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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[145]

Ein Deutscher.[1]

Roman aus der amerikanischen Gesellschaft.
Von Otto Ruppius.

An der Quarantaine vor New-York lag der Dreimaster Adelheid von Bremen mit 274 Einwanderern. Er war zu spät angekommen, um der Prüfung der Gesundheitsbeamten unterworfen zu werden, und so war jetzt die warme, sternenhelle Nacht über dem Schiffe aufgestiegen. Von den Passagieren schliefen nur wenige. Die Meisten von ihnen hatten beim Anblick der nahen Küste schon Nachmittags eine Generalreinigung mit sich vorgenommen, hatten die Koffer geöffnet und sich in sonntäglichen Staat geworfen, damit sie mit Anstand ihren Fuß an das neue Land setzen könnten; jetzt mochte fast Niemand noch einmal die alten Schlafplätze aufsuchen, und wo ein freier Raum auf dem Verdeck war, lag Gruppe an Gruppe bei einander, die Männer rauchend und die oft ausgesponnenen Pläne und Hoffnungen noch einmal durchsprechend, die Frauen mit ihren Kindern beschäftigt oder mit erhöhtem Interesse der Weisheit der Männer lauschend.

Unweit der beschränkten Kajüte, welche die Wohnung des Capitäns bildete, hatte sich eine kleine Anzahl junger Leute gelagert. „Immer nur laufen lassen, was sich nicht halten läßt,“ sagte eine joviale Stimme, wie in Fortsetzung des stattgefundenen Gesprächs, „es soll mir nicht einfallen, mir schon einen halben Gedanken über das, was dem Menschen hier passiren kann, zu machen; ich sage, wir kommen morgen hier noch einmal zur Welt, und Keiner weiß mehr von dem, was aus ihm werden wird, als das Wickelkind in der Wiege. – Immer laufen lassen, was sich nicht halten läßt, Herr Professor,“ wandte er sich mit erhöhtem Tone und einem launigen Augenzwinkern nach einem jungen Manne, der, etwas abseits auf das Verdeck gestreckt, eine einsame weibliche Gestalt an der Brüstung des Schiffes zu beobachten schien, und unter dem leichten Gelächter der Uebrigen fuhr der Angeredete, wie auf unrechten Wegen ertappt, in die Höhe. „Predigt der Kupferschmied einmal wieder?“ lachte er, als wolle er eine leichte Verlegenheit verbergen.

„Ja wohl, aber immer nur tauben Herzen!“ erwiderte der Andere, „ich denke, wir probiren es jetzt einmal mit dem Singen und lassen unser Lied los; ’s ist gerade eine Nacht, wie dafür gemacht!“

Der abseits Liegende richtete sich auf und warf einen Blick über das Verdeck. „Ich denke selbst, es ist jetzt die rechte Stimmung dafür da, und es muß gut in der Stille klingen,“ sagte er. „Los denn, wir sind ja bei einander!“

Die Umliegenden erhoben sich und formirten einen Halbkreis; der junge Mann gab mit leiser Stimme den Ton, bezeichnete ein paar Taktschläge mit dem Finger, und in kräftigen Accorden begann es nach Mendelsohn’s Weise „wer hat dich du schöner Wald“:

Sei gegrüßt, Amerika,
Vaterland, das wir erkoren,
Gieb uns, was wir fern verloren,
Sei mit deinem Segen nah!
Sei gegrüßt, sei gegrüßt,
Sei gegrüßt, Amerika!

Schon bei dem Beginne des Quartetts waren die Gespräche unter den übrigen Gruppen verstummt, und in prachtvoller Wirkung zogen die Klänge durch die nächtliche Stille über die schlummernden, unbewegten Wasser; die einsame Mädchengestalt an der Brüstung hatte sich langsam umgewandt und lauschte, den Kopf leicht geneigt, bis die Schluß-Accorde des zweiten Verses verklungen waren; dann wandte sie den Blick nach dem Lande, auf welchem sich aller Orten schimmernde Lichter erkennen ließen, und blieb wieder so unbeweglich, als sie es bis jetzt gewesen.

„Jawohl, gegrüßt wäre es; jetzt wollen wir auf den Dank warten,“ sagte der als „Kupferschmied“ Bezeichnete, als die Sänger auseinandertraten; „ich hole meine Matratze herauf und mache mir es bequem, bis wir das neue Vaterland bei besserem Lichte besehen können.“ Er verschwand, und die Uebrigen, von dem geäußerten Gedanken sichtlich angesprochen, beeilten sich, lachend seinem Beispiele zu folgen. Nur der zuletzt Herbeigetretene nahm langsam seinen frühern Platz wieder ein, wo sich von dem einzelnen Mädchen ein Theil ihres mattbeschienenen feinen Gesichtes beobachten ließ. Wie heute, hatte er sie an manchem Abende der langen Reise, wenn der größte Theil der Passagiere schon schlief, stehen sehen, und es hatte ihm Vergnügen gemacht, aus diesen jugendlichen, bleichen Zügen ganze Geschichten herauszulesen. Sie war die Einzige auf dem Fahrzeug, welche trotz des engen Zusammenlebens in Zwischendeck und „Steerage“ noch heute allen Uebrigen so fremd gegenüberstand, als am Tage der Ausfahrt; sie hatte sich in Bremen einer Familie, welche Steerage-Passage genommen, angeschlossen gehabt; von dieser aber wußte auch Niemand mehr über sie, als daß sie Mathilde Heyer heiße und zu Verwandten gehe, welche irgendwo in New-York wohnen sollten; im Zwischendeck, wo jede Besonderheit sofort ihre Bezeichnung fand, war sie nur als das „gnädige Fräulein“ bekannt; weiter indessen war der Spott nicht gegangen, da selbst auf rohere Gemüther das bleiche schöne Gesicht in seiner Zurückhaltung einen eigenthümlichen Einfluß ausübte. Der jetzige Beobachter hatte, wie alle übrigen jungen Leute, beim [146] Anfang der Reise ein reges Interesse an der ungewöhnlichen Erscheinung genommen, er hatte aber, als er bei Andern jede versuchte Annäherung vereitelt sah, sich fern gehalten und „bewunderte von Weitem, ganz Ritter Toggenburg,“ wie der Kupferschmied sich ausdrückte. Er mußte jetzt unwillkürlich lächeln, als er sich seiner augenblicklichen Stellung inne ward,

Blickte nach der Liebsten drüben,
Blickte stundenlang,

und doch konnte er sich nicht helfen, in dieser geheimen Beobachtung einen ganz eigenthümlichen Genuß zu finden.

Da richtete sich das Mädchen aus ihrer gebeugten Stellung auf und warf einen Blick auf ihre Umgebung; bei dem Anblicke des jungen Mannes, welcher allein an die Kajütenwand gelehnt dasaß, schien sie einen Augenblick zu zaudern, that dann aber einige Schritte ihm entgegen. „Herr Reichardt –!“ sagte sie halblaut.

Der Angerufene war im Nu auf seinen Füßen.

„Ich möchte mir eine Frage erlauben,“ sagte sie halblaut nach ihrem früheren Platze zurücktretend. „Wir werden morgen früh in New-York sein, und ich muß einen ziemlich entfernten Theil der Stadt aufsuchen, weiß aber kaum, wie ich meinen Weg dahin werde finden können. Sie sprechen bereits geläufig englisch, wie ich gehört habe –“

„Ich stelle mich mit allen meinen schwachen Kräften vollkommen zu Ihrer Disposition, Fräulein!“ erwiderte er eifrig, und die Nacht verbarg die in seinem Gesichte aufsteigende Röthe.

Ein Gepolter unterbrach das Gespräch. Aus der Luke zum Zwischendeck wälzten die Sänger ihre Matratzen herauf, und mit einem eiligen: „Ich rechne auf Sie!“ fühlte der junge Mann seine Hand gefaßt – nur leicht wie die Lüftchen um sie, nur einen einzigen Moment, aber er meinte die Berührung in allen Nerven zu spüren. Dann war sie wie ein Schatten an der Brüstung hingeglitten und verschwunden.

„Jetzt, ehrenwerther Professor, sprechen wir noch ein Wörtchen,“ sagte der Kupferschmied, zwei Matratzen zu Boden werfend, während die Uebrigen sich an der andern Seite der Kajüte Raum für ihr Lager suchten; „hier habe ich für Ihre Bequemlichkeit mit gesorgt, und nun sagen Sie mir, was Sie morgen nach der Landung zu thun gedenken. Sie sind zwar mit Ihrem blondwallenden Haare und rothen Backen noch etwas sehr jung gegen mich, aber ich habe mir so eine Idee gemacht, daß Sie gerade deßwegen Glück haben müssen in Amerika, und da ich vor der Hand meinem künftigen Schicksale durchaus nichts vorschreiben will, so habe ich beschlossen, mich Ihnen anzuschließen, bis unsere Wege von der unbegreiflichen Macht, die wir nicht kennen und nicht erklären können, von einander geschieden werden.“

„Kupferschmied, Sie fangen wieder an zu predigen!“ unterbrach ihn der Andere, sich behaglich auf die hingeworfene Matratze streckend.

„Ruhig! Des Menschen Bestimmung zeigt sich am ersten, wenn das volle Herz aus ihm spricht – und ich will Ihnen sagen, daß ich Sie lieb habe, Reichardt. Sie sind allerdings Kaufmann und haben noch andere Kunstfertigkeiten, wozu der Kupferschmied schlecht paßt; Sie können aber nicht sagen, was aus mir noch Alles werden kann – immer laufen lassen, was sich nicht halten läßt! Sie wissen ja! – und so sagen Sie mir, ob Sie schon einen bestimmten Plan für Ihr erstes Unterkommen haben, damit ich mich danach richten kann!“

„Wir werden uns jedenfalls in irgend ein Gasthaus werfen müssen, zu der Auswahl ist aber morgen noch Zeit,“ erwiderte der Jüngere gähnend – „aber warten Sie, Meißner,“ unterbrach er sich, „wir wollen im Shakespeare-Hotel zusammentreffen; ich werde erst nach einigen Stunden bei Ihnen sein können – das Warum lassen Sie sich einmal nicht kümmern – und dann mögen wir berathen, was weiter werden soll!“

„Ich glaube wahrhaftig, der Mensch hat schon eine Bestellung in der neuen Welt!“ rief der Kupferschmied kläglich, „ich würde mich kaum wundern und hätte auch nichts dawider – immer laufen lassen, was sich nicht halten läßt! – im Shakespeare-Hotel also, gut, und bis dahin gute Nacht!“ Er legte sich auf die Matratze zurück, und nach Kurzem deutete ein gewichtiges Schnarchen den Ernst an, mit welchem er sich dem Schlafe übergeben.

Reichardt sah noch eine Weile in den sternbesäeten Himmel über sich und grübelte, warum das „gnädige Fräulein“ gerade ihn, der ihr doch die wenigsten Aufmerksamkeiten erwiesen, zu ihrem Begleiter auserwählt, bald aber wurden seine Gedanken verworren und auch über ihn war der Schlummer gekommen, ehe er es nur vermuthete. – –

Am andern Morgen um zehn Uhr lag das Schiff im New-Yorker Hafen, und in buntem Gewühle, an allen Seiten bepackt, strömten die Einwanderer an’s Land. Während der ganzen morgendlichen Fahrt hatte sich Reichardt in der Nähe von Mathilde Heyer gehalten, ohne sich indessen bemerkbar zu machen; er sah, daß das Mädchen noch bleicher war als gewöhnlich, daß oft, wenn sie den Blick nach dem Lande wandte, es wie eine peinliche Spannung durch ihre Züge ging, und erst, als sie während des Durcheinanders der Schiffsbevölkerung von ihren bisherigen Begleitern Abschied nahm und, ihren Koffer fassend, einen suchenden Blick um sich warf, trat er heran, trug ihr Gepäck zu dem seinigen und reichte ihr dann den Arm. „Wir werden jedenfalls einen Wagen in der Nähe finden, der Sie schnell nach irgend einem Stadttheile bringt; natürlich begleite ich Sie!“ sagte er. „Wollen Sie Ihren Koffer gleich mit sich nehmen, so laden wir ihn auf!“

„Lassen Sie Alles vorläufig, bis ich sichere Auskunft erlangt habe!“ erwiderte sie und drückte seinen Arm leise, als wolle sie ihn zur Eile treiben. Reichardt schuf Bahn durch das Gewühl der Menschen; als er aber die Landungsbrücke erreicht hatte, brummte eine Stimme in seine Ohren: „Der Toggenburg ist gegen den Schiller’schen Text – aber nur immer laufen lassen. Drei Stunden werde ich im Shakespeare warten!“

Es hatte unter den landenden Zwischendeck-Passagieren wohl noch selten ein so bemerkenswerthes Paar das Ufer betreten, als Reichardt mit seiner Begleiterin. Beide mochten von gleichem Alter sein; während aber unter seinem Pariser Hute üppiges dunkelblondes Haar hervorquoll und ein Gesicht einsäumte, dessen märchenhafte Frische nur durch ein Paar blitzender, leicht zusammengezogener Augen einen Anstrich männlicher Bestimmtheit erhielt, bildete ihr Kopf in der Blässe des feingeschnittenen, von reichen schwarzen Flechten eingerahmten Gesichtes den lebendigsten Gegensatz. Und während in der Kleidung des jungen Mannes trotz ihrer Eleganz eine Art künstlerischer Nonchalance vorherrschte, zeichnete das einfache Kleid des Mädchens jede Linie des schlanken Oberkörpers ab, lag es über ihrer ganzen Toilette wie ein Duft von Ordnung und Sauberkeit.

Beide hatten die Reihe der wartenden Miethkutschen erreicht, und Mathilde zog einen Zettel, bezeichnet mit einem Namen und einer Straßennummer hervor. Reichardt versuchte unter den herandrängenden Kutschern sein Englisch, und bald befanden sich Beide in einem der geschlossenen Wagen, der angegebenen Richtung zurollend.

Das Mädchen saß, gerade aufgerichtet, mit einem Blick voll so viel Spannung auf ihrem Platze, daß es Reichardt für zudringlich hielt, jetzt ein Gespräch mir ihr zu beginnen; bald indessen schien sie selbst sich ihres Sichgehenlassens bewußt zu werden. Sie wandte den Kopf und lächelte ihrem Begleiter zu, während sich, alle ihre Züge verklärend, ein leises Roth über ihr Gesicht verbreitete.

„Ich habe mich noch nicht einmal entschuldigt, daß ich Sie so ohne Weiteres Ihren eigenen Angelegenheiten entreiße,“ begann sie, und durch Reichardt’s Kopf schoß es, welche wunderschöne Stimme in des Mädchens Kehle stecken müsse, die schon in den gesprochenen Worten ihm wie Musik in die Ohren klang, „ich bin aber in einer so eigenthümlichen Lage, daß ich selbst die allernächsten Dinge vergessen könnte –“

„Thun Sie sich in keiner Weise Zwang an, Fräulein,“ erwiderte er, „ich habe nichts zu versäumen und wäre glücklich, acht Tage lang zu Ihren Diensten zu sein. Haben Sie sich über irgend etwas auszusprechen?“ fuhr er mit einem Anfluge von Verlegenheit fort, „– ich bin freilich der Unbedeutendste von Ihren bisherigen Bekannten auf dem Schiffe –“

Ein leichtforschender Blick traf das Auge des Sprechenden, dann aber blitzte ein so eigenthümlich neckisches Lächeln in ihrem Gesichte auf, daß sich plötzlich der ganze Charakter desselben verwandelt zu haben schien. „Halten Sie sich wirklich selbst für so unbedeutend?“ fragte sie; schon im nächsten Augenblicke aber trat der frühere, sorgenvolle Zug wieder zwischen ihre Augen, und sie streckte dem jungen Manne die kleine behandschuhte Hand entgegen. „Ich danke Ihnen von Herzen – ich möchte Ihnen allerdings ein paar Worte sagen, die ich zu Keinem von den Andern hätte äußern [147] mögen; that doch Jeder, als habe er nur die Aufgabe, genau zu ergründen, was ich sei und habe, oder als komme ich ihm gerade recht zur Vertreibung seiner Langeweile.“ –

„Ich glaube, Sie sind nicht ganz gerecht, Fräulein Mathilde,“ erwiderte der junge Mann lächelnd. „Mochte auch die Neugierde ihr Theil zu thun haben, so war doch Ihre ganze Erscheinung so abstechend von den Uebrigen, und – ich will jetzt nicht anfangen Schönheiten zu sagen –“

Sie hatte während des Sprechens den Handschuh von ihren Fingern gezupft. „Nein, um Gotteswillen nicht, wenn ich weiter zu Ihnen reden soll; lassen Sie mir den Glauben, daß Sie nicht sind, wie die Andern,“ unterbrach sie ihn und streckte ihm von Neuem die Hand entgegen. Reichardt sah in ein Auge, das im vollen, bittenden Vertrauen ihn anblickte, er fühlte den Druck dieser weichen, zierlichen Finger und hätte in diesem Augenblicke auch das halb Unmögliche zugesagt.

„Sprechen Sie, Fräulein, sprechen Sie und denken Sie, daß Sie neben einem Bruder säßen,“ sagte er, und in seinem Händedrucke, wie in seinem Tone sprach sich Alles aus, was er nur hätte sagen mögen.

„Es ist mit einigen Worten gethan, Sie mußten es zum Verständniß unserer vielleicht längern Fahrt wissen,“ erwiderte sie. „Ich habe in New-York nur einen einzigen Anhalt, einen Bruder meiner Mutter – ob er aber noch da ist, wohin mich die Adresse, die schon einige Zeit alt ist, weist, ist eine Frage, die mich während der ganzen langen Reise gepeinigt hat – und doch habe ich diese auf jede Gefahr hin antreten müssen. Finde ich ihn nicht sogleich, so muß ich weiter suchen, und Gott gebe dann nur, daß ich schnell den rechten Weg finde.“

„Und weiß er nicht, daß Sie kommen werden?“ fragte ihr Begleiter, „haben Sie ihm nicht vorher geschrieben?“

„Ich habe geschrieben, einmal vor vier Monaten, aber ohne Antwort zu erhalten, und das zweite Mal bei meiner Abreise!“ erwiderte sie, die Augen nach ihm aufschlagend, als wolle sie Hoffnung oder Furcht aus seinen Mienen schöpfen.

Reichardt nahm seinen Hut ab und fuhr mit den Fingern durch das reiche Haar. „Wir werden ja sehen – Briefe gehen eher verloren als Menschen,“ sagte er. „Jedenfalls aber,“ setzte er mit einem hellen Blicke hinzu, „rechnen Sie auf mich, Fräulein, soweit Sie nur von meinen Kräften Gebrauch machen wollen.“

„Ich danke Ihnen!“ versetzte sie mit einem tiefen Athemzuge, wandte dann aber, als wolle sie seinem Blicke ausweichen, das Auge nach der belebten Straße.

Nur einige Minuten noch waren sie schweigend weiter gefahren, als der Wagen hielt, der Kutscher vom Bock sprang und den Schlag öffnete. „Dies ist der Platz!“ sagte er nach einem Hause zeigend, dessen Thür auf schwarzlackirtem Blech die Worte „Private Boarding“ zeigte. Reichardt sprang auf die Straße, hob seine Begleiterin aus dem Wagen und gebot dem Kutscher zu warten. Als er die Klingel zog, fühlte er den Arm des Mädchens in dem seinen zittern.

„Wohnt ein Mr. Jung hier im Hause?“ fragte er, sein Englisch bestens aufstutzend, das Dienstmädchen, welches die Thür öffnete. Die Befragte überflog erst das Aeußere des Paares und sagte dann, sie wisse es nicht, sie wolle Mistreß fragen, Beide möchten so lange in den Parlour treten.

Es dauerte eine kurze Weile, in welcher Mathilde, ohne sich niederzusetzen, die Augen starr auf die offene Thür gerichtet hielt, bis die Gerufene erschien und Reichardt seine Frage wiederholen konnte. Die Hauseigenthümerin schien nachzudenken. „Mr. Jung,“ begann sie endlich langsam, während des Mädchens Augen jedes Wort aus ihrem Munde, von dem sie doch keins verstand, aufzufangen schien, „das war der deutsche Gentleman, ich besinne mich; er bekam, wohl sechs Monate zurück, die Pocken, wurde in’s Hospital geschafft und starb dort.“

Reichardt fühlte bei der kurzen, gleichgültig gegebenen Nachricht selbst wie eine Art Stich im Herzen, und er mußte seine ganze Herrschaft über sich wach rufen, um dem Mädchen, welches in Erwartung der deutschen Übersetzung den Blick nach ihm gewandt, nicht die Wahrheit auf einmal zu verrathen. „Hier ist er nicht mehr, kommen Sie, Fräulein, wir sprechen im Wagen weiter!“ sagte er; aber in diesem Augenblick sah er, wie eine tiefe Blässe ihr Gesicht überlief und fühlte ihre Hand an seinem Arme, als wolle sie sich daran festhalten. „Sagen Sie mir gleich Alles,“ sprach sie in sichtlicher Anstrengung, ihre Schwäche zu überwinden, „es ist besser für mich, glauben Sie mir!“

„Sie geben der jungen Dame wohl ein Glas kaltes Wasser!“ wandte sich Reichardt besorgt nach der Wirthin. „Sie ist die nächste Verwandte des Mr. Jung, und eben erst von Europa angelangt, um ihn hier zu finden!“ und als die Angeredete mit einem bedauernden Kopfschütteln davon geeilt war, führte er das Mädchen nach dem Sopha. „Fassen Sie sich, Fräulein Mathilde,“ sagte er, ihre beiden Hände ergreifend, „denken Sie, daß Sie einen Bruder in mir haben sollen, wenn Sie ihn nur annehmen, der alle seine Kräfte für Sie bereit hat.“

„Sagen Sie mir nur das Eine – ist er todt?“

„Er ist todt, bereits seit sechs Monaten!“

Sie sah eine kurze Weile, ohne zu sprechen, vor sich hin und erhob sich dann, trank das ihr entgegengebrachte Wasser und schritt mit einem leichten Gruße, dem jungen Mann voran, zur Thür hinaus; als der letztere indessen den Wagenschlag öffnete, um ihr in den innern Raum zu helfen, blieb sie stehen und fragte mit einem rathlosen Blicke: „Wohin aber nun?“

„Das findet sich, jetzt kommen Sie nur!“ erwiderte er, rief dem Kutscher zu, nach dem Hafen zu fahren, wo sie eingestiegen, und bald saßen sich Beide wieder einander gegenüber. „Sie sagen, Fräulein, es war Ihr einziger Anhalt, welchen Sie in Amerika hatten?“ begann er in ihr ängstlich erwartendes Gesicht blickend.

„Ich habe Niemanden weiter – auch des Onkels, den ich hier suchte, erinnere ich mich nur aus meinen Kinderjahren; aber ich weiß, daß ich eine so sichere Stütze an ihm gehabt hätte, als ich jetzt rath- und hülflos in der fremden Stadt stehe.“

Reichardt sah eine Secunde lang vor sich nieder. „Ich habe keinen Begriff von den Ansprüchen, welche Sie hier an das Leben machen –“ sagte er langsam wieder aufblickend.

„Ansprüche?“ erwiderte sie wie verwundert, „ich will jetzt gern für den Unterhalt meines Lebens arbeiten, wenn ich nur dafür Gelegenheit und den nöthigen Schutz finde – das ist Alles –“

„Gut, Fräulein, so sind Sie um kein Haar schlimmer daran als ich selbst, und ich sehe nirgends eine Ursache zu Sorge und Bangigkeit,“ erwiderte er, sich gerade aufsetzend. „Ich habe Ihnen gesagt, daß ich Ihr Bruder sein werde; wollen Sie mich dazu annehmen, so nehmen Sie mein ehrliches Wort, daß ich Ihr Vertrauen rechtfertigen werde, geben Sie mir Ihre Hand und lassen Sie unsere Schicksale zusammenwerfen. Geschwisterpaare, die hier ankommen, sind etwas Gewöhnliches und Niemand wird ein Arg hegen – nehmen Sie meinen Vorschlag wenigstens so lange an,“ setzte er hinzu, als er ein hohes Roth in des Mädchens Gesicht treten und eine eigenthümliche Befangenheit sich über ihre Züge verbreiten sah, die ihn fast selbst aus seiner Sicherheit brachte, „bis irgend eine Gelegenheit Ihnen einen bessern Schutz verschafft – es muß ja nun einmal jedes Verhältniß der Welt gegenüber einen Namen haben –“ in Mathildens Gesicht begann aber schon ein hellaufsteigendes Lächeln jeden andern Ausdruck zu verdrängen, ihr Auge glänzte auf, und wie einen Entschluß in sich zu Ende bringend, legte sie langsam ihre Hand in die Reichardt’s. „Es ist gut, ich will Ihre Schwester sein,“ sagte sie mit dem vollen Klange ihrer tiefen, wohlklingenden Stimme, „ich breche mit Allem, was hinter mir liegt, und bilde mir meine eigene Zukunft – ich werde Ihnen nicht zur Last fallen, sobald ich nur im Stande sein werde, einen freien Blick über dies Meer von Häusern und Menschen zu gewinnen –“

„Zur Last oder nicht – Alles gemeinschaftlich und gegenseitig,“ erwiderte der junge Mann, ihre Hand festhaltend, „zuvörderst habe ich selbst noch keine Beschäftigung; für einige Zeit ist indessen gesorgt, und dann getheiltes Glück oder getheiltes Leid, wie das Schicksal will. Aber etwas Anderes!“ fuhr er angeregt fort, „wenn wir auch Stiefgeschwister mit verschiedenen Namen sind, muß doch das geschwisterliche Du zwischen uns herrschen, und der nöthigen Uebung halber sollten wir wohl gleich damit beginnen!“

Wieder wollte das frühere Roth in ihrem Gesichte aufsteigen, wurde aber im Entstehen von ihr bemeistert. „Nennen Sie mir Ihren vollen Namen!“ sagte sie ruhig.

„Max Reichardt.“

„Gut, Max, nun sei mein rechtschaffener Bruder!“

„Du sollst mit ihm zufrieden sein, Mathilde!“

Zwei Secunden noch hingen die Augen Beider wie unbewußt [148] in einander, dann zog sie leise ihre Hand aus der seinen und wandte den Blick nach der Straße hinaus.

Sie waren schweigend weiter gefahren, der junge Mann mit den Gedanken an das, was jetzt die nächste Zukunft nöthig machte, beschäftigt, bis der Wagen wieder am Hafendamme hielt. Reichardt bedeutete das sich erhebende Mädchen ihren Platz zu behalten und sprang allein in’s Freie. Ein rascher Blick durch den Wald von Masten zeigte ihm die Adelheid mit ihrer kleinen aufgesetzten Kajüte, und befriedigt wandte er sich an den Kutscher, zuerst den bedungenen Preis bezahlend und sich dann nach einem anständigen deutschen Boardinghause im Innern der Stadt, in welchem er mit seiner Schwester eine Zeitlang wohnen könne, erkundigend. Trotz allen Nachdenkens hatte er keinen andern Weg entdecken können, um für das Mädchen schnell ein Unterkommen zu finden und zugleich den übrigen mit ihnen angelangten Einwanderern aus dem Auge zu kommen. Bediente sie der Zufall schlecht, so war es am nächsten Tage noch immer Zeit, sich nach etwas Besserem umzusehen. Indessen versprach der Kutscher, sie nach einem Hause, das ihnen zusagen werde, zu bringen; die Koffer Beider waren schnell an’s Land geschafft und äußerlich auf dem Fuhrwerk placirt, während Reichardt einen fein polirten Violinkasten sorgfältig auf den Vordersitz in das Innere stellte, und bald rollte das Paar wieder in die Stadt hinein.

„Weißt Du wohl, Bruder Max,“ begann Mathilde mit einem hellen Lächeln zu dem jungen Manne aufsehend, „daß es meine liebsten Stunden auf dem Schiffe waren, wenn Du Abends Deine Geige herausholtest und zu phantasiren begannst? Da ist ein Lied von Proch: „Ziehn die lieben goldnen Sterne“, das sich ganz wunderbar schön in der Durcharbeitung machte, und ich habe oft das Thema secundirt, natürlich nur zwischen den Lippen – ich meinte erst, Du müßtest Musiker sein, bis es später hieß, Du wärst Kaufmann –“

„Und das schien Dir sich nicht mit einander zu vertragen? hat auch anderen Leuten schon so geschienen!“ lachte Reichardt auf, „ich glaube, die Violine trägt eine Hauptschuld, daß ich mich über das große Wasser gemacht habe, um einmal hier mein Glück zu versuchen. Wenn es mir auch nicht einfällt, meinem eigentlichen Berufe untreu zu werden, so ist man doch wenigstens außerhalb des Geschäfts sein freier Herr und kann so viel Musik und andere Alfanzereien, wie mein guter Prinzipal meine Studien titulirte, treiben, als man will. Brod ist vor der Hand natürlich die Hauptsache, aber ich denke, es soll nicht lange fehlen; ich bin doch in meinem Geschäfte gewiß ebenso taktfest als in dem, was ich zum Vergnügen treibe!“

Ueber Mathildens Gesicht ging es bei den letzten Worten ihres Begleiters wie eine trübe Wolke; sie wandte das Gesicht der Straße zu, und auch Reichardt’s Aufmerksamkeit wurde durch das niegesehene Treiben von Fuhrwerken und Menschen, wie es den Geschäftstheil der großen Stadt bezeichnet, in Anspruch genommen.

Vor einem leidlich anständig aussehenden Hause hielt endlich der Wagen, und der Kutscher lud ohne Weiteres das Gepäck ab. Ein warmer Speisegeruch empfing die Ankommenden beim Eintreten und vor ihnen öffnete sich ein großes, von vieler Benutzung zeugendes Zimmer, in dessen Hintergrunde sich ein abgebrauchtes Billard und ein mit Gläsern besetzter Schenktisch zeigten. Was den jungen Mann indessen mit dem ersten unangenehmen Eindrucke aussöhnte, war eine junge, knappe Frau, welche ihnen mit freundlichem Gesicht entgegentrat, und ein Piano, unweit des Fensters. Seine Fragen über ein passendes Logis waren bald zur Zufriedenheit beantwortet; für die „Schwester“ gab es ein hübsches Zimmer dicht neben der Schlafstube der Wirthsleute, Reichardt aber fand sein Unterkommen eine Treppe höher, und als nach Besichtigung der Räumlichkeiten ihm Mathilde bejahend zunickte, übergab er das Mädchen und das gemeinschaftliche Gepäck der Wirthin zur besten Fürsorge, ließ sich Straße und Nummer der neuen Heimath bezeichnen und machte sich dann nach dem Shakespeare-Hotel auf den Weg.

„Das ist mir ein sauberer Anfang für die amerikanische Cameradschaft,“ rief ihm der Kupferschmied entgegen, als er nach manchem Irregehen und Wiederzurechtfragen endlich am rechten Orte in das allgemeine Gastzimmer trat; „jetzt hierher, es giebt ganz erträgliches Bier, was mich schon einigermaßen über die Zukunft tröstet, und nun ordentlich mit der Sprache heraus – wenn sich das nämlich thun läßt, sonst mag meinetwegen laufen, was sich nicht halten läßt!“

Reichardt ließ sich nach einem unbesetzten Tische führen, erfrischte sich und sah dann lächelnd in das gespannte Gesicht des Andern. „Haben Sie schon ein festes Logis, Meißner?“ fragte er.

„Sie wissen doch, daß ich seit drei Stunden hier auf Sie warte?“

„Gut, so kommen Sie nach dem obern Theile der Stadt; ich weiß dort etwas Passendes – ich wohne schon dort mit meiner Schwester.“

Der Kupferschmied sah ihn eine Weile mit weit aufgerissenen Augen an und ließ dann einen leisen, langen Pfiff hören. „Mit der Schwester – so?“ sagte er endlich; „ich will Ihnen sagen, Professor, jetzt gebe ich den Glauben an die Menschheit auf und nenne mich selber einen Esel!“

Reichardt faßte halb lachend, halb ärgerlich seinen Arm. „Denken Sie denn, ich käm’ zu Ihnen, wenn in der Sache Schlimmeres wäre, als der ersten Klatscherei unter den Uebrigen aus dem Wege zu gehen? Ihnen sage ich’s, weil Sie eine treue Haut sind, Meißner, und wir möglichst lange bei einander zu bleiben gedachten.“ Er begann in kurzen Umrissen den Sachverlauf seit seiner Bestellung am Abend zuvor zu erzählen und die verlassene Stellung der Verwaisten, die von selbst seine Unterstützung beansprucht, darzulegen.

„Sagen Sie mir nur,“ frug der Andere, das Kinn in die Hand stützend, „sind Sie in das Mädchen verliebt?“

Reichardt sah zwei Secunden wie nachdenkend vor sich hin. „Verliebt nicht, Meißner, auf mein Wort nicht,“ erwiderte er dann, „ich hatte vom Anfange ein lebendiges Interesse an ihr genommen, weil sie etwas so Besonderes war; das ist aber auch jetzt noch Alles!“

„Gut, so ist sie verliebt in Sie – glauben Sie mir! und ich möchte Sie doch fragen, was am Ende daraus werden soll. Haben Sie denn noch nicht an die schwachen Stunden gedacht, die bei einer solchen Bruder- und Schwester-Geschichte ganz von selber kommen werden? Laufen lassen, was sich nicht halten läßt, nicht wahr? Es möchte Ihnen freilich für den Anfang schmecken; aber was denn dann? Heirathen in Ihren jungen Jahren und sich aus purer Menschenliebe die ganze Zukunft verderben?“

Reichardt schüttelte den Kopf; „’s ist keine Gefahr von der Seite, Meißner,“ erwiderte er; „wenn ich auch einmal schwärme, so bin ich doch im nähern Umgang mit Frauen mehr als kalt, und ich kann Ihnen sagen, daß ich, trotz meiner zwanzig Jahre und trotz mancher gebotenen Gelegenheit, es noch nicht zu einem einzigen wirklichen Liebesverhältniß habe bringen können.“

„Auch gut, wenn Sie das auch einem Andern nicht erzählen dürften!“ brummte der Kupferschmied, „ich will’s Ihnen glauben, und um so eher kann ich Sie fragen: Haben Sie denn schon an den Lebensunterhalt über die nächsten paar Wochen hinaus gedacht? Sie selber haben mir einmal gesagt, daß bei Ihnen das Geld eben so wenig dick sitze, als bei mir, und daß Ihre Empfehlungsbriefe Ihr Haupthalt seien - wissen Sie denn, ob sie etwas hat und ob sie irgend eine Arbeit versteht, die hier zu Lande sich bezahlt? Ich habe in beiden Punkten meine leisen Zweifel; sie war auf dem Schiffe so wenig verproviantirt, daß ich eigentlich kaum weiß, wie sie hat durchkommen können – und wenn die andern Frauenzimmer die faule Zeit benutzten, um zu stricken oder sonst für sich etwas zu arbeiten, war sie immer das „gnädige Fräulein“, das spazieren ging oder die Sterne bei hellem Tage suchte – wollen Sie sich denn aus purer Gutmüthigkeit eine Last auf den Hals laden, der Sie, wenn Sie nicht sehr viel Glück haben, kaum gewachsen sein können?“

„Werden das Alles sehen, Meißner; heute wenigstens will ich mir noch keine Sorge darüber machen!“ erwiderte Reichardt, seine Haare zurückstreichend, „jetzt ist nur die Frage: wollen Sie mit mir zusammenwohnen, bis jedes seinen rechten Weg gefunden hat?“

„Soll mich der Himmel bewahren, ich bin kein Mensch für Frauenzimmer und würde der Gnädigen meine Meinung gleich ganz grob heraussagen!“ erwiderte der Kupferschmied in sichtlichem Aerger; „man geht nicht nach Amerika, ohne daß man nur weiß, was dort anfangen, und hängt sich endlich an den ersten hübschen, jungen Menschen –“

(Fortsetzung folgt.)
[149]

Wild-, Wald- und Waidmannsbilder.

Von Guido Hammer.
Nr. 14.

Der gehetzte Hirsch.

Obwohl zur Zeit in Deutschland wohl nirgends mehr die mittelalterliche Hetzjagd im eigentlichen Sinne des Wortes, sei es, auf Schwarz- oder Rothwild, vorkommt, so geschieht es doch noch hier und da, daß die individuelle Liebhaberei eines Jagdherrn oder Jägers noch dann und wann einmal, namentlich bei angeschossenem Wilde, Fanghunde anwendet, und bei Sauen viel häufiger, als beim Hirsch. Im letzteren Falle ist dieses Verfahren nach modernen Jagdbegriffen sogar kaum zulässig, da sich der Hirsch gegen dergleichen Hunde gar nicht oder doch nur in äußerster Noth stellt, vielmehr, wenn es ihm irgend möglich ist, so weit er nur kann, entflieht und so – jetzt, wo die geregelten Revier grenzen sich nur allzuhäufig berühren und Nachfolge auf fremdem Reviere nicht gestattet ist – dem Jagenden verloren gehen würde. Dennoch bin ich in der Lage, meinen Lesern eine Jagd dieser Art schildern zu können, bei der ich eine der drastischsten Scenen, die ein Hirschleben wohl bieten kann, selbst erlebte.

Ein schneereicher, doch nicht zu harter Winter hatte begonnen, als ich Gelegenheit hatte, einer Lappjagd[2] auf Hochwild beizuwohnen. Es waren darin bestätigt:[3] ein Hirsch von zwölf Enden, mehrere geringe, aber lauter geweihte[4] Hirsche, dann ein Trupp Wild, wobei ein geltes[5] Thier, eine uralte „Plautze“, die an ihrem ganz weißschimmligen Kopfe kenntlich, geschossen werden durfte. Auch einige Sauen waren im Jagen. Um letzterer willen hatte einer der mitjagenden Förster zur Vorsorge einen gewaltigen Hetzhund, den er sich aus purer Liebhaberei hielt, mitgebracht, im Falle ein „Schwarzkittel“, wie er die Sauen nannte, angeschossen [150] werde, dem dann „Wodan“, so hieß die Rüde, auf den Hals gehetzt werden sollte, was ein besonderes Privatvergnügen für den originellen Besitzer des Hundes geworden wäre. Aber es kam anders.

Die Schützenlinie war bereits eine Weile angestellt. Trampelnd hatte man sich einen schneefreien Fleck getreten, um die Füße möglichst vor der Kälte zu schützen, als man in der Ferne die ersten Hornsignale hörte, die die Treiber, welche an den äußersten Lappen angelegt waren, abbliesen. Mit rascher schlagendem Herzen wartete ich gespannt auf das Wild, das, wenn das Treiben richtig ging, den Schützen gegenüber über eine Blöße kommen mußte. Ruhig lag das tiefüberschneite Gehau vor mir, das von einer Dickung geschlossen wurde. Glänzend schien die Sonne darauf, so daß sich die Unebenheiten in dem mit Haidekraut bestandenen Terrain tiefblau markirten. Fast geblendet, ließ man dennoch keinen Gegenstand aus dem Auge, und schon ein aus dem Dickicht herüberfliegender Schwarzspecht, der sich, wie zum Hohne, dicht neben mir an einem dürren Buchenstamme niederließ, um hämmernd nach Larven zu suchen, machte mich aufzucken. An dem Klappern der Stöcke, die die Treibeleute hin und wieder gegen die Kiefern schlugen, hörte man, wie dieselben vorrückten. Die Folge davon war, daß sehr bald der Raubritter vom rothen Pelze – Freund Reinecke – auf einen Augenblick am Rande der drüben liegenden Dickung erschien, aber eben so schnell wieder verschwand, um wahrscheinlich inwendig am Rande gedeckt hinzuziehen und zu sehen, „wo der Zimmermann das Loch gelassen“ habe. Endlich, nachdem die Treiber immer mehr vorgerückt waren, hörte man es drüben brechen – und ein Hirsch trat heraus, dem noch vier, unter ihnen als letzter der Zwölfender, folgten. Einen Moment blieb der ganze Trupp ruhig stehen und äugte herüber; da sie aber die Treiber hörten, trollten sie vorwärts, leider von mir ab, doch der Schützenlinie zu. Vor der Hand blieb mir also nichts als die Beobachtung übrig, ohne daß ich dabei das Gegenüber, wo jeden Augenblick der Trupp Wild mit dem alten Thiere erscheinen konnte, vernachlässigte. Meiner Meinung nach mußten die Hirsche bereits auf Schußweite an die Schützen herangekommen sein, aber noch fiel kein Schuß. Da machten sie plötzlich Halt. Seitwärts von mir, weit ab, stieg ein blaues Wölkchen auf, die Hirsche wendeten, wobei der Zwölfender entschieden zeichnete[6], welcher Wahrnehmung donnernd der erste Schuß durch die helltönende Luft nachdröhnte. Rasch hintereinander folgten noch mehrere Schüsse. In rasender Schnelle durcheilten die Flüchtigen die schneeige Fläche, daß der flaumige Krystall in Wolken emporstiebte, die in der Sonne wie ein Heer blitzender Sternchen funkelten. Vor dem Holze machten sie nochmals Halt. Man sah, daß sich der starke Hirsch, der jedenfalls eine Kugel hatte, vom Trupp trennen wollte, aber doch, als jetzt die Treiber laut wurden und der Trupp Mutterwild flüchtig aus dem Dickicht brach, sich mit den abermals fliehenden Hirschen wieder in Bewegung setzte und ganz am Ende, zwischen dem letzten Schützen und den dort stehenden Lappen, die Linie passirte. Mehrere Schüsse, die noch fielen, gaben ihm das Geleit, ohne jedoch von Erfolg zu sein. Nun kam auch das Wild in’s Feuer; da jedoch nur auf das alte Thier geschossen werden durfte, und nicht alle Schützen so sicher im Heraussuchen waren, so wurde, obgleich der Trupp fast die ganze Schützenreihe passirte, verhältnißmäßig wenig geschossen und kein Stück verletzt.

Ein losbrechendes „Hua, Sau, Sau!“ unter den Treibern, kündete jetzt Sauen an, aber diese, durch das viele Schießen bereits kopfscheu geworden, gingen nicht heraus, sondern brachen, wie man hörte, durch die Treiber und, wie wir später erfuhren, seitwärts auch noch durch die Lappen. Als die Treiber alle heraus waren und „Ganz machten“[7], wurde beschlossen, das Treiben von der anderen Seite wieder herumzuholen, wobei die Schützen also gleich auf ihren Ständen stehen bleiben mußten, nur daß sie sich umdrehten, an welcher abwartenden Lage freilich die Zehen – wenigstens die meinigen – nicht eben Wohlgefallen hatten. Gewiß eine halbe Stunde hatten wir bereits ruhig gestanden, wozu nun die Aussicht kam, wenigstens doppelt so lange wieder auf einem Flecke aushalten zu müssen, da, ehe die Treiber an die gegenseitigen Lappen angelegt wurden, recht gut ein halbes Stündchen vergehen mußte, und dann bis zum Herankommen des Treibens mindestens ebensoviel Zeit erforderlich war. Die Spannung hilft aber glücklicherweise auch über solche frostige Zeitabschnitte hinweg. Wieder hörte man die Signalhörnchen ertönen, und das Treiben setzte sich in Bewegung. Diesmal ließen die nun schon angstvoll regegewordenen Hirsche nicht lange auf sich warten, bald kamen sie durch das hohe Holz, welches wir jetzt vor uns hatten, geflogen. Mancher Schuß krachte ihnen zu, und da natürlich die Meisten auf den Zwölfer, den die Aufregung noch immer beim Trupp gelassen hatte, schossen, so gingen seine jüngeren Cameraden abermals wie gefeit frei aus, während der bereits Angeschossene wieder zwei Kugeln erhalten hatte, doch ohne zu stürzen. Die Hast, mit welcher die Hirsche beschossen worden waren, wirkte günstig für das im vollsten Fliehen gleich hinterher kommende Mutterwild, so daß nur ein paar Schüsse, und zwar ohne Erfolg, auf sie abgefeuert wurden. In brausender Flucht flog Alles über das Gehau, und nur der Zwölfer bog, nun schwer krank, nach der Seite ab, um sich dort in’s Dickicht zu stecken und niederzuthun. Jetzt kam man überein, dem angeschossenen Hirsche Ruhe zu lassen, dagegen das sämmtliche andere Wild noch einmal herumzuholen, wobei ich vorzog, mit den Treibern zu gehen, da zu vermuthen war, daß das aufgeregte Wild, statt vorzugehen, durch das Treiben brechen würde.

Wie gedacht, so geschehen. Kaum daß die Leute ein Stück vorwärts waren, kam der ganze Troß, jetzt Hirsche und Wild beisammen, in tollsten Sätzen gerade auf die lärmenden Bauern zu, und ehe ich – im Dickicht – schießen konnte, hatten sie die Linie durchbrochen und fielen über die Lappen. Dies war ein herrlicher Anblick. Ein Achtender war der Erste, der mit gewaltigem Sprunge die etwa sechs bis acht Ellen hoch gestellten Lappen überfiel und das ganze hinterdrein kommende Wildpret zu gleichem Wagniß veranlaßte. Wie die Bolzen schossen alle nach, entweder drüber weg oder zwischen die Reihen der Lappen durch, wobei ein Hirsch, sich in den Leinen verwickelnd, zum Stürzen kam, sich aber im Augenblicke wieder aufraffte und den andern im Fluge folgte. Wohl schoß ich dem Ueberfallenden eine Kugel nach, aber, wie vorauszusehen, ohne Erfolg. Da jetzt außer dem tödtlich verwundeten Hirsche nichts mehr im Jagen war, war also die eigentliche Jagd beendet; doch da es noch früh am Tage war und der angeschossene Zwölfer, wenn nicht bereits verendet, doch sehr krank sein mußte, entschloß man sich zur sofortigen Nachsuche, die, hätte die Jagd länger gewährt, erst des andern Tages vorgenommen worden wäre. Der Schnee erleichterte das Vorhaben. Bald hatten wir die Schweißfährte. Ein Jäger, der behutsam darauf fortging, da die Treiber hierbei nicht angewendet werden sollten, kam bald darauf wieder zu den vorher angestellten Schützen zurück, mit dem Berichte, er habe den jedenfalls dem Verenden nahen Hirsch sitzen sehen, habe ihn aber absichtlich nicht vollends todtgeschossen, weil er geglaubt, daß vielleicht Wodan, der bisher nur Sauen gejagt hatte, an ihm für Rothwild genossen[8] gemacht werden könnte, da im vorliegenden Falle kaum an ein Entrinnen des Hirsches zu denken sei. Die Idee fand allseitig Anklang, und die schnaufende Rüde wurde auf der Fährte herangeführt. Natürlich ging ich mit, um einen so vielversprechenden Jagdmoment nicht zu versäumen.

Ziemlich nahe herangekommen, sah man den Hirsch auf einer kleinen Blöße im Dickicht, augenscheinlich todtkrank, sitzen. Jetzt wurde der Hund vom Riemen gelöst, und wie ein lebendiger Teufel stürzte er auf sein Opfer zu. Anstatt daß aber der Hirsch, wie wir vermuthet, nicht aufzukommen vermochte, oder doch bei einem etwaigen Versuche dazu zusammenbrach, raffte er sich im Gegentheil so plötzlich empor und wurde mit einer Eile flüchtig, daß an ein Schießen auf ihn gar nicht gedacht werden konnte. Fort stürmte nun die wilde Jagd, daß es knackend und krachend durch das Dickicht tönte, wozu das heulende Gebell des gierigen Hundes die Begleitung gab. Sofort, als der Hirsch flüchtig wurde, war ich im Sprunge nach, und, obgleich im Moment weit hinter den Dahinstürmenden zurückbleibend, gewann ich im Laufe der Zeit doch manchen Vorsprung durch Abschneidung größerer Strecken, die ich je nach der Richtung, wo der Hund laut war, in Wegfall brachte, so daß ich eben dazu kam, wie der tödtlich geängstigte Hirsch mit einer Federkraft, die dem gesündesten Ehre [151] gemacht hätte, über die Lappen fiel. Der Hund folgte ihm natürlich unaufhaltsam nach; eben so ich, wobei ich mir beiläufig einzuschalten erlaube, daß das der einzige Fall gewesen, wo ich „durch die Lappen gegangen“ bin.

In tollem Laufe ging die Jagd augenscheinlich einem Teiche zu, der im Reviere lag, weshalb ich, da ich das Terrain genau kannte, auf kürzestem Wege dorthin rannte, und wirklich glückte es mir, zeitig genug dort anzulangen, um sehen zu können, wie – vielleicht dreihundert Schritte von mir – der immer noch flüchtige Hirsch durch das Geröhricht brach, um über den zugefrorenen Teich zu gehen. Schon hatte er eine ziemliche Strecke gewonnen, der Hund dicht hinter ihm her, als das Eis unter dem Fliehenden zerkrachte, daß es laut durch die stille Waldung hallte, und das Wasser hoch über ihm zusammensetzte. Aber auch jetzt noch rang der bereits Entkräftete mit unglaublicher Ausdauer um sein Leben. Indem er sich emporarbeitete, um mit den Vorderläuften Boden auf der gebrechlichen Decke zu fassen, wobei das schwache Eis immer und immer niederrasselnd unter dem Rettungsbedürftigen zusammenbrach, war der Hund herangekommen, der sich mit wüthigem Muthe in die kalte Fluth stürzte, um hier mit rasender Gier den Gehetzten zu ergreifen, was ihm auch, als der Hirsch, abermals zusammenbrechend, fast mit dem ganzen Leibe unter das Wasser kam, gelang, indem er das von ihm verfolgte, mit den Elementen kämpfende edle Thier im Genicke zu fassen bekam. Noch einmal ließ die schmerzensvolle Angst den Hochgeweihten sich emporraffen und aus den düstern Fluthen heraussteigen, wobei der Hund nicht losließ, sondern sich wie ein wilder Reiter an dem Rücken seines Opfers klammerte, das nun unter den Zähnen seines erbitterten Verfolgers mit dem Tode rang. Mit emporgehobenem Kopfe, die Lecke aus dem Geäße[9] hängend und das prächtige Geweih weit hinter sich gebogen, versuchte das sterbende Thier zum letzten Male, sich auf das Eis zu arbeiten, als der Märtyrer plötzlich nach der Seite hin zusammenbrach und, ohne sich zu regen, mit dem zackigen Schmucke oberhalb des Wassers im Eise hängen blieb, so daß sich Kopf und Hals und Vorderlauf über der Fluth befanden. Ein Büchsenschuß von einem unterdessen von jenseits herangekommenen Jäger, der als ausgezeichneter Schütze bekannt war, hatte dem Hirsch eine Kugel mitten durch das Licht[10] und das Gehirn – wie sich später ergab – geschossen und ihn von seiner Qual befreit. Dröhnend hallten die Echos des Schusses nach, als würde eine Salve über das feuchte Grab des gefallenen Waldfreiherrn geschossen.

Der Hirsch war verendet, das sah man selbst auf die Entfernung von ein paar Hundert Schritten – so weit von mir hatte die Scene gespielt – aber wie sollte man ihn nun herüberbekommen? Das Eis war zu dünn, um ein sicheres Bewegen auf demselben zu gestatten; und doch war schnelles Handeln nöthig, denn der Hund war trotz allem Pfeifen des allenthalben herangekommenen Jagdpersonals, worunter auch sein Herr, nicht abzubringen, und die Art und Weise, wie sich Wodan gebehrdete, ließ deutlich erkennen, daß er sich verbissen habe und, ohne ausgeknebelt zu werden, kaum wieder aus dem Genicke des Hirsches werde loskommen können. Wie es sich später bestärigte, lag der Hirsch, zum Glück für den Hund, in einer seichten Stelle. Die heftigen Bewegungen des letzteren, der sich loszumachen strebte, ließen indessen jeden Augenblick fürchten, daß der todte Recke vollends hinabsinken, den Hund mit unter das starre Eis ziehen und so noch im Tode das Wiedervergeltungsrecht üben könne. Einige Tollkühne wollten deshalb hinüber über das Eis, um den Hund zu retten, was jedoch von den besonneren Aelteren, unter denen auch Wodan’s Herr, nicht geduldet wurde. Leute wurden abgeschickt, um möglichst schnell Aexte zum Aufeisen und Leinen zum Herüberschaffen zu holen, während die Zurückbleibenden mit Stangen einen alten verwetterten im Eise liegenden Kahn flott machten, um ihn herauszuheben und an das der Handlung zunächst gelegene Ufer zu bringen. Hier wurde vor der Hand auch mit Stangen und Holzscheiten von dem nahen Gehau aufgeeist, um das zerbrechliche Fahrzeug vom Stapel lassen zu können, wo man dann, mit demselben wippend, weiter Bahn brach. Aber wie langsam ging das im Verhältniß zu der nöthigen Eile! Auf einmal traf die allgemeine Befürchtung zu – der Hirsch rutschte vom Eise hinab in das ihn umgebende dunkele Wasser, und mit ihm verschwand Wodan. Ein allgemeines unwillkürlich ausgestoßenes „Ach!“ folgte ihm, das jedoch sofort in Jubel überging, als der versunkene Hund, zwar mühsam und winselnd, aber gesund den Wellen entstieg und in rapidem Laufe dem erfreuten Herrn zuflog.

Heulend vor Freude, sich dann und wann die eisige Nässe aus dem Haar schüttelnd, umsprang der Gerettete den Förster, der, hätte er es nicht anstandshalber unterlassen, jedenfalls seine Sprünge erwidert haben würde. Durch das Untertauchen und das damit verbundene Wasserschlucken hatte der wahrscheinlich eingetreten gewesene Kinnbackenkrampf des Hundes aufgehört, und die Fessel, die ihn an den erlegten Gegner gebunden, war somit gelöst.

Der glückliche Ausgang der tollen Jagd hatte neues Leben unter die Jagdgenossenschaft gebracht, so daß in lustiger Weise darüber gescherzt wurde, wobei besonders Wodan’s Herr mit seiner ausgestandenen Angst herhalten mußte. Ein Treiber mußte sofort den Hund nach Hause führen, damit er nicht verschlug, während die andern Bauern sich mit dem Kahne zum Hirsche hinarbeiteten. Endlich war auch dieses Stück Arbeit gelungen, und langsam wurde nun die Beute in der eisfreien Wasserbahn dem Kahne nachgezogen, bis sie endlich am Ufer durch angebrachte Fangleinen in Triumph vollends herausgezogen ward. Bald kam Succurs aus dem Dorfe mit Pferd und Schlitten, und der Gefällte wurde auf grüne Tannenbrüche gebettet, um nach dem Schlosse abgeführt zu werden. Bei Besichtigung der Wunden, die er bekommen, stellte sich’s heraus, daß der erste Schuß ein Hohlschuß dicht unter dem Rückgrat gewesen, während die beiden andern Kugeln, die er noch im Treiben empfangen hatte, beide waidewund saßen, die vierte aber, die ihn im Wasser tödtete, wie schon gesagt, durch den Kopf gegangen war. Noch hatten die Zähne des Hundes im Genicke des Getödteten Spuren hinterlassen, als wäre er dorthin mit Posten geschossen worden.

Schon trat die Dämmerung ein und der aufgehende Mond verschönte malerisch das Jagdbild, welches der sich in Bewegung setzende Zug bot. Es war nach Sonnenuntergang empfindlich kalt geworden, so daß sich der rauchende Athem der Menschen mit dem den schnaufenden Nüstern des erhitzten und dampfenden Rappens, den ein bepelzter Bauer lenkte, entströmenden mischte. Stampfend zog der rauhhaarige Gaul den erlegten Hirsch durch den weißen Schnee, während sich letzterer mit Eis überzog, das sich auf dem nassen Haare seines Körpers bildete. Allmählich wurde es immer düsterer, namentlich im geschlossenen Walde, durch den sich das Mondlicht nur wie huschend Bahn brach, zitternd und buntschillernd fing Stern auf Stern an am klaren Winterhimmel zu flimmern, so daß bald eine der herrlichsten mondhellen und sternprächtigen Nächte über dem stillen Walde sich ausbreitete. Vorwärts ging der Troß, der mit seinen dunkeln Gestalten wie ein Leichenzug, der es ja in der That auch war, hinzog, auf engem Waldespfade oder über einsame Waldblößen, die mit dem hellen, geisterhaften Lichte des Mondes übergossen waren. Hundegebell verkündete endlich das Ziel, wohin der geweihgekrönte Todte gebracht werden sollte. Ruhig lag bald darauf das viergethürmte Jagdschloß mit seinen Wetterfahnen in düsteren Waldeswellen da. Wie ein mächtiges, vielgemastetes und gewimpeltes Geisterschiff aus dunkler, windstiller See erschien das alterthümliche Gebäude mit seiner Umgebung. Magisch erglänzten die Fenster der jetzt unbewohnten Räume im silbernen Schimmer des leuchtenden Nachtgestirns, während in einer der untersten Wohnungen, gleichsam im Zwischendecke, das Licht des alten Schloßwartes als goldenes Sternlein herüberlugte. Beim Vorüberziehen des Jagdzuges wurden dem ergrauten Insassen, der früher ein gewaltiger Jäger war, als Abendständchen die noch geladenen Büchsen abgeschossen, daß es knatternd durch die stille, helle Luft dröhnte und rollend weiter hallte. Das goldglänzende Sternlein verschwand hierauf im Fenster, um als flackerndes Licht vor dem Schloßportale zu erscheinen, wo jetzt der greise Castellan sichtbar wurde, um die erlegte Beute und davon seinen Jägerantheil,[11] welches Recht er sich von früher vorbehalten hatte, in Empfang zu nehmen. Schnaubend und stampfend brachte das müde Roß den Hirsch die Schloßrampe heran, wo ihn kräftige Arme abluden, während der helllodernde Kienspan [152] des weißbärtigen, einsamen Schloßbewohners die ganze Gruppe, so wie den unteren Theil des Schlosses mit der nächsten Umgebung, malerisch beleuchtete, so daß die Thürme und die oberen Etagen mit dem hochgegiebelten Dache, da Alles vor dem Monde lag, in tiefster Dunkelheit in die schimmernde Sternenpracht des wolkenlosen Himmels hineinragten. So endete dieser, wenn auch nicht eben erfolgreiche, doch höchst interessante Jagdtag, dessen Bilder noch lange in mir lebendig bleiben werden.




Der neue Weg nach Quito und das Innere von Ecuador.

Von Fr. Gerstäcker.

Mein Aufenthalt am Pailon, an dem ich fast drei und einen halben Monat zugebracht, näherte sich seinem Ende. Ich sehnte mich danach, meine Reise endlich wieder aufzunehmen und meinen Plan, sämmtliche deutsche Colonien Süd-Amerika’s zu besuchen, auszuführen.

Vorher mußte ich freilich noch das Innere des Landes kennen lernen, an dessen tropischem Ufer ich bisjetzt gelebt und von dessen hochgelegenem Inneren ich schon soviel und Rühmliches gehört. Selbst die Hauptstadt des Landes, Quito mit seinem vielgepriesenen „ewigen Frühling“, reizte mich, und ich beschloß meinen Weg dorthin zu nehmen und dann von dort nach Guajaquil hinab zu gehen. Ueberdies mußte ich, ehe ich Ecuador verlassen konnte, noch einmal mit dem Director der Compagnie zusammentreffen, mit dem ich sehr viel zu besprechen hatte, und es war nicht wahrscheinlich, daß ich ihn auf diesem Weg verfehlen könnte.

Am 25. Septbr. war die Rittiwake, das Fahrzeug der Expedition, von San Lorenzo abgesegelt, und ziemlich erschöpft von der Arbeit, die ich dabei gehabt, bestimmte ich den Tag zum Ausruhen und bestellte mir auf den nächsten Morgen ein Canoe, das mich nach einem höher gelegenen[WS 1] Theil der Bai, am Santiago-Fluß hinauf, bringen sollte. Von dort folgte ich, in den Bogota einbiegend, dem Cachavi aufwärts und betrat da erst, wo die Schifffahrt aufhörte, den eigentlichen Wald, über den ich schon ziemlich traurige Berichte gehört. Der Weg, der hindurch führte, hieß allerdings camino real, bestand aber blos dem Namen nach, und die, welche diesen Weg schon einmal gegangen, wußten ihn gar nicht schrecklich genug zu beschreiben. Diese Strecke ließ sich aber nicht umgehen, wenn ich auch zu Wasser unsere nach dem Bogota ausgehauene trocha umgehen konnte, und es half deshalb Nichts, sich davor zu fürchten.

Die Fahrt im Canoe that mir wohl, denn lang gestreckt darin konnte ich mich ordentlich ausruhen, während ein dichtes Blätterdach die heißen Sonnenstrahlen von mir abhielt. Am ersten Tag war auch nicht viel zu sehen, denn wir liefen an den Mangrovesümpfen der Bai hin, die erst dort aufhörten, wo sich der Santiago mit seinem süßen Wasser ihr entgegenwirft – und süßes Wasser kann der Mangrovebaum eben nicht vertragen.

Hier begannen überall Plataners oder Pisangfelder am Ufer – hier und da standen Cocospalmen und Kaffee, Baumwolle wie Cacao mit Orangen und andern Fruchtbäumen waren angepflanzt. Das Ganze schien aber doch noch neu, und man sah überall, daß die Eigenthümer des Landes hätten mit geringer Mühe weit mehr thun können, als sie eben gethan, wenn diese Leute überhaupt mehr arbeiten wollten, als sie zum Leben unumgänglich nöthig haben.

Fast alle diese Anpflanzungen gehören Negern oder einer starken Mischlingsrace der Neger, und es sind meistens durch das Gesetz befreite Sclaven, die sich hier ein Eigenthum gegründet haben.

Der Santiago ist ein breiter, schöner Strom, der aber nahe seiner Mündung in die Tolabai so weit durch flaches und niedriges Land läuft, daß die Ebbe und Fluth bis hoch hinauf einen Einfluß auf ihn ausübt. In der Nähe der Bai verwandelt sie in der Fluthzeit sein Wasser in Salz, und weiter hinauf stemmt sie es nur für viele Meilen bis selbst in den von Norden kommenden Nachbarfluß Bogota hinein.

Dorthin bogen auch wir am zweiten Tag ein, aber nur auf eine kurze Strecke, bis wir das kleine Städtchen Concepcion erreichten, und von hier aus sollte ich am nächsten Tag in einem kleineren Canoe meinen Weg den reißenden Cachavi hinauf fortsetzen. Hier mußte ich mich auch mit Vorräthen versehen, denn weiter hinauf waren keine Lebensmittel zu bekommen, als höchstens Pisang, während das weiter im Inneren gelegene Land, wie Alle bestätigten, einen wahren Ueberfluß von allen Arten von Lebensmitteln hervorbrachte, die nur eben nicht durch die Wildniß geschleppt werden konnten. Ein Beweis mehr wie nöthig ein Weg war, der diese beiden besiedelten Strecken mit einander verbinden sollte, daß sie ihre Producte gegeneinander austauschen konnten.

Meine Vorräthe waren bald eingelegt – es bedurfte dazu nicht viel. Etwas Brod, etwas hart gebratenes Schweinefleisch, das sich einige Tage hielt, und ein paar Pfund Chocolade – das war Alles. Am nächsten Morgen mit Tagesanbruch kam das Canoe an, ein etwas schmales, schwankes Fahrzeug mit zwei jungen, vielleicht funfzehnjährigen, bis auf den Gürtel vollständig nackten Negerburschen, diesmal aber ohne Schutzdach gegen die Sonne, was sich nicht gut darauf anbringen ließ, und wir stießen vom Ufer ab. – Für die beiden vorigen Tage Canoefahrt, mit noch einem Gefährten, hatte ich für mein Theil vier und einen halben Dollar bezahlt. Für diese beiden Burschen für zweitägige Fahrt zahlte ich drei Dollars und einen Dollar für den Gebrauch des Canoes, wobei ich noch ein paar Dollars für Lebensmittel auszulegen hatte.

Im Anfang und so lange wir uns in dem breiteren und tiefen Bogota befanden, konnten die jungen Burschen ihre Ruder noch gebrauchen, sobald wir aber in den Cachavi einbogen, hörte das auf, denn der ganze Fluß bestand aus einer fast ununterbrochenen Reihe von Stromschnellen, durch die hin uns weiter Nichts als Stangen vorwärts helfen konnten. Die Geschicklichkeit der beiden jungen Burschen war außerordentlich darin, und so genau wußten sie ihre Stangen einzusetzen und der Kraft zu begegnen, die den Bug des Canoes bald herüber bald hinüber werfen wollte, daß dieses auch nicht ein einziges Mal eine willkürliche oder falsche Bewegung machen konnte. Oft aber, und besonders je höher wir kamen, war die Strömung des Wassers so reißend und der Fall so groß, daß sie selbst mit ihren Stangen Nichts mehr ausrichten konnten, sondern über Bord springen mußten, das schwanke Fahrzeug gegen die Wucht der Wasser anzuziehen und zu schieben. Es war gar nichts Seltenes, daß wir auf 15–18 Fuß 10–12 Fuß Fall hatten, und ein paar Mal schoß das Wasser in das Canoe. Darauf waren aber die jungen Burschen schon vorbereitet, denn der Platz, wo ich mit meinem Gepäck gerade in der Mitte lag, war mit breiten Bananenblättern so besteckt, daß das aufschlagende Wasser wohl in das Canoe laufen, aber weder mich noch meine Sachen durchnässen konnte. Der hintere Theil des Canoes lag aber fast stets viel tiefer als der vordere, und der Bursch dort hatte eine ganz eigene Fertigkeit, das einlaufende Wasser mit den Füßen wieder herauszuschnellen. Mit dem einen Fuß blieb er fest stehen und den anderen schlug er, etwas eingebogen, dagegen, sodaß er alles dazwischenkommende Wasser geschickt über Bord sandte.

Nur an einigen zu flachen und steilen Fällen, wo mein Gewicht zu groß war, stieg ich aus und watete einige Schritt durch das grobe Geröll. An allen übrigen Stellen blieb ich ruhig liegen, den beiden Burschen es vertrauungsvoll überlassend, mich sicher aufwärts zu schaffen. – Die Nacht schliefen wir bei einem Neger am Ufer, und dicht vor Sonnenuntergang schwoll der Strom plötzlich so rasend an, daß er in einer halben Stunde wohl drei Fuß stieg. Der Neger beruhigte uns aber vollkommen darüber, daß er bis Tagesanbruch wieder vollständig in seinem alten Bett sein würde, und er hatte Recht. So rasch er gestiegen, fiel der Strom auch wieder, und wir konnten ungehindert am nächsten Morgen unsere Fahrt fortsetzen.

Die Plantagen wurden jetzt sehr selten, häufig aber begegneten wir Canoes im Strom, die zum Theil nur von Frauen vorwärts gestoßen wurden. Meine beiden jungen Führer sagten mir, daß hier die Cachavi-Goldminen begönnen, und diese Canoes dazu gebraucht würden, Lebensmittel zu den verschiedenen Stellen zu schaffen. Diese Cachavi-Goldminen sind Privateigenthum, in [153] den Händen Einzelner, und wurden früher durch Sclavenarbeit allein bearbeitet. Jetzt hat das aufgehört, und die Eigenthümer müssen mit den hier wohnenden Negern bestimmte Contracte machen, um sie zum Goldgraben zu bewegen. Die Minen scheinen aber, allen vernünftigen Anzeichen nach, nicht sehr reichhaltig zu sein, denn erstlich enthalten sie nur sehr feines Blattgold, und dann würden sich die dort lebenden Neger schwerlich zu den beschwerlichen Sumpfmärschen und zum Lasttragen hergeben, bei dem sie den Tag nicht einmal einen Dollar verdienen, wenn sie mehr mit Goldwaschen erübrigen könnten.

Am Pailon wird das Nämliche der Fall sein. Ich zweifle gar nicht daran, daß sich im Inneren des Landes und in den Bergen noch viel Gold finden wird, sobald man eben ordentlich danach gräbt; so weit aber von den eigentlichen[WS 2] goldhaltigen Bergen entfernt, muß das edle Metall fein und verwaschen sein, und wenn es sich auch findet, kann man es doch nicht in gehöriger Menge erlangen, die darauf verwandte Arbeit zu bezahlen.

Mittags, den zweiten Tag, während der kleine Strom so schnell und reißend wurde, daß es an manchen Stellen kaum möglich war, das leere Canoe über die Stromschnellen zu ziehen, erreichten wir endlich das kleine, fast nur von Negern bewohnte Städtchen Cachavi, und ich fand bald, daß ich hier den ganzen nächsten Tag, einen Sonntag, würde liegen bleiben müssen, damit sich die beiden Träger, die ich durch den Wald brauchte, ihre Körbe flechten und überhaupt auf den viertägigen Marsch vorbereiten konnten. Mir selber blieb indessen Zeit genug übrig, mich in Cachavi umzusehen, und als Hauptquartier konnte ich dazu eine Art Vorsaal des Bambushauses unseres schwarzen Alcalden benutzen, bei dem ich mich ohne Weiteres einquartiert hatte. Cachavi, mitten im Wald gelegen und rings und unmittelbar von dichtem Urwald umgeben, bestand, wie San Lorenzo, aus etwa achtzehn oder zwanzig Häusern, mit Ausnahme eines einzigen aber alle von Negern bewohnt, die hier eine ordentliche Colonie bildeten. Es waren lauter frühere Sclaven, die jetzt ihre Freiheit gewonnen hatten und zu versuchen schienen, mit wie wenig Arbeit sie eigentlich auskommen konnten. Es mag vielleicht sein, daß die Neugierde, den Fremden zu sehen, auch etwas dazu beitrug, ihnen ihre Beschäftigung zu erleichtern, aber die ganze Bevölkerung schien Sonntag gemacht zu haben.

Trotzdem hatte es nur geringe Schwierigkeit, zwei Träger zu finden, die mich durch den Wald begleiten und mein Gepäck wie Lebensmittel für vier Tage tragen sollten. Ich accordirte mit ihnen für fünf Dollars den Mann, und sie versprachen am Montag Morgen mit Tagesanbruch bereit zu sein.

An dem nämlichen Nachmittage kamen vier Indianer schwer beladen von Iberra aus dem Inneren des Landes und brachten für Cachavi der Eine eine Ladung Käse, der Andere bunte Kattune, der Dritte getrocknetes Fleisch und der Vierte eine Kiste mit Heiligenbildern.

Die Leute gingen nackt, eine kurze Schwimmhose ausgenommen. Mit dem ganzen Typus des Indianers war ihre Hautfarbe aber eher weiß als braun, und sonderbarer Weise fand ich hier bestätigt, was ich schon so oft gehört, daß die Indianer der heißen Zone Amerika’s viel lichtere Farbe haben, als die im äußersten Norden und Süden, eine Thatsache, welche die Theorie der Abstammung aller Menschen von Adam und Eva und der allein von der Sonne verbrannten Haut dieser Stämme über den Haufen wirft. Der Patagonier wie der Indianer der nördlichen kalten und gemäßigten Zone ist tiefdunkel kupferbraun, während diese Indianer eher lichter als dunkler sind, wie unsere deutschen, von der Sonne verbrannten Bauern. Auf ihren Schultern und Hüften zeigten sich deutlich die dunkleren Spuren, wo ihre Last sie gedrückt hatte und wo sich das Blut unter der hellen Haut zusammengezogen – gerade wie es sich bei einem Weißen zeigen würde. Und tüchtige Lasten tragen diese Leute durch den Sumpf, denn ihre „gesetzliche Bepackung“ besteht in vier Arroben und vier Pfund – die Arrobe zu 25 Pfund gerechnet. Damit laufen sie flüchtig durch den Schlamm, und ihre Nahrung besteht dabei in wenig mehr, als etwas gedörrtem Mais.

Der Händler, der diese Waaren von ihnen überkam, war ein Weißer, einer der hier eingeborenen, von den Spaniern abstammenden Race, und ein Theil der Heiligenbilder – ob aus Frömmigkeit oder Speculation, will ich dahingestellt sein lassen – wurde an dem nämlichen Abend noch in die Kirche getragen und in feierlicher Procession zurückgebracht. Ein paar kleine Glocken nach dem Takt eines Walzers angeschlagen und mit Begleitung einer Trommel diente dazu, die Handlung noch feierlicher zu machen.

Am nächsten Tag – Sonntag – saß ich bei einem fluthenden Regen in dem Vorbau des Alcaldenhauses, wo ich meine Decken ausgebreitet hatte und von meinen eigenen Lebensmitteln zehrte. Wo es nämlich irgend anging, vermied ich von der Kochkunst der Eingeborenen Gebrauch zu machen, denn von dem Schmutz dieser Leute hat Niemand eine Idee, der nicht wirklich einmal unter ihnen gelebt. Die Frau des Alcalden, ein ekelhaftes Negerweib, übertraf dabei noch Alles, was ich bis jetzt in dieser Art gesehen, und ich war froh, daß mir kein Essen angeboten wurde.

Ich hatte mein Gepäck ein wenig geordnet und fest geschnürt, als plötzlich ein Schrei vom Fluß aufwärts herübertönte und Alles auf eine Art von Verandah sprang, dort hinzusehen. Ich folgte natürlich dem Beispiel und sah zu meinem Erstaunen, wie den klaren, ziemlich seichten Strom eine gelbe zürnende Wassermasse, wie eine riesige Welle, mit furchtbarer Gewalt niedergestürzt kam. Der Ruf mußte aber schon vorher von Anderen gehört sein, denn ein paar dunkle Gestalten sprangen über die Steine mit Blitzesschnelle nach dem Ufer hinab, dort ihre angebundenen Canoes in Sicherheit zu bringen, und wahrlich, es blieb ihnen dazu wenig genug Zeit. In wenigen Minuten war der klare Strom, der sich überall über Felsblöcke hinüberschnellte, in eine braune kochende Fluth verwandelt, die reißend ihre Wassermasse durch das jetzt breit gewordene, von zitternden Baumzweigen eingefaßte Bett wälzte. Heftige Regen weiter oben hatten dies rasche Steigen bewirkt, aber schon gegen Abend fiel das Wasser, und am nächsten Morgen war der Strom wieder in seinem alten Stand.

Am nächsten Morgen säumten wir aber auch nicht, unseren Marsch anzutreten, und die Neger – ein paar baumstarke, riesige Gestalten, nackt bis auf den Gürtel, erschienen mit ihren raschgeflochtenen Tragkörben, unsere Wanderung zu beginnen. Mein Gepäck war nicht schwer, ihre eigenen, nur aus Pisang bestehenden Nahrungsmittel wogen das Meiste, und nachdem wir in einem Canoe über den Cachavi gesetzt, betraten wir den einzigen schmalen Waldpfad, der jetzt noch die Seeküste mit dem inneren Lande in einer sehr precären Verbindung hielt.

Der Anblick der aus diesem Wald kommenden Indianer hatte mich am ersten Tage schon etwas stutzig gemacht, denn die Leute waren bis hoch an die Hüften hinauf voll Schlamm. Ich sollte bald finden, wie viel Ursache sie dazu gehabt, denn nach den ersten zwanzig Schritten schon, und wie wir nur das unmittelbare Ufer des Stromes hinter uns hatten, begann der eigentliche Weg, und einen schlechteren bin ich nie gewandert.

Dieser Pfad ist in früheren Jahren einmal ausgehauen gewesen, seit der Zeit aber weder Macheta noch Beil wieder daran gelegt, und wo die Bäume darüber hinstürzten, blieben sie liegen, es den „Reisenden“ überlassend, ihre Bahn darüber oder darunter hin zu finden. Der eigentliche ausgetretene Pfad selber war dabei tiefer Schlamm, hie und da nur bis über die Knöchel reichend, wo man dann rascher vorrücken konnte, meist immer aber bis an und über die Kniee und an manchen kurzen Stellen noch tiefer. Ein Ausweichen war dabei nicht möglich; man wäre genöthigt gewesen durch die dornigen Büsche zu brechen, und das würde den Marsch nur noch beschwerlicher gemacht und aufgehalten haben. Ueberall an diesem Pfad und überhaupt durch diesen ganzen Wald standen mit langen, scharfen Dornen dicht besetzte Palmen, und wo man sich mit der einen Hand einmal gegen zu tiefes Einsinken in den Schlamm stützen wollte, konnte man darauf rechnen, daß man gerade mitten in diese Stacheln hineingriff.

Vom Pailon hatte ich ein paar neue Schuhe mitgenommen, in diesem Wege hielten sie aber nicht einmal bis zum Abend aus. Die Hacken fuhren an den Seiten in die Höhe, das Leder weitete sich aus, und ich mußte sie vorn aufschneiden und mit Riemen zusammenschnüren, um sie nur am Fuß zu halten.

Die halbe Nacht hatte es dabei geregnet, und wenn sich das Wetter auch gegen Morgen aufklärte, trat nach zehn Uhr wieder ein tüchtiger Schauer ein, der etwa bis vier Uhr Nachmittags dauerte. Es blieb sich das aber vollkommen gleich, denn die Zweige hingen, voll von dem letzten Regenwasser, so dicht über den Weg, daß man nach halbstündigem Marsch doch so durchnäßt war, als ob man im Wasser gelegen hätte.

Aber ich will den Leser nicht mit der Monotonie dieses entsetzlichen [154] viertägigen Marsches ermüden. Vier Tage wateten wir durch diesen Schlamm, ohne auch nur ein einziges Mal auf zehn Schritt trockenen oder nur festen Boden zu haben. Vier Tage kreuzten wir angeschwollene Bergströme und kletterten und krochen durch zackige, umgestürzte Wipfel, die Nacht dann unter einem rasch errichteten Laubdach zuzubringen und den Regen darauf niederpeitschen zu hören. Ich selber hatte dabei eine sehr böse Hand, denn am Pailon war mir ein Tropfen brennendes Gummielasticum – wovon man dort Fackeln macht, auf den rechten Zeigefinger gefallen, und das Geschwür, das sich dadurch erzeugte, fraß weiter und weiter. Vergebens suchte ich es mit Bleiwasser zu kühlen und zu beruhigen, es wurde so arg, daß ich die Hand kaum noch schließen konnte, und ich darf es für ein Glück rechnen, daß ich Höllenstein bei mir führte. Erst als ich es damit beizte, fing es an zu heilen, und bis ich nach Quito kam, hatte ich wenigstens meine Hand wieder hergestellt – wer weiß wie sonst Alles geworden wäre.

Die Waldung war sich die ersten Tage noch ziemlich gleich geblieben, wurde aber die letzten Tage sehr von der verschieden, wie wir sie vom Pailon nach dem Bogota gefunden. Dort herrschte vorzugsweise niedriger Grund vor, und die Negritopalme deckte weite sumpfige Strecken. – Hier kamen wir schon in höheres und mehr bergiges Land, und die Oelpalme mit der Palme Real bildete den hervorragendsten Theil der Vegetation. Ich sah Stellen, wo der Wald fast einzig und allein aus Palmen bestand, und wundervolle Gruppen bildeten sich oft, wo zehn oder zwölf dieser schlanken zierlichen und doch so mächtigen Stämme hie und da einen alten von Lianen dicht umhangenen Laubholzbaum umstanden. Eine Masse wundervoller Orchideen wuchsen hier ebenfalls, aber ich konnte natürlich nicht daran denken, mich länger mit ihnen einzulassen, als eben ihre Farbenpracht zu bewundern.

Schlinggewächse gab es ebenfalls in Masse, und so oft mich diese schon im Leben geärgert und ermüdet halten, so sollte ich hier doch auch einen praktischen Nutzen von ihnen sehen.

Unser Weg führte jetzt nämlich am linken Ufer des Flusses Mira hinauf, dessen dumpfes Rauschen und Brausen wir fortwährend neben uns hören konnten, während wir dann und wann sogar mit Hülfe dahin auslaufender Schluchten sein Thal erblickten und sein trübgelbes Wasser reißend schnell darin hinschießen sahen. Viele kleine und größere Bergströme ergießen sich natürlich hinein und wir waren so gewöhnt durch diese zu waten, so tief und reißend sie auch immer sein mochten, daß wir uns nie an ihrem Ufer auch nur eine Secunde aufhielten. Hier aber trafen wir einen größeren Strom, den Lita, wilder und tiefer als alle übrigen, mit hohen, steilen Ufern, in denen die wilde schäumende Fluth kochend hinschoß. An ein Durchwaten war hier natürlich nicht zu denken, und selbst ein Durchschwimmen wäre nur weiter oben möglich gewesen. Uns das aber ersparend, hatten die zuletzt diesen Weg passirenden Indianer eine treffliche Brücke aus wilden Schlingpflanzen über den Strom gezogen, die allerdings bedeutend hin und her schwankte, der man sich aber doch ganz sicher anvertrauen konnte.

(Fortsetzung folgt.)




Englisches „Hochleben“.

Die regierenden Classen Englands sind nun größtentheils wieder beisammen in London. Was wollen sie alle in London? Regieren oder wenigstens sich an diesem Geschäfte der tausend Herren des Parlaments möglichst betheiligen. Merkwürdiges Geschäft der obersten englischen „Compagnie“. Die Minister und deren unmittelbare Beamte kriegen allerdings viel Geld und haben außerdem jährlich 70 bis 80 Millionen Pfund[12] – man bedenke, daß dies 500,000,000 Thaler sind – der Staatseinnahme zu placiren; aber die eigentlichen Gesetzgeber des Parlaments – die nun wieder sechs Monate lang fast alle Nächte bis 12, 2, 3, 4 Uhr sitzen, reden, Reden anhören und abstimmen, den Tag über tausenderlei Briefe, Petitionen, Deputationen und Consultationen durchmachen müssen – diese Herren thun dies nicht nur Alles umsonst (nichts von euren 3 Thaler-Diäten, womit das Parlamentsmitglied kaum seinen Stiefelwichser würde befriedigen können), thun dies nicht nur Alles umsonst, sag’ ich, sondern lassen sich’s auch Tausende von Thalern kosten, um sich die gehörige Anzahl von Wählern zu kaufen, nur um in dieses brodlose Geschäft hineinzukommen.

„Wer erklärt mir, Oerindur,
Diesen Zwiespalt der Natur?“

Brodlos ist’s wohl, antwortet Oerindur, aber ein desto besseres Sammel-Geschäft, wobei man die braune Butter aus Bierkrügen trinken könnte, wie jener Hirtenknabe thun wollte, wenn er König wär. Das Parlament ist, wie es der unerschrocken witzige Drummond und später Cobden dem Unterhaus in’s Gesicht bewies, eine Börse, ein Bazar, worin mit Anstellungen, Beförderungen, Connexionen, Concessionen, Monopolen und Privilegien, Pensionen, Titeln, selbst Töchtern gehandelt wird, also gelegentlich auch Heirathsbureau und Hymenfackelhandlung. Dabei handelt es sich um möglichst viele und große Antheile von den 500 Millionen, welche die obersten Zehntausend jährlich aus den Taschen des Volkes zum Wohle des Staats verzehren. Hie und da fällt ein guter Auftrag, ein fettes Amt ab, das seinem Eigenthümer an 25 bis 40,000 Thaler jährlich eintragen kann. Man sieht, daß bei dem brodlosen Geschäft ein bescheidener Mann noch ganz gut auskommen kann, zumal wenn man bedenkt, daß noch eine gute Menge andere Millionen aus indirecten und Lokal- oder Gemeindesteuern im Stellen- und Beförderungsbazar vergeben werden.

In die Geheimnisse des Detailgeschäfts können wir nicht so leicht eindringen. Es sind eben Geheimnisse. Die Betheiligten bilden eine Art Freimaurerthum.

Die obersten Zehntausend haben aber auch noch über fabelhaft große Privatmittel zu verfügen. Etwa zehn Familienhäupter stehen sich auf eine Million Pfund jährlicher Einkünfte, mit dem Herzog von Bedford, Haupt der Russel-Familie, an der Spitze. Zu Gunsten des Decimalsystems nimmt man dann 30 Familien an, die einen Uebergang von der Million bis zu 100,000 Pfund bilden. Die Zahl der Hunderttausendpfünder wird dann mit 100 angesetzt. Es folgen tausend Crösus, die jährlich jeder zwischen 50,000 und 100,000 einnehmen und oft viel mehr ausgeben. Ich selbst hab’ einmal für eine verwittwete Herzogin einige kleine Arbeiten im Gebiete der deutschen Literatur ausgeführt und sie dabei klagen gehört, daß sie sich einschränken müsse und mir nicht so viel bieten könne, als meine Arbeit werth wäre. Sie honorirte zwar überraschend hoch, aber die arme Frau hatte doch geklagt mit ihrem knappen Wittwengehalte von 75,000 Pfund jährlich, einer halben Million jährlich oder guten tausend Thalern täglich. Etwa 2500 Mitglieder der obersten Zehntausend steigen in ihren Einkünften herab bis zu je 20,000 Pfund. Mit ungefähr dieser Summe muß sich Jeder der etwa 6000 Unglücklichen begnügen, welche die Zahl der obersten Gesellschaftsschicht vollmachen.[13]

Natürlich sind dies sehr runde und allgemeine Zahlen, die ich aus einem englischen Buche, wo Alles genauer ausgeführt war, entnommen habe. Man kann sich getrost bedeutende Summen abziehen oder auch noch aufbürden lassen, im Ganzen bleibt’s dasselbe: ungefähre Vorstellung von den ungeheuern Geldmassen, welche durch die obersten Zehntausend fließen. Die Reihen von Palästen, in denen sie um den Hydepark herum wohnen, sind allein viel größer als Berlin. Jeder dieser Paläste mästet ein Dutzend bis zwanzig dienstbare Geister, die sich meist selbst wieder bedienen lassen, und hält sich so und so viel Wagen- und so und so viel Reitpferde. Was mögen sie eigentlich mit diesen vielen Dienstboten und Pferden und Millionen von Pfunden machen? Schulden, ja Schulden. Das ist ihr Hauptgeschäft. Es läßt sich kaum erklären. Aber man bedenke, daß die 10 bis 20 dienstbaren Geister in jedem Hause eine Art von Harpyien bilden, die Alles benaschen, beknabbern, übertheuern, fälschen, verprassen, zum Theil heimlich verkaufen, was ihnen und beiläufig auch der Herrschaft in’s Haus geliefert wird. Vor einiger Zeit stand der Weinkellermeister eines solchen Oberstzehntausendmann’s vor Gericht, dem nachgewiesen ward, daß er durch ein Privatmauseloch im Keller für mehrere Tausend Pfund Wein verkauft hatte. Sie geben auch Bälle und glänzende Gesellschaften, die dienstbaren Geister im unterirdischen [155] Geschoß. Die obere Schicht derselben (Haushalter, Wirthschafterin etc.) essen das Geflügel eben so wenig ohne Speck, wie die Herrschaft oben. Auch kommt ihnen Wein zu und allen eine gute Portion Bier täglich. Und was kosten die seidenen Strümpfe und täglich weißen Handschuhe, Halstücher etc. und der in das Haar der Kutscher und hintenstehenden Lakaien eingekleisterte, außerdem hochbesteuerte Puder!

Man bedenke dies und dann auch, daß die obersten Zehntausend alle ihre ungeheuren Bedürfnisse auf Credit nehmen und daß sie nie gemahnt werden dürfen. Niemand hat dies Gesetz gegeben, aber sie halten’s, als wär’s bei Todesstrafe verboten, irgend Etwas baar zu bezahlen. Baar bezahlen ist gemein. Die obersten Zehntausend und die unmittelbar darunter zu ihnen aufstrebenden hochrespectablen Familien bezahlen Fleischer, Bäcker, Schuster, Schneider, Weinlieferanten, Puder- und Haarkünstler, Putzmacherinnen, Juweliere u. s. w. alle 2–3–5 Jahre, oft in noch größeren Zwischenräumen (Wellington alle 9 Jahre, wie ich wiederholt hörte) und öfter gar nicht. Da sie nun gleichwohl nicht gemahnt werden dürfen, machen die Lieferanten, wenn sie’s nicht mehr aushalten können, allemal Bankerott, d. h. sie übergeben die Einziehung ihrer mit 300 Procent Zinsen und idealen Posten geschwellten Rechnungen ihrem Advocaten, der nun das Geld scharf und geschäftsmäßig eintreibt. Das ist denn allemal ein glänzender Lohn langen Wartens, nur nicht für die Herrschaften, die blechen müssen. Ich sagte: „idealen Posten“. Das bedarf einer Laterne.

Ideale Posten nennt man, „was sich nie und nirgends hat begeben“ und doch unverschämt theuer bezahlt wird. So sind z. B. „ideale Hosen“ sehr Mode, welche auf folgende Weise gemacht werden. Der „Fußmann“ oder Kammerdiener des Lord Nudle oder des Sir Dudle kommt zum Schneider des Lord Nudle oder des Sir Dudle und sagt: Geben Sir mir mal 3 Pfund und setzen Sie dem Lord Nudle oder dem Sir Dudle ein Paar Hosen für 5 Guineen auf die Rechnung. So setzt er sie für 5 Guineen auf die Rechnung, und die idealen Hosen sind angemessen, zugeschnitten, genäht und gebügelt, abgeliefert und zerrissen – Alles zauberhaft geschwind.

Aehnlich entstehen ideale Posten auf allen andern Rechnungen, besonders denen der Köchinnen, die vielleicht bald den Fleischerburschen oder den „Fußmann“ mit 1000 Pfund „Ersparniß“ heirathen und ein „Public-Haus“ kaufen wollen. Wenn Lord Nudle oder Sir Dudle die Rechnungen endlich bezahlen, können und dürfen sie nicht forschen und fragen, was ideal und was real darin sei. Das thut kein „Gentleman“, kein „Gentleman“ darf dies thun. Und so bezahlt er, daß ihm die Haare zu Berge stehen und er oft borgen muß trotz der 20–30 und mehr Tausend Pfund jährlicher Renten. Er darf natürlich auch nie selbst bestellen oder direct mit dem Handels- und Verkehrsvolke, den „trades people“ verkehren. Das geht eben so wenig, wie die Königin direct mit einem gewöhnlichen Arbeiter sprechen darf, so daß erst unlängst die Scene vorkam, daß die Majestät im höchsten Interesse für eine neue Erfindung den Erfinder (einen Arbeiter!) selbst näher befragen wollte und ihn citiren ließ, um ihre Fragen an einen Hofcavalier zu richten, der sie gegen den Arbeiter wiederholte, worauf der Arbeiter dem Hofcavalier antwortete, der die Antwort dann der Königin mittheilte. Man denke sich die Scene lebhaft. Königin und Arbeiter stehen dicht neben einander. Fragen und Antworten werden direct geführt, aber eine dritte Person muß Alles wiederholen, damit die englische Hof-Etikette, unter der die Königin selbst oft sehr leiden mag, nicht verletzt, die ungeheuere Kluft zwischen der Trägerin der Krone und dem Träger eines Ordens der Intelligenz nicht von Geist und Vernunft übersehen werde.

Man sieht schon, wie diese Herrschaften ihr Geld verläppern, ohne dessen eigentlich froh zu werden. Es ist unverschämt theuer in England, reich zu sein, und soll in den meisten Fällen mehr kosten, als man dran wenden kann. Wir sind aber noch nicht zu Ende. Die obersten Zehntausend geben sich immerwährend gegenseitig Gesellschaften, Bälle und Concerte. Es versteht sich von selber, daß die Damen dabei immer neue Kleider tragen und immer etwas Fehlendes an der Garderobe ergänzen – natürlich allemal auf Credit. Was dabei jedesmal an Victualien und Delikatessen verzehrt wird, geht in’s Fabelhafte, die Rechnung dafür aber in’s mit sich selbst multiplicirt Fabelhafte. Ich kenne ein Paar deutsche Notabilitäten der Musik hier, die mit der Aristokratie Tausende von Pfunden jährlich machen. Lady Stanley oder Herzog Aston geben eine „Party“ und wollen dazu ein Privat-Concert geben. Sie schicken zu einem der „etablirten“ Musik-Notabilitäten und bestellen sich eins „erster Classe“ mit den ersten Sängerinnen und Virtuosen. Der Concertmacher kriegt sie theils umsonst, theils à 10 Guineen, wofür auf der Rechnung je 20 stehen. So streicht er für sein Concert, wobei er selbst nicht als Künstler wirkte, – freilich oft nach langem Warten, seine 200 Guineen ein und wiederholt diese Operation während der Saison vielleicht zwei bis dreimal wöchentlich.

Die obersten Zehntausend haben meist Landsitze und große Schlösser mit Parks, Wildstand, Aufsehern, Wärtern, Dienstboten zu Dutzenden. Das muß erhalten und bezahlt werden, wie der Hausstand in London, auch während sie 5–6 Monate im Jahre verreist sind und sich vom Rheine bis zum Nil und Mississippi herumtreiben. Sie reisen natürlich nicht mit Felleisen und auf beiden Seiten hervorhängenden Stiefelsohlen, wie weiland die deutschen Handwerksburschen, sondern mit Gefolge, oft auch mit Equipage und einer besonderen Küche darin. Das kostet Geld, während zu Hause auf den Landsitzen und in der Londoner Residenz auch manchmal noch wo anders – die Rechnungen wacker fortlaufen und der Kutscher, der Fußmann, die Haushälterin sich umfangreichere Kleider machen lassen müssen, weil der zunehmende Talg auf den Rippen in den alten durchaus kein Unterkommen mehr finden kann.

Beiläufig ist nicht zu übersehen, daß die Herren sich stark an der Wett-Börse betheiligen und sie bei einem einzigen Rennen allerdings Tausende gewinnen können, öfter aber verlieren, wie dies auch bei der modernen Art, Leute zu „rädern“ (in den Spielhallen), Mode sein soll. „Auch manchmal wo anders?“ Ja, aber wo? Man sagt’s nicht gern, man spricht nicht gern davon. Aber ganze Straßen verkünden’s mit Lapidarschrift, ganze Schwadronen von Damen mit flatternden Gewändern und Federn und Schleiern zu Pferde im Hyde-Park oder zu Wagen auf dem Corso um die Serpentine herum plaudern das Geheimniß täglich mit Vielhundertpferdekraft aus. Diese Damen leben wie Millionärinnen und säen und spinnen nicht und sammeln nicht in die Scheuern, und wenn sie der himmlische Vater nicht ernährt, wissen sie doch sehr gut, wo Barthel den Most holt. Sie werden, glaub’ ich, von der Aristokratie aus purer Edelherzigkeit und im „Cultus des Schönen“ so glänzend unterhalten. Der edle Lord mit dem Silberhaar oder der ehrenwerthe Sir mit gar keinem auf dem ehrwürdigen Haupte ist hoffentlich nicht selbst betheiligt, aber er hat Söhne, Enkel, Neffen, junge oder alte Sünder von Verwandten, welche sich ihre „Herzenskönigin“ halten, die, wenn’s ihr knapp wird, mit Oeffentlichkeit droht. So muß der „Alte“ herausrücken, um die Sache zu vertuschen und den Stammbaum rein zu halten vor der Welt.

Auch giebts arme, liederliche Anhängsel zu unterstützen und – das sei zuletzt als versöhnlicher Schluß gesagt – für Noth und Elend, Hospitäler und Wohlthätigkeitsanstalten mit Summen, die des Namens, Ranges und Standes wegen fett aussehen müssen, sorgen zu helfen. Mancher Fremde in Noth, mancher Schwindler und Heuchler mit angenommenem hohen Namen weiß sich Zutritt zu so’nem geplagten Fünfzig- oder Hunderttausendpfünder zu verschaffen, dem es unmöglich ist, ihn mit 6 Pence oder sonst einer Münze abzuspeisen. Er giebt ihm eine hübsche Anweisung auf seinen Bankier. –

Man überblicke diese flüchtigen Striche zu einem Bilde des englischen Hochleben(„high life“) und danke Gott, daß man nicht englischer Lord geworden, sondern mit Gevatter Schneider und Handschuhmacher für wohlerworbene, entbehrliche Silber- oder Neugroschen um die Ecke herum Abends einkneipen und ’n Töpfchen Bier und ein Würstchen schmausen’, aber es auch gleich bezahlen kann.



[156]

Nordamerika und seine Zustände.

Zur Aufklärung der jetzigen Krisis.

Bis vor Kurzem war es der Stolz der Vereinigten Staaten, daß jeder der Regierungswechsel, welche alle vier Jahre durch die Wahl eines neuen Präsidenten erfolgen, ohne Erschütterung vorüberging. Die Parteien kämpften bis zum Augenblick der Entscheidung mit einer Erbitterung, in der etwas von der Wuth eines Bürgerkriegs lag, aber kaum war das Ergebniß der Abstimmung bekannt geworden, so schwieg der Sturm plötzlich. Die Sieger bemächtigten sich der höchsten Gewalt einschließlich aller von ihr abhängenden Aemter und Stellen, die Besiegten trösteten sich mit der Aussicht, nach dem Ablauf von vier kurzen Jahren ihren Candidaten auf den Präsidentenstuhl zu führen. Nach der letzten Wahl Abraham Lincoln’s bieten die Vereinigten Staaten dieses erhebende Schauspiel der Selbstunterordnung der unterliegenden Partei unter den Ausspruch des Volkswillens nicht dar. Fast gewinnt es den Anschein, als sollte die verächtliche Gewohnheit der Creolenrepubliken im Süden des Welttheils, die verfassungsmäßige Entscheidung durch einen Bürgerkrieg umzuwerfen, Nachahmung finden. Im Süden ist nichts als wüstes Geschrei und Geheul; man rüstet, man nimmt Bundeseigenthum weg, man begeht gegen Männer aus dem Norden Niederträchtigkeiten. Tausende wiederholen den wahnwitzigen Ruf des Südcaroliners Keitt: „Wir wollen, wie Simson, die Stützpfeiler des ganzen Bundesgebäudes einreißen!“ und die höchste Autorität, James Buchanan, bestätigt in einer Botschaft an den Congreß, daß die Union sich mitten in einer großen Revolution befinde.

Erreichte der Wahnsinn sein Ziel, woran wir aus guten Gründen zweifeln, so wäre es ein stolzes, ja riesiges Gebäude, das, Alles in einen gemeinsamen Untergang verwickelnd, über den Köpfen der Nordamerikaner zusammenbräche. Ueber 129,036 deutsche Geviertmeilen erstreckt sich das heutige Gebiet der Union. Die beiden großen Weltmeere branden an seinen Küsten, in die hier wie dort, auf dem atlantischen wie auf dem pacifischen Abhange, Buchten eingeschnitten sind, welche die prächtigsten Häfen der Welt bilden. Herrliche Wassersysteme dienen dem Verkehr, dem die Natur durch eine fast verwirrende Fülle von Erzeugnissen aller ihrer Reiche eine unvergleichliche Grundlage gegeben hat. Sowohl die Mineralien, denen der rohe Glücksjäger nachtrachtet, Gold und Silber, als jene, denen der stetig vorwärts strebende Arbeiter den Vorzug giebt, Eisen und Steinkohlen, sind in unerschöpflichen Lagern vorhanden. Der Thiere des Waldes und der Grasebenen, der Seen und Flüsse sind so viele, daß man sie wenig achtet. Von den werthvollen Handelspflanzen, die nicht im Gürtel der Tropen heimisch sind, fehlt keine, und einige von ihnen beherrschen den Weltmarkt. Diese Gunst der Natur hat der Nordamerikaner mit einer Klugheit und Energie ohne Gleichen für sich zu benutzen verstanden. Im rastlosen Schaffen ist er zu einer Handelsbewegung gelangt, die für die jährliche Einfuhr und Ausfuhr Werthe im Betrage von 674 Millionen Dollars liefert, zu einer Handelsflotte, die bereits die zweite der Welt ist, zu einem Canal- und Eisenbahnsystem, das wie ein dichtes Netz Thäler und Ebenen bedeckt, zu einer Industrie, welche jene der ältesten Länder in mehr als einer Beziehung überholt hat, und endlich, um mit der rühmlichsten Thätigkeit zu schließen, zu einem Erziehungswesen, dem mit dem Aufwand von Millionen eine immer höhere Vollendung gegeben wird.

Die verhältnißmäßig kurze Zeit, in der unter einem ewigen Kampfe mit der Wildniß diese hohe Stufe erreicht worden ist, darf die Bevölkerung der Union mit Stolz erfüllen. Nicht ganz dritthalb Jahrhunderte verflossen, seit die Pilgerväter, die eigentlichen Ahnherrn der heutigen Republik, den Anker der Maiblume am 11. December 1620 in einer Bucht am Cap Cod fallen ließen. Die sogenannten neuenglischen Staaten, die von ihnen besiedelt wurden, gestalteten sich zum Kern, um den ein Staat nach dem andern sich ansetzte. Schon 1643 wurde zwischen vier Staaten der erste Bund geschlossen, dessen die amerikanische Geschichte erwähnt. Bei dem großen Revolutionskampf standen dreizehn Staaten, seitdem die alten genannt, zu einander. Es waren Georgien, die beiden Carolina’s, Virginien, Maryland, Delaware, Connecticut, Massachusetts, Newyork, Pennsylvanien, Neu-Jersey, Rhode-Island und Neu-Hampshire. Maine und Vermont, Ohio, Indiana, Illinois, Michigan, Kentucky, Tennessee, Alabama und Mississippi wurden als neue Staaten aus dem alten Gebiet der Republik durch Besiedlung gebildet, Florida und Oregon durch Verträge mit Spanien und England, das unter dem Namen Louisiana begriffene, die heutigen Staaten Louisiana, Arkansas, Missouri, Iowa, Wisconsin und Minnesota umfassende Gebiet durch Kauf von Frankreich, Texas und Californien durch Eroberung von Mexico gewonnen.

Die Verfassung, welche die dreizehn alten Staaten nach der glücklichen Beendigung des Kampfes gegen England sich gaben, ist das Ergebniß eines jahrelangen Streites zwischen den Anhängern des Föderalismus und der Centralisation. Wie in Amerika Manches umgekehrt als bei uns sich ereignet, so war es auch bei dieser Gelegenheit. Nicht die Particularisten und Souveränetätsschwindler waren diejenigen, welche am Alten klebten, sondern die Männer des Fortschritts. In dem blinden Wahne, daß eine starke Centralgewalt der Freiheit den Tod bringen werde, wollten sie dem Bunde die nöthigsten Rechte verweigern. Während dieses Streites gab ein Staat des Nordens, Massachusetts, das erste Beispiel einer Drohung mit dem Austritt aus der Union und gebehrdete sich ziemlich eben so unvernünftig, wie wir es heutzutage an den „Feueressern“ des Sclavenstaats Südcarolina erleben.

Weit entfernt, die Freiheit der Einzelstaaten zu beeinträchtigen, hat die Verfassung von 1787 dem Eigenwillen derselben einen bedeutenden Spielraum gelassen. Jeder Staat besitzt eine eigene Verfassung, Volksvertretung und Gesetzgebung, eine eigene Verwaltung und Gerichtsbarkeit. Der Centralgewalt, die durch einen Präsidenten, Vicepräsidenten und Ministerrath wie durch einen in zwei Häuser getheilten Congreß dargestellt wird, sind nur die Rechte und Befugnisse vorbehalten worden, ohne die sie ein Schatten, so eine Art von deutschem Bund, sein würde. Der Congreß erhebt Abgaben, Zölle und Steuern, schließt Verträge mit fremden Staaten, erhält ein Heer und eine Kriegsflotte, nimmt neue Staaten in den Bund auf, macht Anleihen und läßt Geld prägen, erläßt Naturalisationsgesetze und gleichmäßige Bankerottgesetze und errichtet ein Obergericht wie Mittelgerichte, deren Zuständigkeit indessen auf bestimmte Fälle beschränkt ist. Sollte einmal die Gefahr eintreten, daß das Unterhaus (Repräsentantenhaus) aus diesem gesetzlichen Kreise heraustreten und in die Rechte der Staaten eingreifen wollte, so würde das Oberhaus (der Senat), in das die Volksvertretung jedes Einzelstaats, des kleinsten wie des größten, zwei Mitglieder schickt, ein solches Beginnen sofort vereiteln.

In dieser weisen Vertheilung der Gewalt zwischen der Centralregierung und den Einzelstaaten sehen wir den Hauptgrund, daß die Verfassung allen Stürmen der Parteikämpfe Widerstand geleistet hat. Die himmelweit verschiedenen Interessen des Südens, Westens und Nordens haben sich im Ganzen friedlich neben einander entwickeln können. Allerdings sind Erschütterungen vorgekommen, und mehr als einmal hat ein Staat, gewöhnlich Südcarolina, mit dem Austritt aus der Union gedroht, aber immer noch haben die Sturmwogen, so hoch sie auch gehen mochten, sich von selbst geglättet, und wirkliche Conflicte von Interessen durch Vergleiche beizulegen ist nicht ein einziges Mal mißlungen. Angesichts dieser fast hundertjährigen Erfahrung erwarten wir, daß die jetzige Krisis gleich den frühern überwunden werden wird, wenn wir auch nicht verkennen, daß der Gährungsstoff, den wir in diesem Augenblicke an einer Zersetzung des großen Staatenbundes arbeiten sehen, seit langer Zeit sich angesammelt hat.

Wie Jedermann weiß, ist es die Sclaverei, die zum sprengenden Keil zu werden droht. Nicht allgemein bekannt dürfte es sein, daß das „eigenthümliche Institut“ den Nordamerikanern ursprünglich aufgedrungen worden ist. Sealsfield hat eine Reihe von Urkunden veröffentlicht, aus denen hervorgeht, daß die nördlichen wie die südlichen Staaten einschließlich Georgiens und Südcarolina’s fortwährend und immer vergeblich dagegen protestirten, daß die englischen Kaufleute in Ermangelung eines gleich einträglichen Ausfuhrartikels schwarze Sclaven in ganzen Ladungen auf die nordamerikanische Küste warfen. Zur Zeit der Unabhängigkeitserklärung gab es in allen Staaten Sclaven. Die nördlichen beeilten sich, den Schmutzfleck der Sclaverei auf ihrem Gebiet auszutilgen. Maine, Neu-Hampshire, Vermont, Massachusetts, Rhode-Island, Connecticut, Newyork, Neu-Jersey und Pennsylvanien lösten

[157]

Vogelschauansicht der Felseninsel Caprera mit Garibaldi’s Wohnhaus.
Nach einer Turiner Photographie.

[158] die Ketten aller Schwarzen, Illinois, Indiana und Ohio traten ohne Sclaven in die Union. Die südlichen Staaten weigerten sich, diesem Beispiel zu folgen. Nicht mit Unrecht wiesen sie auf die gänzliche Verschiedenheit der Verhältnisse hin: im Norden sei die Sclaverei, auf eine geringe Anzahl von Schwarzen beschränkt, ein Luxus, denn die gesunde Beschaffenheit des Klima’s und des Bodens legen der an sich weit wohlfeileren Arbeit des Weißen kein Hinderniß in den Weg, während der heiße und zum Theil sumpfige Süden der Schwarzen, von denen ohne Zwang keine Thätigkeit erwartet werden dürfe, nicht entbehren könne, wozu weiter noch komme, daß jede Sicherheit der Person und des Eigenthums sofort aufhören werde, sobald man die rohen Sclavenmassen, d. h. in einzelnen Staaten die Hälfte der gesammten Bevölkerung, des Zügels entledige. Da die Negerfreunde des Nordens diesen Gründen ihre Anerkennung versagten, so kam es zwischen ihnen und den Sclavenhaltern des Südens zu einem Streit, der wohl zu Zeiten schwieg, aber doch immer wiederkehrte und jedesmal eine steigende Aufregung zur Folge hatte. Lange hielten sich beide Theile die Wage und wurden dadurch zu Vergleichen gestimmt. Die bekanntesten der letztern sind der Missouri- und der Columbia-Vergleich. Bei dem ersten bequemten sich die Negerfreunde, Missouri als Sclavenstaat aufzunehmen, und erhielten dafür eine Milderung der strengen Gesetze gegen flüchtige Sclaven. Bei dem zweiten gaben sie dieses Zugeständniß wieder zurück, um das Verbot des Sclavenhandels im Bezirk Columbia, in dem die Hauptstadt Washington liegt, durchzusetzen. Selbst in die äußern Verhältnisse der Union mischte sich die Sclavenfrage bestimmend ein. Wenn der Norden die Annexation von Canada leidenschaftlich betrieb und das Oregongebiet auf die Gefahr eines Kriegs mit England hin in das Gebiet der Union hineinzog, wenn auf der andern Seite der Süden auf dem Eintritt von Texas und dem Krieg gegen Mexico hartnäckig bestand, so hatte jeder Theil kein anderes Motiv, als seiner Partei im Congreß die Oberhand zu verschaffen. Darum wünschte der Norden möglichst viele freie, der Süden möglichst viele Sclavenstaaten in der Union zu haben.

Was das Zahlenverhältniß der beiden Gruppen betrifft, so ist der Norden im Vortheil. Auf achtzehn freie kommen nur funfzehn Sclavenstaaten: Delaware, Maryland, Virginien, Nordcarolina, Südcarolina, Georgien, Florida, Alabama, Mississippi, Louisiana, Texas, Arkansas, Tennessee, Kentucky und Missouri. Trotzdem ist die Sclavenhalterpartei seit einer Reihe von Jahren dergestalt in Vortheil gewesen, daß sie die Union förmlich beherrscht hat. Eine geschlossene, im Süden allmächtige Phalanx, braucht sie blos eine Partei des Nordens für sich zu gewinnen, um die Mehrheit zu erhalten. Diese Partei hat sich in den Demokraten gefunden. Dem Bündniß mit ihnen verdankten die Sclavenhalter außer dem Gesetz gegen flüchtige Sclaven die Duldung, welche ihren durch den Flibustier Walker vollzogenen Angriffen aus Centralamerika, welches neue Sclavenstaaten für die Union liefern sollte, und den aus demselben Motiv unternommenen Versuchen auf Cuba zu Theil wurde. Sie verdankten demselben Bündniß die Aufnahme der Sclaverei in die Verfassungen von Nebraska und Kansas, wie endlich die berüchtigte Entscheidung in dem Proceß des Negers Dred Scott, laut deren Inhalt auch die freien Staaten auf ihrem Gebiet das Eigenthumsrecht eines weißen Menschen an einem schwarzen Menschen als heilig anzuerkennen verpflichtet sind.

Die Macht nach langem Besitz abzugeben, können die Sclavenhalter sich nicht entschließen. Die bloße Thatsache, daß die mit den Negerfreunden verbündeten Republikaner bei der Präsidentenwahl gesiegt haben, reicht hin, sie zur Wuth zu entflammen. In ihrer Parteiwuth beschuldigen sie ihre Gegner auf einen Congreßbeschluß auszugehen, durch den die Sclaverei aufgehoben werden solle. Zum Beweise, daß ein solches Complot der Republikaner bestehe, berufen sie sich auf Dinge, die theils Einzelnen zur Last fallen, theils mit der Aufhebung der Sclaverei in gar keinem Zusammenhang stehen. Die drei großen Verbrechen der Republikaner sind das Buch Helper’s: „Die drohende Krisis des Südens“, der Putsch von Harper’s Ferry und die in Vermont, Neu-Hampshire und Wisconsin zur Wahrung der persönlichen Freiheit erlassenen Gesetze. Helper’s Buch enthält manches Erbitternde, namentlich den Vorschlag, daß alle Sclaven sofort mit Benutzung der sämmtlichen Handelsschiffe der Union nach Afrika geschafft, oder zuerst mit 60, dann mit 80 und 100 Dollars für den Kopf besteuert werden sollen. Wie kann man aber für eine unausführbare, geradezu verrückte Alternative eine ganze Partei verantwortlich machen, selbst wenn diese Partei, wie seitens der Republikaner allerdings geschehen ist, das Buch, das eine solche Alternative stellte, nach Kräften verbreitet hat, nicht um die Sclaverei zu untergraben, sondern um den Demokraten des Nordens, den Verbündeten der Sclavenhalter, in der öffentlichen Meinung zu schaden? In den Vereinigten Staaten und anderswo sind schlimmere Wahlmanöver vorgekommen als die Colportirung eines Pamphlets. Der Putsch von Harper’s Ferry sollte den Sclavenhaltern eher zur Beruhigung als zum Gegentheil dienen. Wenn zu einem Unternehmen, das die Befreiung aller Sclaven zum Zweck hat, nicht mehr als zweiundzwanzig Theilhaber sich finden, so bedarf es keines weitern Beweises, daß der Gedanke keine große Partei zur Stütze hat. Was endlich die Gesetze zur Wahrung der persönlichen Freiheit betrifft, so sind sie in Staaten erlassen worden, in die höchst selten ein entwichener Schwarzer sich verirren wird. Ueberdies richten sie sich nicht gegen das Bundesgesetz über die flüchtigen Sclaven, sondern gegen die parteiische Ausführung desselben und stellen zu Gunsten der Farbigen die beiden uralten Garantien des Rechts her: Geschworenengerichte und Beweis durch unbescholtene Zeugen. Wie das Bundesgesetz gehandhabt wurde, konnte leicht ein freier Farbiger in Sclaverei gerathen, jetzt schlüpft vielleicht einmal ein wirklicher Sclave durch, das ist der ganze Unterschied.

Ungleich mehr als Helper und die übrigen offen eingestandenen Motive treibt die innerliche Ueberzeugung, daß die Tage der Sclaverei gezählt sind, die Sclavenhalter zur Wuth. Die freie Arbeit wächst der Sclavenarbeit hoch über den Kopf empor. Die ganz außerordentliche Verbreitung der Dampfmaschinen im Norden hilft dazu wesentlich. Man benutzt in Nordamerika die Maschinen zu Arbeiten, bei denen wir die Hand des Menschen für unentbehrlich halten, z. B. zum Spalten von Brennholz. Man baut nicht Hunderte, nein Tausende von Maschinen zum Vermiethen ihrer Kräfte und stellt die Preise so niedrig, daß selbst der kleine Handwerker dieses Hülfsmittel benutzen kann. Seit etwa einem Jahre hat die Einführung der calorischen Maschine die Verwendung künstlicher Kräfte im alltäglichen Leben noch allgemeiner gemacht. Je mehr dadurch der Mensch von der rohesten Handarbeit befreit und zum geistigen Lenker und Beherrscher der Naturkraft erhoben wird, um so schöner kann er sich geistig ausbilden und bei seinem Erwerb ein nicht hoch genug anzuschlagendes Capital von Intelligenz zu Hülfe nehmen. So schreitet der Norden, dem der Westen in dieser Beziehung gleich steht, mit Siebenmeilenstiefeln vorwärts, und der Süden bleibt schon deswegen zurück, weil Bildung die Unfreiheit nicht verträgt und unfreie Arbeit folglich nicht im Stande ist, sich die Vortheile der technischen und sittlichen Bildung anzueignen. Ein Beispiel wird zeigen, welcher Unterschied dadurch zwischen dem Süden und Norden entstanden ist. Im Jahre 1810 hatte Virginien 1,066,000, Newyork 959,000 Einwohner. 1851 zählte man in dem freien Staate 3,097,000 Menschen, 693,000 Schulkinder unter 13,600 Lehrern, 11,018 Bibliotheken mit 1,800,000 Bänden und 428 Zeitschriften mit 1,622,000 Exemplaren; in dem Sclavenstaate aber nur 1,422,000 Einwohner, 110,000 Schulkinder unter 3000 Lehrern, 54 Bibliotheken mit 89,000 Bänden und 87 Zeitschriften mit 90,000 Exemplaren. In den Sparkassen der Staaten Massachusetts, Rhode-Island und Newyork, die vorwiegend, wenn nicht ausschließlich, von Arbeitern benutzt werden, lagen am 1. Januar 1861 mehr als hundert Millionen Dollars. Was hat der Süden diesen Ersparnissen der freien Arbeit entgegenzustellen?

Der Wohlstand der Sclavenstaaten nimmt nicht zu, er ist im Sinken begriffen. Der erschöpfte Boden giebt geringere und geringere Ernten. In Texas, wo man noch jungfräulichen Boden zur Verfügung hat, rechnet man auf 750 Pfund Baumwolle vom Acker, in den alten Sclavenstaaten auf 250, 300 oder höchstens 320 Pfund. Um diesen Nachtheil auszugleichen, muß man die Arbeits- und Capitalkräfte steigern und ist zu Anstrengungen gezwungen, welche den Gewinn, der aus den steigenden Preisen des Rohstoffs erwächst, mehr als aufzehren. Da in Folge dieser Verhältnisse der Mangel an Sclaven immer fühlbarer wird, so ist der Preis der menschlichen Waare seit 1830 um das Doppelte gestiegen. So repräsentiren die 3,300,000 Sclaven der Union ein ungeheures Capital, und wer das Züchten und Verkaufen solcher Unglücklichen zu seinem Geschäft macht, der erzielt einen bedeutenden [159] Gewinn. Für Jeden, der mit seinen Sclaven arbeitet, ist das Steigen ihres Preises mit einer Vertheuerung seiner Production gleichbedeutend.

Nicht genug, daß der Norden den Süden überflügelt, bedroht die freie Arbeit die Sclavenhalter in deren eigener Heimath. Bis jetzt übten die etwa 80,000 Menschen, welche als Besitzer von je mehr als fünfzig Sclaven die Aristokratie, die „Cavaliere“ des Südens bilden, in ihren Staaten eine unbestrittene Herrschaft. Sowohl die kleinern Sclavenhalter als die Weißen, welche vom Handel oder von Gewerben leben, gelten neben ihnen nichts. Das wird sich in einer nicht fernen Zeit ändern. Schon arbeiten in mehreren Sclavenstaaten die unterdrückten Classen der Weißen an ihrer Emancipation, und der Norden begünstigt die Auswanderung nach dem Süden, um ihnen Hülfe zu leisten. Besonders hat man Virginien in’s Auge gefaßt, wo wüstliegende Ländereien in Menge zu kaufen sind. Je mehr Weiße ohne Sclaven in’s Land kommen, um so stärker gerathen die Sclavenhalter in’s Gedränge, und zwar nicht blos hinsichtlich ihrer Herrschaft, sondern auch hinsichtlich ihres Erwerbs. Die freie Arbeit ist – wie wir bereits bemerkten – die wohlfeilere; zwei Weiße, das gesteht selbst der Süden zu, arbeiten so viel wie neun Sclaven. Daß diese freie Arbeit gerade bei dem großen Stapelartikel des Südens mit Erfolg Concurrenz machen kann, haben die Deutschen in Texas durch die That bewiesen. Sie widmen sich in Menge dem Baumwollenbau und erzeugen einen Stoff, der in jeder Beziehung höher geschätzt wird als Sclavenbaumwolle. Dennoch beruft sich der Pflanzer hauptsächlich auf seine Baumwolle, wenn er die Unentbehrlichkeit der Sclaverei beweisen will. Thatsache ist, daß die amerikanische Baumwolle, bei deren Erzeugung 800,000 Schwarze, der vierte Theil aller Sclaven, beschäftigt sind, den Weltmarkt beherrscht. England ist von den 3,850,000 Ballen dieser Waare, welche der Süden ihm liefert, im wahren Sinne des Worts abhängig. Darum konnte Senator Hammond, als vor wenigen Jahren ein Krieg mit dem alten Mutterlande zu drohen schien, ausrufen: „Gegen Baumwolle führt Niemand Krieg, Baumwolle ist Herr.“ Diese Herrschaft der amerikanischen Baumwolle und damit auch die Wohlfahrt des Südens ist aber ernstlich bedroht. England fühlt die Nachtheile seiner Abhängigkeit von Nordamerika zu schwer, um nicht die größten Anstrengungen gegen dieses Joch zu machen. Wo immer ein Engländer nahe bei den Tropen seinen Fuß hinsetzt, wird er den Boden prüfen, ob er für Baumwolle taugt. Man ist in Versuchen des Anbaues unermüdlich und hat hie und da schöne Erfolge erzielt. Dies gilt z. B. vom südwestlichen Afrika, und auch die neue australische Colonie Queensland (im Nordosten des Welttheils) scheint viel zu versprechen.

Das größte Gewicht legen die Engländer auf Ostindien, wo der Baumwollenbau seit mehr als zwei Jahrtausenden heimisch ist. Daß die ostindische Baumwolle, wenn auch wohlfeiler, doch schlechter als die amerikanische ist, liegt nicht am Rohstoff, sondern an der schlechten Behandlung und dem Capitalmangel. Diesen beiden Mängeln abzuhelfen, ist der englische Baumwollenversorgungsverein bemüht. Er führt der indischen Baumwollenindustrie englisches Geld zu und verbreitet unentgeltlich Hunderte von Maschinen zur Reinigung der Baumwolle, welche so gebaut sind, daß der indische Bauer sie ohne Mühe handhaben kann. In Indien selbst ist eine Gesellschaft für den Aufkauf von Baumwolle entstanden, an deren Spitze der Fürst Hayder Dschung Bahadur steht. Derselbe Versorgungsverein hat in den wenigen Jahren seines Bestehens außer Maschinen auch sechshundert Fässer Samen in alle Weltgegenden geschickt, um der Cultur einen Sporn zu geben. Daß sich ein Ersatz für die amerikanische Baumwolle finden werde und müsse, ist die Ueberzeugung der besten englischen Autoritäten.

Unter diesen Umständen dürfte die Erwartung der Sclavenhalter, daß die Baumwolle allein als Stütze eines südlichen Sonderbundes ausreichen werde, sich auf die Dauer nicht erfüllen. Auf der andern Seite fiele mit der Trennung der Union die Hauptstütze des Wohlstandes im Süden hinweg. Die Capitalkraft des Nordens hat nicht wenig dazu beigetragen, den südlichen Stapelartikeln ihre Ueberlegenheit zu verschaffen. Der Newyorker Handelsstand ist mit Vorschüssen an die Pflanzer nicht karg und giebt langen Credit auf neun, zwölf, ja auf funfzehn Monate. Daß europäische Kaufleute eben so gefällig sein werden, ist nach den bisherigen Erfahrungen nicht anzunehmen. Seit Jahrzehnten haben sich die südlichen Pflanzer und Handelsvereine abgemüht, einen unmittelbaren Verkehr mit Europa in’s Leben zu rufen, und immer vergebens. Man traut den Cavalieren nicht, weil man sie kennt und weil man nicht vergessen hat, welche ehrlose Bankerotte von Einzelnen und von ganzen Staaten (Alabama und Mississippi) im Süden vorgekommen sind. Daß sie jetzt der ganzen Welt Handelsfreiheit in ihrem Sonderbund versprechen, ist ein eitles Lockmittel. Mit ihren Finanzen ist es so schlecht bestellt, daß sie in kürzester Zeit zu Zöllen, und zwar zu hohen, greifen müßten. Daß eine Trennung auch dem Norden schwere Wunden schlagen würde, bezweifeln wir nicht. Sehen wir doch in diesem Augenblicke, wie verderblich schon die bloße Drohung mit Trennung wirkt. Banken haben ihre Zahlungen eingestellt, die besten Handelspapiere zu 18 % Discont keine Abnehmer gefunden, und sogar die Ausfuhr der zur Verschiffung bereit liegenden Erzeugnisse ist in’s Stocken gerathen. Der reichere Norden wird die Folgen einer Trennung aber leichter tragen können, als der Süden mit seinem ausgesogenen Boden und seinem zahlreichen Proletariat von Weißen und Farbigen.

Sind wir bei unserer Darstellung zu der Ueberzeugung gelangt, daß die Sclaverei nach und nach aufhören wird, so müssen wir jetzt hinzufügen, daß die Trennung der Union diesen unvermeidlichen Ausgang sehr beschleunigen würde. Im Westen und im Norden von freien Staaten eingefaßt, die keine Rücksicht mehr zu nehmen hätten und in denen sogar ein Gefühl bitterer Feindschaft, die Folge jeder Trennung, Wurzel schlagen würde, könnte der Süden weder das Entlaufen seiner Sclaven, noch die gefährlichsten Einwirkungen auf sie von außen her verhindern. So aufgeregt die Leidenschaften augenblicklich sind, wird der Gedanke an eine Zukunft, die den Süden auf lauter Nesseln und Dornen bettete, seine Wirkung üben. Trennte er sich trotzdem, so handelte er wie ein Narr, der, um einer eingebildeten Gefahr zu entgehen, sich selbst den Untergang bereitet. Daß es aber nichts als Einbildung ist, wenn man glaubt, Abraham Lincoln würde durch den Congreß die Aufhebung der Sclaverei beschließen lassen, unterliegt keinem Zweifel. Er hat weder den Willen noch die Macht dazu. Nach der Bundesverfassung sind alle innern Fragen der Einzelstaaten, zu denen die Sclaverei unbedingt gehört, der eigenen Entscheidung derselben überlassen. Sollte diese Bestimmung aufgehoben werden, so müßten erstens zwei Drittheile beider Häuser des Congresses, zweitens drei Viertheile der Landtage der Einzelstaaten dafür stimmen. Nun stehen die Sclavenstaaten gegen die freien wie funfzehn zu achtzehn und können folglich jede Verfassungsveränderung verhindern, die ihnen nicht genehm ist.




Blätter und Blüthen.


Das Pferd und sein Reiter. – In Erziehung und Behandlung der Pferde sind die Engländer die größten Meister. Nirgends in der Welt sieht man dieses edle Thier in solcher Menge. Kraft und Cultur, als in England. Nicht blos die Aristokratie sucht ihren Stolz und ihre Freude in Schönheit und edler Behandlung ihrer Vollblutprachtexemplare oft à 6 bis 10,000 Thaler per Stück, auch der Omnibus- und Droschkenkutscher, gegen menschliche Kunden oft ein Flegel, ist der zärtlichste Freund und Pflegevater seiner klugen, gehorsamen, starken, glatten und wohlgenährten Rosse. Wie leicht fliegen die mit 42 Personen beladenen Salonriesenomnibusse – zweistöckige Häuser auf Rädern – und besonders die zweirädrigen Sicherheitsdroschken durch die Londoner Straßenlabyrinthe! Ein Freund, der nach vierjährigem Aufenthalte in London wieder in Berlin lebt, schrieb mir, daß die Berliner Droschken mit ihren Skeletten von Gäulen und ihrem Gekrieche, wie Fliegen im Syrup, die schläfrigen Omnibusse ihm Scham- und Zornröthe in’s Gesicht getrieben beim Gedanken an diese geflügelten Pegasus der Londoner Sicherheitscabs. Wie theuer sind Stallung und Futter in London gegen Berlin! Und doch sticht den ärmren Londoner Droschkengaul der Hafer, und er ist lustig und stolz, ohne Mahnung von einem Ende der ausgedehnten Riesenstadt zum andern zu fliegen. Man thut hier mehr für die Pferde, dafür thun diese mehr für die Menschen.

Kein Thier ist für edle Behandlung und gute Pflege dankbarer als das Pferd. Auch steht es dem Menschen in allen Klimaten und Zeiten am nächsten. Alle andern Thiere sind, wie die Pflanzen, klimatisch mehr oder weniger begrenzt. Das Pferd gedeiht und gedieh in allen Zonen und Zeiten, selbst vorsündfluthliche Pferdegebeine liegen unter arktischem Eise neben sibirischen Mammuth-Skeletten, auf den Höhen des Himalayah und in den Urweltshöhlen Irland’s neben Mastodon’s und anderen Thieren, [160] die vor dem ersten Buch Mosis ausstarben. Das Pferd hat alle diese geologischen Revolutionen, die ganze Schöpfungen begruben, überlebt und ist, seit Menschen die Erde beherrschen, immer deren starker, edler, unentbehrlicher Freund und Culturgehülfe geblieben. Wir finden das Pferd in allen Theilen der Geschichte jedes Volks, Siege und Eroberungen feiernd, Niederlagen rächend, Ackerbau und Saaten und Ernten bedingend, gemeine Sterbliche zu Rittern schlagend. Die furchtbare Masse Ritter „auf Schusters Rappen“, die nie ein Pferd besaßen, noch weniger reiten können, sind Gewächse erst neuer und neuester Zeiten.

Das Pferd war Ehre, Kraft und Stolz der Helden von Ninive und der Akropolis von Athen. Bedenkmalte Fürsten und Helden der verschiedensten Nationen sitzen auf Rossen umher in allen Residenzstädten der Welt. Könige und Große der Erde schenken sich einander Pferde, wenn sie etwas recht Nobles schenken wollen.

Und wie gemein wird dieses edle Thier oft behandelt von Königen herunter bis zu Schneidergesellen und Syrupsjungen, die als Sonntagsreiter ihre Eitelkeit adeln wollen! „An nichts erkennt man den wahren Gentleman so sehr, als in der Art, wie er die Sporen braucht,“ sagt Sir Francis Head, der englische Pferdeschriftsteller, der eben ein vortreffliches Buch über „das Pferd und seinen Reiter“ veröffentlichte. An Krippen gebunden, wo sie trocknen Hafer, Bohnen, Heu etc. verzehren, häufen sie in sich einen ungeheuern Vorrath von Kraft und Lebenslust auf, so daß sie, den Stall verlassend, von dem bloßen Gefühl der freien Luft und der belebten Schöpfung um sie her, zu Uebermuth erregt werden. In diesem instinktiven Kraft- und Ehrgefühl leisten sie viel mehr und arbeiten fast in jeder Art von Beschäftigung bis zu völliger Erschöpfung oder bis zum Tode ohne Sporen und Peitsche viel eher und viel lieber, als wenn sie künstlich ermuthigt und durch Sporen und Peitsche gezwungen werden. Die Sporen können in dem Falle des Uebermuthes nur den Zweck haben, nicht anzuspornen, sondern dem Reiter sein Uebergewicht, seine Herrschaft zu sichern. Sie sind dann rasch und energisch anzuwenden, aber nur so lange, als sich Uebermuth und Aufruhr geltend machen will. Strafe hinterher, Rache, üble Laune, rohe, rauhe Behandlung nachher demoralisirt das Pferd viel eher und mehr noch, als den Menschen. – Böse Launen und störrischer Eigensinn, Weigerung, gewisse Stellen zu passiren, über Wasser und Gräben zu springen etc. müssen durch vernünftige Anwendung von Gewalt gebrochen werden; in den meisten Fällen aber, wo man gern bloße Gewalt, Peitsche und Sporen und – das Dümmste von Allem – hinterher Strafe und Rache anwendet – kommt man mit einer Vereinigung von kaltblütiger Festigkeit, Geduld, viel Geduld und Zeit und einem geringen Maße von Strafe viel weiter, als mit bloßer und barbarischer Strafe. Aerger und Zorn im Pferde sind ein momentaner Wahnsinn, dem man etwas Zeit gönnen, dem man Vernunft, Intelligenz und Menschlichkeit entgegensetzen muß. Pferde in diesem Zustande sofort zu spornen und zu peitschen, ist Wahnsinn gegen Wahnsinn. In dem momentanen Zustande des Wahnsinns kann sich das Pferd keine Lection merken. Man lerne sein Pferd ordentlich kennen, denn jedes ist ein Individuum, wie der Mensch, und richte seine Erziehung- und Behandlungsweise danach ein. Unter keinem Umstände aber ist bloße Strenge, Gewalt, Wuth und Strafe jemals ohne Schaden für das Pferd und seinen Eigenthümer. Niemals Gewalt und Strenge ohne Noth, nie auf längere Zeit und nie ohne Zeichen der Gnade und Versöhnung hinterher – wenn ihr gute Pferde behalten wollt.

Sporen haben ein sehr beschränktes Gebiet des Gebrauchs, ein desto weiteres des Mißbrauchs. „Auf dem Wettrennenkampfplatze“, sagt Head, „ist der Drang und Eifer der Pferde so groß, daß sie oft kaum bis zu dem Zeichen des Auslaufens zurückgehalten werden können. Und so wie sie im Laufe sind, beschränkt sich die höchste Kunst des Reiters darauf, durch seine Art des Balancirens und Bewegens auf dem Rücken – der eigentlichsten Reitkunst – und durch leises Lenken zu ihrem Siege beizutragen. Sie aufzuhalten würde unmöglich sein. Manchmal brechen ihnen Glieder, springen ihnen Adern aus eigenster Ueberanstrengung. Und doch nehmen die besten Reiter – zur Schande ihrer Herren und zur Schmach der Nation – zuletzt noch zu Sporen und Peitsche ihre Zuflucht, was in neun Fällen von zehn just die Wirkung hat, daß sich der edelste Vierfüßler der Schöpfung „zuschließt“, wie man es technisch nennt, d. h. durch diese gemeine Art von Erniedrigung und Zumuthung seine befittigten Kräfte einzieht und ein edles Herz gebrochen wird. –

Das Jagdroß, nein, jedes brave Pferd auf dem Jagd- und Kampfplatze, hält aus, wenn einmal vom Geiste der Sache ergriffen, bis es zusammenbricht. Es hält aus, ohne sich etwas merken zu lassen, zehn, zwölf Stunden. Es bringt dann seinen Reiter mit dem besten Appetite nach Hause, während es selbst oft vor Uebermüdung Stunden, ja Tage lang jedes Futter verschmäht. Wie dumm und barbarisch ist’s daher, das Pferd bei solchen Gelegenheiten zu spornen und zu peitschen oder während der zehn, zwölf Stunden oft lange müßig auf dessen Rücken zu sitzen und wohl gar dazu zu pfeifen und zu singen und nicht daran zu denken, daß sie dem edlen Thiere durch Absitzen von einer Viertelstunde, ja nur wenigen Minuten Zeit geben, seine Muskeln, seinen Muth, seinen Geist zu erholen und zu erfrischen.

Ausdehnung dieses Rathes auf Militairpferde, auf Zugthiere vor dem Pfluge oder dem Lastwagen versteht sich von selbst. Der rohe Fuhrmann oder Knecht, der oft mit furchtbaren Flüchen und dem dicken Ende des Peitschenstiels sich halbtodt ras’t, um den steckengebliebenen Wagen oder die vor Uebermüdung stehen gebliebenen Pferde wieder in Gang zu bringen, sollte lernen (Leser oder Leserinnen könnten’s ihm bei Gelegenheit beizubringen suchen, obgleich solche Kerle schwerer etwas lernen und sich sagen lassen, als das dümmste Pferd), daß nach einer guten Ruhepause, während welcher er sie freundlich tatschen und mit ihnen zärtlich sprechen könnte – sie verstehen das und wissen’s zu würdigen! – ein kaltblütiges, ermuthigendes, entschlossenes Antreiben in einer halben Minute zu Stande bringt, was fortgesetztes Fluchen und Peitschen vergebens versucht.

Sehr praktisch, mit einer komischen Färbung, ist Head’s Anweisung, Pferden das Scheuen abzugewöhnen. Wie oft wird ein wirklicher Ritter im Besitze eines kostbaren Pferden endlich bewogen, es wohlfeil zu verkaufen, weil es so schrecklich „scheut“! Dieser Fehler entwerthet aber ein Pferd gar nicht, und es giebt nichts Leichteres, als ihn zu curiren. Das beste, muthigste Pferd „scheut“ oft, wie der größte Feigling, plötzlich vor der geringsten Kleinigkeit auf der Straße, vielleicht vor dem unbedeutendsten Steinhaufen. Der Reiter merkt dies und handelt wie früher, was das Pferd nicht vergessen hat, d. h. er spornt und peitscht. Woraus aber ist die „Scheu“ zusammengesetzt? Furcht vor dem Steinhaufen 1/10, Furcht vor Sporen und Peitsche 9/10 Summa 10/10 Scheu. Der erste Schritt zur Cur ist also, 9/10 von dem Uebel sofort zu beseitigen, nämlich weder an Peitsche noch Sporen zu denken. Mit dem einen Zehntel wird man dann leicht fertig, wenn man nur erst die richtige Diagnose hat, d. h. die Wurzel des Uebels kennt, die meistentheils etwas ganz Anderes ist, nur nicht Scheu. Scheu geht aus Furcht, aus Mangel an Kraft und Muth hervor. Das Pferd „scheut“ aber in der Regel aus Uebermuth. Gut gefüttert im Stalle und nach guter Verdauung und Ruhe kommt das Pferd in’s Freie voller Spring- und Lebenslust. Aber aus frommer Rücksicht für seinen Herrn und um nicht kindisch und läppisch zu erscheinen, will es nicht ohne Grund springen und Allotria treiben. Nichts wäre ihm daher in solchem Augenblick lieber, als eine Heerde Betrunkener, ein Wagen voll Komödianten, ein ungewöhnlicher Lärm, Scandal und Aufruhr. Da dieser aber in polizeilich geordneten Staaten nicht immer zu haben ist, spitzt es die Ohren und schielt nach allen Seiten, um wenigstens etwas Veranlassung zum „Scheu-Spiel“ zu entdecken. Heda ein Steinhäufchen, oder ein Blatt vom Winde über den Weg getrieben, oder ein Zaunkönig von einem Zweige zum andern hüpfend! Der Vorwand ist gefunden, und nun kann ich „scheuspielern“, denkt es. Das Blatt könnte ein springender Tiger, der Zaunkönig ein Erlkönig, das Steinhäufchen ein Wolf sein. Demgemäß „scheut“ es und macht Pantomimen der Muthlosigkeit aus bloßem Uebermuth. Entferne dieses Uebel durch langen Trott und Galopp über weichen, lockern, unebenen Boden, aber gleich auf der Stelle, etwa so: Sobald ein Pferd scheut, suche den Grund oder Vorwand dazu und dann laß es stehen oder besser zwing’ es zu stehen und den Gegenstand seiner Scheu so lange anzustarren, bis es diese Arbeit überdrüssig ist und wo anders hinsieht. Nun reit drauf zu. Aber so wie es wieder Miene macht, zu scheuen: Prr! Stillgestanden! Oft curirt eine solche Behandlung. Es merkt bald Lunte und schämt sich, daß sein Herr denkt, es fürchte sich vor einem Steinhäufchen, vor einem Zaunkönig, vor irgend etwas.

Wir können natürlich die mancherlei praktischen und humanen Lehren den Pferde-Pädagogen Sir Francis Head nicht erschöpfen und begnügen uns mit diesen Andeutungen, die schon mancher guten Wirkung fähig sein mögen. Von den vielen eingestreuten Anekdoten aus der modernen Wettrennen-, Jagd- und Reit-Ritterlichkeit heben wir blos eine hervor. Sie betrifft den König aller englischen Fuchsjäger, „le premier Chasseur d’Angleterre, wie ihn Napoleon nennt, Thomas Assheton Smith. In seinem 64. Jahre dirigirte er eine Fuchsjagd, an der über 2000 Jäger Theil nahmen. Noch in seinem 80. Jahre blies er, über einen Graben oder eine Hecke setzend, lustig sein Jagdhorn auf seinem Pferde mit losen Zügeln. Später ritt er in seinem 310 Fuß langen, 40 breiten Krystall-Palaste oder Sommerhause, das er für seine Frau hatte bauen lassen, damit diese in ihrer Kränklichkeit während des Winters im Klima Madeira’s spazieren gehen und reiten könne. Der neunzigjährige Greis konnte endlich kaum noch gehen, aber das Reiten ließ er sich nicht nehmen, bis man ihn begrub. Im Winter vor seinem Tode pflegte er sich eins seiner Lieblings-Jagdpferde jeden Tag in den geheizten Krystall-Palast bringen zu lassen, um mit Hülfe eines Stuhls und menschlicher Arme hinaufzuklettern. Sowie er saß, fühlte er sich wieder jung und ritt lustig eine Stunde neben diesem und jenem Freunde auf und ab.

Auch Palmerston zieht seine unheilvolle Politik so unmenschlich lange über England und das respektvolle Europa hin, weil er alle Tage reitet und seine alten Glieder immer wieder zu neuen diplomatischen Tücken auffrischt, wie denn überhaupt die sprüchwörtliche Langlebigkeit oder Makrobiotik der englischen Aristokratie hauptsächlich daher kommt, daß sie dem lauernden Tode alle Tage, so lange es irgend zu ermöglichen ist, aus dem Wege reiten.




Caprera, das Asyl des großen Garibaldi, haben wir bereits in Nr. 7 unserer Zeitschrift geschildert und es blieb uns demnach nur noch übrig, unsern Lesern auch eine authentische naturgetreue Abbildung der Insel zu geben. Eine Turiner Photographie bot uns Gelegenbeit dazu.

Gott weiß es, ein Paradies hat sich der tapfere Befreier seinen Vaterlandes nicht ausgesucht! Wer die schönste Stadt Europa’s erobert, wer an den reizenden Meerpromenaden von Nizza und Genua gewandelt, dem, sollte man meinen, müßte dieses steinige, unfruchtbare Haidefeld wir eine Hölle erscheinen. Den bescheidenen Ansprüchen den ehemaligen Dictators von Sicilien und Eroberers des herrlichsten Königreichs genügen diese wüsten Granitmassen; ruhig arbeitet er täglich an der Urbarmachung seiner Felder und wartet der Zeit, wo ihn sein Vaterland wieder rufen dürfte. Arm zog er hinaus, arm kehrte er heim, so arm, daß der Befreier seines Vaterlandes, laut englischem Blaubuche, genöthigt war, bei seiner Abreise von Neapel, um die Kosten der Heimfahrt zu bestreiten, von englischen Freunden 4 Pfund zu leihen.




Kleiner Briefkasten.

E. N. in Leipzig. Die empfangene Erzählung: „Des Künstlers Streben“ eignet sich nicht zur Aufnahme und liegt zu Ihrer Verfügung.

S. V. in L. Durch die Nachlässigkeit des Lieferanten ist die Verlagshandlung der Gartenlaube leider an der schnellen Expedition der bestellten Decken gehindert.


  1. Einzig rechtmäßige, für Deutschland von dem Verfasser autorisirte Ausgabe. Jeden etwaigen Nachdruck werden wir auf das Strengste verfolgen.
         D. Red
  2. Lappjagd sagt man, wenn ein Distrikt im Walde mit an Leinen hängenden Lappen (viereckigen Stücken grober Leinwand) eingehegt wird, so daß das gerade darin befindliche Wild eingeschlossen bleibt, da es sich scheut, ohne Noth darüber zu gehen.
  3. Bestätigt: bestimmt wissen, wo und wie viel Wild irgendwo steht.
  4. Geweihte Hirsche sind solche, die mindestens Augensprossen (die ersten Zinken am Geweih) haben; Spießer, Knöpfchenhirschchen und männliche Kälber sind also ausgeschlossen.
  5. Gelte: unfruchtbar.
  6. Zeichnen: markiren, daß das Wild getroffen ist.
  7. Ganz machen: gleiche Linie herstellen.
  8. Genossen machen: begierig machen; hier auf das Rothwild, da es oft vorkommt, daß ein Hund mit wahrer Wuth jede Sau verfolgt, ohne Rothwild anzusehen; ebenso umgekehrt.
  9. Lecke: Zunge, Geäße: Maul.
  10. Das Licht: Das Auge; auch eine häutige Scheide, waran das Herz hängt; hier jedoch das erstere.
  11. Jägerantheil ist das Geräusch (Lunge, Leber, Herz und so viel Feist (Fett), als, ohne das Messer anzuwenden, mit den Händen aus der Bauchhöhle des Wildes gerissen werden kann.
  12. Das Budget, im Anfange dieses Jahrhunderts 20, schwankte während der letzten 10 Jahre zwischen 70–80, und läuft während des laufenden Jahres auf 72 Millionen.
  13. Die hohen Familien mit geringeren Jahresrenten gehören nicht eigentlich mehr unter die „obersten“.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: gegelegenen
  2. Vorlage: eigenlichen