuruhen schienen von dem riesigen Sturz.

Mit einem Male stand der Wanderer stille, denn es hatte sich etwas zwischen den Büschen mit Trümmern geregt, und als er schärfer hinblickte, erkannte er die Gestalt eines am Boden hingekauerten Mannes. Er rief ihm zu, herauszukommen, denn der Abend sei da und er könne Schaden nehmen in der Kühle und in der Dämmerung: als keine Antwort erfolgte, stieg er selbst den Abhang hinan, um sich zu überzeugen, wer es sei und ob etwa Hülfe Noth thue.

Nach einigen Schritten wollte er wieder zurück, denn er hatte den Liegenden erkannt und besorgte, seine Theilnahme nicht nur zurückgewiesen, sondern auch verhöhnt zu sehen, schon um des Kleides wegen, das er trug. Augenblicklich jedoch besann er sich eines Andern, denn er hatte ja noch eine Secunde vorher jedem Herzen den Frieden gewünscht und gegönnt, und daß hier der Friede fehlte. hätte auch ein geringerer Menschenkenner durchschaut, als der Pater es war.

(Schluß folgt.)
[469]

Eberhard im Bart.

Ein deutscher Fürst wie er sein soll.
Von Dr. W. Zimmermann.


Herzog Eberhard zerschlägt das Siegel seines tyrannischen Vetters Heinrich.
Originalzeichnung von Camphausen in Düsseldorf.


Gerade einen Monat, nachdem zu Stuttgart der hundertjährige Geburtstag eines Fürsten unter den Dichtern gefeiert worden war, wurde in derselben Stadt der vierhundertjährige Geburtstag eines andern Württembergers gefeiert, der nicht blos ein geborner Fürst war, sondern ein Fürst durch innern Werth mit Thaten unter den geborenen Fürsten. Wenn der Dichterfürst am 10. November geboren war, so war dieser Fürst unter den Regenten am 10. December geboren. Am 10. December 1859 waren es vierhundertvierzehn Jahre, daß Eberhard im Bart, der erste Herzog von Württemberg, geboren wurde.

Es giebt wohl keinen andern Fürsten in der deutschen Geschichte, von welchem so urkundlich und thatsächlich, wie von diesem, nachgewiesen werden kann, daß sein Leben rein, lauter und uneigennützig nächst Gott nur dem Volke angehört hat und der Nation, seinem engern und, noch vor diesem, dem großen deutschen Vaterlande. Wenige Länder in der Welt, geschweige in Deutschland, mag es geben, welche Ursache und Gelegenheit haben, in so kurzer Zeit hintereinander die Geburtstage zweier Landsleute zu feiern, wie Württemberg den Geburtstag seines Eberhard und seines Schiller, welche beide nicht blos große Männer, sondern große Menschen waren.

Eberhard ist der erste deutsche Fürst, welcher die Rechte des Volkes seinen Fürsten gegenüber in schriftliche Urkunden brachte, sie besiegeln und beschwören ließ. Und zwar war dies ganz allein sein eigener Gedanke; er that es nur aus eigenem freien Antrieb, aus vorausschauender und vorsorgender Liebe für Volk und Land. Er ist der Vater der geschriebenen Verfassung Württembergs in ihren Grundlagen und Hauptgewähren; derjenige, der zuerst klar erkannt und es ausgesprochen hat, daß das ungetheilte Wohl von Fürst und Volk dauernde Sicherheit nur habe, wenn es ruhe auf [470] einem in Rechtsform gebrachten, verbrieften und beiderseitig beschworenen Vertrag.

Er nahm das aus der Kenntniß der menschlichen Natur und Seele, seiner eigenen zunächst; denn seine ersten Regierungsjahre waren böse gewesen. Fünf Jahre war er alt, als sein Vater starb, welcher im vierzehnten Jahre selbstständig die Regierung eines Landes angetreten hatte. Dieser frühe Verlust des Vaters hatte für den Sohn eine Erziehung zur Folge, wie sie ein Fürst nicht haben soll. Er hat es später oft gesagt: „Eine schlechte Erziehung von Fürstenkindern ist die Quelle der meisten Uebel für Volk und Fürstenhaus.“ Seine Mutter war eine treffliche Frau, in seltenem Grade gebildet für ihre Zeit. Sie trat aber schon im zweiten Jahre ihres Wittwenstandes außerhalb Württembergs in zweite Ehe mit dem Erzherzog Albrecht von Oesterreich, und Eberhard blieb als Waise in Württemberg zurück. Doch sie wußte ihren Liebling unter einem ausgezeichneten Lehrer. Das war Johann Fergen; er ist bekannt in der Geschichte der Wissenschaft seiner Zeit unter dem deutschen Namen Fergenhans, unter dem griechischen Gelehrtennamen Nauclerus, der vertrauteste Freund und Mitarbeiter Reuchlin’s und der Lehrer Melanchthon’s auf der Universität zu Tübingen. Das war der Ferge, welchem die Mutter die Fähre vertraut hatte, ihren Sohn Eberhard zu führen. Er war weder Mönch noch Priester, dieser helle, freie Geist. Aber aus Haß gegen die Mutter, welche „lateinische“ Briefe schrieb, hatten die Vormundschaftsräthe, welche ritterliche Kriegsleute, aber ohne humane Bildung waren, dem Lehrer befohlen, aus dem jungen Fürsten keinen Lateiner zu machen; es sei genug, wenn er deutsch lesen und schreiben lerne. Ihre Absicht war, ihn unwissend und den Geschäften abhold zu erhalten, damit sie selbst in seinem Namen regieren könnten. Fergenhans wurde strenge von ihnen überwacht: die lateinische Sprache, damals die allgemeine Geschäftssprache, blieb vom Unterrichte ausgeschlossen, und Naucler hatte keinen Raum, als durch die Geschichte, die Länder- und Völkerkunde und durch einzelne Wahrheiten auf den aufgeweckten Kopf und das Gemüth des überaus lebhaften Knaben zu wirken. Nicht viel sitzen über’m Lernen, sondern ritterliche Leibesübungen treiben und der Fürst eines Ritterhofes werden, wie seine Ahnen, die alten Eberharde – das sollte er nach dem Wunsche und der Ansicht der adeligen Vormundschaftsräthe. In seinem vierzehnten Jahre thaten sie, was ihm wohl gefiel; mit Vollendung desselben entfloh er der vormundschaftlichen Gewalt seines Oheims, erklärte sich für volljährig und trat die Selbstregierung des Landes an. Sie hatten die Zustimmung der Städte dazu gewonnen und ihn dazu beredet; sicher, daß er sie regieren und seinen Leidenschaften die Zügel schießen lasse.

Das Letztere geschah. Der vierzehnjährige Landesherr stürzte sich in den Strudel des wildesten Lebens. Er umgab sich mit jungen adeligen Gesellen. Die schöne Zeit verfloß unter allen Arten von Jagdvergnügen, von ritterlichen Uebungen – in diesen that es ihm bald keiner zuvor – unter Spiel und Tanz und frohen Gelagen. Aber im zweiten Stück hatten sich die Räthe verrechnet, der fürstliche Wildfang durchschaute die selbstsüchtige Absicht, in der sie seine Mündigsprechung gefördert hatten; er, der bei seinem Ehrgeiz in Allem der Erste sein wollte, hatte keine Lust, der Spielball seiner alten Räthe zu sein, und die jungen adeligen Genossen seiner Freuden und Ritterspiele waren eben so eifrig, die alten Räthe aus ihren Stellen zu verdrängen und sich selbst in deren Einkommen und Einfluß zu setzen.

Der Knabe im Fürstenhut nahm seine jungen Günstlinge zu seinen Räthen an und schob die alten bei Seite. Bitter getäuscht sahen diese, wie die Verwilderung der gewaltigen Leidenschaften, die sie aus Eigennutz nicht zur rechten Zeit gezügelt hatten, sich gegen sie selbst wandte und nichts mehr nach ihnen fragte. Selbst seinem Lehrer Naucler gab er zu verstehen, daß er für jetzt unpassend sei, er gab ihm eine Pfründe als Kirchherr zu Brackenheim, an der fernsten Landesgrenze, und der ehrwürdige Fergenhans zog sich darauf zurück. Eberhard aber schien die Freiheit, Landesherr zu sein, da nichts Edles mehr Raum am Hofe hatte, nur dazu benützen zu wollen, sich selbst und das Land zu Grunde zu richten, auf die eigene Gesundheit, wie auf den Wohlstand und die Sittlichkeit seines Landes hinein zu stürmen. Nicht blos Tage und Nächte wurden durchschwärmt, sondern mit der wilden Jagd seiner leichtsinnigen Junker warf er sich, wie auf das Wild des Waldes, so auf die Unschuld und die Schönheiten des Landes, das er auf und ab durchzog. Es war nicht ein Leben für die Schönheit, nicht ein Suchen des Lohns nach der Arbeit des Tages im Genuß der Liebe, in der Gunst der Frauen; es war ein wüstes, frevles Treiben, das in Haus und Hütte einfiel mit dem Wollustzahne des Raubthiers. Ja, Tag und Nacht schwelgte er oft mit seinen überlustigen Gesellen – in den Nonnenklöstern. Das wüste Hofleben häufte nicht blos Schulden auf das Land, sondern Steuerbedrückungen widerrechtlicher Art mit seinem Wissen, auf sein Verlangen, und mehr noch ohne sein Wissen, durch seine gewissenlosen Räthe und Diener. Die gewaltsam geknickten Lilien und der unter den ungerechten Steuern zusammengedrückte arme Mann erschienen ihm als in der Erinnerung aus seiner ersten Jugendzeit auftauchende Geister oft später, nachdem er Alles gethan, sie zu sühnen, selbst noch auf dem Todtenbette.

Ist das der Fürst, wie er sein soll? wird man wohl fragen, im Angesicht der Aufschrift dieses Artikels. Das ist der Fürst, wie er nicht sein soll; es ist der Fürst, der vierzehnjährig an die Regierung gesetzt wurde; sein eigenes und seines Landes Unheil. Aber im achtzehnten Jahre trat der Knabe im Fürstenhut, zum Staunen und Schrecken seiner bisherigen Umgebung, zum Staunen und zur Freude des Landes, als Mann hervor, ganz umgewandelt. Attempto! sprach er im Latein der Zeit; “ich wag’s!“ zu deutsch. Das blieb der Wahlspruch seines Lebens; wo man noch heut ein Bild von ihm sieht, ist dieses Wort angebracht. Was war es, was er wagte? – Er war mitten drin in der Freiheit des Regierens und Genießens, als er plötzlich nicht mehr das war, was er bisher war; als er sein „bisheriges Selbst abschaffte“ und seine bisherige Gesellschaft und Ton und Art am Hof und im Land. Die plötzliche Veränderung in ihrer ganzen Größe zeigt sich am klarsten in einer That: in seinem achtzehnten Jahre reformirte der Fürst jene Nonnenklöster, die bisher die Tummelplätze seiner Freuden waren, in Person, unter Drohung, sie zu schließen, wenn sie sich nicht besserten. Er verbot jeden männlichen Zutritt.

Zwischen Stadt Urach und Dettingen im Württemberger Lande, eine kleine halbe Stunde von dem Bergschloß Hohenurach, in einem wilden Felsthal, sieht man heutzutage den Fohlenhof Güterstein. In wasserreichen Monaten springt hoch oben herab von der Mitte der Felsenwand der Brühlbach, ein schöner Wasserfall, gegen hundert Fuß abstürzend und dann über Felsgeröll hinab in vielen kleinen Wasserfällen schäumend und weiterrauschend in’s Thal der Erms. Dort, in einem Halbkreis, umgürtet von gelbrother Felsenwand, lag damals auf einer kleinen Wiesenanhöhe die „Carthause Güterstein“, aus Wilhelm Hauff’s Lichtenstein den Lesern bekannt. Eberhard’s Vater und sein Oheim hatten dieses Carthäuserkloster errichtet. Propst daselbst war Conrad von Münchingen, gewöhnlich „der alte Vater“ genannt, ein Bild von Weisheit und Ehrwürdigkeit.

Dieser ist es, um welchen sich, wie um seinen Angelstern, Eberhard von da an bewegt, wo er ein Anderer zu sein sich entschlossen hat. Dieser war es wohl auch, der im rechten Augenblick die Seele des Jünglings berührte, ihm das Auge über sich selbst öffnete und das weckte, was Gutes in ihm wie im Todesschlafe lag. Der Mutter Mahnung, Naucler’s, des fernen Lehrers, Erinnerung an Hercules am Scheidewege und an die letzten Worte seines sterbenden Vaters mögen zusammengetroffen sein mit dem Zustande des Fürsten, dessen Gesundheit litt unter dem, was er ihr zumuthete. Aber gewiß war es des alten Carthäusers im wohl wahrgenommenen Augenblick mitten auf’s Herz geführter Schlag, unter welchem der alte Mensch, in seiner Wildheit bereits abgeschwächt, sterbend zusammenbrach und der neue Mensch auferstand.

Der Verfall seines Hauses, die böse Wirthschaft, unter welcher das Land litt, und die Gestalten der alten Eberharde, des „Erlauchten“ und des „Greiners“, unter denen Württemberg blühend geworden, standen jetzt vor seinem Auge. Er wollte für das Land werden, was jene ihm einst waren, und mehr als sie. Er entließ zuerst von sich sein Schwelgen und Umherschwärmen; zugleich entließ er die Genossen seines Müßigganges, die Lehrer und Pfleger seiner Ausschweifungen, seine Verführer und unfähigen Räthe; die einen verbannte er, die andern stahlen sich davon. Die Luft des Hofes reinigte sich plötzlich. Der unter lauter unwissenden, rohen und seichten Gesellen gelebt, umgab sich jetzt mit erfahrenen, weisen und ernsten Räthen, lebte nur den Geschäften und dem Entschluß, wieder gut zu machen, was er bisher böse gemacht. In keinen Fürsten hatte die Natur so viel Liebe zur Weisheit und zur Wissenschaft gelegt. Bisher war keine Spur davon an’s Licht getreten. [471] Jetzt, über Nacht, brach sie mit Macht hervor und wuchs zum Erstaunen.

Vier Jahre noch festigte er sich, seine Grundsätze und seine Gesundheit im Heimathlande. Dann führte er einen Vorsatz aus, in das heilige Land zu gehen. Es war in seinem dreiundzwanzigsten Jahre; er konnte dabei die Welt sehen und sich bilden, aber eben so sehr trieb es ihn, den Schauplatz seiner Verirrungen auf einige Zeit zu verlassen, nach dem Glauben des Jahrhunderts Sühne zu holen am Heiligen Grabe, und dann, wenn indeß vollends, weniger durch die Zeit, als durch das Licht seiner in den Augen der Zeitgenossen heiligen Pilgerfahrt, die Erinnerung seines früheren Lebens im Lande sich verwischt hätte, wiederzukehren in neuer Weihe für sein Volk, als ein innerlich und äußerlich Entsühnter. Er ernannte einen Regimentsrath, an die Spitze desselben den berühmten Johanniterritter Georg von Ehingen, der im Morgenlande gegen die Türken gestritten und Frankreich, Spanien, Portugal und Marokko bereist hatte, eben so kenntnißreich als tapfer. Er machte sein Testament und brachte es selbst zur Verwahrung in die Carthause von Güterstein.

Am 10. Mai 1468 empfing er zur Pilgerfahrt die Weihe durch den Abt von Herrenalb, Johann von Udenheim, der aus seinem schönen Schwarzwaldthal herabgekommen war, den jungen Fürsten, den Schirmherrn seines Klosters, zur Fahrt einzusegnen. Knieend vor dem Hochaltar der Carthause zu Güterstein, über dem Grabe seines Vaters und seiner Brüder, leistete Eberhard das Gelübde, umgeben von seinen Freunden, seiner Mutter, ergrauten Dienern seines Hauses und Männern aus dem Volk. Dann nahm er Abschied von ihnen und besonders von dem alten Vater, und ging über die schwäbische Alp in’s Gebirge der Alpen, nach Venedig, von da zu Schiff über die Inseln des Mittelmeers an’s heilige Grab, wo er den Ritterschlag empfing. Er besuchte die heiligen Orte, fuhr zurück über Cypern, Rhodus und Candia nach dem untern Italien. Denn Italien, Rom, Siena, Florenz, Bologna zu sehen, war von vornherein in seinem Plane gewesen. Bereichert mit Anschauungen, kam er über Tyrol wieder in sein Land. Auf der Reise hatte er den Bart wachsen lassen, was bei Fürsten damals nicht mehr Sitte war, und doch behielt er ihn bei sein Lebenlang. Daher sein Beiname „der Bärtige“, am gewöhnlichsten „Eberhard im Bart“. „Ludwig im Bart“ hatte das Volk auch seinen mütterlichen Großvater, den Kurfürsten von der Pfalz, geheißen.

Da war eine Freude durch’s ganze Land, als Eberhard wieder kam. Und auch er freute sich, wieder unter seinem lieben treuen Volke zu sein; die große Welt, die er gesehen, und die fremden Völker und Höfe hatten ihm die Liebe zu seinem Land und Volk nicht gemindert, sondern gemehrt. So ein treuherziges Volk und solche Sitteneinfalt hatte er, wie er sagte, weder im Süden noch im Osten gefunden. Nur Eines vermißte er in seiner Heimath, was er in Italien gesehen, die Blüthe der Kunst und der Wissenschaft.

So wenig groß von Person Eberhard war, so war doch der gedrungene Jüngling von gewaltiger Stärke und ritterlicher Gewandtheit und in der ersten Jugend sehr kriegerisch gesinnt. Ganz anders kam er aus Italien zurück: die Palme des Morgenlandes wählte er zu seinem Symbol; von da an sah man diese neben seinem Wappen gemalt, mit seinem Wahlspruch „Attempto“ umwunden. Er wagte es, von nun an ein Palmbaum zu werden, frucht- und segensreich, friedebringend für sein Volk.

Ehe er bei der Heimkehr seine Mutter, seine Räthe, seine Freunde sah, besuchte er den „alten Vater“ zu Güterstein. Später besuchte er seinen Oheim, den Pfalzgrafen Friedrich zu Heidelberg. Da weilte er länger. Dieser kriegerische Fürst, welcher „der Siegreiche“ heißt, war zugleich von tiefer Einsicht in Staatsgeschäften und bekannt durch seine Liebe zu den Wissenschaften. Da sah Eberhard, wie man einen Staat verwalten mußte, wenn das Land blühen sollte; da sah er die trefflichen Lehranstalten, die segensreiche Universität, die tüchtigsten Männer in den Stellen. Solche wollte er auch für sein Land haben. Der Gedanke, eine Hochschule in seinem Lande zu errichten, hatte ihn nicht mehr verlassen, seit er Bologna, die berühmteste Universität der damaligen Welt, auf seiner italienischen Reise gesehen hatte.

Es fügte sich, daß er eine Gattin fand, welche eine höhere Geistesbildung hatte. Das war Barbara, die Tochter des Markgrafen von Mantua, aus dem Hause Gonzaga. Vom Vater her Italienerin, war sie von der Mutter her eine Deutsche. Sie liebte das Volk so sehr, daß sie bei einer Theuerung, die ihr als sehr schwer für das Landvolk geschildert wurde, zu ihren Begleitern auf der Weinsteige bei Stuttgart sagte: „sie wolle lieber Speck und Erbsen mit den Bauern essen, als daß das Volk hungere.“ Neunundzwanzig Jahre alt war Eberhard, als er sich mit ihr vermählte. Glücklich, wie sie anfing, blieb diese Ehe bis an’s Ende. Sein Gedanke, eine Universität in seinem Lande zu gründen, konnte an dieser Frau nur einen Geist finden, der ihn darin bestärkte und förderte. Ebenso dachte und sprach seine Mutter Mechthilde. Nicht überall hatte er, seitdem er mit diesem Gedanken umging, Aufmunterung gefunden. Einst, noch in Welschland, hatte er mit einem Herrn darüber gesprochen, und dieser ihn angeschaut und gefragt, was er denn für ein Land und Gebiet habe, daß er es so herrlich mit einer Universität zu zieren würdig achte. „Ich habe zwar,“ antwortete Eberhard, „ein Land, das nicht das allerköstlichste, ja wohl ziemlich gering ist: aber dennoch weiß ich mich eines sonderlichen Nutzens und einer köstlichen Frucht von meinem Lande zu rühmen, der Treue und Liebe meines Volkes, eines jeglichen unter meinen Unterthanen.“ – Dieser Liebe und Treue seines Volkes einen dauernden Dank abzutragen, war der eine Beweggrund zu seiner Universität. Ein anderer war, daß er täglich zu erfahren hatte, was ihm damit abging, daß er selbst nicht in Wissenschaften unterrichtet worden war. Oft kam er auf Reichstagen und in fremden Landen unwillig auf seine Vormünder zu sprechen und pflegte zu sagen: „die Wissenschaft, Künste und Sprachen seien Niemand so sehr von Nöthen, als eben einem Fürsten.“ Ein dritter Beweggrund von ihm war, daß er seine Zeit begriff, daß er, wie alle höheren Geister, eine Vorahnung dessen hatte, was das nächste Jahrhundert in seinem Anbruch bringen sollte; er wollte auch das Seine dazu thun, das Geschlecht für die neue Zeit vorzubereiten.

Der Geist, der im Sturm der hussitischen Bewegung durch die Welt gegangen war, war zwar vorübergerauscht, schon fünfzehn Jahre zuvor, ehe Eberhard in der Wiege lag, aber er hatte unauslöschlich tiefe Spuren eingedrückt in viele Stätten und in viele Gemüther. Der „alte Vater“ in der Carthause zu Güterstein war kein Pfaffe, und der schöne helle Glaube, den er in des jungen Eberhard Kopf und Herz pflanzte, empfing sein Licht durch diesen Carthäusermönch. Wie war die Bibel in Deutschland damals selten in lateinischer Sprache, geschweige in deutscher! Aber Eberhard hatte das Glück, das geistvollste Buch des neuen Testaments schon in seiner Jugend deutsch lesen zu können, das Evangelium des Johannes. Das war sein Handbuch. Eberhard hatte aber auch die Geschichte der Hinrichtung der Glaubenszeugen Huß und Hieronymus gelesen. Auch diese hatte er sich eigen in’s Deutsche übersetzen lassen, und er hatte tief bewegt in Constanz am Bodensee die Stätte betreten, auf welcher die Scheiterhaufen einst standen, auf welchen Huß und Hieronymus für die Wahrheit verbrannt wurden. Er fühlte sich dadurch erweckt, den heiligen Kampf gegen Aberglauben und geistlichen Fanatismus, welchen jene begonnen, auf seine Art fortzusetzen. Aus allem dem reifte vollends in ihm der Entschluß, wie er wörtlich in der Urkunde es ausdrückt, „helfen zu graben den Brunnen des Lebens, woraus von allen Enden unsichtbar möchte geschöpft werden tröstliche und heilsame Weisheit zur Erlöschung des Feuers menschlicher Unvernunft und Blindheit, und eine hohe allgemeine Schule aufzurichten.“

In einem Zeitraum von sechzehn Monaten wurde Alles für die neue Hochschule von ihm begonnen und ausgeführt, am Fuße des Sitzes der alten Pfalzgrafen zu Tübingen. Am 3. Juli 1477 lud er auf seine Hochschule das In- und Ausland ein, und am 14. September wimmelte es schon in den Straßen Tübingens von Fremden und Eingebornen aus Schwaben, Franken und der Schweiz. Selbst die hohen Schulen von Paris und Bologna besaßen nicht mehr und nicht höhere Privilegien und Freiheiten, als er seiner Stiftung gab. Am 1. October wurden die Vorlesungen eröffnet. Die ausgezeichnetsten Männer rief er dahin aus dem Ausland. Johann Naucler leitete ihn dabei. Unter den Berufenen war auch der nachher so berühmt gewordene Johann Reuchlin, der große Humanist und Lehrer der Staatswissenschaft. Dieser wurde bald unter Eberhard’s vertrauten Räthen einer der Ersten. Eberhard selbst blieb die Seele seiner Hochschule. Obgleich Stuttgart später die eigentliche Residenz war, so wurde doch Tübingen sein Lieblingsaufenthalt, und man sah ihn häufiger zu Tübingen als in Stuttgart oder Urach.

[472] Eberhard lag daran, das Genie und Talent durch nichts zu hemmen. Er stellte die Lehrer seiner Hochschule in der Besoldung so gut, daß sie unentgeltlich in allen Fächern lehren konnten und mußten. Er wollte, Niemand solle durch Armuth gehindert sein zu studiren; das Talent müsse den Weg zu den höchsten Stellen des Staates aufschließen, nicht Reichthum. Darum setzte er selbst auch für Studirende, die ohne Mittel, aber mit Talent kämen, zahlreiche und ausreichende Stipendien aus, und seinem Vorgange folgten Einzelne und ganze Gemeinden; sie blieben nicht in der Freigebigkeit hinter ihm zurück. Am freigebigsten stiftete seine Mutter, die Erzherzogin Mechthilde, und Fergenhans.

Eberhard erkannte die vielen und feinen Fäden, aus welchen der Geist, der „am sausenden Webstuhl der Zeit saß“, sein Werk wob, die geistige Entwicklung der Menschheit, das freie Denken der Laienwelt. Daran schloß er sein Streben an. Darum stellte er vorzugsweise nur Laien, nicht Geistliche, an seiner Hochschule an. Darum hob er das Volk. Er hatte erkannt, daß der Geist in der Zeit auf das Emporkommen des Bürger- und Bauernstands den Fortschritt der Welt gründen wollte, und die Aufgabe sei, die volle Entwicklung dieser anzubahnen, und damit die wahre Civilisation, die höhere geistige Bildung einzuleiten und allgemein zu machen.

Unter dem Volke Licht und Veredlung zu verbreiten, ließ Eberhard treffliche Schriften aus fremden Sprachen verdeutschen, nicht nur geschichtliche Werke der alten Welt, sondern auch theologische und poetische, medicinische und mathematische. Ebenso ließ er die Sprüche Salomo’s und Sirach’s und noch mehrere Male das Evangelium des Johannes verdeutschen, durch seine Professoren: Summenhart, der aus Paris gekommen, aber ein Württemberger war, durch den Speyrer Gabriel Biel und durch Reuchlin, seinen Geheimschreiber, denn die meisten seiner Professoren waren zugleich auch seine Geheimräthe. Unter den Classikern, die er verdeutschen ließ, waren namentlich die Geschichtswerke der Römer Livius und Sallust, und einige Reden des Demosthenes. Alle diese Schriften ließ er durch den Druck verbreiten. Kaum erst, um das Jahr 1440, hatte Guttenberg die Buchdruckerkunst erfunden, und schon im Jahre 1475 hatte Eberhard eine Buchdruckerei in seinem Lande, zu Blaubeuren, gleich darauf eine zu Urach, unter Conrad Feiner, und eine dritte, im Jahre 1486 zu Stuttgart. In keinem Lande wurde damals so viel gedruckt als in dem kleinen Württemberg. Eberhard hatte sogleich die Bedeutung der Presse erkannt, als das kräftigste Hülfsmittel zu allgemeiner und specieller Verbreitung der Bildung. So wurde er der Begründer der Wissenschaften in seinem Lande und der Aufklärer für das ganze südliche Deutschland, der Bildner seines Volkes und der Erste, welcher kirchliche Reformen vornahm.

Er war ein geschworner Feind der „faulen“ Mönche, und sah mit großem Mißfallen ihre Menge und ihre Ausartung. Er griff auch in die Mönchsklöster auf eigne Faust als Reformator ein. Um mit dem Papste sich zu verständigen und dessen Genehmigung für beabsichtigte größere Reformen zu gewinnen, reiste er persönlich nach Rom, vierzehn Jahre, nachdem er es auf seiner Rückkehr aus dem Morgenlande zum ersten Male besucht hatte. In seinem Gefolge war namentlich Reuchlin. Papst Sixtus IV. empfing diesen kleinen Fürsten aus Deutschland, der nichts war als der Graf von Württemberg, mit einer Auszeichnung, wie er sie großen Monarchen Europa’s nicht gewährte. Es war damals noch nicht sowohl der Ruf von dem vielgeltenden Einfluß am Kaiserhof, bei Fürsten und Städten der deutschen Lande, was ihn dazu bestimmte – denn dieser bildete sich erst nachher zu solcher Höhe: es war die geistesmächtige und charaktervolle Persönlichkeit, die dem Papste die hohe Achtung abzwang, und die Einsicht, daß so ein Mann geschont werden müsse, um ihn nicht der Kirche gefährlich werden zu lassen.

Es war dem Papste Allerlei über Volk und Land Württemberg hinterbracht worden, unter Anderem, was das für ein „gewaltthätiges“ Volk sei. Es hatte nämlich der römische Hof öfters auch in den württembergischen Landen Eingriffe in die geistlichen Lehen zu thun versucht, wie überall. Durch Briefe und Bullen hatte man in Rom sich herausgenommen, hin und her Kirchen zu vergeben an solche, welche sich die Stellen mit Geld erkauft hatten. Die Unterthanen von Württemberg und der dazu gehörigen Grafschaft Mömpelgard hatten aber auch ihrerseits sich heraus genommen, die Rechte ihrer Herren zu handhaben, und wenn sich einer anmeldete, mittelst solcher römischen Bullen Besitz von den Kirchen zu nehmen, so kam er bös weg. Sie haben ihn, so war dem Papst Sixtus hinterbracht worden, auf das höchste Dach der Kirche gesetzt; von Hunger abgemattet, sei er endlich heruntergefallen. Sei einer nicht zu Tode gefallen, so sei er ertränkt worden oder habe er die Pergamentbulle auffressen müssen. – Der Papst fragte nun den Grafen Eberhard in der Audienz darüber. „So lang ich Herr im Lande bin,“ antwortete Eberhard, „hat noch Niemand vom römischen Hofe sich unterstanden, mir einigen Eintrag zu thun. Aber ich wünsche auch nicht, daß man es wage, sonst würde ich solches Unternehmen gleichmäßig bestrafen; und wenn ich es nicht bestrafte, so dürften meine Unterthanen die Meinung von mir fassen, daß ich ein Bastard und ganz aus meiner Ahnen Art geschlagen sei. Diese haben das Recht der Vergebung geistlicher Lehen mit Vergießung ihres Bluts im heiligen Lande erworben, und alle meine Vorfahren haben dieses Recht standhaft behauptet. Ich werde davon nicht abweichen.“ – Verwundert über die muthige Sprache und die Festigkeit dieses Grafen aus dem Lande der Schwaben sagte Papst Sixtus zu ihm, „er thue sehr wohl daran,“ verehrte ihm die goldene Rose, welche an diesem Tage, dem Sonntag Lätare, die Päpste seit alter Zeit zum Geschenk für irgend einen Fürsten der Christenheit zu weihen gewohnt waren, und stimmte den Verbesserungen zu, welche der Graf in Kirchensachen seines Landes zu machen gedachte.

Die Unterredungen mit diesem Schwaben hatten dem hochgebildeten, aber ganz verweltlichten Italiener auf dem Stuhle Petri Bewunderung eingeflößt. Zwei Cardinäle wurden vom Papste zu seinem Ehrengeleit befehligt. Aber auf dem Wege zur Peterskirche wurde einer derselben an der Seite Eberhard’s – von einem Banditen erstochen. Diese Ordnung in der Hauptstadt der Christenheit, solche Frucht päpstlicher Volks- und Christenerziehung gefiel dem Grafen schlecht.

Er hatte zu viel in Rom gesehen, um nicht aus dieser Stadt und ihrem Blutgeruch wegzueilen zum Besuch dessen, welchen Papst Sixtus auf den Tod haßte, zu Lorenzo von Medici, welcher sein Florenz zu einem Sitz der Wissenschaften und Künste gemacht hatte, wie sonst keiner damals in der Welt war. Viel von dem, was er in diesem Wissenschafts- und Kunststaat zu Florenz gesehen, begleitete ihn als unvergeßliche Erinnerung in sein Land zurück; noch näher und öfter verkehrte er seitdem mit den Lehrern seiner hohen Schule; und hatte er bisher schon die Gewohnheit, wo er etwas Wichtiges und Unbekanntes vernahm, solches in seiner Schreibtafel zu verzeichnen, so nahm er jetzt seine Schreibtafel noch mehr zur Hand, hörte mit offeneren Sinnen den Unterredungen der wissenschaftlichen Männer zu, fragte und ließ sich belehren. Denn in ihm widersprach Alles einem blinden Annehmen und Glauben; er wollte in Allem Ueberzeugung, für sich und für Andere. Dieser Graf im Bart war einer der Geister, welche der Reformation und der neuen Zeit voranschritten, einer, in welchem der protestirende Verstand bei tief inniger Religiosität mächtig war, lange seiner Zeit voraus, und in welchem Gedanken zur Klarheit kamen und durch ihn in’s Leben heraustraten, an deren Verwirklichung in der Welt die kommenden Jahrhunderte arbeiteten und zum Theil noch heute arbeiten in schwerem Kampfe.

„Keinen heißeren Wunsch,“ sagt sein Vertrauter Summenhard in seiner Gedächtnißrede auf den Grafen, „hatte Eberhard, als daß er noch eine allgemeine Kirchenversammlung, eine Reformation in Haupt und Gliedern erleben möchte.“ Vorerst that er das Seine im kleinen Kreise, und zwar darin Alles, was er konnte, damit der Geist frei werde und die Bildung allgemein, damit es licht werde in der Werkstatt und im Hause des Landmanns. Im deutschen Bürger und Bauer und in Regierungen, welche auf diese sich stützen, sah er Deutschlands Zukunft. Die Formen des Bisherigen in Kirche und Staat erschienen ihm veraltet, ausgenützt, überlebt. Das Volk sollte in den Vordergrund treten, Möncherei und Ritterthum, geistliches und weltliches Mittelalter sah er dem frischaufblühenden Volksleben und seiner zukunftreichen Kraft gegenüber als etwas Unhaltbares und Abgestandenes an. Aus seinem deutschen Bibelwort hatte er, wie er sagte, sich herausgelesen, daß „Menschen aus allen Ständen, Geistliche, Edle und Bürger, in Gemeinschaft leben und sich Alle als gleich betrachten sollten.“

(Schluß folgt!)

[473]

Wiener Hofleben zur Zeit Maria Theresia’s.

Von Johannes Scherr.

Man ist mit Ertheilung des Eigenschaftswortes „groß“ heutzutage viel weniger freigebig als früher, und seitdem nicht mehr phantastische Ueberschwänglichkeit und gelehrter Servilismus, sondern nüchterne Kritik und patriotischer Sinn die Wage der Geschichtschreibung halten, dürften gar viele „Größen“ von ehemals zu leicht befunden werden. Es überkommt uns ein Gefühl der Scham, wenn wir sehen, daß vordem Fürsten, wie August der Starke von Sachsen, als „Große“ angeschmeichelt wurden, Fürsten, die meist nur im Laster groß gewesen sind. Die Anschauungen der Epoche des brutalen wie des aufgeklärten Despotismus, daß das Sittengesetz nur für den „gemeinen Haufen“, nicht aber für die Fürsten und Vornehmen verbindlich sei, ist in verdiente Verachtung gefallen, und wir bekennen uns zu der Ansicht, daß nur der gute Mensch ein wahrhaft großer sein könne.

Ist man, in Anwendung des Gesagten auf Maria Theresia, berechtigt, noch ferner von ihr als der „großen Kaiserin“ zu sprechen? ..... Ich glaube diese Frage aus vollem Herzen bejahen zu müssen. Sie war vielleicht die schönste Frau ihres Jahrhunderts, und jedenfalls war sie eine der bedeutendsten und edelsten desselben. Es wollte fürwahr in jener Zeit kolossaler Sittenverderbniß schon Etwas sagen, wenn eine unbeschränkte Herrscherin, deren Temperament noch dazu ein sehr feuriges war, von Freund und Feind als makellos nicht nur, sondern als das Muster einer Gattin, Hausfrau und Mutter anerkannt wurde. Sie war Despotin, ja; aber sie hat es mit dem „patriarchalischen“ Despotismus wenigstens ernst und redlich genommen und die Pflichten desselben gewissenhaft erfüllt. Sie hat für Oesterreich Vieles, ja in Betracht der Umstände sogar Großes gethan. Sie war es, welche den Staat aus seiner bodenlosen mittelalterlichen Versumpfung herauszureißen begann, und der Grad, in welchem sie die Bedürfnisse der Zeit erkannte, muß als ein um so höherer geschätzt werden, wenn man bedenkt, daß Maria Theresia am Hofe Karl’s VI. aufgewachsen ist, an einem Hofe, wo hispanische Bornirtheit, hispanischer Hochmuth und hispanische Bigoterie noch einmal in vollster Glorie sich breit machte. Und Maria Theresia hatte nicht nur den eigenen, sondern auch fremden Völkern gegenüber das Bewußtsein der Pflicht und des Rechts. Was auch ihre Fehler als Herrscherin sein mochten – und sie hatte deren genug – Etwas besaß sie, was der verworfenen Cabinetspolitik des 18. Jahrhunderts ganz abhanden gekommen war: ein Gewissen. Als Friedrich der Große – allerdings nur, um Katharina der „Großen“ zuvor- oder vielmehr halbwegs entgegenzukommen – das ausgesonnen hatte, was ein ungeheures Verbrechen und noch dazu ein ungeheurer politischer Fehler war, die Theilung Polens, da regte sich nur in Maria Theresia ein sittliches Bedenken, über welches Friedrich und Katharina als über eine Kinderei weit hinweg waren. Ihr berühmtes Handbillet an Kaunitz in dieser Sache ist meines Erachtens das schönste Document für Maria Theresia’s Ruhm. Sie fühlte tief und sprach es lebhaft aus, daß „in dieser Sach nit allein das offenbare Recht himmelschreiet wider uns, sondern auch die gesunde Vernunft wider uns ist,“ und man darf ihr glauben, daß sie „die Sachen nit ohne größten Gram ihren Weg gehen ließ,“ nur „weil sie allein war und nit mehr en vigueur.“ In der Vollkraft ihrer Jahre und Energie hätte die Kaiserin sicherlich in die Theilung von Polen nicht gewilligt.

Das Gefühl unumschränkter Machtvollkommenheit war in der letzten Habsburgerin gewiß so stark wie in irgendeinem ihrer Vorfahren. Aber es gesellte sich mildernd und sänftigend dazu ein Zug schöner Menschlichkeit und edelster Weiblichkeit. Ihrem Gemahl, dem flatterhaften Franz von Lothringen, mit zärtlicher, ja leidenschaftlicher Neigung zugethan, wußte sie ihm dennoch seine kleinern und größern Treulosigkeiten zu verzeihen. Noch mehr, sie vermochte es auch über sich, ihren Nebenbuhlerinnen zu verzeihen. Es ist ein Beweis von erstaunender Seelengröße, daß die Kaiserin, vom Sterbebette ihres hochgeliebten Gemahls kommend, es über sich vermochte, der letzten Favoritin des Kaisers, der verlassen und mißachtet in einer Ecke stehenden und bitterlich weinenden Fürstin Auersperg-Neipperg, tröstend zu sagen: „Meine liebe Fürstin, wir haben wahrlich viel verloren!“ Heutzutage zucken wir über die sogenannte „Landesväterlichleit“ die Achseln und zwar mit Recht; wir wissen ja, was dahinter ist. Im Sinne Maria Theresia’s aber war die Landesmütterlichkeit eine Wahrheit. Sie betrachtete sich in der That als die Landesmutter Oesterreichs, ihre Völker als eine Art erweiterter Familie, und sie hat diese Anschauungsweise nicht selten in herzgewinnend-naiver Form ausgeprägt. So, wenn die Kaiserin, nachdem sie die Nachricht erhalten, daß ihrem Sohne Leopold in Florenz sein erster Sohn geboren worden, im Nachtkleid in’s Burgtheater läuft, um in ihrer großmütterlichen Freude aus ihrer Loge dem Publicum zuzurufen: „der Pold’l hat ’n Bub’n!“ ein Zug, dessen Echtheit bezweifelt worden, den aber ein neuerdings von Karajan aufgefundener Brief Metastasio’s an seinen Freund Azzoni in Siena (vom Febr. 1768) als historisch bestätigt hat.

Der Wiener Hof war unter Karl VI. bei aller Verschwendung – die einmalige Ausführung einer Oper kostete nicht selten 60,000 Gulden – eine Stätte spanischer Grandezza, Etikette und Langweile gewesen. In der damals vollständigen Entnationalisirung der habsburgischen Familie änderte der Regierungsantritt Maria Theresia’s wenig oder nichts. Erst mit und durch Joseph II. wurde das deutsche Element in der Wiener Hofburg wieder bedeutender. In die hispanische Atmosphäre derselben hatte Franz von Lothringen eine gute Dosis französischer Beweglichkeit gebracht und auch, soweit sein Einfluß reichte, ein Stück französischer Frivolität. Unter Maria Theresia war die italienische Sprache die in der kaiserlichen Familie bevorzugte und demnach Hofsprache. Der süße Metastasio, von dem man mit Anwendung eines Grabbe’schen Grobianismus zu sagen versucht ist, er stinke vor Süßigkeit, war Hofpoet und galt für das Non plus ultra eines Dichters. Von dem Aufschwunge deutscher Literatur nahm man in den vornehmen Kreisen keine Notiz. Die Erziehung innerhalb derselben war überhaupt eine sehr unzulängliche, die Bildung eine sehr dürftige. Mit der Sittlichkeit war es in diesen Kreisen auch nicht eben vortrefflich bestellt. Weder das Beispiel der Kaiserin noch ihre „Keuschheitscommissionen“ brachten mehr zuwege, als daß, wie ein englischer Tourist von damals sich ausdrückte, in Wien die Galanterien unter einem mysteriöseren Schleier sich bargen, als dies gleichzeitig anderwärts der Fall war. Die Hofhaltung gestaltete sich, nachdem nur erst die herben Prüfungen des Erbfolgekriegs überstanden waren, sehr glänzend und geräuschvoll. Kaiser Franz liebte das Vergnügen, und Maria Theresia ließ ihrem Gemahl hierin um so mehr freien Willen, da sie selber, zumal in jüngeren Jahren, einer heitern, glanzvollen, an buntwechselnden Zerstreuungen reichen Lebensführung zugeneigt war. Die Einrichtung des Hofstaats war reich und prächtig. Im kaiserlichen Speisesaal funkelte bei festlichen Gelegenheiten ein goldenes Tafelservice im Werthe von 1,300,000 Gulden. In den Hofställen standen 2200 Pferde. Zu den Banketten, Caroussels, Opern und Bällen in der Burg, in den kaiserlichen Lustschlössern und Gärten wurden oft 2000 Gäste geladen. Der ganze Hofhalt kostete jährlich an 6 Millionen Gulden, eine Summe, die uns heutzutage nicht sehr groß vorkommt, welche aber für eine Zeit, wo der Millionenschwindel noch nicht erfunden war, bedeutend genug war. Friedrich der Große verbrauchte für seinen Junggesellenhofhalt in Potsdam und Sanssouci bekanntlich jährlich nicht mehr als 220,000 Thaler. Freilich mußte er sich bei solcher Sparsamkeit und seiner ganzen Art zu leben gefallen lassen, daß er in seiner eigenen Familie nicht anders als der „alte Sauertopf“ hieß und daß Besucher seines Hofes fanden, die Anwesenheit des Königs „verscheuche jedes Gefühl des Behagens und der Freude“.

Seine Glanzperiode erlebte der Wiener Hof unter Maria Theresia in der Friedenszeit zwischen dem zweiten schlesischen und dem siebenjährigen Kriege (1745–56). Versuchen wir es in möglichster Kürze, durch Hervorhebung einzelner Züge den Charakter dieses Hoflebens zu veranschaulichen. An authentischem Material hierzu fehlt es nicht, insbesondere seitdem A. Wolf die Memoiren des Fürsten Joseph von Khevenhüller, Oberstkämmerers Kaiser Franz I., auszüglich veröffentlicht hat.

Maria Theresia war eine devote Katholikin, und die Art und Weise, wie der Hauptrepräsentant des Protestantismus im Reiche, Friedrich von Preußen, gegen sie verfahren war, konnte sie unmöglich dem Lutherthum geneigt machen. Man weiß, welche Mühe [474] es kostete, ihr die Einwilligung in die Aufhebung des Jesuitenordens zu entreißen. Sie nahm es mit den Vorschriften und Bräuchen ihres Glaubens sehr genau, hielt gewissenhaft die Fasttage, hörte häufig zwei Messen täglich, jedenfalls aber eine, und ging in den Buß- und Bittprocessionen mit, welche in Zeiten der Noth und Gefahr vom St. Stephan aus durch die Stadt sich wanden und oft wochenlang fortgesetzt wurden. Zur Osterzeit besuchte sie mit ihrer ganzen Familie und mit dem ganzen Hofe die sogenannten heiligen Gräber in sämmtlichen Kirchen, wo ein solches hergerichtet war. Man mußte also am Wiener Hofe fromm sein oder wenigstens so thun, als wäre man es. Für die Kaiserin war es eine besondere Herzensfreude, der Einkleidung von Nonnen anzuwohnen. Ward eine Dame aus den höfischen Kreisen Nonne, so legte Maria Theresia bei der Einkleidungsceremonie selber mit Hand an. So half sie z. B. im Jahre 1753, als die schöne siebzehnjährige Elisabeth von Lamberg, Tochter des gleichnamigen Fürsten, den Schleier nahm, die „geistliche Braut“ mit ankleiden. Es gehörte überhaupt zur Politik der Kaiserin, die vornehmen Familien Oesterreichs als zu ihrer Familie gehörig zu betrachten. Sie trug Sorge, die Aristokratie nach Wien zu ziehen, und hat dann in allerdings gewinnendster Weise an den persönlichen Freuden und Leiden dieser Leute theilgenommen, nicht allein aus Politik, sondern auch in Folge eines löblichen Antriebs ihrer Gutherzigkeit, ihrer fraulichen Hülfsbereitschaft. Mitunter freilich wurde diese wohlwollende Betheiligung zur lästigen Bemutterung, als welche sie sich hauptsächlich in der Form jener Verheirathungsmanie äußerte, um deren willen die Kaiserin berufen gewesen ist.

Der von lange her datirenden Verausländerung der Habsburgischen Dynastie zum Trotz und zum Trotz auch der welschen Erziehung, welche sie selber erhalten, war und blieb in Maria Theresia die deutsche Familienhaftigkeit der stärkste Charakterzug. Das bewährte sich, wie nach auswärts, so auch und noch entschiedener im Kreise der eigenen Familie. Die Kaiserin setzte ihren Stolz darein, eine rechte Hausmutter zu sein, und es war ihr dabei keineswegs um den bloßen Schein zu thun. Selten hat eine Frau ihre Mutterpflichten treuer erfüllt als sie, und es muß ihr nachgerühmt werden, daß sie ihre Kinder mit bürgerlicher Strenge erzog. Wenn die meisten derselben dieser Erziehung nicht eben Ehre machten, so war das wahrlich nicht die Schuld der Mutter, welche wohl verdient hätte, bessere Töchter als Karoline von Neapel und klügere als Maria Antoinette zu haben[1] …. Die Kaiserin gebar sechszehn Kinder. Die Taufacte derselben wurden stets zu Festen für Hof und Stadt. Die glänzendsten Festtage jedoch waren der Namenstag des Kaisers und der auf den 15. October fallende Theresientag. Da war die Hofburg oder das Lustschloß Schönbrunn von einem farbenschimmernden Gedränge erfüllt. Militärischer Pomp und höfischer Prunk im vollsten Glanze. Umständlichst feierliche Auffahrt der Großwürdenträger und der fremden Gesandten. Der Audienzsaal voll rother und blauer Bänder und goldener Vließe, voll Damenschönheit und Juwelengefunkel. Die ungarischen Magnaten, welche Herren Maria Theresia sehr unterwürfig zu erhalten wußte, in der ganzen Pracht ihres malerischen Costüms. Kaiser und Kaiserin erschienen in der spanischen Hoftracht, welche für Wien noch immer die officielle war. Große und gewiß gehörig langweilige Ceremonie des Handkusses. Abends dann Ball und prächtiges Souper. In der Regel war bei solchen Festen schon vor Mitternacht, ja sogar schon vor 11 Uhr Abends Alles zu Ende. Bei den weniger steifen Familienfesten in der Burg wurden von den jungen Erzherzogen und Erzherzoginnen kleine Concerte oder auch Komödien und Operetten aufgeführt. Aus dem Jahre 1775 wird von einer solchen dramatischen Aufführung gemeldet, welche das Eigenthümliche hatte, daß die prinzlichen Acteurs und Actricen ihre Rollen in verschiedenen Sprachen gaben. Theatralischer Hauptfaiseur war Metastasio.

Der Wiener Fasching stand zu Maria Theresia’s Zeit noch in der vollen Herrlichkeit seiner geräuschvollen Lust. Der Hof betheiligte sich eifrigst daran. In raschem Wechsel folgten sich Concerte, Bälle, Schlittenfahrten, Glücks- und Komödienspiele aller Art. Die Kaiserin war eine große Liebhaberin von Maskeraden und Maskenbällen. Sie liebte es, ihren Gemahl, der seinerseits ein standhafter und glücklicher Hazardspieler war, mit allerlei Maskenscherz zu necken und ihm allerlei artige Überraschungen zu bereiten. Leider finden wir, daß die sonst so verständige Frau die Schwäche hatte, neben den Maskenbällen auch den Unsinn und Unfug der Kinderbälle zu begünstigen, welcher also schon damals grassirte. Des Kaisers Beispiel hinwiederum steigerte die in den höfischen Kreisen mehr und mehr eingerissene und mittelst des Lotto bedauerlicher Weise auch dem Volke mitgetheilte Spielwuth. Eine vornehme Wiener Dame comme il faut mußte eine tüchtige Spielerin sein. Eine der kühnsten war jedenfalls die letzte Maitresse des Kaisers, die schon erwähnte Fürstin von Auersperg: man sah sie eines Abends 12,000 Dukaten auf eine Karte setzen und verlieren. Ein andermal verlor sie im Würfelspiel auf zwei Sätze 4000 Dukaten. Maria Theresia vermochte hieran nichts zu ändern, so wenig wie an den Sitten ihres Ministers Kaunitz. Der berühmte Staatsmann hatte die unehrerbietige Gewohnheit, wenn er zur Audienz bei der Kaiserin fuhr, seine beiden Maitressen im Wagen mit sich zu nehmen und sie am Thore der Hofburg auf sich warten zu lassen. Er durfte sich erlauben, diese Unverschämtheit mit einer noch größern zu krönen. Denn als ihm Maria Theresia eines Tages über die erwähnte Gewohnheit, sowie über seinen Lebenswandel überhaupt Vorstellungen machte, schnitt er diese kurz ab mit den Worten: „Madame, ich bin hieher gekommen, mit Ihnen Ihre eigenen, nicht aber meine eigenen Angelegenheiten zu verhandeln.“ Man ersieht aus alledem, daß die österreichische Aristokratie nicht gerade sich beeiferte, die Sittenstrenge ihrer Herrscherin nachzuahmen. Was freilich die Spielwuth und sonstige Verschwendungssucht der vornehmen Kreise angeht, so ist Grund vorhanden, zu glauben, daß Maria Theresia aus politischen Gründen sich nicht sehr dagegen gestemmt habe, daß die großen Herren und Damen sich ökonomisch ruinirten. Wurden sie doch hierdurch nur zahmer, abhängiger und unterthäniger!

Es muß der Kaiserin sehr schwer gefallen sein, die unbehülfliche Corpulenz ihrer späteren, besonders ihrer spätesten Jahre zu ertragen. In ihren früheren war sie voll rascher Beweglichkeit und liebte deshalb den Aufenthalt auf dem Land und das Reisen. Schönbrunn und Laxenburg sind ihre und ihres Gemahls Schöpfungen. Das erstere hat Maria Theresia aus einem kleinen Jagdschloß zu einem kaiserlichen Prachtsitz gemacht. Es verdient bemerkt zu werden, daß sie wollte, nicht nur die kaiserliche Familie und der Hof, sondern auch die Bewohner Wiens sollten sich an Schönbrunn erfreuen können. Sie gab dem Publicum den Eintritt frei und erlaubte, daß in einem der Nebengebäude eine Wirthschaft sich etablirte, damit die guten Wiener beim Besuche des Schlosses und der Gärten auch der leiblichen Erquickung nicht ermangelten. Es gehörte zu den sommerlichen Sonntagsfreuden eines echten Wiener Kindes, seine stattliche Kaiserin durch die Baumgänge von Schönbrunn wandeln zu sehen. Damals waren noch „die schönen Tage von Aranjuez“ des Absolutismus. Seither hat die Menschheit trotz alle- und alledem eine nicht ganz unbedeutende Schwenkung nach links gemacht. Unsern Urenkeln dürfte die Unterthanen-Unterwürfigkeit des 18. und 19. Jahrhunderts nicht weniger abgeschmackt vorkommen, als uns heutzutage das Hexenwesen des sechszehnten und siebzehnten. Aber freilich, das Volk glaubt noch heute an Hexen……

Maria Theresia wußte, daß sie schön sei – welche schöne Frau wüßte das nicht, und welche unschöne bildete sich’s nicht ein? – und sie ist zur Zeit, wo sie noch einen Ausdruck von ihr selbst zu gebrauchen, „en vigueur“ war, eine große Toilettenkünstlerin gewesen. Ihr Lieblingsanzug war eine Robe von Silberbrokat mit blauem Leibchen, welches mit Diamanten besät sein mußte. Im gepuderten Haare trug sie Brillanten, noch lieber aber Perlen. Ihre ganze Erscheinung und Haltung war voll Würde und Anmuth. Sie wußte zu repräsentiren und verstand es besser als irgend eine Monarchin vor oder nach ihr, bei Gelegenheit die Majestät [475] herauszukehren. Sonst trat sie gerne den Leuten menschlich näher und ließ sich in gemüthlichem Wienerisch gegen sie aus. Bekannt ist unter den Scenen dieser Art aus ihrem Leben besonders die, wo sie den trefflichen Aufklärer Sonnenfels, als er sich bei ihr über stupide Chicanen seitens der Censur beschwerte, mit den Worten tröstete: „Was ist’s halt’r wieder ? Seciren sie Ihn schon wieder? Was wollen sie Ihm denn? Hat Er etwas gegen Uns geschrieben? Das ist Ihm von Herzen verziehen. Ein rechter Patriot muß wohl manchmal ungeduldig werden. Ich weiß aber schon, wie Er’s meint. Oder gegen die Religion? Er ist ja kein Narr. Oder gegen die guten Sitten? Er ist ja kein Saumagen. Aber wenn Er etwas gegen die Minister geschrieben hat, ja, mein lieber Sonnenfels, da muß Er sich selbst heraushauen, da kann ich Ihm nicht helfen. Ich hab’ Ihn oft genug gewarnt.“ Man erkennt, denk’ ich, an dieser Probe, daß Maria Theresia den berüchtigten Er-Styl liebenswürdig zu handhaben verstand.

Das Hofleben zur Sommerzeit in Schönbrunn und Laxenburg war, große Galatage ausgenommen, weniger etikettenhaft gezwungen und geschnörkelt als das winterliche in der Hofburg zu Wien. Doch verliehen schon Tracht und Mode von damals der höfischen Gesellschaft, selbst wenn sie sich auf dem Lande bewegte, d. h. in den Alleen und Boskets der kaiserlichen Lustschlösser, etwas Abgezirkeltes, Ceremoniöses. Man vergegenwärtige sich nur diese feinen Cavaliere im französischen Hofkleid, weiten, mit Gold und Silber gestickten Röcken, fliegenden Halsbinden von feinster holländischer Leinwand, seidenen Inexpressibles, ditto Strümpfen mit blitzenden Diamantschnallen auf den zierlichen Schuhen, in gemessenem Menuetgang einherschwebend; und diese schönen Damen, von deren Wespentaillen die schwerbauschigen, mit Guirlanden behangenen Seidenroben niederstießen und deren Füßchen in Atlasschuhen mit zollhohen Hacken stecken, ein Roth, das nicht die Natur, sondern der Schminktopf spendete, auf den Wangen, auf dem Kopfe einen babylonischen Thurmbau von Haarwülsten, Fischbein, Draht, Taffet, künstlichen Blumen und Puder. Du lieber Gott, es war kein Wunder, daß beim Anblick solcher Unnatur unsere „Stürmer und Dränger“ so heftig nach Natur geschrieen haben. Aber sind wir berechtigt, jene Zeit der Unnatur zu beschuldigen, wir, die wir es in der „Umkehr“ unter Anderem auch glücklich wieder zum Reifrock gebracht haben? ... Die Wiener Hofherren und Hofdamen zur Zeit Maria Theresia’s durften jedoch nicht ihrem eigenen Geschmack und Schneidergenie folgen. Es war ihnen, abgesehen von der gewöhnlichen Hoftracht, für Schönbrunn und Laxenburg noch eine besondere vorgeschrieben: für Herren rothe Fräcke, goldbordirte Oberröcke und grüne Westen mit goldener Einfassung – jeder Zoll ein Papagei! – für die Damen rothe Roben oder „Säcke“ (sacs) mit Gold oder Silber durchwirkt und mit Blenden verbrämt.

Die ländlichen Vergnügungen des Hofes waren meist harmloser Natur. Obenan stand eine aus der Zeit Karl VI. herübergenommene Uebung, das Scheibenschießen der Damen, an welchem nur diese theilnehmen durften, die jungen Erzherzoginnen an der Spitze. Die Kaiserin vertheilte die Preise. Im Frühjahr und Herbst war eine sehr beliebte Morgenunterhaltung – die Falkenbeize, deren Bräuche genau nach der mittelalterlichen Ueberlieferung eingehalten wurden. Die Damen betheiligten sich, Maria Theresia voran, an diesem Vergnügen und ebenso an dem der Hirschpirsch. Abends war in der Regel Theater; doch wurden von einer zu diesem Zwecke verschriebenen Truppe nur französische Komödien und Possen aufgeführt. Sehr oft ward der Tag mit einem improvisirten Ball beschlossen, wobei hauptsächlich Contretänze und Allemanden getanzt wurden, oder auch mit einer Maskerade, einer Lotterie, einem Feuerwerk. Zur Herbstzeit spielte der Hof Weinlesen. Der gute Khevenhüller hat in seiner gravitätisch hölzernen Manier so eine Laxenburger Weinlese vom 22. October 1758 beschrieben und nicht vergessen, gewissenhaft aufzuzeichnen, daß dabei „über einen halben Eimer rothen und mehr als zwei Eimer weißen Weines ausgepreßt wurden.“ ... Im Ganzen wird man zugeben müssen, daß Maria Theresia’s Hof in sittlicher oder wenigstens in anständiger Haltung weit über den meisten Höfen von damals stand. Dagegen fällt der Mangel an geistiger Regsamkeit auf. Diese Wiener Hofkreise waren von der Strömung des Jahrhunderts so wenig berührt, als hätten sie im Monde gelebt.


Der elektromagnetische Telegraph.

Nr. 2.


Wir haben unsern Lesern im vorigen Artikel (Nr. 4) das Bild einer Batterie mit ihren Elementen vorgelegt und damit den Lauf des elektrischen Stromes zur Anschauung gebracht.

Je mehr man nun solche Elemente zu einer Batterie vereinigt, desto stärker wird der Strom und desto deutlichere und bestimmtere Zeichen wird er an den entfernteren Orten hervorbringen. Doch hat die Erfahrung gelehrt, daß eine solche Batterie aus einfachen Plattenpaaren zusammengesetzt wenig zweckentsprechend ist, indem nämlich der Strom rasch an seiner Stärke abnimmt und immer schwächer wird, und man hatte auch bald den Grund dieser raschen Abnahme entdeckt. Derselbe liegt nämlich in der chemischen Veränderung, welche die Metalle und Flüssigkeiten durch den Strom selbst erleiden, indem nämlich derselbe die Fähigkeit besitzt, Wasser zu zerlegen und in seine Bestandtheile Sauerstoff und Wasserstoff zu scheiden. Ersterer tritt alsdann an die Zinkplatte und bildet mit derselben Zinkoxyd, während letzterer sich in Form kleiner Bläschen an der Oberfläche der Kupferplatte ansammelt und diese fast ganz bedeckt, also eine innige Berührung der Feuchtigkeit mit der Kupferplatte verhindert, wodurch alsdann die Wirkungen der Batterie nachlassen und endlich ganz aufhören. Daß dieses von großer Störung für den Betrieb des elektromagnetischen Telegraphen sein würde, bedarf wohl keiner Erläuterung; es ist vielmehr unbedingt nothwendig, daß die verwendeten Batterien einen lange andauernden, gleichmäßigen Strom liefern, indem nur dann ein sicheres Telegraphiren möglich ist. Dieses einsehend, machten es sich berühmte Physiker zur Aufgabe, solche Batterien herzustellen, welche diesen Anforderungen entsprächen, und es ist ihnen auch, theils mehr, theils weniger, gelungen. Diese Batterien werden auch constante Batterien genannt und sie liefern mehrere Monate lang einen fast gleichmäßigen Strom, worauf man nur die alten unbrauchbar gewordenen Elemente herauszunehmen und durch neue zu ersetzen nöthig hat. Von diesen constanten Batterien ist es besonders:

1) Die Daniell’sche, welche in Preußen, Hannover und Sachsen,
2) die Bunsen’sche, welche in Baiern, und
3) die Smee’sche, welche in Oesterreich vielfache Anwendung findet.
Außer denselben ist noch
4) die sogenannte Sandbatterie in England vielfach in Anwendung, während
5) der Wollaston'sche Trogapparat,
6) die Bequerel’sche Batterie,
7) die Grav’sche Batterie und
8) die von Stöhrer in Leipzig aus Zink, Kohle und einer gesättigten Alaunauflösung construirte Batterie theils weniger, theils gar nicht im Gebrauche sind.

Wir halten es für überflüssig, alle diese Batterien einer genauen Beschreibung zu unterwerfen, und wollen dieses nur mit den zwei gebräuchlichsten, nämlich der Daniell'schen und Bunsen'schen, thun.

Von ersterer sind in nachstehender Fig. 8, I und II zwei Elemente abgebildet und zwar ist Fig. I der Durchschnitt und Fig. II die Ansicht eines solchen Elementes.


Fig. 8.


Dieselben bestehen aus einem Kupfergefäße abcd, welches durch eine mit Löchern versehene Scheibe op in zwei Theile geschieden ist. Auf letzterer ist ein zweiter Kupfercylinder efgh, der ebenfalls mit lauter Löchern versehen ist, festgelöthet, [476] welcher zur Aufnahme von grobgestoßenem Kupfervitriol dient. Er umschließt zugleich einen hohlen Thoncylinder iklm, der, durch die Scheibe op gebend, bis auf den Boden be des äußeren Kupfercylinders reicht, und der in seinem innern hohlen Raume einen massiven Zinkblock n n aufnimmt. Der noch übrige innere Raum dieses Thoncylinders wird mit verdünnter Schwefelsäure angefüllt, während in den äußeren Kupfercylinder abcd Kupfervitriolauflösung gebracht wird, und damit dieselbe, indem sie fortwährend durch den elektrischen Strom zersetzt und verdünnt wird, sich immer wieder sättigen könne, so löst sie den in den Behälter efgh gebrachten Kupfervitriol, zu welchem sie durch die in dessen Seitenwand angebrachten Löcher leicht gelangen kann, fortwährend auf. An diesen äußeren Kupfercylinder ist bei d ein Stück Draht mit einer Schraube angelöthet, in welcher der diesen Kupfercylinder mit dem Zinkblock des nächsten Elementes verbindende Draht festgeklemmt wird. Der Zinkblock des ersten Elementes bildet alsdann den positiven Pol der Batterie, während der an den Kupfercylinder des letzten Elementes gelöthete Draht nebst Schraube den negativen Pol derselben darstellt, sodaß also, wenn man beide mit einander verbindet, die Batterie geschlossen ist. Es ist also ganz dasselbe wie in Fig. 7 (Nr. 4) dargestellt, nur sind hier statt der Platten Cylinder und Becher genommen. Was den Thoncylinder iklm anbelangt, so hat derselbe keinen anderen Zweck, als die verdünnte Schwefelsäure in seinem Innern von der Kupfervitriolauflösung im äußeren Cylinder abzuhalten, er darf jedoch nicht so fest und dicht sein, daß er selbst dem Strome den Durchgang wehren könnte, sondern muß so porös sein, daß er von der Feuchtigkeit durchdrungen wird, dieselbe aber nicht durchrinnen läßt. Damit nun diese Elemente, bei ihrer Vereinigung zu einer Batterie, einander nicht berühren, sondern vollkommen von einander isolirt sind, so werden sie einzeln in Glasgefäße gestellt. Der Lauf des Stromes ist wie bei Fig. 7 angegeben, nämlich der vom Kupfercylinder des ersten Elementes ausgehende positive Strom gelangt zum Zinkblock des zweiten Elementes und von diesem durch die verdünnte Schwefelsäure und die Poren des Thoncylinders, sowie durch die Kupfervitriolauflösung, zum Kupfercylinder dieses Elementes, verstärkt sich hier mit der positiven Elektricität und geht dann zum Zinkblock des dritten Elementes und so durch alle Elemente, bis er, bei dem Kupfercylinder des letzten Elementes angelangt, in den Schließungsbogen übergeht, der ihn wieder zum Zinkblock des ersten Elementes führt.

Man vereinigt 12, 18, 24, 30 und noch mehr solcher Elemente zu einer Batterie, je nachdem der Schließungsbogen, d. h. die Drahtleitung, lang ober kurz ist.

Wie bereits erwähnt, so bewirkt der elektrische Strom eine chemische Veränderung der Flüssigkeiten und der verwendeten Metalle, und diese Veränderungen kommen namentlich bei der soeben beschriebenen Batterie sehr stark vor. Er zersetzt besonders sehr rasch die Kupfervitriollösung und scheidet das in derselben enthaltene Kupfer rein metallisch aus, welches sich an dem Kupfercylinder niederschlägt.

Auf diese Eigenschaft gründet sich die Galvanoplastik, von welcher der Leser gewiß schon gehört und deren prachtvolle Erzeugnisse er gewiß schon bewundert hat.

Die galvanoplastischen Apparate sind auch weiter nichts Anderes als ein solches in großem Maßstabe ausgeführtes Element, und der Leser wird uns gewiß hier eine kleine Abschweifung verzeihen, wenn wir ihn mit einem solchen Apparat bekannt machen.


Fig. 9.


Ein solcher ist in Fig. 9 abgebildet und besteht aus einem Troge abcd, in welchem nahe am Boden ein Kupferdrahtgeflechte ef angebracht ist. Auf dasselbe werden alsdann die aus einer Mischung von Guttapercha und Graphit oder auch aus Schwefel gefertigten Formen der galvanisch herzustellenden Gegenstände, wie Münzen, Metaillen, Ringe, Bracelettes, Verzierungen etc. gelegt und nun dieser Trog mit Kupfervitriollösung angefüllt. Von einer über den Trog gelegten Stange hängt nun ein Zinkblock Z in diese Lösung, und sobald man denselben durch einen Draht xvy mit dem Kupferdrahtgeflechte ef in Verbindung bringt, so ist der galvanoplastische Apparat fertig, der also eigentlich weiter nichts als ein solches Daniell’sches Element ist. Der von dem Kupferdrahtgeflechte ausgehende positive Strom gelangt durch den Schließungsbogen yvx zum Zinkblock Z und von diesem durch die Flüssigkeit wieder nach ersterem zurück. Hierbei wird die Kupfervitriollösung zersetzt und reines metallisches Kupfer ausgeschieden, welches sich alsdann in feinen dünnen Schichten auf die aus dem Drahtgeflechte angebrachten Gegenstände niederschlägt. Je nachdem man nun dieselben längere oder kürzere Zeit in dieser Lösung läßt, so wird auch dieser Kupferniederschlag dünner oder dicker, sodaß er nur wie ein Hauch, ein Anflug erscheint, oder auch eine oder mehrere Linien dick wird. Da dieses ausgeschiedene Kupfer so fein zertheilt ist, daß es wie ein Staub ist, so legt es sich auch in die feinsten Schattirungen und Gravirungen der Formen nieder und liefert deren getreuestes Ebenbild, nur erhöht, wo jene vertieft, und vertieft, wo jene erhöht waren.

Ganz ähnlich sind die Apparate zur galvanischen Vergoldung und Versilberung, und man hat nur nöthig, den Trog statt mit Kupfervitriollösung mit einer Gold- oder Silberlösung zu füllen. Sehr häufig werden auf diese Weise die galvanoplastisch hergestellten Kupfergegenstände vergoldet und versilbert, indem man sie vorher von allem Schmutz und Oxyd reinigt und eine kurze Zeit lang in diese Apparate bringt, worauf sich an ihnen das ausgeschiedene Gold oder Silber niederschlägt.

Kehren wir jedoch wieder zu den galvanischen Batterien und zwar zur Bunsen’schen zurück, nach deren Beschreibung wir den Leser mit den Erscheinungen und Wirkungen des elektrischen Stromes und den Telegraphen Apparaten bekannt machen wollen.


Fig. 10.


Bei der Bunsen’schen Batterie, wovon Fig. 10 in I der Durchschnitt eines Elementes und in II die Ansicht desselben dargestellt ist, sind die Kupfercylinder durch Kohlencylinder ersetzt, welche entweder gar keinen Boden oder eine Oeffnung in demselben haben. In dem hohlen Raume derselben befindet sich ein ähnlicher Thoncylinder wie bei der Daniell’schen Batterie, dessen Durchmesser so groß ist, daß er ziemlich genau den hohlen Raum des Kohlencylinders ausfüllt. Dieser Thoncylinder nimmt alsdann den Zinkblock auf. Ein jedes aus diesen drei Theilen zusammengesetzte Element wird wieder in ein Glasgefäß gestellt, welches mit Salpetersäure oder, da diese beständig salpetrigsaure Dämpfe entwickelt, welche die Luft verunreinigen, Metalle angreifen und zerstören, sowie das Athmen erschweren, mit verdünnter Schwefelsäure gefüllt ist. Der aus diesem Glasgefäße hervorstehende Rand des Kohlencylinders ist mit einem Ringe von Kupfer oder auch von Blei versehen, an welchem zugleich ein Blechstreifen oder ein Drahtstück mit einer Schraube festgelöthet ist, mittelst welcher jeder Kohlencylinder mit dem Zinkblock des nächsten Elementes (wie in III dargestellt ist) verbunden werden kann. Der innere Raum des Thoncylinders wird mit verdünnter Schwefelsäure angefüllt, wie dieses auch mit dem Raume zwischen dem Thon- und Kohlencylinder, sowie zwischen letzterem und dem Glasgefäße geschieht. Der Stromlauf ist bei einer solchen Batterie ganz derselbe wie oben bei der Daniell’schen, wenn nämlich die Vereinigung der einzelnen Elemente, wie in Fig. 11 dargestellt ist,


Fig. 11.


geschieht, daß nämlich immer der Kohlencylinder des vorhergehenden Elementes mit dem Zinkblock des folgenden verbunden wird, sodaß also der Zinkblock des ersten Elementes den positiven Pol der Batterie [477] bildet, während Kohlencylinder des letzten Elementes den negativen Pol derselben darstellt. Wird dagegen die Vereinigung der Elemente zu einer Batterie (wie in Fig. 12 dargestellt ist) vorgenommen,


Fig. 12.


d. h. daß alle Kohlencylinder unter sich, sowie auch alle Zinkcylinder verbunden werden, so bildet der Zinkcylinder des letzten Elementes den positiven, und der Kohlencylinder desselben den negativen Pol der Batterie. Der von Kohlencylinder des ersten Elementes ausgehende positive Strom läuft zum Kohlencylinder des zweiten, dritten, vierten und aller folgenden Elemente, bis er, bei jenem des letzten Elementes angelangt, in den Schließungsbogen übergeht, durch welchen er zum Zinkblock des letzten Elementes zurückkehrt, und da dieser mit den Zinkcylindern der Elemente wieder in Verbindung steht, so vertheilt er sich auch wieder auf die einzelnen Elemente und geht bei jedem durch die Feuchtigkeit wieder zum Kohlencylinder.

So wäre denn der Leser mit dem ersten Theile der elektromagnetischen Telegraphie, nämlich mit den elektrischen Batterien und mit der Erzeugung des galvanischen Stromes vertraut und bekannt geworden, und wenn ihm auch noch Manches unklar und räthselhaft erscheint, so möge er nur bedenken, daß ja das Wesen und Agens der Elektricität selbst noch ein ungelöstes, vielleicht nie zu lösendes Räthsel ist. Er weiß doch nun die Erzeugung des galvanischen Stromes und kennt dessen Vorhandensein, sowie dessen Benutzung und Verwendung zur Telegraphie; er kennt mit einem Worte die Seele, die bewegende, wunderbare Kraft des elektromagnetischen Telegraphen, und wir können ihn nun auch, mit dem zweiten Theile desselben bekannt machen, nämlich:

mit den eigentlichen Vorrichtungen, Apparaten und Maschinen, durch welche der galvanische Strom gezwungen wird, die ihm vorgezeichneten Wege zu durchlaufen und auf diese oder jene Art und Weise seine Wirkungen zu äußern.

Vor Allem ist es hier nothwendig, daß wir den Leser mit den Erscheinungen, Fähigkeiten und Eigenschaften des elektrischen Stromes vertraut machen, da er dann um so leichter die sich auf dieselben stützenden Apparate verstehen und begreifen wird. Eine Eigenschaft desselben hat der Leser bereits im Vorhergehenden kennen gelernt, nämlich die Fähigkeit chemische Verbindungen herzustellen und zu trennen. Die bei Weitem wichtigere ist jedoch folgende, daß er vorhandene Magneten aus ihrer Ruhelage abzulenken vermag, was zuerst von Oerstedt, Professor in Kopenhagen, im Jahre 1820 beobachtet wurde. Er bemerkte nämlich, daß eine freischwebende Magnetnadel ihre Richtung von Süden nach Norden verläßt, wenn ein galvanischer Strom an ihr vorbeigeht, und zwar ist diese Ablenkung der Nadel bald rechts, bald links, je nachdem der Strom oberhalb, unterhalb oder seitwärts an ihr vorübergeht. Doch nicht allein auf vorhandene Magnete äußert der Strom seine Wirkung, sondern er besitzt auch die Fähigkeit, im weichen, unmagnetischen Eisen, sobald er um dasselbe herumgeleitet wird, einen sehr kräftigen Magnetismus zu erzeugen.

Was ist nun Magnetismus? Diese Frage wurde von den Gelehrten bisher ebenso wenig wie jene, was Elektricität ist, beantwortet, und man bezeichnet mit dem Worte Magnetismus im Allgemeinen die Eigenschaft und Fähigkeit des Eisens, andere Eisentheile anzuziehen und festzuhalten, und erklärt sich dieses, ebenso wie bei der Elektricität, von einer fein zertheilten, unsichtbaren und gewichtslosen Materie herrührend, die in jedem Eisentheilchen vorhanden ist, aber nur dann erst zum Vorschein kommt, vielmehr sich durch ihre Wirkungen kennbar macht, wenn das Eisen dem Einflusse eines bereits vorhandenen constanten Magnets ausgesetzt wird. Bei weichem Eisen verschwindet alsdann sofort der Magnetismus wieder, wenn dieser Einfluß eines anderen aufhört, während in hartem Eisen, d. h. im Stahle, der erregte Magnetismus lange bleibt und vorhanden ist.

Denkt man sich einen gewöhnlichen Eisenstab ab, (siehe Fig. 13)


Fig. 13.


von einigen Zoll Länge und umwindet denselben mit feinem Draht, welcher selbst wieder mit Seide oder Wolle übersponnen ist, damit sich der durch denselben laufende Strom nicht seitwärts von einer Drahtwindung auf die andere fortpflanzen kann, sondern denselben seiner ganzen Länge nach durchlaufen muß, so wird dieser Eisenstab so lange magnetisch, als ein Strom diese Drahtwindungen durchläuft. Gewöhnlich giebt man solchen Eisenstäben eine hufeisenartige Form,


Fig. 14.


wie Fig. 14 zeigt, nur umwickelt denselben in schraubenförmigen Windungen mit übersponnenem feinem Kupferdraht, so daß alle Windungen nach einer Richtung laufen, wenn man das Hufeisen sich gerade gestreckt denkt. Sind nun a und b die Enden des Umwindungsdrahtes und man bringt dieselben mit den Polen einer Batterie in Verbindung, so ist letztere dadurch geschlossen und der Strom derselben läuft nun durch diese Drahtwindungen. Je nach der Stärke des Stromes wird alsdann auch dieser Eisenstab stärker oder schwächer magnetisch, so daß er im Stande ist, einen Eisenanker c anzuziehen und so lange fest zu halten, bis eine Unterbrechung des Stromes stattfindet, worauf der Magnetismus im Eisen wieder verschwindet und dieser Anker c von selbst wieder abfällt. Eine derartige Vorrichtung wird ein Elektromagnet, sowie die durch den Strom hervorgerufene Kraft Elektromagnetismus genannt, woher auch der Name der elektromagnetische Telegraph kommt, da derselbe auf diese Eigenschaft und Fähigkeit des galvanischen Stromes gegründet ist.

Es beruhen aus derselben:

a) die Signal-, Glocken- und Weckapparate, bei welchen man einestheils von dem Grundsatze ausging, daß die Mittheilung auf das Gehör die beste sei, da ja der Ton selbst das einfachste von der Natur zur Mittheilung bestimmte Mittel ist, während es andererseits wieder als nothwendig erschien, daß, bevor man mit entfernten Personen eine Correspondenz beginnen könne, man dieselben erst noch durch vernehmbare, auf das Gehör wirkende Zeichen aufmerksam mache;
b) die Zeigerapparate, welche schon vorhandene Buchstaben oder Zahlen auf den entfernten Stationen mittelst eines Zeigers momentan vorweisen;
c) die Schreibapparate, welche gewisse Zeichen als Punkte und Striche bleibend hervorbringen und dadurch ein selbst nach Jahren noch lesbares, bleibendes Document der Correspondenz liefern;
d) die eigentlichen Druckapparate, welche die Buchstaben des Alphabets hervorbringen und fixiren.

Wir werden den Leser mit vielen dieser Apparate vertraut und bekannt machen, und er wird nun, wenn er die im Vorstehenden ausgeführten Eigenschaften des elektrischen Stromes vollkommen aufgefaßt und verstanden hat, mit Leichtigkeit die Bestimmung derselben, ihre Anordnungen, sowie das Ineinandergreifen der einzelnen Theile einsehen und sich eine genaue und gründliche Kenntniß derselben verschaffen können.



[478]

Ein Deutscher.

Roman aus der amerikanischen Gesellschaft.
Von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)

Mit einiger Verwunderung sah Reichardt jetzt William Johnson’s Gesicht unter den jungen Männern, deren Namen ihm genannt wurden, aber kaum verrieth eine leise Gezwungenheit, mit welcher dieser ihm die Hand bot, das eigenthümliche Verhältniß, in welchem Beide zu einander standen, und als der Deutsche Platz genommen, begann jener mit einer Sicherheit das Gespräch aufzunehmen, welche dem Ersteren schnell zeigte, daß Frost’s Haus ein gewohnter Boden für den jungen Handelsherrn sein müsse. Schweigend begann Reichardt, während die unterbrochene Unterhaltung wieder in vollen Fluß kam, eine genauere Musterung der Gesellschaft, aber erst nach längerer Zeit wagte er es, sein Auge über Margaret streifen zu lassen – er begegnete ihrem Blicke, der, von einem eigenthümlichen Lächeln begleitet, auf ihm ruhte, sich aber, sobald sich ihre Augen getroffen, leicht wegwandte, und der junge Mann fühlte auf’s Neue, wie sehr er sich selbst unter Controle zu halten habe, wolle er nicht eine Neigung zu einer unbesieglichen Macht in sich wachsen lassen, die ihn wohl unglücklich machen, aber ihn nie zu einem Heile führen konnte.

„Aber in Anbetracht besagten Truthahns, der noch eine Weile auf sich warten lassen wird, möchte ich eine kleine Appetitreizung vorschlagen,“ begann jetzt John, sich erhebend. „Wenn,“ fuhr er sich nach einer der Ladies wendend fort, welche die einzige schon ziemlich verblühte Rose unter den übrigen kaum aufgebrochenen Knospen bildete, „wenn Miß Henderson uns die Quadrille spielte, die sie nur allein in dieser Art zu spielen versteht, so tanzen wir zuerst ein paar Touren durch!“

„Ich unterstütze den Antrag!“ – „und ich vereinige meine Bitten an Miß Henderson!“ klang es von Seiten der jungen Männer; das weibliche Personal aber hatte sich im Fluge um die Genannte lachend und zuredend versammelt, und sichtlich geschmeichelt erhob sich diese, um sich nach dem Piano im Hintergrunde des Zimmers zu wenden. Reichardt wußte jetzt, was dieser Persönlichkeit, die ihrem Alter nach zu keinem der übrigen Gäste paßte, eine Einladung in den Familiencirkel verschafft hatte; sein Blick flog über die sich erhebenden tanzlustigen Gruppen, die nur den ersten Ton zu erwarten schienen, um das Quarree zu bilden; er traf von Neuem auf Margaret, und ein Ausdruck von Aufforderung blickte ihm aus ihrem Gesichte entgegen, der alle seine Nerven in Erregung setzte; mit Macht drängte es ihn, sich den Platz an ihrer Seite zu sichern, im nächsten Augenblicke aber stand auch schon sein Entschluß, jeder Versuchung möglichst aus dem Wege zu gehen, wieder vor ihm – noch schwankte er in hartem innerm Kampfe, da rauschten die Accorde der Einleitungstakte auf, die jungen Männer flogen den Damen entgegen, Johnson schien der bevorrechtete Bewerber um Margaret zu sein, denn keiner der Uebrigen machte auch nur einen Versuch, ihm ihre Hand streitig zu machen; fast meinte aber Reichardt, als sie ihrem Tänzer die Hand bot, einen bedauernden Blick von ihr aufzufangen.

„Sie tanzen nicht, Sir?“ rief ihm John zu, very well, so thu’ ich es!“ und damit eilte er der einzigen noch übrigen Dame zu – der Deutsche bemerkte jetzt erst, daß die Zahl der Anwesenden, wenn der junge Frost und die Pianospielerin abgerechnet wurden, genau zu einem Quarree ausreichte, und daß er sich also jedenfalls später einer der jungen Ladies werde anzuschließen haben. Aber waren sie denn neben Margaret nicht sämmtlich ohne alles Interesse für ihn, von der verblühten Pianospielerin bis zur jüngsten herab? Die erstere hätte noch am meisten seine Theilnahme wecken können, er fühlte etwas Verwandtes zwischen ihrem Schicksale und seinem frühern, und wenn er sich ihrer annahm, mußte er sich gewiß alle die übrigen jungen Leute verbinden. Er nickte sich selbst Beifall für seinen Entschluß zu und hob freier den Kopf. Ihm gegenüber schien eben Johnson seinen vollen Humor in der Unterhaltung mit seiner Tänzerin sprudeln zu lassen, und das beifällige Lachen, welches sich auf deren Gesicht zeigte, wollte dem Deutschen fast wehe thun; er wartete, ob sie den Blick nicht noch einmal nach ihm wenden werde; aber die Quadrille begann, lustig und nur der Tanzlust hingegeben rauschten die Paare durcheinander, und Reichardt fühlte mitten in der fröhlichen Umgebung plötzlich ein Gefühl von Alleinstehen über sich kommen, wie es ihm nur in den trübsten Zeiten seiner vergangenen Fahrten geworden war.

Am liebsten hätte der Deutsche dem lustigen Gewühle gar nicht mehr zugesehen und sich in eine Fenstervertiefung zurückgezogen, um mit sich allein zu sein. So wenig wirklichen Grund er auch für die Verstimmung, welche ihn überkommen, hätte angeben können, so meinte er dennoch ihre volle Berechtigung zu fühlen, meinte es noch nie so empfunden zu haben, wie fern er dem ihn umgebenden Gesellschaftskreise stand – aber der gute Ton verlangte jetzt ein Verdecken seiner inneren Regungen; er mußte lächelnd das Auge auf den Tanzenden ruhen lassen, mußte sehen, wie Johnson seine Unterhaltung mit Margaret völlig in der leichten, sichern Weise eines bevorzugten Bekannten führte, wie seine Worte in gleicher Weise von dem in Heiterkeit strahlenden Mädchen erwidert zu werden schienen, und unwillkürlich kam ihm der Gedanke, daß Beide doch durch Stellung und Verhältnisse ein wie für einander geschaffenes Paar abgäben. Damit aber glaubte er auch plötzlich in Bezug auf Johnson’s Beziehung zu der Familie klar zu sehen, und die zwanglose Weise von dessen Auftreten war ihm erklärt; damit verstand er auch die eigenthümliche Inkonsequenz in dem bisherigen Benehmen des jungen Frost dem Andern gegenüber; Johnson als Mensch mochte Jenem nicht ganz behagen, aber gegen den künftigen Schwager mußten Rücksichten genommen werden – Reichardt mochte nichts mehr von dem Paare sehen; seine Augen blickten starr unter die Uebrigen, während doch keiner seiner Gedanken bei dem war, was sich ihm bot, und erst als am Ende der Quadrille das Quarree sich auflöste, raffte er sich wieder zum Bewußtsein der Gegenwart auf.

„Aber, by George, Reichardt, ich denke, Sie werden nicht den ganzen Abend so steif dasitzen bleiben!“ trat John lachend an ihn heran.

„Sicher nicht,“ erwiderte der Angeredete, sich erhebend, „aber ich bin unter den Uebrigen fast noch ganz fremd, und die Fühlhörner wollen erst ausgestreckt sein. Sagen Sie,“ fuhr er halblaut fort, seinen Arm vertraulich unter den des Andern schiebend und einem fast peinlichen Drange in ihm folgend, „steht nicht Mr. Johnson ihrer Familie näher, als ich bis jetzt gewußt?“

Der junge Frost sah den Frager groß an, warf dann einen Blick hinüber, wo Johnson in eifrigem Gespräche vor Margaret und einer ihrer Freundinnen stand, und wandte dann das Auge mit einem eigenthümlichen Ausdruck von Laune nach Reichardt zurück. „Ich weiß von nichts Besonderem,“ sagte er, „indessen will ich nachfragen, wenn Ihnen etwas daran liegt –“

Reichardt griff fast erschrocken nach des Andern Arm; da sah er plötzlich, wie sich Margaret mit ihrer Nachbarin erhoben hatte und in gerader Linie auf ihn loskam – er fühlte, wie ihm das Blut aus dem Gesichte wich. „Nicht wahr, Mr. Reichardt,“ sagte sie herankommend, und dem Angeredeten war es bei dem süßen Tone, der ihm entgegenklang, als fülle sich sein Herz zum Zerspringen, „Sie lassen uns eine deutsche Composition auf dem Piano hören? der Genuß wird uns so selten, und wir müssen die Gelegenheit wahrnehmen!“

Reichardt verbeugte sich schweigend, er wußte, daß er kein Wort hätte sprechen dürfen, ohne seine Bewegung zu verrathen; schon in der nächsten Secunde aber hatte er wieder die volle Macht über sich gewonnen. „Sie haben nur zu befehlen, Miß!“ sagte er langsam aufblickend und traf auf ein Auge, das wie in fragender Befremdung auf ihm ruhte. Er hielt den Blick aus, es war ihm wie eine Art Wollust, alle überquellenden Empfindungen zurückzudrängen und nur die halbe Bitterkeit, welche sich in ihm gebildet, blicken zu lassen – es war eine Selbstqual, er wußte es, aber er fand Festigkeit darin und mit einer leichten Neigung des Kopfes wandte er sich dem Piano zu.

Monate war es her, daß er keine Taste unter den Händen gehabt, und er griff in die Claviatur des prachtvollen Instruments, als wolle er mit einem Male Alles, was ihm das Herz belastete, von sich werfen. Bei seinen ersten Accorden schon waren die Gespräche verstummt, und einzelne der Anwesenden hatten in seiner [479] Nähe Platz genommen; aber bald dachte Reichardt kaum mehr an die Gesellschaft. Wie der Zuspruch einer befreundeten Seele, der er sich voll hingeben durfte, waren ihm seine eigenen Töne entgegen geklungen; er goß sein Herz mit dem ganzen Grollen, dem er nicht einmal einen Namen zu geben wußte, aus und fühlte, wie nach jedem Griffe sich seine Brust freier und befriedigter hob; weicher und milder wurden seine Gänge, es war ihm, als habe er in der Fremde wieder den Weg nach seiner rechten Heimath gefunden, und fast willenlos begann er als Thema des geordneten Spiels. „Zieh’n die lieben, goldnen Sterne auf am Himmelsrand.“ So fremd das Lied an die Ohren seiner Umgebung schlagen mochte, so allein stand auch er jetzt mit seinem Empfinden in den selbstgewählten Verhältnissen – und sie, die ihm Ersatz für eine ganze Welt hätte geben können, stand so weit über ihm, hatte sicherlich ihre Herzensbefriedigung schon in dem eigenen Kreise gefunden und ahnte nichts von dem, was in dem Innern des armen Teufels, den ihre Vermittelung erst von Hausknechtsarbeit erlöst, vorging, und wahrlich! sie sollte es auch niemals ahnen – mit einer kräftigen Dissonanz unterbrach er sein Spiel und senkte wie in Selbstvergessenheit den Kopf. dann aber, als bringe ihn die lautlose Stille um ihn her zur klaren Besinnung zurück, ließ er eine wilde Cadenz über die Tasten laufen und schloß in furiosem Tempo den „Yankee-Doodle“ daran. Selbsthohn, Aerger über die Weichheit, in welche er gerathen, regierten seine Finger, aber er half sich dadurch am leichtesten aus seiner bisherigen Stimmung und mit einer sonderbaren Selbstgenugthuung begann er immer carrikirter, immer trivialer die Melodie herunter zu trommeln.

No, Sir, no! das ist abscheulich!“ rief eine Stimme neben ihm, „Sie stürzen die Menschen kopfüber aus ihren schönsten Träumen!“ Reichardt brach mitten im Stücke ab und erhob sich rasch, und ein mehrstimmiges Gelächter um ihn her schien den vermeinten Spaß, den er eben vollführt, gebührend belohnen zu wollen. Neben sich sah er die Pianospielerin stehen, die mit einer Art liebenswürdigen Schmollens zu ihm aufblickte; als er aber das Auge unter die lachenden Gesichter der Uebrigen warf, sah er Margaret’s Züge, ernst und bleich, mit einem Ausdrucke von Sorge sich nach ihm heben, eine Secunde lang blieb ihr Blick forschend in dem seinen hängen, dann wandte sie sich ab und machte dem alten Frost Platz, welcher die Gruppe durchbrach und auf Reichardt zuschritt. „Haben Sie uns das alte Vaterland im Vergleiche zu dem neuen zeigen wollen?“ sagte er gutgelaunt, „fast war es mir so bei dem Kontraste, welchen Sie hinstellten.“

„Ich weiß wirklich selbst kaum, was ich gespielt habe, Sir,“ erwiderte der junge Mann in einer leichten Befangenheit, „ich wollte nur aus der Schwärmerei und den Dissonanzen, zu denen sie geführt, wieder in’s praktische Leben zurück.“

„Geschwankt haben Sie wenigstens nicht dabei,“ lächelte Frost; „Beides ließe sich aber vielleicht auf diesem Felde versöhnen, wenn Sie dann und wann mit John Abends heran kämen; es hängt mir selbst immer noch etwas von der deutschen Musikliebe an.“

„Sie wissen, Mr. Frost, daß Sie ganz über mich zu verfügen haben,“ erwiderte Reichardt sich verbeugend, während das Blut in seine Wangen stieg, um dann langsam einer tiefen Blässe Raum zu geben. Frost hatte sich mit einem freundlichen Kopfnicken weggewandt, und die Pianospielerin sprach zu dem Deutschen; dieser aber ward ihrer in dem Drange widerstreitender Empfindungen, welche Frost’s Einladung in ihm wach gerufen, kaum gewahr, und erst als jene sich mit einer directen Frage, deren Endworte er glücklicher Weise auffing, sich nach ihm wandte, wurde er sich seiner Zerstreutheit bewußt. So, das sah er, durfte er sich nicht ferner gehen lassen, wenn er nicht auffallen wollte, und alle Gedanken zusammennehmend, wandte er sich dem Gespräche mit seiner verblühten Nachbarin, die soeben über deutsche Musik schwärmte, zu, bis endlich der junge Frost herantrat und ihn mit einer Entschuldigung gegen seine Gesellschafterin bei Seite zog. „Lassen Sie mir den Wermuthstropfen für heute Abend, ich bin schon darauf vorbereitet,“ sagte der letztere, „unser Truthahn ist bereit, nur da Sie sich wahrscheinlich noch keine Nachbarin engagirt, so kommen Sie zu meiner Schwester!“

Nur einen Moment zuckte es wie Widerstreben in dem Deutschen; in dem nächsten aber wußte er, daß es hier keinen Ausweg gab, daß ihm der härteste Kampf nicht erspart werden sollte, und daß er diesen zu bestehen habe nach besten Kräften. In möglichst freier Haltung folgte er dem Freunde quer durch das Zimmer nach einer lachenden Gruppe und stand in der nächsten Minute vor Margaret, aus deren Zügen bei seinem Anblick plötzlich der lachende Ausdruck schwand. „Reichardt möchte Dich zu Tische geleiten, Schwester, und es ist gut, wenn wir rechtzeitig Paare bilden!“ sagte John kurz und wandte sich wieder davon; des Mädchens Blick aber ruhte still und ernst auf Reichardt’s Gesicht, bis dieser ihr den Arm bot und sie in langsamer Promenade durch das Zimmer führte. Er hatte ihr forschendes Auge gesehen, und jedes leichte Wort, mit dem er hätte eine Unterhaltung einleiten können, schien damit wie aus seinem Gedächtnisse gestrichen zu sein; er fühlte ihren Arm leicht wie eine Feder auf dem seinigen ruhen, und eine Empfindung, wie er sie nie vorher gekannt, rieselte durch seine Nerven; er wußte, wie albern er erscheinen mußte, ohne Laut an ihrer Seite zu gehen, während sich um sie her lachend und scherzend die übrigen Paare formirten und selbst der alte Frost mit einer launigen Rede sich bei der Pianospielerin als John’s Stellvertreter einführte, so lange dieser abwesend sei – und doch schien ihm sein Gehirn jeden leidlichen Gedanken zur Anknüpfung einer Unterhaltung verweigern zu wollen. Da hörte er plötzlich seine Begleiterin halblaut in deutscher Sprache beginnen: „Ich hatte mich gefreut, Mr. Reichardt, Sie bei uns zu sehen; Harriet Burton hat mir so Mancherlei von Ihnen geschrieben, daß Sie immer fast wie ein längst Bekannter vor mir standen –!“ Wie in halber Zögerung waren die Worte gesprochen; dennoch klang etwas so Ermuthigendes darin zu Reichardt’s Seele und der deutsche Laut schlug so verwandt an sein Ohr, daß es ihm wurde, als löse sich eine beengende Fessel vor ihm; unwillkürlich mußte er den Blick nach der Redenden wenden und begegnete einem Auge, das wie in scheuer Prüfung zu ihm aufsah.

„Sie sind so unendlich freundlich gegen mich, Miß Frost, daß ich kaum weiß, wie ich Ihnen danken soll!“ erwiderte er in einem Tone, der seinen Worten jeden Charakter von Phrase nahm, und wie in leichter Verwunderung blickte sie von Neuem auf.

„Was thue ich denn Besonderes?“ fragte sie, „aber Sie sind anders, Mr. Reichardt, als ich Sie nach unserm ersten Zusammentreffen in Saratoga mir vorstellte; selbst wohl, als ich Sie durch Harriet habe kennen lernen, und ich hatte mich wirklich auf den heutigen Abend gefreut –“ sie hielt plötzlich inne, als habe sie zu viel gesprochen, und ein leichtes Roth trat in ihr Gesicht; Reichardt aber hätte den feinen Arm, der auf dem seinen lag, fest an sich drücken mögen; es erschien ihm wie eine wahre Seligkeit, der er nicht zu widerstehen vermochte, allen Zwang, den er sich angethan, von sich zu werfen, sich dem vollen Zauber, der auf ihn einwirkte, hinzugeben und dann kommen zu lassen, was da kommen möge. „O, wissen Sie nicht, Miß Margaret,“ erwiderte er, und es war ihm als springe ein ganzer Strom von Lust in ihm auf, „wie wenig der Mensch und seine Stimmungen von ihm selbst abhängen, wie zehnerlei böse Geister, als da sind Rücksicht und Convenienz, Unterschied in Stellung und Lebenslage, und wie sie sonst noch heißen mögen, ihm die glücklichsten Stunden verbittern können? So lange der Mensch nichts zu verlieren hat, kümmert er sich kaum darum und faßt keck hin, wo er ein Glück zu sehen vermeint; kaum daß er aber etwas erobert hat, muß er auch fühlen, welcher Unterschied ihn von Glücklicheren trennt, und muß den bösen Geistern ihren Zoll zahlen. Nicht wahr, Sie meinen, jetzt schwatze ich vielen Unsinn? aber lassen Sie es, Miß Frost, Sie sollen mich heute ganz so haben, wie Sie mich vielleicht erwartet haben mögen!“

Sie war mit sichtlicher Aufmerksamkeit seinen Worten gefolgt. „Aber was haben denn Ihre bösen Geister mit unserem heutigen Abende zu thun?“ fragte sie, das große Auge wie in neuem Forschen auf sein Gesicht heftend, „sind wir denn, wie wir hier beisammen sind, nicht völlig außerhalb ihrer Kreise?“

„Meinen Sie, Miß?“ erwiderte er, und es wurde ihm, als müsse sich jetzt sein Herz weit öffnen und Alles, was es zum Uebermaße gefüllt, in ihr Ohr ausströmen. „Dort geht Ihr bisheriger Tänzer und Gesellschafter,“ fuhr er fort und strebte vergebens, seine Stimme frei von seiner innern Bewegung zu halten; „was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen das zuflüstern wollte, was ihm wohl seine Stellung erlaubt; wenn ich kein anderes Dictat kennte, als die Regungen in mir, denen ich gleichberechtigt mit jedem Andern folgen dürfe – wäre es nicht halber Wahnsinn, Miß Margaret? Und doch wäre das, was in mir lebte, vielleicht tiefer und wahrer, als Ihre Salonmenschen jemals fühlen können, [480] doch bräche mit ihm, da es getödtet und begraben werden müßte, vielleicht der Jugendmuth und die beste Kraft in mir zusammen – meinen Sie nicht, daß die bösen Geister auch hier thätig sein können? Aber lassen Sie nur, Miß,“ fuhr er lebhafter fort, als ein leises Zucken ihres Armes ihn wie ein elektrischer Funke berührte, „Sie werden niemals von ihnen berührt werden, und ich hätte ja nicht einmal ein Wort davon gesprochen, wenn es nicht willenlos Ihrer Aufforderung gefolgt wäre!“

Schweigend gingen Beide weiter, bis er den Blick nach ihr zu wenden wagte. Sie hatte den Kopf halb gesenkt, und er sah nur einen Theil ihres feinen, bleichen Gesichts. „Aber Sie sind mir nicht böse, Miß Frost?“ fragte er zögernd.

Sie sah langsam, einen eigenthümlichen Ernst in ihren Zügen, auf. „Warum soll ich Ihnen böse sein?“ fragte sie halblaut; ihr Auge aber schien tiefer und dunkler zu werden, ein leises[WS 1] Beben machte sich darin bemerkbar, als sie sprach; doch wie zurückgescheucht von dem Ausdrucke in Reichardt’s Blicke, suchte es wieder den Boden.

„Der Truthahn wartet, Ladies und Gentlemen, und Sie erlauben mir, mich als Festmarschall an Ihre Spitze zu stellen!“ wurde in diesem Augenblicke John’s Stimme laut, „vorwärts, Reichardt, mir gleich nach, damit keine längere Zögerung entsteht!“ und lachend formirte sich hinter dem ersten Paare der Zug.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

Ein Blick auf die Waarenlager und das große Feuer in London. Alle Welt weiß etwas von der Ungeheuerlichkeit des Verkehrs und Handels in London, aber Wenige auch derer, die mitten drin stecken, haben eine Vorstellung von der Massenhaftigkeit und Mannigfaltigkeit seiner Einzelnheiten. In den engen Nebenstraßen der City, wo die Häuserwände so hoch steigen, daß man weder Licht noch Himmel oben sieht und man mit Recht hervorschimmernde Sterne am Tage erwarten könnte, wie sie wirklich erscheinen, wenn man aus der Tiefe eines Brunnens oder Bergwerks emporblickt, in diesen furchtbaren Straßenengen gehen wir vor unzähligen Häusern vorbei, deren manches mehr Menschen und Schätze enthält als eine deutsche Stadt oder gar manch deutscher Staat mit Sitz und Stimme im deutschen Bunde. Der Herr und Regent eines solchen Hauses zählt seine Diener und Arbeiter nach Hunderten und Tausenden, seine Schätze nach Millionen. Die sprüchwörtlich gewordenen Bezeichnungen „Kaufmanns-Fürsten, Handelskönige“ etc. sind hier wörtlich zu nehmen. Manch solches Haus setzt jährlich 6–15 Millionen Thaler um. Der Raum in dieser Straßen quetschender Enge ist kaum leer zu kaufen, wenn man ihn dicht mit dicken Goldstücken als Kaufpreis belegt. Ein solches Anerbieten für den Ankauf eines kleinen Stücks Erdoberfläche hinter der Paulskirche wurde auch wirklich gemacht und unter der Bedingung gemacht, daß man die Goldstücke nicht breit neben einander lege, sondern in dichten Reihen auf die hohe Kante schichte und so die Baustelle belege. Zu diesen Gegenden, wo, wie Jemand witzig bemerkte, jeder Quadratzoll leerer Raum einen solid gefüllten Cubikzoll Gold werth ist, Privatgeschäftsleute zu finden, die ihren Grund und Boden nicht nach Zollen, sondern nach Morgen berechnen und von jedem Zoll mehr Bodenrente beziehen, als der Landmann von einem wohlbestellten ganzen Acker – in diesen Gegenden viel, glänzenden, weiten Raum zu finden, das ist das erste Wunder, das uns anstaunt, wenn wir in ein solches engverstecktes Londoner „Waarenhaus“ treten. Mehr und erhabenerer Raum, als im prächtigsten Dome, keine Fenster, aber mehr Licht als draußen unter freiem Himmel, keine Thüren, aber festerer und feuerfesterer Verschluß als in Arnheim’schen Geldspinden, keine Treppen, aber leichterer Verkehr zwischen den verschiedenen Etagen als bei uns zwischen zwei nebeneinander liegenden Stuben, ein Haus, aber mit mehr Straßen inwendig, als in einer ganzen deutschen mit Mahl- und Schlachtsteuer ummauerten Stadt – lauter Wänden solidester Art, fest und hoch gemauert von Steinen außen, inwendig mit oft vielellendicken Wänden von Schnittwaaren, Callico, Cattun, Sammet, Seide, Tuch, kostbar gefüllten Tonnen, Kisten, Ballen und Packeten – 1–10 Millionen Thaler an Werth. Das Licht kommt blos von oben durch’s Glasfensterdach und leuchtet verschönernd in die verschiedenen Etagen-Gallerien herab, die durch auf und ab gleitende „Versenkungen“ voller Waaren und Menschen stets mit einander in lebendiger Verbindung bleiben, so daß man nicht zu steigen, Waarenlasten nicht auf und ab zu tragen braucht. Für Thüren wäre der Raum zu kostspielig. Man schiebt sie eisern und doppelt auf Rollen in die Wände hinein, wenn das Geschäft beginnt, wieder hervor am Abende und macht so die einzelnen Abtheilungen nicht nur diebs-, sondern auch feuerfest.

Das ist eine Idee von einem modernen Waarenhause in der City von London zum Verkauf im Großen. Eben so ungeheuerlich sind die Waarenlager weiter unten, größtentheils an der Themse, besonders auf der Surrey- oder Südseite, östlich von der London-Brücke mit der berühmten Tooleystreet, in welcher neulich zwei solcher Speicher Stoff zu der größten unter den 10,000 Feuersbrünsten lieferten, die London seit dem großen Brande von 1666 – also im Durchschnitt wöchentlich einmal illuminirten.

In der Tooleystraße wohnen keine Menschen, sondern blos Schiffsladungen von Waaren. Am Tage ist sie mit furchtbaren, breiträderigen, dorfkirchenhoch beladenen Wagen und riesigen Pferden mit starkumbuschten Elephantenfüßen und einem solchen Donnern, Knattern, Rasseln und Rasen gefüllt, daß die Menschen nicht mit einander sprechen, sondern sich blos gegenseitig in die Ohren brüllen oder durch Zeichensprache verständlich machen können. Oben über der Tooleystraße giebt’s keinen Himmel, nicht einmal schinkenfarbigen Londoner, sondern blos galgenartig hervorragende, kettenrasselnde, krachende Krahne mit schwebenden, steigenden, sinkenden Centnerlasten.

In dieser Tooleystraße brach also Feuer aus. Es fing ganz bescheiden und verborgen an, dem kleinen Veilchen gleich, aber mit dem Essen kommt der Appetit. Das gilt natürlich von dem entsetzlichsten Vielfraße, dem Feuer, in des Wortes verwegenster Bedeutung. Es bemächtigte sich mit der Zeit – binnen 24 Stunden – aller aufgespeicherten Vorräthe und verzehrte nach einer gedruckten amtlichen Liste folgende Gegenstände: 20,000 Centner Zucker, gegen 8000 Centner Kaffee, über 300 Säcke Cacao, mehr als 4000 Centner Pfeffer, über 1000 Kisten Ingwer, 180 Centner Packete Cassia, 1684 Packete Sago, über 500 Packete kostbarer Farbenstoffe, 2000 Pack Lackfarbe, 369 Tonnen Salpeter, der explodirte, 24,000 Ballen Baumwolle, über 1000 Packete verschiedener Harzstoffe, 10,000 Centner Hanf, 170 Ballen Saffran, 83 Ballen Senna, 110 Pack Schellack, 1500 Ballen Gelbwurz, 8839 Fässer Talg, 4000 Speckseiten, 5000 Fässer Fleisch – Inhalt des einen Waarenlagers – in dem andern daneben: 16,000 Säcke klaren Zucker, 700 Ballen Hanf, 130 Tonnen (à 20 Centner) Cichorien, 300 Säcke Kleesaat, 14,000 Säcke Mehl, über 5000 Säcke Hopfen, 173 Kisten Gutta Percha, 350 Tonnen Oliven-Oel und mehrere Tausende von Tonnen verschiedenster Farbenstoffe.

Man denke sich diesen Verbrennungsstoff von 24stündiger Dauer, diesen Fraß und diese Verdauung von Werthgegenständen, an denen oder deren Werth eine ganze preußische Armee auf dem Kriegsfuße ein ganzes Jahr zu kauen und zu verdauen gebabt haben würde. Die Straße ist ungeheuer eng im Verhältniß zu ihrer vollgepfropften Höhe und Länge, so daß die von allen Seiten herbeijagenden Spritzen und Helden, die das mit jedem Augenblicke vielköpfigere Ungeheuer erlegen sollen, keinen Platz finden. Die Rettung der Speicher wird bald aufgegeben, und man beschränkt sich auf den Schutz der Umgebungen. Dies gelingt so meisterhaft, daß das Brand-Ungeheuer sich in seiner allmächtigsten Wuth doch am Ende ohnmächtig selbst verzehren muß. Es wirbelt und prasselt die lohenden Flammen himmelhoch und beleuchtet die Drei-Millionen-Stadt in der erhabensten Weise, besonders die Schiffe und Mastenwälder auf der Themse unten, die Paulskirche, die prächtige Zollhaus-Façade, den Tower, die London-Brücke. Eine entsetzliche Attaque auf die Schiffe mit fließenden, brennenden Oel- und Talgströmen über die Themse hin bildet das furchtbarste Schauspiel, aber die Schiffe werden gerettet. Auch die Salpeter-Explosion verdonnert verhältnißmäßig ohne großen Schaden. Nur der tapferste Held und Feldherr der Feuerwehr fällt mitten im siegenden Kampfe glorreicher als mancher bedenkmalte Feldmarschall, der auf Befehl Tausende in den Tod commandirte, ohne daß man hinterher eine Spur von Ehre oder Nutzen entdecken konnte. – Das große Feuer hat die beiden verzehrten Waarenlager sehr stark beleuchtet, sodaß wir wohl weiter kein Licht hinzuzufügen brauchen.


Federn, als Ableiter des Blitzstrahls. In dem zu Potschappel bei Dresden gelegenen Postgebäude schlug vor Kurzem der Blitz ein. Die Anwesenden wurden betäubt, da der Blitz durch fast alle Zimmer des Hauses fuhr, wie noch jetzt an den Verletzungen des Mauerwerks deutlich zu sehen. Auffallend ist jedoch die Bemerkung, die man dabei gemacht hat, daß da, wo sich zufällig Federn befanden, der Blitz sich regelmäßig theilte und sich nach links und rechts verzweigte. So bemerkte man, daß über einem Schwalben- oder Sperlingsnest, das am Sims des Hauses war, sich der Blitzstrahl sichtlich in angedeuteter Weise getheilt hatte. Ebenso und noch auffallender war es zu sehen, daß in einem Zimmer, wo ein Bündel Federn (zum Pfeifenreinigen) an der Wand hing, der Blitzstrahl in gleicher Weise sich theilte, und das ziemlich hart darunter hängende Gebund Federn durchaus nicht verletzt war, während die Spuren des Blitzstrahls sich sehr markant an der Wand zeigen. Es ist eine alte bekannte Volksmeinung, daß Vogelnester an einem Hause Segen bringen und daß das Hinwegreißen derselben Unglück bringen soll. Es entsteht nun die Frage (nach dem eben Erzählten), ob sich diese Volksmeinung nur auf ein Vorurtheil gründet, oder vielmehr auf eine Erfahrung, die dem Gebiete der Naturwissenschaft angehört. H. K.




Kleiner Briefkasten.

Sigelius. Bedauere nicht annehmen zu können. Disponiren sie gefälligst über die Manuscripte.

G. Kl– in Leipzig. Nicht zu brauchen. Geben Sie behufs Rücksendung gefälligst Ihre genaue Adresse an.

J. R. in Celle. Wie oft sollen wir noch wiederholen, daß Gedicht-Manuscripte niemals zurückgesandt werden?

C. P. in Wien, Gnomen. Nicht zu verwenden.

Aus Zwickau. Dürfte sich mehr für ein sächsisches Localblatt eignen.

C. R. in B. Keine Rösselsprünge!

A. R. in Lsdhn. Bedauern ablehnen zu müssen.

J. H. in Außig. Für Erfüllung Ihres Wunsches fehlt uns alle Zeit.

L. in Wien. Ihre Mittheilungen über „österreichische Militairjustiz“ sind sehr interessant, eignen sich aber nicht zur Veröffentlichung.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Es dürfte nicht uninteressant sein, anzumerken, wie damals eine österreichische Erzherzogin erzogen wurde. Die Instruction, welche Maria Theresia für die Erziehung ihrer Tochter Josepha entwarf, lautete im Wesentlichen so: „Sie soll oft ausgehen, in Speisen sehr einfach gehalten werden. Sie soll spanisch und italienisch lernen. Um 7 Uhr muß sie aufstehen, nach dem Morgengebet und einer geistlichen Lectüre frühstücken. Montag, Mittwoch und Freitag unterrichtet sie Pater Richter von 9 bis 10 Uhr in der christlichen Lehre, im lateinisch und deutsch Lesen. Um 11 Uhr Messe, um 12 Uhr Mittagessen. Von halb 2 bis 2 Uhr Historie lesen, bis 3 Uhr deutsche Lehre. Dann kommt der Tanzmeister, um 4 Uhr der welsche Meister. Um 5 Uhr wird der Rosenkranz ganz laut gebetet. An den andern Tagen kommt der französische Meister, deutsche und französische Stylübungen werden vorgenommen und Musik gelehrt. Es wird der Hofmeisterin empfohlen, darauf zu sehen, daß die Erzherzogin freundlich sei, auch gegen die Dienstleute.“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: leses