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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1860
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[785]

No. 50. 1860.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Die schwerste Schuld.
Von dem Verfasser der neuen deutschen Zeitbilder.
(Fortsetzung.)


Man muß es den Franzosen auch jener Zeit lassen: keine Frechheit, kein Hohn, keine Gewalt war für sie in Deutschland gegen Deutsche frech und empörend genug, daß sie davon hätten abstehen sollen; jener Sitte des Duelles, die Muth und konventionelle Ehre von ihnen forderten, entzogen sie sich selten, durfte namentlich der Officier, wenn sein Corps davon erfuhr, sich nie entziehen. Der Advocat brachte das junge Mädchen nach Hause.

„Sie müssen sich mit dem Menschen schlagen?“ fragte sie ihn entsetzt.

„Möchte es mir gelingen, den französischen Uebermuth zu züchtigen!“

„Aber wenn er der Sieger bleibt, wenn er Sie –“

Sie konnte das Wort, das sie auf den Lippen hatte, nicht aussprechen. Sie zitterte heftiger als vorher an der Seite des Franzosen.

„Mein Fräulein,“ erwiderte er ihr ruhig, aber im Tone tiefer Trauer, „falle ich, so hat fast ein gütiges Schicksal mich betroffen. Sie sind Polin, keine Deutsche –“

„O, mein Herr –“ rief das Mädchen.

Er hatte die Worte nicht gehört.

„Sie,“ fuhr er fort, „fühlen das Elend, die Schmach nicht, unter denen Deutschland seufzt.“

„O doch,“ mußte das Mädchen ihn nochmals unterbrechen.

„Wohlan, so müssen Sie auch den Druck fühlen, der auf jedes Deutschen Brust lastet, die Schmach, die ihn zu vernichten droht.“

Sie waren an der Wohnung des Mädchens angelangt. Ein anderer Gedanke erfüllte auf einmal ihr Inneres. „Mein Vater!“ rief sie mit neuem Entsetzen. „Wenn er es erfährt!“

„Ich werde von meiner Seite Alles aufbieten, daß er nichts erfährt. Leben Sie wohl.“

Sie hatte in ihrer Angst ihren Dank vergessen. Sie wollte ihm solchen zurufen, aber er war schon fort. Ein Gefühl wie der Schuld des Undankes brannte in ihrem Herzen. Fast heißer brannte sie noch der Händedruck, mit dem er rasch von ihr geschieden war.

Am andern Mittag erhielt sie die Nachricht, daß der Advocat Rohden den Adjutanten des Obersten im Duell erschossen habe. Ueber die Veranlassung des Duells hatte man nur erfahren, daß die Beiden am Abende vorher bei einem zufälligen Begegnen in einen heftigen Streit gerathen seien. Das Duell hatte am frühen Morgen stattgefunden. Vorher hatte, außer den zunächst Betheiligten, Niemand etwas davon gewußt. Der Oberst des Regiments war in mancher Beziehung ein Ehrenmann, der seine nachsichtige Schwäche gegen seinen Neffen sich oft zum Vorwurfe gemacht hatte. Er verbot seinen Officieren auf das Strengste, für den Tod ihres Kameraden an dem Advocaten Rohden irgend Rache zu nehmen. Die Ursache des Duells erfuhr längere Zeit auch ferner Niemand.

Das junge Mädchen nahm keine Stunden in der Stadt mehr. Sie vermied es mehr als früher, sich außer dem Hause zu zeigen. Man sah sie fast nur in Begleitung ihres Vaters. Nur zweimal war sie seitdem dem jungen Advocaten begegnet, der ihr Retter gewesen war. Er hatte sie stumm und ehrerbietig gegrüßt, wie früher. Aber sie hatte seinen Gruß erwidert. Ihr Vater hatte finster das Gesicht abgewandt, freilich wie immer, wenn ihm Jemand begegnete. –

Beinahe ein Jahr war seit dem Duell vergangen. Elvire Krajewska war mit ihrem Vater spazieren gegangen. Sie verließ fast nur mit ihm das Haus. Er liebte auf seinen Spaziergängen ihre Begleitung. Die ältere kränkliche Tochter verließ die nächste Umgebung des Landhauses nie. Sie kamen aus einer Waldung und betraten die zu der Stadt führende Landstraße, welche sie eine Strecke verfolgen mußten, um dann in einen Seitenweg einzubiegen, der sie näher zu ihrer Wohnung führte. Sie waren noch keine dreißig Schritte gegangen, als sie aus einer Biegung der Straße einen Trupp Officiere sich entgegen kommen sahen. Es waren jüngere Officiere des in der Stadt garnisonirenden Regiments. Sie waren laut, besonders zwei von ihnen, die betrunken zu sein schienen. Die Miene des finstern Greises verfinsterte sich mehr, als er sie sah. Seine Tochter wurde ängstlich.

„Kehren wir zurück, Vater,“ wollte sie bitten. Aber es war nicht mehr möglich. Die Franzosen hatten sie schon gesehen, und einer der Betrunkenen hatte bereits mit der Hand nach ihnen gezeigt.

„Ah, la voilà!“ hatte der andere gerufen.

Zurückgehen wäre Flucht, die Flucht wäre eine Aufforderung für die betrunkene Rohheit zu einer lauten, frechen Verfolgung gewesen.

„Fasse Muth, mein Kind,“ sagte der Greis.

„Ich fürchte nur für Dich, mein Vater.“

Sie hatte wohl für ihn zu fürchten, wenn sie sah, wie in seinem bleichen, von den tiefen Furchen durchzogenen Gesicht ein starker, edler Zorn, und dann auf einmal eine so sonderbare angsthafte Scheu mit einander kämpften. Er führte sie am Arme, und dieser Arm zitterte heftig.

„Fasse Du Muth, mein armer Vater,“ drängte es sie, ihn zu bitten. Sie durfte es nicht wagen, denn sie schien zu erkennen,

[786] daß er sich selbst wie im Angesicht einer Gefahr, einer entsetzlichen Entscheidung fühlte, daß er aber auch selbst fürchtete, nicht den Muth zu besitzen, dessen er bedurfte. Sie durfte seine Verwirrung nicht vermehren.

Aber was war es, was dem hohen Greise den Muth nahm, seine Ehre, selbst die Ehre seiner Tochter zu schützen? Eine Todesangst hatte sie gefaßt. Sie zitterte heftiger als er. Ihre Füße versagten ihr fast den Dienst. Die Officiere kamen ihnen näher.

„Ja, ja, sie ist es wirklich!“ rief einer der Betrunkenen.

„Die Mörderin des armen Delaparte.“

Die Anderen wollten ihm Schweigen gebieten.

„Was wollt ihr?“ rief er lauter. „Warum soll es die Welt nicht wissen, daß sie die Mörderin ist? Er ist todt, sie leben; he Mademoiselle –“

Sie standen keine fünf Schritte mehr von einander, der Betrunkene mit seinen Begleitern, der Greis mit seiner Tochter. Das Mädchen mußte sich krampfhaft an dem Vater festhalten. Sein Gesicht war mit Schweiß bedeckt. Der Betrunkene wollte auf das Mädchen losstürzen. Seine Cameraden suchten vergebens ihn zu halten. Etwas Anderes hielt ihn. Aus der Biegung der Landstraße kam in Galopp ein Reiter herangesprengt. Er mußte das laute, tobende Rufen des Betrunkenen vernommen haben.

„Der Oberst!“ riefen die Officiere. Sie standen wie erstarrt, selbst der am meisten Betrunkene. Es war ihr Oberst. Er sprengte an sie heran und maß sie mit dem Blicke der strafenden Entrüstung des Vorgesetzten.

„Meine Herren, Sie verfügen sich sofort sämmtlich zum Arrest.“

Die Officiere kehrten gehorsam und schweigend zu der Stadt zurück. Der Oberst wandte sich an das junge Mädchen.

„Mein Fräulein, die Schuldigen werden bestraft werden, nach der strengsten Strenge der Gesetze, aber es ist das nur eine geringe Genugthuung für die Armee des Kaisers, für den französischen Namen. Für Sie, mein Fräulein, habe ich nur Eine Genugthuung, die Bitte an Ihr edles Herz, die Rohheit, die jene Elenden gegen Sie gezeigt haben, mir, ihrem Vorgesetzten, verzeihen zu wollen.“

„O, mein Herr, ich verzeihe Allen!“ preßte das weinende Mädchen hervor.

„Sie sind ein Engel an Güte und Bravheit des Herzens.“

Er zog seinen Hut tief vor ihr; dann gab er seinem Pferde die Sporen. Von ihrem Vater hatte er keine Notiz genommen. Nicht sein flüchtigster Blick hatte ihn gestreift. Doch indem er sein Pferd weiter in Bewegung setzen wollte, kehrte er sich nach dem Greise um, aber mit einem Blicke der unbeschreiblichsten Verachtung. So sprengte er davon. Die Tochter hatte den Blick nicht gesehen. Wohl ihr! Der alte, finstere Mann aber war zusammengebrochen. Er mußte sich auf einem Steine, der an der Straße stand, niederlassen, um Kräfte zum Weitergehen zu sammeln. Auf dem Wege sprach er kein Wort mehr. Zu Hause mußte das Mädchen ihm erzählen. Er hörte ihr still zu und er blieb auch den ganzen Abend stumm. Er schien einen Entschluß zu suchen. Am andern Morgen hatte er ihn gefunden. Er ging zu dem Advocaten Rohden. Er hielt sich höher aufrecht, als man ihn je gesehen hatte. Seine Augen zeigten eine stille Wehmuth. Er drückte dem jungen Advocaten die Hand.

„Mein Herr, ich habe gestern gehört, was Sie für mein Kind gethan haben; ich kann mich seit gestern bei dem Namen eines Deutschen wieder erheben.“

„Und Sie sind selber ein Deutscher?“ fragte ihn der junge Mann.

Der Greis bebte bei der Frage. „Ja!“ sagte er leise.

Dann nahm er wieder die Hand des Advocaten. Er hatte noch etwas auf dem Herzen. „Mein Herr! nebst meinem Danke hat mich eine Bitte zu Ihnen geführt.“

„Sprechen Sie sie aus, mein Herr.“

„Ich stehe nicht weit mehr vom Grabe. Nach meinem Tode sind meine beiden Töchter in der Welt völlig allein. Ich habe in Ihnen den Mann gefunden, dem ich sie anvertrauen kann. Darf ich sie Ihnen anvertrauen?“

Das Gesicht des jungen Advocaten war von einer dunklen Gluth übergossen.

„Mein Herr,“ rief er, „ich werde keine heiligere Pflicht kennen, als die Sie mir da anvertrauen wollen.“

Da athmete der Greis tief auf, wie aus einer plötzlich von einer schweren Last erleichterten Brust. „O, jetzt wird der Tod mir Befreiung sein!“

Er schien wirklich seit der Zeit ruhiger und freier zu sein. Finster und schweigsam blieb er immer. Momente eines tiefen, die Brust ihm durchwühlenden Grames ergriffen ihn auch noch. Aber der ewig schwere Druck, der früher ihn niedergebeugt hatte, lastete mit jener Schwere nicht mehr auf ihm.

Der Advocat Rohden durfte fortan sein Haus besuchen. Die sämmtlichen Officiere, die an jenem Ueberfalle Theil genommen hatten, waren vom Regiment entfernt worden.




3. Die Schwestern.

Wir müssen zu dem Anfange des vorigen Capitels zurückkehren. Die beiden Schwestern saßen beisammen, Melanie, die ältere kränkliche, Elvire, das weiche Kind von achtzehn Jahren, die in das goldene Alter der Jungfrau mehr unter Thränen und Sorgen, als unter Lachen und Spiel eingetreten war. Der Tag neigte sich. Man hatte durch die Fenster des Wohnzimmers den Anblick des benachbarten Gebirges. Die letzten Strahlen der Abendsonne färbten den herbstlich gelben Gebirgswald dunkler. Es war behaglich in der hellen Stube. Auch die Kälte des anbrechenden Octoberabendes war nicht hineingedrungen. Die ältere Schwester hatte sich dennoch in einen dichten wollenen Shawl eingehüllt. Sie fror. So saß sie auf dem Sopha, mit den großen schwarzen Augen in einen dunkler und dunkler werdenden Winkel des Gemachs hinein starrend. Die Jüngere saß mit einer Arbeit am Fenster. Sie war indeß nicht bei der Arbeit, sondern sah unruhig auf die vorüberführende Landstraße hinaus.

„Wo der Vater heute bleiben mag? Er hat sich noch nie so verspätet.“ Sie sagte es mehr für sich, als zu der Schwester. Diese hatte dennoch darauf geachtet.

„Wo er bleibt?“ sagte sie. „Ich sehe ihn. Er ist in der Tiefe des Waldes und kehrt schwer belastet von einem neuen Unglück nach Hause zurück. – Wie er keucht unter der Last dieses neuen Unglücks!“

Sie sprach ebenfalls mehr für sich, langsam, abgebrochen, mit hohl klingender Stimme. Ihr starrer Blick war unheimlicher geworden, er schien den dunklen Winkel durchbohren zu wollen.

Die jüngere Schwester seufzte leise vor sich hin und sah mit einer scheuen Besorgniß zu ihr hinüber. „Die Unglückliche!“ sagten mehr ihre Augen, als ihre Lippen. „Sie war lange ruhig. Sollte es jetzt wieder schlimmer mit ihr werden? Und sollte gar wirklich ein Unglück wieder herannahen wollen? Auch damals war sie so, zur Zeit jener entsetzlichen Geschichte – Melanie!“ sagte sie beruhigend. Die Kranke schreckte auf.

„Ha, Du, Elvire!“ Dann wurde der irre Blick auf einmal trübe. „Auch Du! Auch Du! Für Dich thut es mir weh. Du bist noch so jung. Du solltest glücklich werden können! Aber es faßt auch nach Dir. Es hat Dich schon.“

Elvire war aufgestanden und trat zu der Schwester.

„Gib die Träume auf, Melanie. Komm, steh’ auf. Es ist kalt in der Stube; auch mich friert. Gib mir Deinen Arm; wir spazieren durch die Stube, so erwärmen wir uns.“

„Dich friert?“ sagte die Kranke. „Mir ist heiß.“

Sie wickelte sich fester in ihr wärmendes Tuch. Dann fuhr sie fort: „Den Armen friert. Er hat Hunger und Kälte. Das Unglück brennt, verzehrt mit wilder Gluth. Geld haben wir, ja, aber auch das Unglück haben wir, und wir haben es uns selbst herbei gerufen. Auch für Dich, Du armes Kind. Und dem Unglück ruft man nicht vergebens. Es kommt –! Horch! Es klopft von selber an – Horch! Horch!“

An die Thür der Stube wurde geklopft. „Horch!“ wiederholte die Kranke.

Elvire war bleich geworden. „Wer mag da sein?“

„Das Unglück!“ rief die Kranke.

Es wurde zum zweiten Male geklopft.

„Herein!“ mußte Elvire rufen.

Die Thür öffnete sich. Ein Unterofficier von der französischen Besatzung des Städtchens trat ein. Er trug ein kleines versiegeltes Schreiben, welches er der jungen Dame übergab.

„Von dem Herrn Obersten, an Herrn Krajewski. Der Herr Oberst schickt zugleich seine Complimente.“

Er entfernte sich wieder. Elvire hatte die Aufschrift besehen. Der Brief, oder vielmehr das Billet, war an ihren Vater. Die [787] Handschrift schien aus der Militärkanzlei des Obersten zu kommen. Das Siegel war aber kein amtliches. Das junge Mädchen war bleicher geworden. Das dünne Papier zitterte in ihrer Hand.

„Was mag es enthalten? Was kann der französische Oberst von dem Vater wollen?“

Sie sann vergebens nach und unwillkürlich mußte sie einen Blick auf die Schwester werfen, die das Unglück angemeldet hatte. Die Kranke saß unbeweglich auf dem Sopha; sie starrte wieder in den Winkel hinein, der völlig dunkel geworden war. Sie träumte wieder; oder sah sie wieder entsetzliche Bilder eines irren Geistes?

„Licht!“ rief Elvire durch die Thür dem Diener zu.

Sie mußte Licht haben. Die Sonne war untergegangen. Die Dunkelheit des Abends nahm immer mehr im Zimmer überhand. Dem Mädchen wurde unheimlich in der Finsterniß, allein mit der Schwester, die nur Bilder des Irrsinns und des Unglücks sah. Der Diener brachte Licht herein. Das Auge der Kranken glänzte wirr in dem Scheine. Auf einmal richtete sie sich auf.

„Er kommt,“ sagte sie.

„Der Vater?“ fragte die jüngere Schwester.

„Der Andere!“

„Rohden?“

„Der Vierte in unserem Bunde des Unglücks! Hatte es denn an Dreien genug? Hat es je genug?“

„Melanie!“ bat die Schwester.

„Melanie!“ rief die Kranke, in deren Augen auf einmal wilder und wilder eine dunkle Gluth aufloderte. „Nenne mich Kassandra. Kassandra ist mein Name, und ich bin sie Euch, zu Eurem und zu meinem eigenen Fluche. Meine Weissagungen sind für Euch nicht da, aber sie treffen Euch dennoch. Auch ihn, der Dein Herz liebt. Du bist zum Unglücke, zum Untergang verdammt, wie ich es war. Und auch Du wirst das mit in Dein Unglück hineinziehen, was Dein Herz liebt, wie ich es mußte. Auch ihn, auch ihn, Dein Herz möchte ihn dann aufgeben, von sich stoßen können, wie mein Herz es nicht konnte. Ich konnte, ich konnte es nicht!“ schrie sie lauter auf. „Wehe mir! Ich kann es noch nicht!“

Sie war völlig aufgesprungen. Eine helle Röthe flog durch ihr Gesicht. Sie schlug auf ihre Brust. Sie wollte ihr Haar zerreißen. Elvire flog in ihre Arme, hielt ihr die Hände.

„Melanie, Du tödtest Dich, Du tödtest mich, unseren armen Vater –“

„Ihn!“ schrie die Kranke wieder wild auf. „Ihn? O –“

Sie ließ die Arme sinken; sie ließ sich ohne Widerstreben zu dem Sopha zurückführen, in dessen Kissen sie niedersank. Ein Strom von Thränen floß aus ihren Augen. Sie bedeckte die Augen mit den Händen. Der heftige Nervenanfall, der plötzlich sie ergriffen hatte, oder was es sonst war, war ebenso plötzlich vorübergegangen. Sie konnte nur noch still weinen. Die jüngere Schwester störte sie nicht.

Nach einer Weile ließen sich draußen vor dem Zimmer Schritte vernehmen. Auch die Kranke hörte sie und stand auf. Sie enthüllte ihr Gesicht; es war ruhig, aber von einer furchtbaren Blässe bedeckt.

„Es ist Rohden,“ sagte sie mit einer milden, ruhigen Stimme, „Er darf mich so nicht sehen. O, Elvire, mein liebes Kind, möchtest Du glücklich werden können! Mit ihm! Aber –“

Sie schüttelte schmerzlich das bleiche Haupt und ging in ein Nebenzimmer. An die Thür, vor der die Schritte gehört worden waren, wurde geklopft.

„Herein!“ rief leise das junge Mädchen, indem sie sich mühsam zu fassen suchte.

Der Advocat Rohden trat ein; er war ein schöner Mann mit seinem geistvollen, muthigen, besonnenen, kräftigen Gesicht. Man fühlte sich unwillkürlich beruhigt und sicher in seiner Nähe. Heute war seine Stirn umwölkt; sie wurde es noch mehr, als er sein Auge durch das Zimmer geworfen hatte, und sein erster Blick den Brief traf, den der französische Unterofficier gebracht hatte, und der auf dem Tische lag.

„Auch hier? ich hatte es gedacht!“ sagte er.

Seine Besorgniß machte das Märchen von neuem ängstlich.

„Sie haben etwas, Rohden.“

„Ja, liebe Elvire,“ erwiderte er, „und etwas recht Schweres.“

„Sie dürfen es mir mittheilen?“

„Ich muß es.“ Sie waren Freunde, das junge Mädchen und der junge Mann, der sie aus schwerer Gefahr errettet, der dann sein Leben für sie eingesetzt hatte. Ihre Herzen standen sich vielleicht noch näher. Und sie wußten es vielleicht auch. Gesagt hatten sie es sich noch nicht. Sie waren vertraute Freunde, die sich mittheilen mußten, was sie auf dem Herzen hatten. Nur die Geheimnisse der Familie, das schwere, entsetzliche Geheimniß der unglücklichen Familie, kannte er nicht.

„Ich bringe Ihnen mehrfache traurige Nachrichten,“ sagte er zu dem ängstlich horchenden Mädchen. „Lassen Sie mich mit der schrecklichsten beginnen. Sie betrifft uns Alle, sie vernichtet uns Alle, unser ganzes deutsches Vaterland. Sie wissen, man erwartete täglich die Nachricht von einer entscheidenden Schlacht zwischen den Alliirten und Franzosen.“

„Man erwartete, sie werde in Sachsen stattfinden,“ sagte das Mädchen.

„Sie hat dort stattgefunden – in der Nähe Leipzigs.“

„Und die Franzosen haben gesiegt?“

„Sie haben gesiegt. Napoleon hat einen großen, glänzenden, entscheidenden Sieg über die Verbündeten davon getragen – vorgestern, am sechzehnten. Den ganzen Tag hat der furchtbare Kampf gewüthet. Am Abend waren die Deutschen geschlagen, und der Kaiser Napoleon konnte Couriere nach allen Seiten mit der Nachricht des erfochtenen Sieges absenden. Einer von ihnen kam heute Nachmittag hier durch, die Nachricht dem Regimente zu überbringen. Als er Leipzig verlassen, hatten die Glocken der deutschen Stadt zu dem Siege der Franzosen über die Deutschen läuten müssen. Noch einmal ist unser Vaterland verloren. O, auf wie lange!“

Dem jungen Advocaten standen Thränen in den Augen Das junge Mädchen hatte einen anderen für sie tieferen Schmerz.

„Mein Vater! mein armer Vater!“ rief sie aus.

Der Advocat sammelte sich.

„Zu der Nachricht des Schreckens und der Trauer gesellt sich die Schmach. In der Stadt herrscht lauter Jubel über die Siegesnachricht. Die französischen Soldaten sind außer sich vor Freude. Die deutschen Beamten schließen sich ihnen an, sie wollen nicht zurückstehen, sie wollen jene überbieten. Sie nennen es Patriotismus! O, der furchtbaren, der ewigen Schmach!“

Die Stimme drohete ihm zu ersticken, er war leichenblaß geworden. Das Mädchen stand zitternd und leichenblaß vor ihm. Sie hatten Beide nicht gehört, wie sich langsam und leise die Thür des Zimmers geöffnet hatte. Der hohe finstere Greis war eingetreten und stand auf einmal vor ihnen, einem Gespenste ähnlich, das dem Grabe entstiegen ist. Die Gesichtszüge waren entstellt, verzerrt. Er wankte stumm zum Sopha. Er verhüllte sein Gesicht mit beiden Händen.

„Vater, mein Vater!“ eilte das Mädchen zu ihm. „Du hast es schon vernommen?“

Er antwortete nicht.

„Du weißt es! O, sprich, sprich! Vereinige Deinen Schmerz mit dem unsrigen, damit er Dich nicht tödtet.“

„Ich weiß es,“ sagte der Greis tonlos, „ich erfuhr es auf dem Rückwege. Sie sprachen davon,“ sagte er dann zu Rohden, „fahren Sie fort.“

„Sie wissen auch den Jubel, die Schmach?“ fragte Rohden.

„Ich weiß Alles.“

Der Advocat fuhr fort: „Das Schwerste, das Empörendste erwartet uns noch. Morgen soll in der Kirche ein feierliches Tedeum gehalten werden. Heute Abend gibt das Officiercorps einen glänzenden Ball. Wer zu jenem, wie zu diesem nicht erscheint, soll als ein Verräther des Vaterlandes, als ein Feind des Kaisers behandelt werden.“

Elvire hatte bebend den Brief des Regimentsobersten ergriffen und übergab ihn ihrem Vater.

„Von dem Obersten,“ sagte sie, „ein Unterofficier brachte ihn vor einer Stunde.“

Der Greis wollte aufspringen, vermochte es aber nicht. Seine Kräfte schienen auf einmal wie von einem furchtbaren Schlage erschöpft zu sein. Er streckte die zitternde Hand nach dem Briefe ans, sank aber wie gelähmt zurück.

„Lies Du!“ sagte er leise.

Sie erbrach das Billet und las:

„Der Oberst Charoul gibt sich die Ehre, Herrn Krajewski [788] mit seiner Familie zu dem Balle einzuladen, welchen das Officiercorps der Garnison heute Abend um neun Uhr zur Feier des großen französischen Sieges bei Leipzig veranstaltet hat. Man hat das Vertrauen zu dem Patriotismus und zu der Treue und dem Gehorsam des Herrn Eingeladenen gegen unseren erhabenen Souverain, den Kaiser, daß er dieser Einladung gern Folge leisten wird.“

Elvire sah stumm ihren Vater an, nachdem sie zu Ende gelesen hatte. Er saß bewegungslos mit dem verhüllten Gesicht da.

„Wir gehen nicht hin, Vater!“ sagte das Mädchen. Sie sprach es halb entschieden, halb bittend.

Er antwortete nicht; er bewegte sich nicht. Rohden nahm ihre Hand und führte sie auf die Seite.

„Er ist in einem furchtbaren Zustande,“ flüsterte er ihr zu.

„So ist er immer, wenn von diesem Kriege, von Deutschland, von Franzosen gesprochen wird. Darum hatte ich Sie gebeten, nie mit ihm über die Zustände unseres Vaterlandes zu reden.“

„Ich hatte es geahnt, ich wußte es,“ sagte der Advocat für sich. „Und da liegt sein und der Familie Geheimniß.“

„Drängen Sie ihn nicht, Elvire,“ fuhr er zu dem Mädchen fort. „Hören Sie mir vorher zu. Wir sind in einer verzweifelten Lage, und ich bin Ihnen volle Offenheit schuldig.“

„Reden Sie,“ bat das Märchen.

„Der Oberst und die Behörden legen auf diesen Ball ein besonderes Gewicht. Sie haben ihn absichtlich und in böser Absicht veranstaltet. Der deutsche Geist, wie in ganz Deutschland, ist auch hier erwacht, unmittelbar unter der französischen Herrschaft selbst. Er konnte, daß er nicht in Thaten sich kundgab, nur durch den strengsten Terrorismus niedergedrückt werden. Dennoch war er unter den Siegen der Alliirten in Schlesien, in Brandenburg, in Sachsen lauter und lauter geworden. Unsere Unterdrücker begannen schon sich wie in fremdem Lande zu fühlen und in dem fremden Lande sich zu fürchten. Auf einmal heute die Siegesnachricht. Auf ihre Furcht folgt der Triumph, der Uebermuth und zugleich das Verlangen, Rache dafür zu nehmen, daß sie sich hatten fürchten müssen. Dafür morgen das Tedeum, heute dieser Ball. Wehe dem, der nicht erscheint! Gegen Ihren Vater, Elvire, hat man einen ganz besonderen Haß –“

„Wegen meiner –“ sagte das Mädchen.

„Nicht blos deshalb. Es ist auch noch ein anderer und wahrscheinlich viel dringenderer Grund da.“

„Welcher könnte das sein?“

„Ich weiß es nicht, nur der Oberst scheint ihn zu kennen, vielleicht auch der Oberprocurator. Ich habe nur wie von einem tiefen Geheimniß davon sprechen hören. Aber bestimmt wollte man dabei wissen, daß bei dem ersten revolutionären Symptome, das sich in der Bevölkerung zeige, Ihr Vater der Erste sein werde, den man vor ein Kriegsgericht stelle, um ihn zu erschießen.“

„Allmächtiger Gott!“ rief das zum Tode erblaßte Mädchen.

„Es ist so, Elvire, und ich mußte es Ihnen jetzt, bei dem Herannahen der Gefahr, sagen.“

„Was machen wir, Rohden?“

„Vor allen Dingen darf er kein Wort von dem erfahren, was ich Ihnen hier mittheilte; er würde sonst keine Wahl mehr haben.“

„Wir würden hin müssen. Aber müssen wir das nicht immer?“

„Erwägen Sie auch das Andere, Elvire, Ihre Lage.“

„Lassen Sie uns nicht an mich denken, mein Freund.“

„Ihre Lage ist zugleich wieder die Ihres Vaters. Das Officiercorps haßt Sie. Die Rache, die man an Ihnen nehmen will, hat bisher nur mühsam unterdrückt werden können. Wird sie in dem Uebermuthe des heutigen Abends nicht um so mehr, vielleicht um so roher sich Luft zu machen suchen? Und was wird dann Ihr Vater thun? Sie kennen seine Liebe für Sie, seinen Stolz, seinen heftigen, krankhaft heftigen Charakter.“

Das Mädchen stand in sprachloser Angst.

„Erwägen Sie dagegen freilich,“ fuhr der junge Mann fort, „daß mit Ihnen ich da sein werde, und daß Sie zu allernächst unter meinem Schutze stehen werden.“

Ein neues Entsetzen hatte die Arme erfaßt.

„Sie, Rohden? Ihr Leben sollte ich zum zweiten Male auf das Spiel setzen? Nimmer. Ich gehe nicht zu diesem unglücklichen Ball.“

„Und Ihr Vater dann, Elvire?“

Die Arme durfte nicht einmal laut weinen, damit ihr Vater es nicht hörte.

„O,“ schluchzte sie in ihr nasses Tuch hinein, „o, wohl hatte die arme Schwester Recht, mit jenem Briefe meldet sich das Unglück bei uns an; es ist jetzt da. – Was machen wir, Rohden?“ fragte sie dann, „rathen Sie.“

Der muthige, stets entschlossene junge Mann mußte sich doch besinnen. Aber nur einen Augenblick lang. Eine Gefahr war immer da; sein Muth und seine Ehre entschieden für die Gefahr, die auch für ihn da war; einer andern Stimme, als der des Muthes und der Ehre, gehorchte er nicht. Die Geliebte – das schöne, brave, junge Mädchen war ihm schon längst die Geliebte seines Herzens – sie war freilich mit in der Gefahr, die auch für ihn da war, nur um ihretwillen konnte er hinein gerathen. Aber er durfte das nicht weiter beachten.

„Wir gehen, Elvire, Sie, Ihr Vater und ich.“

„Auch Sie?“

„Ich führe Sie in den Saal.“

„Es muß so sein,“ sagte sie.

Sie drückte ihm die Hand. Er drückte sie ihr herzlich wieder. Der warme Druck goß Muth in ihr Herz. Mit Muth und noch immer mit Angst, und durch beide mit stiller, inniger Liebe blickte sie in seine Augen, die voll Liebe auf ihr ruhten.

Der junge Advocat hatte noch etwas auf dem Herzen.

„Ich habe Ihnen noch eine recht traurige Nachricht mitzutheilen, Elvire; Ihr Vater darf sie nicht erfahren.“

„Sie betrifft ihn, Rohden?“

„Sie betrifft ihn nicht; aber sie würde ihn gerade heute unangenehm berühren. Die Gensd’armen haben vor kaum einer halben Stunde einen preußischen Officier eingebracht, der die Grenze überschreiten wollte.“

„Einen preußischen Officier?“

„Einen vormaligen wenigstens.. Er war mit dem Schill’schen Corps gefangen genommen, in das Innere von Frankreich geschleppt und auf die Galeeren gebracht. Es war ihm geglückt zu entkommen, aber nur bis hier. Ein Zufall muß ihn verrathen haben. Seit gestern war die gesammte Gensd’armerie der Gegend zu seiner Verfolgung aufgeboten. Gerade an der Grenze hat man heute ihn ergriffen.“

Elvire war aufmerksam geworden, dann unruhig.

„Ein Officier des Schill’schen Corps?“

„So heißt es in der Stadt.“

„Haben Sie seinen Namen gehört?“

Er nannte einen Namen.

„Großer Gott!“ rief das Mädchen.

Die Arme mußte krampfhaft das Tuch vor den Mund drücken, um den Ausruf des Schreckens zu dämpfen.

„Sie wissen von ihm?“ fragte Rohden.

„Ich hoffe nicht.“

„Aber Sie erschraken!“

„Ich hatte den Namen von meiner Schwester gehört, in ihren Nervenanfällen, ohne nähern Zusammenhang. Aber der Name ist ein vielverbreiteter, auch in der preußischen Armee. Auf keinen Fall, Sie haben Recht, darf mein Vater von der traurigen Begebenheit hören. Lassen Sie uns zu ihm gehen.“

Sie kehrten zu dem Greis zurück; er daß noch immer mit verhülltem Gesichte da. Ein furchtbarer Schmerz mußte in ihm wühlen; ein schwerer Kampf war vielleicht hinzugetreten.

„Wir gehen zu dem Balle, Vater,“ redete ihn, mit ihrer weichen Stimme bittend, die Tochter an. „Rohden begleitet uns,“ setzte sie hinzu.

Er fuhr auf, er hatte ihre Stimme gehört, aber nicht ihre Worte.

„Was sagtest Du?“ fragte er.

„Wir gehen zum Ball,“ wiederholte sie, „Rohden wird uns begleiten.“

Einen Augenblick starrte er sie an. In seinem Innern wälzten und drängten sich Gedanken und Pläne. Auf einmal schien er etwas festzuhalten.

„Wir gehen!“ sagte er hastig. „Mache Dich fertig.“

Er verließ das Zimmer. Der Advocat sah ihm kopfschüttelnd, Elvire mit schwerer Sorge nach.

„Hätte ich es ihm nicht gesagt! Er hat etwas vor. Es gibt ein Unglück. Kassandra, Kassandra, ich glaube Dir.“

„Fassen Sie Muth, Elvire, ich verlasse Sie nicht.“


(Fortsetzung folgt.)

[789]
Die Gems- und Bärenjagd in den Schweizer Alpen.
Von H. A. von Berlepsch.[1]

Der Aelpler ist eine feste, kernige, einfache Erscheinung in allen seinen Lebensbeziehungen, in allen seinen Lebensäußerungen. Ebenso genügsam, wie er in seinen Bedürfnissen, ebenso ungekünstelt, wie er in seinen Sitten, ebenso muthig, wie er in Gefahren, und ebenso ausdauernd, wie er bei den Beschwerden seines Erwerbes ist, – ebenso kühn und beharrlich, frisch und entbehrend ist er auch auf der Jagd. Sie steht im vollen Einklange mit seinem ganzen Wesen und mit der gewaltigen, großartigen Natur, die ihn umgibt.

Der Pirschgang auf Alpenthiere ist nach Terrain, Suche und Jagdart eine völlig anderen Bedingungen unterstellte, gänzlich anderen Umständen unterliegende Thätigkeit, als die zur Wissenschaft und noblen Passion ausgebildete hohe Jagd im Hügel- und Flachlande. Der größte Theil jener Praktiken, welche dort zulässig oder sogar geboten sind, und deren genaue Kenntniß und fertige Handhabung den flotten Jäger kennzeichnen, können in den Alpen nicht in Anwendung kommen; es ist keine paragraphisch-systematisirte Waidmannskunst, die sich theoretisch aus Büchern einschulen läßt, um ritterlich-elegante Komödie damit zu treiben, sondern so urnatürlich derb und wild, wie die Alpen selbst, ist auch die Jagd. Wer nicht das Zeug dazu in Knochen und Blut, in Muskeln und Fasern hat, wer nicht Gefahren und Strapazen lachend die Stirn bieten kann, wessen Auge nicht scharf und schwindelfrei in Abgründe zu blicken vermag, der lasse den Stutzen daheim, oder versuche sein Glück drunten im blassen, dürren Stoppelfelde und zwischen den Krautäckern, wo ihm der Hund den Hasen fangen hilft oder die Kitte Hühner vor den Schuß bringt. In den Alpen gilt’s wilden Bestien: Bären, Wölfen, Adlern und Geiern, oder der flüchtigen, weit witternden Gemse, oder den schlauen, scheuen Stein- und Schneehühnern. Es kann Einer ein perfecter Nimrod auf Rothwild sein und in der Sauhatz schon mancher Bache den Garaus gemacht haben, ohne auch nur eins der bezeichneten Alpenthiere erlegen zu können.

Abenteuer auf der Gemsjagd in Appenzell.

Zuvörderst gehört Mark in den Knochen dazu, ein leichter, sicherer Tritt, der, wenn auch Geröll und faulendes Gestein an jäher Bergwand ihm unter den harten, stachelbewaffneten Sohlen weicht, dennoch mit Sicherheit und kalter Ruhe darüber hinwegeilt, der sich zu helfen weiß im Labyrinth der Gletscher-Spalten und an der glatten, trügerischen Firnhalde, der nicht vorm Wagesprung zurückschreckt in den kahlen Kalkklippen, und der auf den Rasenbändern an den Felsenwänden so unbefangen geht wie der Dachdecker am Kirchthurm-Gesimse; – mit einem Wort, der Alpenjäger soll ein guter, ausdauernder Berggänger sein. Denn auf flinkem Jagdroß kann man nicht in die Flühenen reiten, wo das Wild haust; der eigene, feste Fuß muß den Alpenschützen hinauf in die zackige Gebirgs-Wildniß zum Waidwerk tragen. Dann ferner soll er vertraut mit den Revieren sein, in denen er sein Glück versuchen will. Er muß die Gebirgsstöcke und ihre Sippschaft, die Grate, Joche, Zinken und Kämme, den inneren Zusammenhang der Schluchten und gewundenen Felsengassen kennen, um sich nicht zu versteigen, wie weiland Kaiser Max an der Martinswand in Tyrol, oder Rudolph Bläsi von Schwanden, dessen haarsträubendes Jagdabenteuer der Dichter Reithard in seiner bekannten poetischen Erzählung: „Die beiden Gemsjäger“ aufbewahrt hat. Es ist wohl kaum ein rechter Bergschütz, der nicht schon oft in ähnliche Lagen gerieth und nur durch einen Verzweiflungs-Sprung sein Leben rettete. Wie viele schon dabei zu Tode stürzten oder einsam verhungerten, ist nicht zu berechnen. – Und endlich muß er entbehren können, entbehren Speise und Trank, Ruhe und Wärme. Wer bedenkt, daß die Jagd in den Bergen meist erst aufgeht, wenn die Alpen von den Heerden verlassen sind, daß also in den Hütten keine labende, kuhwarme Milch, kein Imbiß Brod zu haben ist, wer bedenkt, daß der Schütze oft vier bis fünf Tage in der Einöde umherschweift, ohne inzwischen zu seiner tief unten im Thale liegenden Wohnung hinabzusteigen, daß er also seine Mahlzeiten knapp eintheilen muß, um mit dem wenigen trocknen Brod und Käse und seinem Fläschchen „Chriesiwasser“ (Kirschgeist) auszureichen, – wer endlich erwägt, daß nicht einmal der rauhe Wildheusack in dürftiger Alphütte ihm eine gegen Kälte und Wetter schützende Lagerstätte bietet, sondern daß der Mann auf hartem Stein, in irgend einer Felsenspalte gar oft zu übernachten gezwungen [790] wird, wenn ihn die Nebel in den Höhen überfallen, und er ohne äußerste Gefahr nicht von der Stelle gehen darf, – der wird zugestehen, daß ein ungemein an Entbehrungen gewöhnter Körper außer den oben angeführten Eigenschaften zur Ausübung der Jagd in den Alpen gehört. Alle diese körperlichen Requisiten bedingt die edle Hochjagd in Deutschlands Auen und Wäldern nicht.

Das Capitel von den Gemsen und deren Jagd ist von dem gründlichen Kenner der Alpen, Fr. v. Tschudi, in seinem „Thierleben“ erschöpft. Indem wir auf dasselbe verweisen, tragen wir zur Ausfüllung des Rahmens, der unsere Bilder umschließt, blos einige charakteristische Jagdabenteuer nach.

Jäger-Spürsinn und Wild-Instinct sind neben den soeben aufgezählten körperlichen Erfordernissen die ersten bedingenden Eigenschaften des Gemsen-Jägers. Er muß die Standquartiere, die Weidegänge und Nachtlager erforschen, um mit einiger Sicherheit berechnen zu können, in welcher Gegend er um irgend eine bestimmte Zeit Gemsen zu treffen hoffen dürfe. Der Spittler Jan aus dem Graubündner Münsterthale, seines Gewerkes eigentlich ein Musikant, zugleich aber einer der verwegensten Gemsenschützen, soll mehrmals Wetten gewonnen haben, weil er genau Stunde und Platz angab, an denen man so und so viel Stück antreffen müsse. – Kennt er nun überhaupt den Jagdplatz, auf dem er seine Beute holen will, so bricht er, je nach der Entfernung seines Wohnortes (wenn er, wie dies die besten Gemsjäger immer thun, allein jagt), um Mitternacht oder bald nachher auf und steigt in schweigender Nacht so weit empor, als er unbeschadet seines Jäger-Vortheils kommen kann. Hierbei achtet er sorgfältig auf die Richtung des Windes, damit derselbe nicht den Gemsen Witterung und Schall des Kommenden zutrage. Ist er nun den Thieren im Rücken, die noch ruhend im Grase liegen und nur die „Bogaiß“ als Posten auf erhöhtem Felsenblock aufgestellt haben, so schleicht er, noch unter dem Schutze der Dämmerung, so nahe als immerhin möglich sich heran und sucht seinen Körper durch irgend einen Felsenblock, Baumstrunk oder sonstwie zu decken. Hier wartet er, schußfertig, den Anbruch des Tages ab. Welche unendliche Behutsamkeit und Vorsicht gehört zu diesem katzenartigen Vorgehen, welch äußerst spannendes Lauern bei größter Ruhe und Kälte! Erst nachdem sich die Thiere erhoben haben, wählt er sein Opfer aus und schießt. Oft begegnet’s, daß der resolute Jäger, bevor das erschrockene Gemsenvolk die Gegend ausfindet, von welcher Gefahr droht, noch ein zweites Thier mit seiner Doppelbüchse erlegt. Hat er gut getroffen, so schnellt die Gemse hoch auf und stürzt rasch zusammen; es trifft aber auch, daß angeschossene Thiere, die nicht tödtlich verwundet wurden, mit dem ganzen Rudel auf und davon jagen. Mitunter gibt es auffallend große Gesellschaften dieses Wildes, die bis zur Paarung bei einander bleiben; der bekannte Berggänger Statthalter Gottl. Studer in Bern sah deren einst im Wallis 60 zusammen weiden. Solojäger pflegen in der Regel keine Hunde mitzunehmen.

Der gewaltigste Gemsenjäger der Jetztzeit möchte vielleicht Ignaz Troger von Ober-Ems in Eischol (Wallis) sein; wenigstens erzählen die Hirten auf den Alpen des Turtmann- und Nicolai-Thales völlige Wunderdinge von ihm. Er scheint ein moderner Colani der dortigen Gegend zu sein, der ein mehrere Quadratmeilen großes Gebiet stillschweigend als ausschließlich nur ihm zuständiges Jagdrevier usurpirt hat und in welches kein anderer Schütze sich getraut. Außerdem umgibt ihn der Volksglaube mit einem unheimlichen, sagenhaften Nimbus und macht ihn zu einem Freischützen, der auf jeden Schuß sich holen könne, was er verlange. Jedenfalls steht es fest, daß er im ganzen Kanton Wallis der beste Alpenjäger ist, und wahrscheinlich mag der Umstand, daß er unter schlauer Benutzung gemachter Erfahrungen vielleicht an einem Tage 3 und 4 Gemsen schoß, diese geschickt verbarg und dann eine nach der anderen in seine Wohnung hinabtrug, Veranlassung zu allerlei Fabeleien gegeben haben. Zugleich ist er der verwegenste und unternehmendste Berggänger; wenn die Ersteigung des Weißhornes je möglich sei, so erreiche Troger zuerst die Spitze, so behaupten es die Walliser. – Ein anderer vortrefflicher Schütze, der jährlich seine 20 bis 30 Gemsen schießt und auch schon zwei Bären erlegte, ist Battista Margnia im Val Calanca, der einen Theil des Jahres als Glaser die deutsche Schweiz, namentlich den Kanton Glarus durchzieht. In Graubünden gilt gegenwärtig Benedetto Cathomen von Briegels im Vorder-Rheinthale als der größte Gemsenjäger, auf den dann der berühmte Bären-Nimrod Fili, Postmeister in Zernetz, Jakob Spinas von Tinzen, Zinsli von Scharans u. A. folgen.

Minder gefährlich ist das von den weniger hervorragenden Jägern gesellschaftlich unternommene Treibjagen auf Gemsen. Es findet meist in den ziemlich wildarmen Voralpen statt und nähert sich in manchen Beziehungen der organisirten hohen Jagd des Flachlandes, weil eine Aufstellung der Jäger, wie beim Anstand, stattfindet und oft auch Hunde zum Zutreiben benutzt werden.

Diese Jagdweise hat indessen auch wieder ihre eigenthümlichen Fährlichkeiten, die nach der Ursache und Veranlassung bei der Solojagd verhältnißmäßig weniger vorkommen können. Wie bei jedem Treibjagen, so muß auch hier ein Plan, eine gewisse Verständigung unter den Jägern und Treibern stattfinden; wird die getroffene Abrede durch einen der im Gebirge leicht möglichen, unvorhergesehenen Zwischenfälle nicht genau inne gehalten, so ist leicht ein gänzliches Fehlschlagen des Jagdtages das Resultat vieler Anstrengungen. Einen solchen Moment repräsentirt unser Bild. Drei wohlgeübte Schützen des Appenzellerlandes jagten an der Gloggern, jener hohen Wand südöstlich von der Seealp, an dem Wege gelegen, wenn man vom Weißbad über Meglisalp zum Sentis aufsteigt. Einer derselben ging diesen unteren Weg, ein zweiter droben über Marwies, und der dritte Jäger über ein schmales Rasenband an der Felsenwand, zwischen den beiden zuerst Genannten. Auf dieses Rasenband waren die Gemsen getrieben. Der zu unterst und zu oberst Gehende hatten leichteren Marsch und kamen früher an der Stelle an, wo das gemeinschaftliche Schießen beginnen sollte. Ersterer sieht die Thiere auf sich zukommen, ihm direct in den Schuß gehen, wartet und wartet und erblickt immer noch nicht den auf dem Rasenband treibenden Jäger. Die Gemsen kommen immer näher; er befürchtet um den Schuß zu kommen, legt fieberhaft aufgeregt an, drückt los und – aufgeschreckt durch den Knall, kehren die Thiere sofort um und fliehen in jagendster Hast auf dem Rasenbande den Weg zurück, den sie gekommen waren. Just an einer sehr schmalen abschüssigen Stelle von kaum etwas mehr Breite, als für einen Menschen zum Gehen nöthig ist, da, wo es um eine Felsen-Ecke biegt, stoßen sie in wildester Flucht auf den mühsam emporkletternden Jäger. Ein Begegnen Beider in aufrechter Stellung, auf diesem schwindelnden Felsenbande, hätte unfehlbar zum Sturze des Jägers in eine mehr als hundert Fuß absinkende Klippentiefe führen müssen, da die Gemsen instinctmäßig in der Angst der Verzweiflung den Durchpaß zwischen der Felsenwand und dem Jäger gesucht haben würden. Dies erkennt der besonnene Mann, und um sein Leben zu retten, wirft er sich nieder, und läßt das ganze Rudel in flüchtigem Sprunge über sich hinwegbrausen. – Ein anderer Jäger, im Glarnerlande, in ähnlicher Lage an kritischer Stelle, glaubte dennoch durch raschen Entschluß seine Beute erlegen zu können und kauerte sich sitzend, fest an die Felsenwand gestemmt, nieder und schoß. Die Ladung ging fehl, die Gemse setzte über ihn hinweg, berührte ihn aber im schnellenden, elastischen Sprung mit einem der Hinterläufe an seiner Jacke und riß ihm das oberste Knopfloch aus; ein Hängenbleiben hätte unfehlbar zum zerschmetternden Sturze Beider geführt.

Von einem tessiner Gemsenjäger aus dem Val Blegno wird folgende verbürgte Force-Tour erzählt. Ihrer Zwei waren auf’s Treiben ausgegangen. Da kommt der Eine von ihnen zum Schuß, trifft den Gemsbock gut in’s Vorderblatt, der verwundet und blutend dennoch fortrennt und dem andern Jäger in einem Defilé zwischen zwei kolossalen Felsenblöcken entgegenspringt. Dieser, durch den einen Block gedeckt, so daß das geängstete Thier ihn nicht sehen kann, schlägt an, drückt los, – aber das Gewehr versagt. Rasch entschlossen wirft der Tessiner seine Waffe fort, springt dem großen Gemsbock in dem Augenblick entgegen, als dieser in der Felsengasse weder rechts noch links fortkann, packt ihn glücklich erst mit einer, dann auch mit der andern Hand bei den Hörnern und läßt sich von dem wahre Löwenkräfte entwickelnden Thiere 30 bis 40 Schritte weit über Rasen und Gestein bis dicht an einen Abgrund schleifen, wo dasselbe erschöpft zusammenbricht. Noch zwei oder drei Sprünge, und der Abgrund hätte Beide aufgenommen. Hier am Rande der Tiefe entsteht nach einer Secunde, in einer Blutlache, nochmals ein Ringen Beider. Mit der einen Hand hält der Jäger krampfhaft den zähen Zweig einer Föhre fest, während er mit der anderen die Hörner des Thieres umspannt, [791] auf dessen Halse er kniet. So verweilt er einige Minuten, bis sein Gefährte herbeieilt und durch einige Stiche mit dem Brodmesser dem Leben des bis zum Tode sich wehrenden Thieres ein Ende macht.

Bei Streifzügen durch die Alpen begegnet höchst selten, daß Touristen, wenn auch nur in großer Entfernung, Gemsen zu sehen bekommen. Eine Stelle gibt’s, wo man im Frühsommer fast täglich sehr nahe Gemsen sehen kann; dies ist in den Churfirsten-Alpen oberhalb Wallenstad im Kanton St. Gallen. Diese Berge zwischen dem Speer und dem Gonzen sind zu „Freibergen“ von der Regierung erklärt, – dort darf bei hoher Strafe keinerlei Wild geschossen werden. Wer in Wallenstad übernachtet und frühzeitig nach den Alpen Lösis und Büls aufsteigt, wird außer einem großartigen Gebirgs-Panorama leicht Gemsen zu sehen bekommen. Der Weg ist ganz bequem, selbst für Damen praktikabel.

Die Bärenjagd ist nicht, wie die Gemsenjagd, ein zur Leidenschaft gewordener Act waidmännischen Vergnügens oder des Geldverdienstes; sie ist entweder (und zwar in den seltensten Fällen) eine unfreiwillige, durch den Zufall herbeigeführte Muthprobe für den Aelpler, – oder ein absichtlich aufgesuchter, höchst gefahrvoller Vernichtungskampf gegen den gefürchten Heerden-Räuber. In beiden Fällen ist diese Jagd nicht minder beschwerlich und drohend als jene, nur daß die Gefahr weniger in dem zu passirenden unzugänglichen Terrain, als vielmehr in der Natur des zu erlegenden Wildes beruht.

Die eigentliche Bärenheimath in den Alpen sind die Kantone Wallis und Graubünden. Als das am schwächsten bevölkerte Alpenland, welches zugleich noch die ausgedehntesten, dichtesten Waldungen und umfangreiche, wenig betretene Gebirgsreviere besitzt, bietet es dem großen Raubwild die beste Gelegenheit zu ungestörtem Aufenthalt. Es vergeht kein Jahr in den rhätischen und walliser Alpen, daß nicht bald hier, bald dort die Schreckensbotschaft in’s Thal hinabkommt, der Bär habe wiederum Schafe, Kälber oder überhaupt Jungvieh auf der Alp zerrissen. Aber zur Genugthuung der allgemeinen Sicherheit verbreitet sich dann auch oft die freudig wiederhallende Kunde durch die Berge, daß, oft unter den abenteuerlichsten Umständen, wieder ein Bär erlegt worden sei. Die Summe der in den Alpen geschossenen Bären darf in neuerer Zeit immerhin jährlich auf 12 bis 20 Stück angenommen werden. Es gibt, möchte man sagen, Bärenjahre, in denen sich diese Bestien außerordentlich zahlreich zeigen, und viele derselben in engen Grenzen geschossen werden, und wieder andere Jahre, in denen wenig von diesem Raubthiere verlautet. Die Menge der erlegten Bären würde bei weitem größer sein, wenn es mehr Jäger in den Bergen gäbe und die gesetzte Schußprämie größer wäre. (Graubünden z. B. zahlt von Regierungswegen nur 28 Francs für jeden erlegten Bären, ob alt oder jung, wobei dem Schützen dann das Thier sammt Fell zum Verkauf noch bleibt.) Taxationen von Forst- und Jagd-Männern schätzen den Bären-Reichthum von den Grajischen Alpen bis hinaus nach Steyermark und Krain auf etwa 500 Stück; doch ist diese Annahme um so unsicherer, als erwiesen ist, daß der Bär in fortwährendem Wandern zwischen dem Osten und Westen Europa’s begriffen ist und nur für unbestimmte Zeit feste Standquartiere bezieht.

Münchhausen ist nicht blos ein College der Jäger des Hügel- und Flachlandes, er hat auch Niederlassung bei den Alpenjägern gesucht und gefunden; daher kommt’s, daß eine Menge der übertriebensten Anekdoten von Bärenjagden existiren. Dies schließt indessen nicht aus, daß es Jagdabenteuer gibt, die zu den wirklich drastischen gehören.

Eine höchst tragikomische Bären-Attaque trug sich im Sommer 1857 in der Tiefe des Engadiner Val d’Uina zu. Schon mehrfach hatte ein hungeriger Mutz Heerden angefallen, die unterm Griankopfe und an den Abhängen des Piz Cornet weideten, so daß man Jagd auf ihn machte. Ein Mann von Sins begegnet in wilder Einöde dem zottigen Gesellen, legt auf ihn an und brennt ihm eine Kugel auf den Pelz. Der Bär, zu gering verwundet, um durch den Schuß kampfesunfähig zu werden, wendet sich zornig gegen den Jäger, der, das Gefahrvolle seiner Lage sofort erkennend, sich hinter einen großen, ringsum freien Felsblock flüchtet. Während der laut brummende Bär hinkend ihn verfolgt, ladet der Jäger auf’s Neue, indem er den Felsen fortwährend umläuft. Da, als die Büchse wieder schußfertig ist, stellt er sich zum zweiten Mal, und trifft das Thier, abermals jedoch, ohne es tödtlich verwundet niederzustrecken. Die Wuth des Bären wird dadurch nur gesteigert, und bald rechts, bald links den Block umgehend, entsteht nun ein Haschens- und Versteckens-Spiel zwischen dem fortwährend blutenden Thiere und seinem flüchtenden Verfolger, das von Augenblick zu Augenblick schrecklicher zu werden beginnt. Denn weit und breit nur felsige, todte Einöde, – kein rettender Freund, kein kampfunterstützender Jagd-Genosse. Der Sinser Bauer verliert immer noch nicht seine Geistes-Gegenwart und die gewiß seltene Kaltblütigkeit; im Springen gelingt es ihm, die Büchse zum dritten Mal zu laden und den dritten Schuß auf seinen Gegner abzufeuern. Ob dieser traf, ist unbestimmt. Zu seinem Entsetzen entdeckt aber der Jäger nun, daß seine Munition zu Ende ist; wahrscheinlich hatte er einen Theil derselben während des springenden Ladens verloren. Das Verfolgungsspiel beginnt gräßlich zu werden. Zwar zeigen sich die Blutverluste des Bären immer mächtiger, aber auch die Wuth desselben steigert sich immer mehr. Noch eine Zeitlang setzt der nun fast die Besinnung verlierende Aelpler das Fluchtspiel um den Felsenblock fort und glaubt das Thier so zu ermatten, daß ihm zuletzt die Kraft zur weiteren Verfolgung fehle; – aber vergeblich. Stets fort und fort sieht er sich von dem lautbrüllenden Ungeheuer auf Schritt und Tritt verfolgt, bald unmittelbar dicht hinter sich, bald durch Umkehr ihm entgegenkommend. Die Kniee zittern ihm, der Fuß wird unsicher und strauchelt ein übers andere Mal, – der Athem geht ihm aus, und in Schweiß gebadet wähnt er jede Secunde ohnmächtig niederstürzen zu müssen. Da endlich ermattet auch das Raubthier, sein Gebrüll ertönt nur noch stoßweise, und Unterbrechungen im Laufe treten ein. Diesen Umstand benützt der auf den Tod geängstete Jäger und stürmt, mit letztem Aufwand aller seiner Kräfte, dem Thale zu, – lange Zeit ohne umzuschauen, ob er verfolgt werde oder nicht. Er war gerettet, vermochte aber kaum seine Wohnung zu erreichen. Eine schwere Krankheit warf ihn auf’s Siechbett. – Nachbarn, die am andern Morgen gut bewaffnet an die bezeichnete Stelle gingen, fanden, den Blutspuren folgend, das Thier in ziemlicher Entfernung vom Schauplatze des entsetzlichen Jagdspieles verendet.

Nicht mindere Geistesgegenwart und rettende Entschlossenheit entwickelte einst der als Gemsenjäger hoch berühmte Colani von Pontresina im Ober-Engadin. Auf seinen Streifzügen entdeckte er eines Tages die unverkennbaren Fährten eines Bären und verfolgte dieselben über ein nur wenig Fuß breites Felsenband (ähnlich dem, wie es unsere Abbildung des Gemsenjagd-Abenteuers zeigt) bis zu einer Höhle, vor welcher der Pfad auslief. Da es schon spät am Tage war, und er nur eine leichte Büchse bei sich trug, so beschloß er den Angriff auf das Thier zu verschieben, und nahm seinen Rückweg mit der größten Vorsicht.

Am andern Morgen, zu rechter Jägerzeit, noch ehe es tagte, ging er, von seinem damals zwölfjährigen Sohne begleitet, mit der besten Doppelbüchse bewaffnet, vor die Bärenhöhle; auch der Knabe trug eine gleiche Waffe. Nicht lange liegen Beide auf der Lauer, der Alte kniet zuvörderst, der Knabe dicht hinter ihm, als es da drinnen lebendig zu werden beginnt. Bald funkeln zwei Augen, den Kohlen gleich, aus dem Dunkel der Höhle hervor, und der alterfahrene Schütze sendet ihnen die erste, wohlgezielte Kugel entgegen. Sie hat getroffen, denn laut stöhnendes Geheul erschallt aus der Tiefe; zugleich aber auch entwickeln sich die dunkelen Umrisse immer mehr, und im nächsten Augenblick kriecht eine gewaltig große Bärenmutter aus der Höhle hervor. So wie Colani des Schusses sicher zu sein glaubt, gibt er die zweite Salve. Sie zerschmettert dem Ungethüm die rechte Vorderpfote, das mit donnerndem Gebrüll zwar niederstürzt, jedoch sofort sich wieder erhebt, vollends hervorkriecht und sich zum Kampfe auf den beiden Hinterbeinen emporrichtet, da ihm die vorderen den Dienst versagen. – „Vater! soll ich schießen?“ ruft der über seines Vaters Rücken im Anschlag liegende Knabe, vor Begierde zitternd. Aber der alte Colani verliert nicht einen Augenblick seine entsetzliche Jäger-Ruhe und kalte Besonnenheit. Der nächste Schuß mußte unbedingt dem Thier ein Ende machen, sonst war’s um ihn und sein Kind geschehen. – „Gib mir die Büchse!“ herrscht er, ohne den Blick von seiner Beute zu verwenden, dem Knaben zu und wechselt, während der Bär nur wenige Schritte von ihm entfernt ist, mit fester Hand die Waffe. So läßt er das hochaufgerichtete Thier in fürchterlicher Ruhe so dicht herankommen, daß fast die Mündung der Rohre in den weit aufgerissenen Rachen der Bestie reicht. –

[792] Ein Druck, – der erste Schuß versagt, – der zweite knallt, und die Kugel jagt durch das Gehirn, daß das Raubthier mit schwerem Fall zusammenstürzt. Da leidet’s den Bub nicht mehr; im Nu hat er am jähen Abhang den Vater umklettert und hämmert mit verkehrter Büchse auf den Schädel des röchelnden Feindes ein, daß diesem der letzte Lebensfunken entflieht. – Colani ist schon lange gestorben, aber der 12jährige Bub ist jetzt ein muthiger Gemsjäger und im Sommer Führer zu dem Gipfel des Piz Languard.




Frau von Krüdener und die heilige Alliance.

Die letzte Zusammenkunft der Kaiser von Rußland und Oesterreich mit dem Prinz-Regenten von Preußen hat in der Seele der Völker Befürchtungen und Erinnerungen an die früher so genannte „heilige Alliance“ geweckt, welche zum großen Theil die Verirrungen des heutigen Europa herbeigeführt und verschuldet hat. Die ursprüngliche Idee zu diesem Bündnisse der Reaction gegen die Freiheit und politische Entwickelung der Völker rührte von einer Frau her, deren ganze Erscheinung und Schicksale ein hohes Interesse in Anspruch nehmen.

Juliane Freifrau von Krüdener wurde am 21. November 1764 in Riga geboren. Ihr Vater, der Baron Vietinghoff, war einer der reichsten Gutsbesitzer in Kurland, ihre Mutter eine Tochter des bekannten Generals Münnich, der eine Zeit lang als Verbannter in Sibirien lebte. Schon als Kind verrieth sie ungewöhnliche Anlagen und eine gewisse Frühreife des Verstandes. Noch im zarten Alter begleitete sie ihre Eltern nach Paris, wo ihr Vater ein bedeutendes Haus ausmachte und mit den berühmtesten französischen Gelehrten vielfach in Berührung kam. Ohne auffallend schön zu sein, zeigte die heranwachsende Jungfrau ein interessantes Gesicht, von Geist belebte Züge und eine hinreißende Liebenswürdigkeit, sodaß es ihr nicht an Bewerbern fehlte, von denen der Baron von Krüdener, ein bekannter Diplomat, ihre Hand erhielt. Ihre Ehe war anfänglich eine glückliche, sie gebar ihrem Gatten einen Sohn und eine Tochter, nachdem sie ihm auf seinen Posten nach Venedig gefolgt war. Hier wurde der geistreichen und liebenswürdigen Frau von allen Seiten gehuldigt; bald war sie der Mittelpunkt der großen Welt und in einen Strudel von Zerstreuungen, Festen, Bällen und Vergnügungen aller Art hineingerissen, wie sie damals die üppige Lagunenstadt in reichster Fülle bot. Unter Andern lernte sie daselbst den Grafen Alexis Stakieff kennen, der eine glühende Leidenschaft für die junge Frau des Gesandten faßte, die zwar von ihr nicht erwidert wurde, aber nicht ohne Einfluß auf ihr ferneres Leben blieb, da die entsagende Liebe des Jünglings unwillkürlich einen mächtigen Eindruck auf ihr nur zu empfängliches Herz machen mußte. Sie begann über ihr eheliches Verhältniß nachzudenken und fühlte sich unbefriedigt, um so mehr, als Herr von Krüdener sich ausschließlich seinen diplomatischen Geschäften überließ und nach dem Brauch der damaligen vornehmen Welt sich wenig mit seiner Gattin beschäftigte. Sein kalter Verstand bei sonst schätzenswerthen Eigenschaften des Geistes und des Herzens vertrug sich nicht mit ihrer Schwärmerei. Dazu kamen Zerrüttung der Vermögensverhältnisse, herbeigeführt durch den mit seinem Posten verbundenen übermäßigen Aufwand, und außerdem Kränklichkeit der nervösen Frau, die auf Anrathen der Aerzte über Paris nach dem südlichen Frankreich ging, wo sie eine Zeit lang getrennt von ihrem Gatten lebte. Auf ihrer Reise kam sie mit verschiedenen interessanten Personen in Berührung, unter denen der berühmte Schriftsteller Bernardin de St. Pierre, der Verfasser des allgemein bewunderten Romans „Paul und Virginie“, die erste Stelle einnahm. Es war in den ersten Tagen der großen französischen Revolution, als Frau von Krüdener den Boden Frankreichs betrat, und auch sie schwärmte damals mit für Freiheit und Menschenwohl, wie dies bei ihrem empfänglichen und leicht beweglichen Wesen wohl natürlich war.

In Montpellier, wo sie mehrere Monate blieb, machte sie die verhängnißvolle Bekanntschaft eines jungen Husarenofficiers, des Grafen Fregeville; in seiner Gesellschaft besuchte sie die romantischen Quellen von Vaucluse, die Petrarca durch seine Liebessonette für immer verherrlicht hat, und lernte nur zu schnell ihre Pflichten als Gattin und Mutter vergessen. Die Fortschritte der Revolution zwangen den Geliebten, der als Adliger und Soldat des Königs doppelt verdächtig war, zu fliehen; er begleitete Frau von Krüdener über Brüssel durch Deutschland in ihre Heimath, wo sie von ihrem Gatten geschieden zu werden verlangte. Familienrücksichten bestimmten sie indeß, von dieser Forderung wieder abzustehen; sie zog es vor, eine Art von Scheinehe fortzuführen, wozu ihr nur allzunachsichtiger Gatte willig die Hand bot. Nachdem der Geliebte sie verlassen, um dem aufgehenden Gestirn Napoleons zu folgen, ging sie selbst nach Paris zurück, wo sie bald ganz und gar in das Treiben der großen Welt gerieth, mit Leichtsinn neue Verhältnisse knüpfte, um sie eben so schnell wieder zu lösen. Unter Andern soll der Sänger Garat, ein wilder und frivoler Mann, längere Zeit ihr Herz besessen haben. Indeß schützte sie ihr Geist und eine gewisse Idealität, die noch nicht ganz in ihr erstorben war, vor dem völligen Untergang. Sie suchte die Gesellschaft der bedeutendsten Männer und Frauen auf, und zugleich erwachte auch in ihr das Streben, sich als Schriftstellerin auszuzeichnen. Sie veröffentlichte ihren ersten Roman „Valérie“, worin sie ihr eigenes Verhältniß zu dem Grafen Stakieff mit bewunderungswürdigem Talente und leidenschaftlicher Gluth schilderte. Das Erscheinen dieses Buches erregte in Paris ein ungemeines Aufsehen, das sie und ihre Freunde noch durch künstliche Mittel zu fördern suchten. In vollen Zügen genoß sie ihren ersten schriftstellerischen Triumph bis zur Uebersättigung.

Auf den Wunsch ihrer kranken Mutter verließ sie Paris, um nach Riga zurückzukehren. Hier sah sie eines Tages unter ihrem Fenster einen Freund ihrer Familie plötzlich vom Schlage gerührt todt niederstürzen. Der Anblick des Sterbenden machte einen furchtbaren Eindruck auf die reizbare, nervenschwache Frau. Unaufhörlich umschwebte sie das Bild des Todes, so daß sie in eine fast an Wahnsinn grenzende Melancholie verfiel. Unwillkürlich wendete sich ihre bedrängte Seele dem Himmel zu, den sie um Kraft und Erleuchtung vergebens anflehte. In solcher Stimmung wurde sie mit einem frommen Schuster bekannt, der gekommen war, um ihr ein Paar Schuhe anzupassen. Seine Heiterkeit und sein zufriedenes Aussehen fiel ihr auf, so daß sie sich veranlaßt sah, nach dem Grunde zu fragen. Er gab sich ihr als ein Herrnhuter zu erkennen und pries ihr die Macht des Gebetes und die Heilkraft der Religion für alle Bedrängnisse des Lebens an. – In ihrer Liebe getäuscht, von Genüssen aller Art erschöpft, blasirt und angeekelt von der Welt, warf sich Frau von Krüdener mit derselben Leidenschaftlichkeit in die Arme des Glaubens, wie früher in die des Vergnügens. So wurde sie aus einer sinnlichen Weltdame eine fromme Bekehrte, eine Pietistin, indem sie nur den Gegenstand ihres schwärmerischen Eifers wechselte.

Zur Vollendung ihrer Umwandlung ging sie nach Deutschland, wo sie zunächst die verschiedenen Herrnhuter-Gemeinden besuchte und in innige Verbindung mit dem bekannten Geisterseher Jung-Stilling trat. Immer tiefer versank sie in die Abgründe eines phantastischen Mysticismus, worin sie ein abenteuerlicher Pastor Fontaine und eine Bäuerin Kummrin, welche als Prophetin unter den Eingeweihten galt, nur noch mehr bestärkten. In diese Zeit fiel auch ihre nähere Bekanntschaft mit der Königin Louise von Preußen, welche auf ihrer Flucht nach Königsberg der Frau von Krüdener begegnete und in ihrer damaligen Stimmung vielfach mit ihr sympathisirte. – Die großen politischen Ereignisse führten die Letztere nach der Schweiz, wo sie in Genf längere Zeit in Verbindung mit dem jungen Empeytas, einem reformirten Geistlichen und schwärmerischen, aber aufrichtigen Pietisten, sich auf ihren erwählten Beruf vorbereitete, den Armen das Evangelium zu verkündigen. Ihr erstes öffentliches Hervortreten geschah in Heidelberg, wo sie mit einem Erbauungsbuche in der Hand sich in das Gefängniß begab, wo sie das verhärtete Gemüth der Straßenräuber und Diebe zu rühren und zu bekehren suchte. Natürlich erregten ihre derartigen Bestrebungen ein großes Aufsehen; sie fielen noch dazu in eine Zeit, welche, reich an welterschütternden Begebenheiten, wie die Flucht Napoleons aus Rußland und seine [793] nachfolgende Besiegung durch die Völkerschlacht bei Leipzig, an und für sich geeignet war, das Walten der Vorsehung anzuerkennen und einer religiösen Stimmung nachzugeben. Besonders war der Kaiser Alexander von Rußland von einer ähnlichen Richtung ergriffen und von der Heiligkeit seiner Aufgabe nur zu sehr erfüllt, nachdem auch er den Becher des Lebens fast bis zum Grunde erschöpft hatte und durch Zerstreuungen aller Art übersättigt und blasirt war. Die verwandten Naturen suchten und fanden sich durch Vermittlung des Fräulein von Stourdza, einer Hofdame der Kaiserin Elisabeth, deren Bekanntschaft Frau von Krüdener in Karlsruhe gemacht hatte. Es war in Heilbronn, wo Alexander auf seinem zweiten Siegeszuge nach Paris mit ihr zusammentraf. Sie redete zu dem mächtigen Autokraten wie eine Prophetin des alten Bundes; rücksichtslos tadelte sie ihn wegen seines vergangenen Lebens und imponirte ihm durch ihre kühnen, nie zuvor von ihm gehörten Worte.

„Nein, Sire!“ sagte sie im Laufe jener denkwürdigen Unterhaltung, „Sie haben sich noch nicht gebeugt vor dem Erlöser wie ein Verbrecher, der um Gnade fleht. Sie haben noch nicht Verzeihung von dem erbeten, der allein Ihnen die Sünden vergeben kann; Sie haben sich noch nicht gedemüthigt vor Jesus Christus; Sie haben noch nicht wie der Zöllner aus tiefster Seele zu ihm geschrieen: – O Gott! sei mir gnädig, der ich ein großer Sünder bin! – Deshalb können Sie auch keinen Frieden finden! – Hören Sie auf die Stimme einer Frau, welche ebenfalls eine große Sünderin war, welche aber Vergebung zu den Füßen des Kreuzes gefunden hat.“

Alexander hörte tief bewegt ihre Rede und bedeckte weinend sein Gesicht mit beiden Händen. Jetzt erst schien sich Frau von Krüdener zu erinnern, daß sie vor dem größten Autokraten Europa’s stand, und suchte sich zu entschuldigen.

„Nein, Madame!“ entgegnete er, „Ihre Worte sind Musik für meine arme Seele.“

Drei volle Stunden dauerte die Unterredung, bis der Morgen graute, worauf sie der Kaiser tief erschüttert erst entließ.

„Seien Sie ohne Furcht,“ sagte er, ihr zum Abschiede die Hand reichend, „Ihre Worte haben mein Herz gekräftigt und geläutert. Sie haben mich in seiner Tiefe Dinge entdecken lassen, die ich nie zuvor gekannt. Ich danke Gott dafür, aber ich fühle die Sehnsucht nach ähnlichen Belehrungen und deshalb bitte ich Sie, in meiner Nähe zu bleiben.“

Frau von Krüdener folgte Alexander auf seinen ausdrücklichen Wunsch nach Paris, dem früheren Schauplatz ihrer frivolen Weltlust. Hier hielt sie jetzt ihre religiösen Versammlungen, zu denen sich Männer und Frauen aus allen Ständen drängten. In der Faubourg St. Honoré bezog sie das Hotel Montchenu, ganz in der Nähe des Palastes Elysee-Bourbon, wo der Kaiser residirte. Eine geheime Thüre, zu der er den Schlüssel hatte, führte ihn zu ihr, so oft er sich aus dem rauschenden Getümmel der Welt fortsehnte, um den Offenbarungen der neuen Pythia zu lauschen. In der Stille ihrer einsamen Wohnung reifte in ihm der Entschluß zu jener „heiligen Alliance“, deren erster Gedanke allen Nachrichten nach von ihr herrührte. Nur in dem phantastischen Kopfe einer schwärmerischen Frau konnte die Idee entstehen, das Christenthum mit der Diplomatie, den Himmel mit der Hölle zu verbinden. Alexander, erfüllt von seiner weltgeschichtlichen Mission, beabsichtigte nichts Geringeres, als das Evangelium zur Grundlage der Politik zu machen und somit seinen Ukasen nicht nur für Rußland, sondern für das ganze übrige Europa die Bedeutung und Geltung göttlicher Offenbarungen zu verschaffen. Frau von Krüdener gab der Sache auch den Namen, indem sie auf die bekannten Prophezeiungen im Buche Daniel sich stützte, worin eine heilige Verbindung der Könige des Nordens und des Südens verkündigt wird. Der Kaiser selbst schrieb den ganzen Entwurf eigenhändig nieder und übergab ihr denselben mit der Bitte, ihn durchzusehn und zu corrigiren. Sie gab einige Bemerkungen dazu und den Namen „heilige Alliance“.

Das merkwürdige Aktenstück lautete folgendermaßen:

„Im Namen der hochheiligen und untheilbaren Dreieinigkeit.

Da Ihre Majestäten, der Kaiser von Oesterreich, der König von Preußen und der Kaiser von Rußland, in Folge der großen Begebenheiten, welche die letzten drei Jahre in Europa auszeichneten, und besonders in Folge der Wohlthaten, die es der göttlichen Vorsehung gefallen hat, über die Staaten zu verbreiten, deren Regierungen ihr Zutrauen und ihre Hoffnung allein auf sie setzen, die innige Ueberzeugung von der Nothwendigkeit erhalten haben, den von den Mächten in ihren gegenseitigen Beziehungen beobachteten Gang auf die erhabenen Wahrheiten zu gründen, welche uns die heilige Religion unseres Heilandes lehrt, so erklären Sie feierlich, daß gegenwärtiger Act nichts Anderes zum Gegenstände hat, als im Angesichte der ganzen Welt Ihren unerschütterlichen Entschluß zu erkennen zu geben, sowohl in der Verwaltung ihrer Staaten, als in den politischen Verhältnissen mit jeder andern Regierung blos die Vorschriften jener heiligen Religion zur Richtschnur zu nehmen, nämlich die Vorschriften der Gerechtigkeit, der christlichen Liebe und des Friedens, die, weit entfernt, blos auf das Privatleben anwendbar zu sein, vielmehr auf die Entschlüsse der Fürsten unmittelbar Einfluß haben und alle ihre Schritte leiten müssen, da sie das einzige Mittel sind, die menschlichen Einrichtungen fest zu begründen und deren Unvollkommenheiten abzuhelfen. Dem zufolge sind Ihre Majestäten über folgende Artikel übereingekommen:

1. Den Worten der heiligen Schrift gemäß, welche verordnen, daß sich alle Menschen als Brüder ansehen sollen, werden die drei Monarchen durch die Bande einer wahren und unzertrennlichen Brüderschaft vereinigt bleiben, und da Sie Sich als Landsleute betrachten, so werden Sie Sich bei aller Gelegenheit und in jedem Falle Hülfe und Beistand leisten; da sie Sich ferner in Hinsicht Ihrer Unterthanen und Ihrer Armeen als Familien-Väter ansehen, so werden Sie selbige in eben dem Geiste der Brüderschaft leiten, wovon Sie zum Schutze der Religion, des Friedens und der Gerechtigkeit beseelt sind.

2. Der einzige Grundsatz, der sowohl zwischen den besagten Regierungen, als zwischen ihren Unterthanen in Kraft sein muß, wird demnach der sein, sich gegenseitig Dienste zu leisten, sich durch unveränderliches Wohlwollen die gegenseitige Zuneigung zu bezeugen, wovon sie beseelt sein müssen, sich alle nur als Mitglieder einer und derselben christlichen Nation anzusehen, indem Sich die drei alliirten Monarchen selbst nur als Bevollmächtigte der Vorsehung betrachten, um drei Zweige einer und derselben Familie zu beherrschen, nämlich Oesterreich, Preußen und Rußland, wodurch Sie mithin erklären, daß die christliche Religion, wozu Sie und Ihre Völker gehören, in der That keinen andern Souverain hat, als denjenigen, dem allein die Macht gebührt, da sich in Ihm allein alle Schätze der Liebe, der Wissenschaft und der unendlichen Weisheit befinden, nämlich in Gott, unserm göttlichen Erlöser Jesus Christus, dem Worte des Allerhöchsten, dem Worte des Lebens. Ihre Majestäten empfehlen daher Ihren Völkern mit der zärtlichsten Sorgfalt als das einzige Mittel, dieses Friedens zu genießen, der aus einem guten Gewissen entspringt und allein dauerhaft ist, sich täglich mehr in den Grundsätzen und in den Ausübungen der Pflichten zu bestärken, welche der göttliche Heiland den Menschen gelehrt hat.

3. Alle diejenigen Mächte, welche die heiligen Grundsätze, von denen die gegenwärtige Acte eingegeben worden, feierlich anerkennen wollen und die es einsehen werden, wie wichtig es für das Glück der nur zu lange beunruhigten Nationen sei, daß diese Wahrheiten künftig auf die menschlichen Schicksale gehörigen Einfluß haben, werden mit eben so viel Bereitwilligkeit als Zuneigung in diese heilige Alliance aufgenommen werden.“ –

Dieses Actenstück wurde zunächst von den drei genannten Monarchen unterzeichnet; später traten demselben sämmtliche christliche Regierungen in Europa mit Ausnahme des Papstes bei, wobei der König von Frankreich und der Prinz-Regent von England die Vorsicht gebrauchten, sich nur persönlich zu verpflichten, ohne dem Lande irgend eine politische Verbindlichkeit aufzuerlegen. Mit großer Wahrscheinlichkeit läßt es sich annehmen, daß die heilige Alliance ihre geheimen Artikel hatte, die bis zu diesem Augenblicke noch nicht bekannt geworden sind. –

So tugendhaft und fromm-christlich auch die ausgesprochenen Grundsätze dieses neuen Bundes lauteten, so schnell zeigte die Praxis ihre Gefährlichkeit für die Freiheit der Völker. In der Hand eines Metternich und des von der Revolutionsfurcht gequälten Alexander bot die heilige Alliance eine willkommene Handhabe zur Unterdrückung jeder freisinnigen Bewegung, jeder nationalen Erhebung. Mit ihrer Hülfe wurden die italienischen Liberalen unterjocht, in Spanien die constitutionelle Regierung gestürzt und die grauenvollste Reaction herbeigeführt. Auch Deutschland hat einen großen Theil seiner früheren Leiden und noch vorhandenen [794] Uebel der heiligen Alliance zu verdanken, die weit eher den Namen der „unheiligen“ verdiente und darum von den Völkern mehr und mehr gehaßt wurde. Ursprünglich in der Theorie von den Ideen der größten Humanität und Christenliebe ausgehend, war sie in der Praxis die Feindin jedes Fortschrittes, die Ursache aller Unterdrückung, bis sie zuletzt von ihrer schwindelnden, phantastischen Höhe der allgemeinen Menschenbeglückung zu einer gewöhnlichen europäischen Polizei-Anstalt herabsank. Statt des erträumten Friedens brachte sie nur neue Kriege und Verwirrungen, statt der ausgesprochenen Bruderliebe säte sie nur Haß, Zwietracht und Verfolgung aus. Der schwärmerische Alexander sah seine eigene Schöpfung sich bei Gelegenheit des griechischen Aufstandes gegen ihn kehren, indem der schlaue Metternich den Kaiser mit den eignen Waffen schlug und ihn zurückhielt, seinen bedrängten Glaubensbrüdern erfolgreich beizustehen. Nach und nach lockerte sich das Bündniß, wenn auch die Stifter desselben bis zu ihrem Tode befreundet blieben. Die heilige Alliance löste sich stillschweigend auf und starb aus Mangel an innerer Lebensfähigkeit, ein trauriges Angedenken an ihre mehr verderblichen als segensvollen Wirkungen hinterlassend.

Frau von Krüdener selbst erkannte wahrscheinlich, daß die Großen dieser Welt nur wenig geeignet waren, das von ihr verkündigte Evangelium in sich aufzunehmen; sie wandte sich deshalb von Neuem und ausschließlich dem Volke und zwar vorzugsweise den Armen, Leidenden und Hilfsbedürftigen zu, wobei sie jedoch nicht mit der nöthigen Vorsicht verfuhr und mehr Schaden als Nutzen stiftete. Zunächst ging sie nach Basel, wo sie in Gemeinschaft mit dem jungen Empeytaz öffentliche Vorträge hielt, die besonders von Frauen und Mädchen aus den niederen Ständen besucht wurden und zu allerlei ärgerlichen Auftritten Veranlassung gaben, sodaß die Obrigkeit sich veranlaßt fand, Frau von Krüdener auszuweisen. Nicht besser erging es ihr in Lörrach und Aarau, wohin sie sich später wandte. Im Jahre 1816 hielt sie sich in der Nähe von Basel, aber auf badenschem Gebiete, in dem sogenannten Grenzacher-Horn auf, wo sie Tausende von Armen, welche durch die damalige Hungersnoth außerordentlich litten, um sich versammelte. In ihren Predigten eiferte sie gegen die Reichen und empfahl statt Arbeit und Geduld eine gedankenlose Frömmigkeit und die alleinige Heilkraft des Gebetes. Auch die badensche Regierung fürchtete, und, wie es scheint, nicht ohne Grund, Störungen der öffentlichen Ordnung, zumal sich auf dem Grenzacher-Horn eine völlige Bettlergemeinde angesiedelt hatte. Sie ließ deshalb die Wohnung der Frau von Krüdener von Landjägern des Nachts umringen und die zahlreichen Armen gewaltsam nach Lörrach abführen. Frau von Krüdener wandte sich in Folge dieses Vorfalls an den damaligen Minister des Innern, Herrn v. Berkheim, in einem merkwürdigen Schreiben, worin sie ihm die Noth des Volkes und ihre eigenen Bestrebungen in der eindringlichsten Sprache vorstellte, indem sie zugleich dem Befehle der Obrigkeit das Gebot Gottes entgegensetzte, sich der Hülflosen anzunehmen.

Gezwungen Baden zu verlassen, trat sie ihre Irrfahrten durch ganz Deutschland an; überall, wo sie erschien, erregte sie das größte Aufsehen durch ihre Predigten, die sie im Freien hielt und in denen sie ungescheut ihre pietistisch-socialen Grundsätze aussprach; überall strömten ihr die Menschen und besonders die Armen zu, so daß sie oft dreitausend Zuhörer und mehr bei ihren Reden zählte, aber überall wurde sie auch bald polizeilich ausgewiesen und verfolgt. Einige Ruhe war ihr nur in Leipzig gegönnt, aber auch hier sah man sich veranlaßt, sie endlich auszuweisen und mit Hülfe der preußischen Behörden über die Grenze nach Rußland zu bringen, wo ihr der Aufenthalt unter manchen Beschränkungen gestattet wurde. Trotz ihres früheren freundschaftlichen Verhältnisses mit dem Kaiser Alexander mußte sie Petersburg für immer vermeiden, wo sie sich allzu lebhaft für die Befreiung des griechischen Volkes ausgesprochen hatte, ebenso mußte sie auf jede öffentliche Wirksamkeit verzichten.

Leidend und lebenssatt zog sie sich nach der Krim in selbstgewählte Verbannung zurück, wo sie am 13. December 1824 zu Karasubasar in den Armen ihrer Tochter starb.
Max Ring.




Erinnerungen an Wilhelmine Schröder-Devrient.

Von Claire von Glümer.
IX.

Ein hervorragender Zug in Wilhelminens Wesen war ihre thätige Menschenliebe. Tausend Beweise ihrer Güte und Großmuth sind bekannt, eben so viel, wenn nicht mehr, hat sie im Stillen gethan, und es war nicht jenes gleichgültige Hingeben von Almosen, womit so Viele genug zu thun meinen, nicht jenes hastige Sichloskaufen von den Ansprüchen, die Krankheit, Alter und Armuth nun einmal an die Besitzenden machen – es war ein inniges schmerzliches Theilnehmen an den Leiden ihrer Mitmenschen, ein unablässiges Bestreben, nach Kräften dem Elend abzuhelfen, das sie auf ihren Wegen fand.

Die Wechselwirkung blieb nicht aus. Wilhelmine Schröder-Devrient war die wohlthätige Frau, zu der sich alle Bedrängten flüchteten, der sie vertrauensvoll ihre großen und kleinen Sorgen an’s Herz legten. Unter den Papieren der Verewigten befanden sich unzählige Bittschriften und Danksagungen. Bald hat sie ein Concert zum Besten der Abgebrannten gegeben, bald den Ertrag eines Gastspiels den Ueberschwemmten zu Gute kommen lassen, oder für die hungernden Spitzenklöpplerinnen im Gebirge, oder für den Hülfsverein der Deutschen in Paris gesungen. Ein armer Student bittet sie um ein paar Louisd’or, eine verzweifelnde Mutter um Brod für ihre Kleinen, oder ein Schauspieler ohne Engagement schreibt ihr, daß er für sich und die Seinen keine Rettung weiß, wenn sie nicht einschreitet. Eine Menge junger Talente haben es nur ihrem Beistand zu danken, daß sie nicht im Kampf mit Noth und Muthlosigkeit untergegangen sind; einige derselben hat sie erst entdeckt und hat ihnen die Mittel zu ihrer Ausbildung gegeben, und nie hat einer ihrer Kunstgenossen vergebens um ihren Beistand gebeten. Die letzten Concerte, in denen sie sang, waren zum Besten ehemaliger Collegen oder wohlthätiger Stiftungen. Noch im Winter 1858, als ihre Kraft schon durch Krankheit gebrochen war, unterrichtete sie ein paar arme junge Mädchen, die sich zu Sängerinnen ausbilden wollten, und wenige Monate vor ihrem Tode scheute sie weder Unruhe noch Anstrengung, um einen jungen Künstler durch die Verloosung eines Bildes zu unterstützen, das sie nicht selber kaufen konnte.

Sie war aber nicht allein barmherzig und mildthätig, sie war auch großmüthig, wenn es galt Freude zu bereiten. So hatte sie sich einst einen neuen Flügel angeschafft, wollte ihr älteres Instrument verkaufen und ließ es im Anzeiger bekannt machen. Der erste Käufer, der sich meldete, war ein ziemlich dürftig aussehender junger Mann, ein Schulamtscandidat, der beim Anblick des schönen Instruments zwar sogleich erkannte, daß es nicht für ihn paßte, doch dem Verlangen es zu probiren nicht widerstehen konnte. Er spielte gut, und während er sich mehr und mehr in seinen Phantasien verlor, trat Wilhelmine Schröder-Devrient ins Zimmer. Verwirrt sprang er auf, als er sie bemerkte, aber sie knüpfte in ihrer freundlichen Weise ein Gespräch mit ihm an, ließ sich von seinen Verhältnissen erzählen und flößte dem Schüchternen so viel Zutrauen ein, daß er sie endlich fragte: ob sie ihm das fragliche Instrument unter der Bedingung überlassen würde, daß er ihr eine geringe Summe – seine ganze Baarschaft – anzahle und den Rest nach und nach abtrüge. Die Künstlerin erwiderte ziemlich kurz, daß sie sich darauf nicht einlassen könne, und der arme junge Mann ging in dem Bewußtsein, eine Unschicklichkeit begangen zu haben, schweren Herzens an sein Tagewerk. Als er aber nach Hause kam, stand das Instrument in seiner Stube, und darauf lag ein Billet Wiihelminens mit der Bitte, das Geschenk freundlich von ihr anzunehmen.

So lange Wilhelmine Schröder-Devrient in Dresden engagirt war, veranstaltete sie alljährlich eine große Weihnachtsbescheerung für ihre Armen. Zuweilen waren 20 bis 30 Personen zu beschenken, und gewiß fand sie für jeden das heraus, was ihm am [795] nöthigsten war. Die Großmutter brauchte einen warmen Rock, der Vater eine Pelzmütze, die Kinder hatten keine Kleider, um zur Schule zu gehen, die Mutter hatte das eigene Bett geplündert, um dem Jüngstgebornen ein warmes Nestchen zu machen. Oder es fehlte an Wäsche, an warmen Strümpfen, an derben Schuhen. Wochenlang trug Wilhelmine mit eigenen Händen alles Nöthige zusammen. Es war ein eigenthümlicher Anblick, die stattliche Frau im schwarzen Atlasmantel, den schwarzen Federhut auf den blonden Locken, mitten im Gedränge des Christmarktes zu sehen; in einem Arme einen Ballen Leinwand, im andern ein Packet rothen Flanell; dazu ein halbes Dutzend Paar Filzschuhe an einen Bindfaden gereiht oder ein Paar rindslederne Knabenstiefel; bunte wollene Shawls, Fausthandschuhe, Kinderklappern, Puppen, Pferdchen für die Kleinen – es war unbegreiflich, wie sie so viel auf einmal fortbringen konnte. Aber es war ihre größte Lust, und wenn sie in einer der Buden etwas entdeckte, was ihren Schützlingen Freude machen konnte, nahm sie es mit, eben so unbekümmert um die Last, die sie sich aufbürdete, wie um die verwunderten Blicke, die ihr folgten. Begegnete ihr ein Bekannter, so wurde er unbarmherzig mit Stiefeln, Flanell und Leinwandballen beladen, während sie sich selbst mit andern Dingen belud. Entschuldigungen, wie „nicht Zeit haben“, ließ sie nicht gelten. „Ihr könnt auch einmal was für die Armen thun“ sagte sie; „denn Ihr habt doch Euer Lebtag noch nicht daran gedacht“, und die Furcht vor ihrem Spott hat mehr als einmal einen eiteln Patron in Lackstiefeln gezwungen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und beladen wie ein Eckensteher bis zu ihrer Wohnung neben ihr herzugehen, während er vor Verlegenheit in die Erde sinken zu müssen glaubte. Zu Hause wurde eifrig zugeschnitten und genäht, und fast alle Strümpfe, die Wilhelmine zu Weihnachten verschenkte, hatte sie mit eignen Händen gestrickt. Da es ihr sonst an Zeit fehlte, hatte sie die Gewohnheit angenommen, für ihre Armen zu stricken, während sie sich frisiren ließ – ein Gebrauch, dem sie viele Jahre lang treu geblieben ist. –

Erst wenn Alles für die Armen in Bereitschaft war, kam das Suchen und Wählen für die Freunde an die Reihe; aber auch bei der Bescheerung am Weihnachtsabend hatten die Armen das Vorrecht. Ein ungeheurer Baum war für sie angeputzt, überladen mit den feinsten Süßigkeiten. „Die Armen sollen auch einmal wissen, wie die schönen Sachen schmecken, die sie sonst nur an den Schaufenstern sehen“, sagte Wilhelmine, als einer ihrer Bekannten meinte, sie hätte besser gethan, statt dieser theuern Näschereien etwas Nützliches zu kaufen. Rings um den Baum wurden die Geschenke ausgelegt. Auch das besorgte Wilhelmine selbst, und immer wußte sie die Röcke und Kappen, die Wirthschaftsgeräthe und Spielsachen zu einem anmuthigen Bilde zu vereinigen. War Alles in Ordnung, so nahm sie ein Glöckchen zur Hand, öffnete die Thür, ließ die ersehnten Töne erschallen, und nun stürmte die Schaar ihrer Pfleglinge herein, um geblendet vcm Glanze wieder stehen zu bleiben, bis sie jedem Einzelnen mit einem freundlichen Worte, einem Scherz, einer Mahnung das ihm Bestimmte zuwies. Wenn der erste Jubel verklungen war, wurde der Baum geplündert – es war Wilhelminens Freude zu sehen, wie sich Alt und Jung um die besten Stücke rissen – und dann brachte sie die Danksagungen, die von allen Seiten auf sie einstürmten, durch ein scherzhaftes: „Macht, daß Ihr fortkommt!“ zu Ende.

Wilhelminens ältester Sohn wurde in einem Dresdner Institut erzogen; er verlebte die Weihnachtsabende bei der Mutter, bekam aber nicht eher bescheert, bis er ein paar arme Knaben von der Straße mitbrachte, die dann auch ihren Antheil erhielten. „Der Junge soll sich von Jugend auf gewöhnen, an die Armen zu denken,“ sagte sie; aber so leicht die Aufgabe des Kleinen zu sein schien, so schwer war sie oft zu erfüllen. Viele der Eingeladenen waren der Meinung, daß man sich einen Scherz mit ihnen machen wolle, und antworteten durch Grobheiten auf die freundlichen Aufforderungen. Einmal kam Wilhelm sogar im höchsten Zorn ganz allein von seinem Streifzuge zurück. Der Abend war stürmisch, heftige Schneeschauer hielten die Meisten, die sich sonst auf dem Christmarkt herumtrieben, in den Häusern fest. Erst nach langem Suchen war es ihm gelungen, wenigstens einen Bettelbuben zum Mitgehen zu bewegen. Bis an das Schloßthor war er ihm denn auch willig gefolgt, aber als es seitwärts ging, in die dunkle Ferne, wo der Wind so unheimlich mit dem Wasser um die Wette rauschte, – Wilhelmine wohnte damals an der Elbe in dem jetzigen Hotel Bellevue – wurde der Kleine bedenklich. Nur die lebhafte Schilderung der Herrlichkeiten, die ihn erwarteten, brachte ihn noch vorwärts, doch nur bis an die katholische Kirche – hier blieb er stehen und erklärte seinem Führer, daß er unter keiner Bedingung weiter ginge. Vergebens ging Wilhelm von Bitten zu Drohungen über, vergebens nahm er endlich sogar zu Gewaltmaßregeln seine Zuflucht – der Sohn des Volkes ließ ihm einen Zipfel der Jacke in den Händen zurück und stürzte mit lautem Geschrei, so schnell ihn seine Beine tragen konnten, der lieben vertrauten Region der Schloßgasse wieder zu.

Eine große Aufgabe für Wilhelmine war auch das Gevatterstehen bei armen Leuten. Unter dem Dienstpersonal des Theaters und den dabei beschäftigten Arbeitern mag kaum eine Familie sein, in der sie nicht einmal wenigstens als Pathe figurirt hätte. Aber auch Leute, mit denen sie sonst gar nicht in Berührung kam, nahmen sie in Anspruch, weil es allgemein bekannt war, daß sie dem Täufling jedesmal eine ansehnliche Gabe einband. Wilhelmine wußte natürlich ganz genau, warum ihr die „Ehre“ des Gevatterstehens so oft zu Theil wurde, aber nie hat sie sich damit begnügt, nur das Geld zu geben. Sie kam selbst und hielt das Kind über die Taufe – es widerstrebte ihrem Gefühl, dem Armen gegenüber das heilige Symbol wie eine Speculation zu behandeln.

Und wie sie in dieser Beziehung zartsinnig war, so war sie es auch in jeder andern. Die Art und Weise, wie sie half, verdoppelte den Werth ihrer Gaben. Sie fragte nicht erst nach Werth oder Unwerth des Bedürftigen – wo Noth war, trat sie ein. Nie maßte sie sich ein Recht über die ihr Verschuldeten an; nie zog sie bei ihren Wohlthaten in Betracht, ob sie Dank dafür ernten würde; nie gab sie tropfenweise, sondern sie half durchgreifend, wo sie irgend konnte.

So kaufte sie einem Tänzer aus dem Corps de Ballet, der das Bein gebrochen hatte und in Folge dessen für seinen Beruf untauglich geworden war, eine Leihbibliothek und gründete ihm so eine neue Existenz. Einen armen Knaben, den sie Holz sammelnd im großen Gehege fand und der ihr in kindlicher Vertraulichkeit klagte, daß er alle Tage hinaus müßte, um Brennmaterial zu suchen, während er viel lieber zu Hause bleiben würde, um zu zeichnen – ließ sie, als sie wirklich Talent in ihm fand, zum Maler ausbilden. Und wenn ein Handwerker das Meisterwerden nicht bezahlen konnte, wenn es einer Braut an der nöthigen Aussteuer fehlte – bei Wilhelmine fanden sie immer ein offenes Herz und eine hülfreiche Hand.

Der fromme Tiedge schrieb ihr einmal, ich weiß nicht mehr bei welcher Veranlassung:

„Hoch vom Ruhm emporgetragen
Strahlt Dein Nam’ im Glanze dieser Welt.
Was Du thust in stillen Tagen,
Das wird in ein Rechnungsbuch getragen,
Das ein Engel dort in jener hält.“

Aber sich selber that sie nie genug. In einem ihrer Tagebücher schreibt sie:

„Warum sind wir nicht im Stande, ein prickelndes, peinigendes Gefühl zu überwinden, was der abscheulichste Egoismus erzeugt? Wir haben mitunter die Mittel, die oft so bescheidenen Wünsche eines Nebenmenschen zu erfüllen, ja wir fühlen uns oft mächtig zu einer solchen That gedrängt – und doch unterlassen wir sie, weil das fatale Ich sich hervordrängt und ängstlich ruft: das entziehst Du mir! Wie viel reine Freuden verscherzen wir um dieses nichtswürdigen Egoismus willen! – Unverhoffte Freude in einer freudlosen Brust entzünden, längst aufgegebene Hoffnungen erfüllen, Thränen des Kummers und der Sorge in Thränen der Freude und Wonne zu verwandeln, – gibt es eine größere Seligkeit? O wir erbärmlichen Menschen, warum thun wir nicht immer, nicht gleich, wozu uns das Herz drängt, wenn wir die Ueberzeugung haben, daß es eine gute, edle That ist?“

Wie Wilhelmine dazu kommen konnte, sich diese Vorwürfe zu machen, ist nicht zu begreifen. Hätte sie etwas bekämpfen müssen, so wäre es gewiß nicht jenes egoistische Zweifeln und Zögern gewesen, von dem sie hier spricht, sondern allein der übermächtige Drang, der sie oft trieb über ihre Kräfte zu geben. Aber sie hat sich in dieser Beziehung nie zu beschränken vermocht, und mehr als einmal hat sie sich selbst in Verlegenheit gebracht, um Andern zu helfen.

[796] Einmal war sie, auf die Nachricht hin, daß ihr jüngster Sohn erkrankt wäre, mitten im Winter in großer Eile nach Hannover gereist. Sie hatte das Kind schon wieder außer Bett gefunden und kehrte nun eben so schnell nach Dresden zurück, wohin sie ihre Berufspflichten riefen. Sie fuhr mit der Schnellpost – Eisenbahnen gab es damals noch nicht – und kam ohne Abenteuer bis Magdeburg. Wie überall waren auch hier am Posthause eine Anzahl Menschen versammelt, um die Fremden ankommen zu sehen, und unter der Menge erblickte sie eine jammervolle Gestalt – ein Mädchen von 10–12 Jahren, das statt aller Bekleidung einen schmutzigen, zerfetzten Rock wie einen Mantel um den Hals gebunden hatte. Das Haar hing in wirren Strähnen um das blasse Gesicht, die nackten Arme und Beine waren von Hunger oder Krankheit abgezehrt, der ganze Körper bebte vor Kälte, und die Augen des Kindes sahen halb wild, halb blödsinnig umher. Auf ihre Erkundigungen erfuhr Wilhelmine, daß die Kleine in den elendesten Verhältnissen lebte, daß sie von ihrem Stiefvater entsetzlich gemißhandelt würde und nicht eher zu essen bekäme, bis sie eine gewisse Summe zusammen gebettelt hätte. Der Künstlerin standen die hellen Thränen in den Augen; sie zog ihre Börse heraus und schüttete den ganzen Inhalt derselben in die Hände des Kindes, das mit starrer Verwunderung auf die Gold- und Silbermünzen blickte, während die großmüthige Geberin sich den Augen der Umstehenden entzog, um mit der Freundin, die sie begleitete, im nächsten Gasthofe zu frühstücken. Erst als sie den Kellner bezahlen wollte, fiel ihr ein, daß sie ihr Geld bis auf den letzten Pfennig hingegeben hatte. Zum Glück fand ihre Begleiterin so viel zusammen, daß sie bis Leipzig kamen, wo, sich Wilhelmine in einer befreundeten Familie das Geld zur Weiterreise borgen konnte.

Aber nicht nur vorübergehende Verlegenheiten hat sich Wilhelmine zugezogen, sie hat sich schwere, dauernde Entbehrungen auferlegt, um Andern beistehen zu können. Jahrzehnte lang ist sie die Vorsehung ganzer Familien gewesen, hat Alt und Jung gespeist und gekleidet, hat die Töchter erziehen, die Söhne studiren lassen, hat Badereisen für die Kranken und Vergnügungsreisen für die Gesunden bezahlt – während sie selbst, umsonst nach Ruhe, nach Erholung seufzend, in den heißesten Sommertagen angestrengt arbeitete. Und wie oft ist sie von Gastspielen, die andern Künstlern goldne Früchte tragen, nicht nur mit leerer Casse, sondern auch mit ganz geleerten Koffern heimgekehrt, weil nicht nur ihre Börse, sondern auch ihre Kleider, ihre Theatergarderobe, ihre Wäsche sogar, in die Hände einer ihr befreundeten Schauspielerin übergegangen waren!

Und doch ist es ihr nur selten gelungen, sich – wie es in der Schrift heißt – „Freunde zu schaffen mit dem ungerechten Mammon.“ Wenn für sie selbst Zeiten der Verlegenheit kamen, war Niemand da von allen denen, die sie so lange benutzt hatten, ihr die Last zu erleichtern, Niemand, der ihr auch nur vorübergehend die Hand zur Stütze gegeben hätte. Künstler, in deren Concerten sie unzählige Mal gesungen hatte, sagten nein, als Wilhelmine sie zum ersten und einzigen Male um ihre Mitwirkung bat, und von der Schwelle eines Hauses, das ihre Güte allein zu einer behaglichen Wohnstätte gemacht hatte, wurde sie unter nichtigen Vorwänden abgewiesen, als sie nur auf ein paar Wochen Gastfreundschaft suchte. Ich könnte eine Menge solcher Beispiele, auch noch aus Wilhelminens letzter Lebenszeit anführen – aber ich will dies Thema abbrechen. Die Schonung für die Lebenden, die ich mir zum Gesetz gemacht habe, erscheint mir, wenn ich mich in diese Erinnerungen vertiefe, wie ein Unrecht gegen die Todte.

Vielleicht entsprang der Undank, der Wilhelminen so vielfach begegnete, zum Theil wenigstens aus der allgemein verbreiteten Ansicht, daß es ihr kein Opfer koste, mit vollen Händen zu geben und überall zu helfen und zu unterstützen, weil sie dies immer mit freundlichem Gefühl und freudigem Herzen that. Die Empfänger bedachten aber nicht, daß sich auch der mächtigste Strom erschöpfen muß, wenn seine Fluth in tausend und aber tausend Canäle vertheilt wird. Zum Theil war aber auch nur die gewöhnliche Erbärmlichkeit kleiner Seelen daran schuld, denen die Dankbarkeit eine Last ist, die sie entweder schnell von sich abwälzen, oder durch die sie sich zur Erbitterung, zur Feindseligkeit sogar getrieben fühlen. Wilhelmine hat furchtbar dadurch gelitten. Es gab Momente, in denen sie an aller Liebe und Treue, an allem Menschenwerth verzweifelte und sich selbst gelobte, nie mehr auch nur das Geringste für Andere zu thun. Aber das waren immer nur Vorsätze, die, sobald sie zu Thaten werden sollten, in Nichts zerflossen.

Ich selbst habe eine ganz charakteristische Scene mit ihr erlebt. Es war um die Osterzeit des vergangenen Jahres. Wilhelmine war sehr krank und oft sehr verstimmt – den einen Morgen noch mehr als gewöhnlich. Sie hatte alte Briefe durchgelesen und sich dabei an allerhand bittere Erfahrungen erinnert. Um sie zu zerstreuen, fingen wir an von der Zukunft zu sprechen, und sie vertiefte sich wieder einmal in die Schilderung des Hauses, das zu erwerben ihr liebster Traum war. In ihrer Verstimmung kam sie auf den Einfall, eine Art von Festung daraus zu machen, die durch Wall und Graben von der Welt geschieden sein sollte. Das Wächteramt wollte sie einem halben Dutzend großer Bulldoggen übertragen; „die sollen mir Jeden vom Hofe hetzen, der sich untersteht, mir mit einer Bitte nah zu kommen,“ sagte sie mit dem finstern Ausdruck, der in der Krankheit zuweilen auf dem sonst so himmlisch freundlichen Antlitz lag. „Ich will Niemand mehr helfen, will endlich ebenso lieblos, so hart sein, wie man es gegen mich immer und immer gewesen ist. Ich will endlich einmal für mich selbst leben.“

In diesem Augenblick kam die Kammerjungfer herein und meldete, es wäre ein Mann draußen, ein Drechsler, der einen Stickrahmen zu verkaufen wünsche. Er sähe blaß und traurig aus und hätte erzählt, daß er lange krank, also ohne Verdienst gewesen wäre.

Das Gesicht der Kranken drückte das innigste Mitleid aus. „Was will er dafür haben?“ fragte sie in ganz verändertem Ton, indem sie das kunstlose Machwerk beschaute; das Kammermädchen nannte die sehr geringe Summe. „Was, ist der Mensch verrückt?“ rief Wilhelmine; „dafür hat er ja kaum das Holz!“ Sie schickte ihm das Doppelte seiner Forderung und freute sich den ganzen Tag wie ein Kind über den „hübschen Rahmen, den sie so billig gekauft hatte“.

Und wie hier im Kleinen, so war es auch im Großen. Es konnte in Frage kommen, ob sich Wilhelmine, im Fall ihrer Genesung, die längst ersehnte Reise nach Italien gestatten dürfe, aber sie hat nie auch nur einen Augenblick in Frage gestellt, ob sie die großen Summen, die sie zur Unterstützung befreundeter Familien ausgesetzt hatte, fortzahlen würde. Die Bemerkung Lessing’s, daß wir am meisten von den Eigenschaften sprechen, die wir nicht haben, wurde durch sie auf’s Glänzendste bestätigt. Nie habe ich einen Menschen so viel von der eigenen Hartherzigkeit reden hören, als Wilhelmine Schröder-Devrient, während die Worte Großmuth, Wohlthätigkeit, Erbarmen gar nicht für sie zu existiren schienen.




Die Eckernförde-Halle auf der Coburger Veste.

An demselben Platze, wo im Frühjahre 1628 die Dänen unter Christian IV. die deutschen Kaisertruppen schlugen und wo sie am 7. December 1813 von der deutschen Legion unter Wallmoden geschlagen wurden, in Eckernförde wurde am 5. April 1849 unter dem Commando des Herzogs von Coburg-Gotha das dänische Linienschiff Christian VIII. in die Luft gesprengt, die Fregatte Gefion aber gefangen genommen und Eckernförde getauft. Der Gefion gestrichene rothe Flagge mit dem weißen Kreuz ist jetzt segelförmig ausgebreitet auf der Hinterwand einer Halle auf der Coburger Veste; vor derselben steht mächtig aufgerichtet der Schnabel jenes in die Luft gesprengten Schiffes, das Gallionbild König Christian VIII., Scepter und Reichsapfel tragend. Links und rechts an der decorirten Wand hängen Capitain Paludans Degen und andere eroberte Siegeszeichen. Durch eine weite und hohe Glasthüre ist die Halle vom innern Hof der Veste geschieden.

Am 26. Aug. d. J., am Nachmittag eines schönen Sonntags, aber stand jene Halle weit offen, geschützt von einem sie umziehenden Halbkreis der Coburger Turner; in diesem Halbkreis flatterte die von den

[797]

Die Gefions-Flagge und das Gallionbild Christian VIII.

Turnern bis jetzt bewahrte und hieher getragene Fahne, die die schleswig-holstein’schen Turner bei dem großen Feste in Coburg geschwenkt und dann zurückgelassen hatten als heiligmahnendes Vermächtniß, weil sie es nicht wagen durften und wollten, sie zurückzubringen in ihr geknechtetes Land. – Wie es nach der Beschreibung des Coburger Turnfestes in Nr. 27 der Gartenlaube so allgemein und lebhaft gewünscht wurde, hatte der Sieger bei Eckernförde es genehmigt, die Fahne sollte aufgestellt werden dürfen als mahnendes Symbol in jener verheißenden Halle, doch einfach, still und ernst, wie die stille ernste Sache es gebiete. Und so geschah es denn auch; unter den Klängen „Schleswig-Holstein meerumschlungen“ schritten die Turner in feierlichem Ernst zur Halle, bildeten den Halbkreis, entblößten ihre Häupter, schmückten die verwaiste Fahne mit dem Ehrenbande eines Turners und trugen sie in die Halle. Das Alles geschah wortlos, in grabesernster Stille; tiefes Schweigen lag auch auf der weithin versammelten Menge. Dieses Schweigen, diese Stille sprachen seltsam ergreifend zu Allen; lauter und mahnender, als alle Reden und Gesänge es vermocht hätten. – Nun aber plötzlich ein dreifaches, donnerndes Gutheil auf Schleswig-Holsteins freiere Zukunft und die Halle wurde geschlossen. – Möchte sie bald wieder auffliegen, um neue Siegeszeichen zu empfangen! Möchte die freie Zukunft des armen Landes schon in schwellender Knospe liegen!
A. S.


Die deutschen Genossenschaften.

Wiederum müssen wir des erfreulichen Aufschwungs gedenken, den die deutschen Erwerbs-Genossenschaften (Associationen) der Handwerker, Arbeiter und kleinen Gewerbtreibenden im verflossenen Jahre genommen haben, indem wir auf den deshalb erstatteten höchst interessanten Bericht ihres Förderers und Anwalts, Schulze-Delitzsch, wegen des Einzelnen verweisen.[2] Derselbe umfaßt diesmal die in den zwei Hauptarten der Genossenschaften, [798] den Vorschuß- und Credit-Vereinen und den Associationen in speciellen Handwerken, gewonnenen Resultate, welche zum Theil in übersichtlichen statistischen Tabellen gruppirt vorgeführt werden. Wir entnehmen daraus Folgendes.

Die verbreitetste und ihrem Geschäftsverkehr nach bisher bedeutendste Art der Genossenschaften sind noch immer die auf der Selbsthülfe der Creditbedürftigen aus dem kleinen und mittleren Gewerb- und Arbeiterstande beruhenden Vorschuß- und Creditvereine, welche diesen bisher thatsächlich vom eigentlichen Bankverkehr ausgeschlossenen Leuten die nöthige Baarschaft in ihren Geschäften zuführen. Das Specielle über ihre Einrichtung ergibt die bekannte Schrift ihres Gründers: „Vorschuß- und Creditvereine als Volksbanken. Zweite Auflage. Leipzig 1859, bei E. Keil.“ Als Marken, wodurch sich die hierher gehörigen Vereine von andern mehr oder weniger durch fremde Unterstützung gefristeten Instituten zu gleichem Zwecke unterscheiden, hebt der Bericht hervor:

„1) daß die Vorschußsuchenden selbst Träger und Leiter des auf Befriedigung ihres Creditbedürfnisses abzielenden Bank-Geschäftes, also Mitglieder des Vereins, und Risico wie Gewinn ihnen gemeinsam sind;

2) daß der durch den Verein vermittelte Geldverkehr überall auf geschäftlichem Fuße (Leistung und Gegenleistung) und nach den üblichen Bedingungen des Geldmarktes geregelt wird, daß also den Vereinsgläubigern durch die Vereinscasse, und der Vereinscasse durch die Vorschußnehmer die gewöhnlichen Zinsen und Provisionen gewährt, den Vereinsbeamten auch angemessene Besoldungen gezahlt werden;

3) daß durch sofortige Einzahlung oder allmählich durch fortlaufende geringe Beisteuern der Mitglieder Geschäftsantheile (Guthaben) derselben in der Vereinscasse von gewisser Höhe gebildet werden, welche, gleich Actien, den Stammfond des Vereins bilden und denen auch die Dividenden bis zur Erreichung der Normalhöhe zugeschrieben werden, wogegen die zum Betrieb der Bankgeschäfte noch außerdem erforderlichen fremden Gelder anlehnsweise auf den gemeinschaftlichen Credit und unter der Gesammthaft aller Mitglieder aufgenommen werden.“

Mit Recht legt der Bericht die größte Wichtigkeit auf den letzten Punkt. Wenn auch die eigene Capitalbildung der Mitglieder ein wesentliches, ganz unentbehrliches Element für die betreffenden Vereine ist, so kam es doch, wollte man dem wirklich vorhandenen Creditbedürfniß genügen, vor Allem darauf an, durch Organisation der Vereine eine Creditbasis zu schaffen, welche denselben fremde Capitalien ebenso gut zufließen machte, wie den Unternehmungen der Großindustrie, da durch die schaarweisen Ansammlungen unter den meist der unbemittelten Classe angehörigen Mitgliedern allein ein ausreichender Fond niemals beschafft werden wird. In wie ausreichender Weise dies durch die erwähnte Gesammt- oder Solidarhaft der Mitglieder für die Vereinsschulden gelungen ist, davon geben die beigebrachten Uebersichten und Rechnungsabschlüsse Zeugniß, in welchen die wenigen darunter mit begriffenen bloßen Sparvereine ganz außerordentlich hinter den andern zurückbleiben und sich nur innerhalb der engsten Verkehrsgrenzen bewegen. Dasselbe ist auch mit den auf Subvention von außenher beruhenden Vorschuß- und Hülfsvereinen der Fall, von denen der Bericht ebenfalls eine Anzahl Abschlüsse und in ihnen neue Belege für die vom Verfasser so oft verfochtene Ansicht bringt: daß auf dem Unterstützungswege niemals dem vorhandenen Bedürfniß der betheiligten Classen genügt werden könne.

Der Zahl nach übersteigen die nach dem von Schulze-Delitzsch vertretenen System operirenden Vorschußvereine gegenwärtig 200, von denen 183 in einer dem Bericht beigefügten Liste namhaft gemacht sind, die indessen seit dem Druck einigen Berichtigungen und Ergänzungen unterliegt, welche von einer späteren Veröffentlichung zu erwarten sind. Am dichtesten sind die Vereine im preußischen Herzogthum Sachsen, dem eigentlichen Heerd der ganzen Genossenschaftsbewegung, nebst den anhaltischen Ländern, und in dem Königreich Sachsen, indem ersteres allein 30, letzteres 34, das kleine Dessau-Cöthen aber bereits 8 aufzuweisen hat, eine Zahl, die jetzt bereits überschritten ist. Von 80 Vereinen gibt eine dem Bericht angehängte statistische Tabelle die Rechnungsabschlüsse pro 1859, welche wahrhaft überraschende Resultate nachweist. Obschon 28 unter diesen 80 Vereinen, die erst Ende 1858 und im Laufe 1859 gestiftet sind, nur den ersten, meist nicht einmal ein volles Jahr umfassenden Abschluß geben, oder natürlich unter dem durchschnittlichen Verkehrsumfang, wie er sich erst in den folgenden Jahren entwickelt, weit zurückbleibt, so beträgt die Gesammtsumme der von allen, meist bis zu 3 Monaten im Jahre 1859 gewährten Vorschüsse und Prolongationen doch bereits 4,131,430 Thaler, das aufgesammelte eigene Capital der Mitglieder in den Vereinscassen 276,846 Thaler in 246,000 Thaler Geschäftsanteilen, 30,846 Thaler Reserven, während an fremden Capitalien in den Vereinscassen zusammen 1,014,145 Thaler am Jahresschlüsse befindlich waren. Dagegen betrugen die Verluste bei sämmtlichen 80 Vereinen im genannten Jahre nur 470 Thaler, der Nettogewinn aber 22,173 Thlr., welcher zum Theil der Reserve, meist den Geschäftsantheilen der Mitglieder zugeschrieben ist.

Hiernach wird man, wenn man die in der Tabelle fehlenden Abschlüsse aller solcher 1859 bereits thätigen Vereine, deren Zahl der Bericht auf circa 150 schätzt, in Anschlag bringt, den auf 6 Millionen Thaler angeschlagenen Gesammtverkehr derselben sicher nicht zu hoch finden, welcher im laufenden Jahre, wenn man aus einigen schon mitgetheilten Viertel- und Halbjahrabschlüssen einen Schluß ziehen darf, sich auf 10–12 Millionen Thaler steigern dürfte. In der That sind dies Anfänge, welche an der Lösung der Aufgabe, dem kleinen Gewerbe- und Arbeiterstande durch Zuführung des erforderlichen Capitals das allmähliche Einlenken in die von der neuern Industrie eröffneten Bahnen zu ermöglichen und ihm dadurch seine Selbstständigkeit zu erhalten, nicht verzweifeln lassen.

Die zweite ebenfalls höchst wichtige, wenn auch noch nicht in demselben Grade verbreitete Art der Genossenschaften, welche der Bericht aufführt, sind die Associationen von Meistern eines einzelnen Handwerks, z. B. der Schuhmacher, Tischler, Schneider, Weber, Buchbinder u. A., über deren Einrichtung die Schrift des Verfassers: Associationsbuch für deutsche Handwerker und Arbeiter, Leipzig 1853, bei E. Keil, Auskunft gibt. Dieselben haben zunächst den gemeinschaftlichen Ankauf der zu verarbeitenden Rohstoffe im Großen und aus der ersten Hand zum Zweck, wodurch man in einem Associationslager den unvermögenden Mitgliedern auch bei Entnahme kleiner Partieen den Vortheil der Engrospreise sowie die beste Qualität zur Auswahl und somit die ersten Bedingungen zum lohnenden Geschäftsbetrieb sichert. Und nicht blos, daß die Mitglieder auf diese Weise der Ausbeutung durch die Zwischenhändler entzogen werden, welche ihnen durch Lieferung schlechter Waare zu theuren Preisen oft den besten Theil ihres Arbeitsverdienstes entzogen, bilden sie sich noch durch den in Form von Dividenden auf sie fallenden Gewinn des Associationsgeschäfts allmählich eigne Capitalien, die als Geschäftsanteile in der Associationscasse bleiben und einen Theil ihrer künftigen Altersversorgung bilden. Der Haupthebel auch bei dieser Art der Genossenschaft ist aber wiederum die Solidarschaft der Mitglieder für die Vereinsschulden als Creditbasis, welche ihnen, wie bei den Vorschußbanken, fremdes Capital in ausreichender Menge zuführt und den Credit bei den Fabrikanten auf das Entgegenkommendste flüssig macht.

Ist dieser erste Schritt zur Erprobung der großen Macht des genossenschaftlichen Zusammenwirkens für den Kleinerwerb einmal gethan, so führt er bald zu weiteren. Da associirt man sich zur gemeinschaftlichen Anschaffung von kostbaren Arbeitsvorrichtungen, Maschinen u. dergl., zum gemeinschaftlichen Verkauf der gefertigten Waaren in Associationsbuden und Magazinen, in welche die Einzelnen ihre Producte für ihre Rechnung einstellen. Und wo an gewissen Orten und in gewissen Industriezweigen das Publicum stehende Läden fertiger Waaren verlangt, geht man endlich hier und da zu der höchsten Stufe der Genossenschaft, zur Production für gemeinsame Rechnung über. Wie in den reinen Rohstoffvereinen aus leicht erklärlichen Gründen (den theuern Lederpreisen) das ehrsame Gewerk der Schuhmacher allen übrigen vorangeht, sind es in der gemeinschaftlichen Production die Schneider und Tischler, bei welchen das Bedürfniß nach Kleider- und Möbelmagazinen am meisten drängt. Dabei ist aber diesen Associationen Eins für Bezeichnung des deutschen Standpunktes, im Gegensatz zu den englischen und französischen gleicher Art eigenthümlich. Während in den letzteren die Mitglieder ihre selbstständige Stellung zu Gunsten des Associationsgeschäfts völlig aufgeben und lediglich als Arbeiter in dasselbe [799] eintreten, behalten unsere Handwerksmeister meist ihre Separatgeschäfte für ihre Einzelrechnung bei und betreiben nur das Associationsgeschäft noch außerdem auf gemeinsame Rechnung, indem sie in dem letztern meist nur dann Arbeit suchen, wenn es ihnen selbst an Bestellungen mangelt. Ob dies auf die Länge durchzuführen und für den Aufschwung des Associationsgeschäfts gedeihlich ist, mag hier dahingestellt bleiben, jedenfalls ist es der für unsere Verhältnisse passendste Uebergang, was schon darin seine Bestätigung findet, daß da, wo man in Deutschland sofort sich nach englischem Muster associirte, ohne erst den echten Associationsgeist in den niedern Stufen der Vereinigung auszubilden, die Vereine (z.B. die Schneiderassociationen in mehrern großen Städten) in kurzer Zeit sich wieder auflösten.

Die Zahl solcher Handwerker-Associationen schätzt der Bericht, obschon die Statistik hierbei weit mangelhafter ist, als bei den Vorschußvereinen, jedenfalls über 100, hauptsächlich im deutschen Norden, von denen vielleicht der sechste Theil zur gemeinsamen Production und Magazinirung überging, und 67 davon werden namentlich aufgeführt. Die Mitgliederzahl mag zwischen 5000–6000 betragen, und der Gesammtumsatz im letzten Jahre circa 400–500,000 Thaler. Eine dem Bericht beigegebene Tabelle stellt die Rechnungsabschlüsse des letzten Jahres von 15 solchen Genossenschaften zusammen, von denen 13 sich auf das Rohstoffgeschäft beschränkten, 2 gemeinschaftlich producirten und magazinirten. Dieselben hatten am Jahresschlusse 764 Mitglieder, einen Umsatz von circa 100,000 Thalern und circa 2600 Thaler Reingewinn.

Von besonderer Wichtigkeit für die weitere Entwickelung des Genossenschaftswesens, welche mit jedem Jahre sich steigert, ist aber namentlich, daß Herr Schulze-Delitzsch den von uns (vergl. Nr. 23 der Gartenlaube) mehrfach befürworteten Verhandlungen einer Anzahl Associationen nachgegeben hat, und seine ganze Thätigkeit für dieselben hoffentlich auf die Dauer gewonnen ist. Zwar beträgt nach der Zusammenstellung des betreffenden Comité das demselben pro 1859 durch 1/2–2 Procent vom jährlichen Reingewinn der einzelnen Vereine gewährte Salair einschließlich der Bureaukosten nur 250 Thaler, indeß hat sich die Anzahl der beitretenden Vereine vermehrt, sodaß für das laufende Jahr die Verdoppelung dieser Summe in Aussicht steht, und in den folgenden Jahren sicher soviel herauskommt, um dem Manne, der seine ganze Zeit und Kraft der Sache widmen muß, einigermaßen eine Existenz zu gewähren, die es ihm ermöglicht, von einer Anstellung im Staats- oder Privatdienst abzusehen, wie sie ihm gegenwärtig kaum entgehen könnte. Bedarf doch gerade die große Anzahl der neuentstehenden Vereine am meisten seines Rathes und seiner Beihülfe, und es ist nicht anzunehmen, daß die Genossenschaften im Allgemeinen ihr Interesse so sehr verkennen sollten, sich einen solchen Anwalt entgehen zu lassen, besonders da es sich um eine so äußerst geringfügige Aufwendung für sie handelt. Hat sich doch seine Thätigkeit neuerdings wieder durch den von ihm dem letzten Vereinstag der Vorschußvereine in Gotha vorgelegten Gesetzentwurf zur Erleichterung der Legitimation der Vereine bei Rechtsgeschäften und Processen bewährt, welcher die Billigung des volkswirtschaftlichen Congresses in Cöln erhielt und demnächst bei den gesetzgebenden Körpern der deutschen Einzelstaaten, im Petitionswege eingebracht werden soll. Ebenso sind durch ihn den im Verbände stehenden Vereinen werthvolle Beziehungen im Geldverkehr mit größeren Bankinstituten und sonst vermittelt und Geschäftsverbindungen angebahnt, wie sie den betheiligten Instituten in jeder Hinsicht förderlich werden müssen. – Die Anmeldung neuer Vereine bei dem Centralbüreau erfolgt übrigens gegenwärtig bei Herrn Schulze in Delitzsch selbst, nicht mehr bei dem bisherigen Comité in Luckenwalde, welches vielmehr seine Functionen beendet hat.

So möchten wir denn schließlich nur noch unsern Handwerkern die Worte am Ende des Berichts zur Beherzigung empfehlen, damit sie in der zunehmenden Bedrängniß, in welche sie das riesige Wachsthum der Fabrikindustrie versetzt, von der unglücklichen Idee des Polizeischutzes in der Rückkehr zu den alten Gewerbsbeschränkungen zurück- und auf den Weg kommen, wo einzig für sie das Heil liegt: „sich die Mächte, welche der Großindustrie die Ueberlegenheit über ihre Betriebsweise verleihen (Capital und Intelligenz), selbst dienstbar zu machen, um mit derselben auf ihrem eignen Felde zu concurriren, anstatt sich im vergeblichen Kampfe dagegen aufzureiben. Dies aber wird nur mittelst der Genossenschaft ihnen möglich, deren wirtschaftliche und gewerbliche Tragweite sie nur erst einmal recht erproben mögen, um von ihren unfruchtbaren, auf die Dauer unmöglichen Zunftbestrebungen für immer geheilt zu werden.“




Blätter und Blüthen.


Ein zweiter Graf Gleichen. Neulich erzählte man mir in Schleswig eine allerliebste Geschichte, und glaubwürdige Leute verbürgten deren Wahrheit. Ich will sie wiedererzählen, so gut ich kann; sie ist folgende: „Auf einem der großen Güter des von der Natur so reich gesegneten Landes lebte seit mehreren Jahren ein Storchpaar in glücklicher Ehe. Beide Gatten erschienen in jedem Frühjahre kurz nach einander; das Männchen kam, wie fast bei allen Vögeln, zuerst, das Weibchen einige Tage später an; dann wurde das Nest ausgebessert und die zärtliche Liebe beider Gatten bald durch Nachkommenschaft belohnt. Im vorigen (oder vorvorigen) Frühlinge erschien Herr Storch ebenfalls zur gewöhnlichen Zeit. Sprechende Bewegungen des edlen Hauptes sandten tausend Grüße zu den Schutzherren des Sommergastes hinab, und noch sprechenderes Schnabelgeklapper gab der Freude, nach der langen Reise wieder daheim zu sein, beredten Ausdruck; kurz Freund Storch war glücklich, sehr glücklich. Aber nur einen, – zwei, – drei Tage lang, denn – seine theure Hälfte, die Mutter seiner früheren Kinderschaaren, die sie in früheren Jahrgängen, alle, alle

„an der treuen Brust
wachsen sah mit Mutterlust,“ –

sie, die Zierde des Nestes, erschien nicht! Lag hier ein Fall von Untreue vor? Hatte ein anderer jugendlicher Storch die schöne Alte verlockt? Oder war gar ein Mißgeschick ihr, der Geliebten, zugestoßen? Ach, alle diese Fälle waren möglich. Sogar unter den gefiederten Schönen kommt leider, leider – und deshalb noch immer nicht zur Entschuldigung anderer Weibchen –, auch unter den Vögeln sogar kommt Untreue vor; es gibt treulose Vogelgattinnen, welche die heiligsten und mit den glühendsten Worten vorgekrächzten oder geklapperten, geschwatzten, gepfiffenen, geflöteten, gesungenen Liebesschwüre vergessen können; es gibt Gatten, deren Gedächtnisse zuweilen die unzweifelhaftesten Beweise inniger Liebe und Zärtlichkeit, welche sie von ihren Gemahlinnen erhielten, entschwinden können! Und was das Unglück anlangt: – ach, ich weiß selbst nur zu gut, wie weit die Reise bis in die Winterherberge der Störche ist! Wahrscheinlich hatten sie zwischen den einzelnen Dohhenbüschen der Felder Ost-Sudahns, wo ich im Frühlinge stets Tausende von Stöchen sitzen sah, von einander Abschied genommen und sich seitdem nicht wieder gesehen; möglicherweise war ein müßiger nilbefahrender Engländer auf den unseligen Gedanken gekommen, seine Büchse auf einen Storchhaufen abzuschießen, und hatte merkwürdigerweise auch getroffen; möglicherweise – doch das kann ich ja kürzer sagen:

„Denn mit des Geschickes Mächten
Ist kein ew’ger Bund zu flechten –
Und das Unglück schreitet schnell!

Der arme Storchmann! Traurig saß er am vierten oder fünften Tage auf seinem Neste; kein Gruß wurde in den Hof hinabgenickt, keine Bach’sche Fuge abgeklappert; nur zuweilen schien er aus tiefen Träumen zu erwachen, oder von zudringlichen Wesen, vielleicht von dem abscheulichen Philopterus incompletus, erweckt zu werden – und nestelte dann zerstreut an seinem Federwamse herum. Er war tief betrübt, das sah ihm Jedermann schon von weitem an; es geht sogar die Rede, daß er drei Tage lang nicht gefressen habe, woran ich jedoch zweifeln muß, weil der Storch ein verständiges Thier ist. Endlich aber schien es, als ob ein Lichtstrahl in das trübe Dunkel seiner bekümmerten Seele gefallen, als ob ihm ein guter Gedanke gekommen wäre. Er erhob das Haupt, sah etwas freier in die schöne Welt hinaus oder hinab und schien einen Entschluß gefaßt zu haben. Urplötzlich erhob er sich und stieg mit gewohnter Meisterschaft in herrlichen Schraubenlinien zum Himmel auf, wandte sich dann einer entschiedeneren und bestimmteren Richtung zu und verschwand. Leider fehlen alle sicheren Berichte über den Weg, welchen er nahm, und man weiß eben nur soviel, daß der Bekümmerte getröstet heimkehrte, und zwar in Gesellschaft – in Gesellschaft der liebenswürdigsten Störchin der Erde, allem Anschein nach sogar einer Storchjungfrau. Daß diese sich entschlossen hatte, das dem weiblichen Geschlechte so tief verhaßte Joch der Ehe auf sich zu nehmen, konnte nicht bezweifelt werden; denn sie erwiderte nicht nur jedes Liebesgeklapper ihres Anbeters mit einem beifälligen aber noch zarteren anderen, sondern begann auch sofort das Nest wieder herzurichten, und es war wohl blos Zufall, falls es überhaupt begründet ist, daß dabei ein Kräutlein mit kleinen blauen Blumen, welches früher von der Tochter des Gutsherrn zart gepflegt, später aus Ueberdruß aber weggeworfen war, und dennoch auf dem Storchneste wieder Wurzel geschlagen hatte, herausgerissen und dadurch in den Stand gesetzt wurde, seine Unvertilgbarkeit nochmals zu beweisen.

Das verödete Nest war nach kurzer Arbeit in guten Stand gekommen, und schon am folgenden Tage lag das erste Ei, die erste Frucht der neuen Liebe, in ihm. Man kann sich die Freude des neuvermählten Paares denken! Ueberselig erhob Er das Haupt und klapperte eine Idylle nach der andern zum Himmel; Sie aber saß, noch etwas erschöpft von der Anstrengung des Legens, ruhig auf ihrem Wochenbette und wärmte einstweilen [800] das Pfand ihrer Liebe. Doch nur noch ein Tag des Glückes sollte dem Paare beschieden sein: der folgende. Er verging unter wechselseitiger Zärtlichkeit. Am nächsten lag die junge Gattin wieder auf ihrem Bette und war im Begriff, ihrem Hause einen neuen Sprossen zu schenken: da erschien doch über den Friedlichen ein Feind ihres Bundes. Wie ein Blitz aus heiterm Himmel stürzte sich plötzlich – die erste Gattin des Nestbesitzers herab auf ihr Haus und schien Willens zu sein – natürlich unter aller Berücksichtigung der weiblichen Sanftmuth und Friedfertigkeit – ihr altes, gutes, von Papa Storch beschwornes Recht zu beanspruchen. Eine halbe Stunde großer Verlegenheit für den Hausvater folgte. Das Geklapper der Neuangekommenen war sehr entschieden, anklagend, vernichtend, das des Nestbesitzers entschuldigend, verlegen, unsicher; die junge Gattin schwieg im Bewußtsein ihres Werthes und der Deckung, welche ihr der Gemahl vor etwaigen Angriffen der Nebenbuhlerin durch den einen über sie gebreiteten Flügel gewahrte. Ohne Unterbrechung verhandelte das alte Paar; sie klapperte wüthend den so beliebten Stoßseufzer her:

„Ach, ich armes unglückliches Weib! Treuloser, Abscheulicher!“

Er antwortete männlich bescheiden und versöhnend:

„Aber so nimm doch nur Vernunft an, Weib; es wurde mir gar zu öde in dem alten, lieben Hause; ich dachte, Du wärest mir untreu geworden oder gar gestorben – –“

Neues Geklapper der Störchin; neue Entschuldigungen von seiner Seite; hartnäckiges Schweigen der kreißenden Lieblingsgattin! Aber, o Wunder! Milder, versöhnlicher wird die Beleidigte, Ehrverletzte, freundlicher der Herr Gemahl. Die schützende Schwinge wird eingezogen (weil er sich sonst nicht in seinem ganzen Anstande zeigen kann), und das Klappern spricht unzweifelhaft von alten Erinnerungen. Die Liebe ist allmächtig, die weibliche Herzensgüte erhaben: Sie verzeiht; man vereint sich – und die freilich jetzt etwas unzurechnungsfähige junge Störchin scheint Alles zufrieden zu sein. Vor ihren Augen überhäuft der Herr Gemahl seine alte Gattin mit Zärtlichkeiten und Liebesbeweisen, wie nur die Ehe sie rechtfertigen kann; ehe sie noch ihr zweites Ei gelegt, haben die Geschiedenen sich wieder vereinigt fürs Leben. Und – ewigen Ruhm der Seelengröße des weiblichen Geschlechtes! – am andern Tage beginnt das alte Paar die Grundlagen eines zweiten Nestes herbeizuschaffen und dicht neben dem ersten zu verbauen – und die junge Gattin hilft ihrer Vorgängerin und Mitschwester getreulich! Und fertig wird der stolze Bau, und gelegt werden auch dort die Eier; und beide Störchinnen brüten in Frieden nebeneinander, und Papa Storch-Gleichen steht glückselig dazwischen und klappert bald Frau Ottilia und bald der schönen Melechsala seine Liebesgrüße zu und freut sich des reichen Kindersegens.

So ist es geschehen, gewiß und wahrhaftig geschehen, wie man mir sagte; aber so hübsch, als es mir erzählt wurde, habe ich’s doch nicht wieder erzählen können! Den Erzähler aber grüße ich hiermit von Herzen!

Dr. Brehm.




Unter dem Christbaum. Jetzt, wo die Ankündigungen von Jugendschriften für den Weihnachtstisch an der Tagesordnung sind und unter vielem Gediegenen manche Spreu mit unterläuft, sei es mir in den Spalten der Gartenlaube vergönnt, zu Nutz und Frommen für Eltern und Kinder einiger Jugendschriften und deren Verfassers zu gedenken. Wer Kinder hat und weiß, was es heißt, von der muntern Schaar bestürmt zu werden, Geschichten zu erzählen, natürlich allemal zu einer Zeit, wo man sich von den Mühen des Tages zu erholen gedenkt und sich dem Genuß der Dämmerstunden hingeben will, der lernt erst ein Buch schätzen, das einem darüber weghilft, immer selbst erfinden zu müssen oder doch wenigstens aus der Erinnerung in der eigenen Jugend Gehörtes halbwegs wiederzugeben. Was habe ich schon, trotzdem daß mein Aeltester erst sieben Jahre alt ist, für Geschichten erzählt, wobei ich nicht verleugnen will, daß gerade solche Stunden, in denen es geschah, zu den glücklichsten gehören. Mit dem beruhigenden Gefühle, seiner Pflicht am Tage nachgekommen zu sein, nun im traulichen hirschgeweihgeschmückten Stübchen dem warmen Ofen gegenüber zu sitzen und den knisternden Flammen und dem flackernden Scheine nachzuträumen, ist und bleibt ein wahrhaft gemüthlicher Genuß, den übrigens nur unser Winter gewähren kann. Da hört man’s denn draußen stampfen, ein Zeichen, daß der Junge aus der Schule kommt. Lustigen Blickes und rother Nase, die die kalte Luft gebeizt hat, jubelt er beim Eintreten schon, den Papa am „Erzählefleckchen“ sitzen zu sehen, wobei das kleine Schwesterchen, welches bis dahin ruhig „gepuppelt“ hat, jauchzend einstimmt. In größter Eile ist der Ranzen abgelegt, sind die für ihn etwa parat gelegten Aepfel in Empfang genommen; dennoch kommt er zu spät, um auf dem rechten Beine des Papa’s zu sitzen (was für einen Vorzug gilt), da das „Wieselchen“, das Mädel, schon davon Besitz ergriffen hat. Nicht immer resignirt dann der Junge, sondern zuweilen entspinnt sich ein Kampf, namentlich wenn das rechte Bein schon Mittags „bestellt“ worden ist. Ist endlich die Ruhe hergestellt, dann heißt es:

„Papa, vom Gnomchen und dem Hirschkäfer!“

„Nein!“ schreit das Mädel, „von der Fee Vampherlusche, oder“ – corrigirt sie sich – „vom Haselmäusel, das so grinst, wie der Maulwurf das gestorbene Eichhörnel begräbt.“

„Ja, Papa, ja das!“ stimmt nun auch der Junge bittend ein, und die streitenden Mächte werden mäuschenstill, sobald das gewichtige „Also“ anhebt. Nun ist die erste Geschichte aus, aber diese Nimmersatte sind damit durchaus nicht zufrieden gestellt; man möchte wie eine Zauberquelle Geschichten heraussprudeln. Da vertröstet man sie denn endlich mit dem Versprechen: wenn Licht angebrannt sei, etwas aus einem der schönen Bücher vorzulesen, die man die Jahre her zur Freude der Kinder und sich zur Erholung, um nicht immer selbst Geschichten erdenken zu müssen, angeschafft hat. Aber wie häufig findet man nun, daß oft ganz niedliche Geschichten, denn von den kindlich sein sollenden, aber kindisch ausgefallenen rede ich gar nicht, sich zum unmittelbaren Vorlesen gar nicht eignen! Man kann nur frei wieder erzählen, oder muß wenigstens beim Vorlesen ändern und weglassen, so ungenügend ist das Fassungs- und Auffassungsvermögen der Kinder dabei in Anbetracht gezogen worden. Der Styl ist wie für Erwachsene, wenigstens nur für die reifere Jugend gehalten, sodaß der Ton die kleinen Zuhörer unberührt läßt. Alle diese so häufig vorkommenden Mängel finden wir z. B. von Franz Wiedemann, Lehrer an einer Bürgerschule in Dresden, Verfasser von am Schlusse verzeichneten Büchern, glücklich vermieden.

Seine Geschichten, ernste wie heitere, haben vor Allem einen moralischen, aber keineswegs frömmelnden Sinn und könnten mit Recht alle zusammen „Samenkörner für Kinderherzen“ heißen. Sie sind ganz auf das kindliche Gemüth eingehend gehalten, sowie die Sprache, ohne alle unverständlichen Nebensachen, der kindlichen Art und Weise angepaßt ist. Man darf sie nur ablesen, und daß Kind wird den Eindruck empfangen, als höre es eine freie Erzählung; also für Eltern, die sie vorlesen, sowie für Kinder, die sie anhören, eine wahre Freude! Und darum bin ich meinem Herzensdrange gefolgt, das große Contingent der Leser der Gartenlaube auf die so bescheiden auftretenden, durch mehrfache Auflagen bewährten Schriften des anspruchlosen Verfassers, der selbst ein gediegener Erzieher der Jugend ist, aufmerksam zu machen, überzeugt, daß mir so mancher Vater, so manche Mutter dafür danken wird.[3]
Guido Hammer.

Die Bücher heißen: Für das Alter von 6–8 Jahren: 1) Samenkörner für Kinderherzen, nebst Anhang, 4. Aufl. 2) Wie ich meinen Kleinen die biblische Geschichte erzähle, 2. Aufl. 3) Hundert Geschichten für eine Mutter und ihre Kinder, 2. Auflage. 4) Thierbüchlein, mit Bildern von G. Süs, 2. Aufl. 5) Im Wald, auf Hof und Feld, mit Bildern von G. Süs 8–12 Jahr: 6) Der Goldbronnen, 2. Aufl. 7) Geschichten, wie sie die Kinder gern haben. Neu erschienen. 12–14 Jahr: 8) Der treue Knecht, oder wahre und falsche Freude. 9) Das Vaterunser und das Leben. 2. Aufl.



Als Weihnachtsgeschenke empfohlen!

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Zweite Bild- und Textprobe aus dem soeben erschienenen Pracht-Werke unseres verehrten Mitarbeiters: „Die Alpen in Natur- und Lebensbildern“. Das schön ausgestattete Buch ist, wie bereits früher gemeldet, mit 16 größeren Illustrationen von Rittmeyer verziert und eignet sich seinem inneren und äußeren Werth nach sehr zu einer Festgabe.   D. Red.
  2. Jahresbericht für 1859 über die auf dem Princip der Selbsthülfe der Betheiligten beruhenden deutschen Genossenschaften der Handwerker und Arbeiter.       Leipzig, Verlag von Gustav Mayer. 1860.
  3. Wir benutzen zugleich diese Gelegenheit, auf die Fortsetzung des Gerstäcker’schen Bildungswerks: „Die Welt im Kleinen für die kleine Welt“, wovon vor Kurzem wieder zwei Bändchen: Asien und Afrika, erschienen sind, aufmerksam zu machen. Als Festgeschenk, namentlich für Knabeninstitute, möchten wir auch das jüngst erschienene Büchlein: Das Turnen im Spiel, von Moritz Kloß, empfehlen. Es enthält eine Auswahl der einfacheren Jugend- und Turnspiele, die mit 16 erläuternden Abbildungen gut illustrirt sind.
    D. Red.