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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1860
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[257]

No. 17. 1860.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Nicht wie die Welt.

Nicht wie die Welt – was weiß die Welt? –
Nicht wie die Welt verlanget,
Sie, die den Sinn auf Täuschung stellt,
Mit buntem Schaume pranget,
Nicht wie die Welt begehrt und liebt,
Ich handle, wie das Herz es gibt.

Was habt ihr von der Gleißnerei
Und all den glatten Lügen?
Den Schelm wird doch, wie klug er sei,
Ein andrer Schelm betrügen.
Spitzbüberei ist eitler Wahn,
Gradaus bleibt dennoch wohlgethan.

Nein, weil die Welt im Argen liegt,
Sollst Du im Guten stehen.
Wer sich zum losen Strudel fügt,
Muß mit zu Grunde gehen.
Will gar kein Andrer mit Dir sein,
So tritt seitab und steh’ allein.

Karl Lappe.




Die Geschiedenen.
Von Hermann Schmid.
(Schluß.)

Amalien konnte Rudolphs Gemüthsstimmung nicht entgehen – sie erkannte klar, daß dieses Verhältniß unhaltbar war, aber ehe sie sich entschloß, zu handeln, mußte sie gewiß wissen, daß keine Täuschung obwaltete.

Sie erhielt diese Gewißheit bald. Bald nach jenem verhängnißvollen Abende hatte sie bemerkt, daß das von Theresen gestickte Uhrkissen mit ihren Haaren von seiner Stelle über Rudolphs Schreibtisch verschwunden war. Sie fragte nicht darnach, aus zarter Schonung, aber sie freute sich einen Augenblick an der Hoffnung, Rudolph könnte dasselbe entfernt haben, um sich eine herbe Erinnerung zu ersparen. – Als sie einmal zu etwas ungewöhnlicher Stunde Rudolphs Zimmer betrat, hatte er weder ihr Pochen noch ihr Eintreten gehört, und stand von ihr abgewendet vor dem Schreibtische. In der Hand hielt er das vermißte Uhrkissen und starrte mit leidenschaftlichen Blicken darauf hin. „Gewiß,“ murmelte er halblaut und rasch vor sich hin, „Du würdest mir verzeihen, wenn Du wüßtest, was ich leide! Mit diesen Locken hast Du mich gebunden für die Ewigkeit … es hält mich noch, das selige Band! Es zieht mich zu Dir – ich schwebe im Geiste um Dich … es ist nur der hülflose Körper, den die Sclavenkette zurückhält …“

Amalie zuckte schmerzlich zusammen – aber sie zog unbemerkt und geräuschlos die Thüre wieder zu und schritt leise von dannen. Sie wußte genug. Von nun an war es ihr einziger Gedanke, das Verhältniß zu lösen, das Rudolph an sie fesselte – er sollte um ihretwillen keine Sclavenketten tragen; er sollte so frei sein, als ob sie ihm nie begegnet wäre – ungehindert von ihr sollte er zu Theresen zurückkehren können, um bei ihr das Glück zu finden, das sie ihm nicht mehr zu gewähren vermochte.

Welchen Weg sollte sie dazu wählen? Zu einer vom Gesetze vielleicht gestatteten Scheidung fehlte jeder Grund – zu einer Unwahrheit wollte sie nicht greifen, auch war es zweifelhaft, ob Rudolph zu einem solchen Schritte seine Zustimmung geben, ob er nicht Stolz genug besitzen würde, ein solches Opfer von ihr zurückzuweisen. Auch das unvermeidliche Aufsehen, das ein solcher Schritt mit sich bringen mußte, stellte sich ihr abmahnend entgegen. Bald war es ihr klar: was geschehen sollte, war auf diesem Wege unmöglich, es mußte vielmehr natürlich und ohne alle Auffallenheit kommen, wie irgend ein anderes Ereigniß des Tages.

Sie kannte nur einen Weg, der zu diesem Ziele führte, und sie beschloß, ihn zu gehen, nicht in einer leidenschaftlichen Wallung, sondern mit voller Ueberlegung, mit der bewußtesten Ruhe – sie beschloß, zu sterben.

Wenn sie ihr ganzes Leben zurück dachte, konnte sie in Wahrheit sagen, daß es eine stete Aufopferung für die Freunde ihrer Jugend gewesen; sie wollte jetzt, wo sie allein trennend zwischen Beiden stand, das letzte Opfer bringen und ihr Glück neu begründen. Niemand, am allerwenigsten Rudolph und Therese, sollte ahnen, was sie gethan; ihr Tod sollte ein natürlicher sein, von keiner Absicht, sondern von einem traurigen Zufalle veranlaßt.

Das Herannahen des Winters reifte ihren Plan, indem es ihr die Möglichkeit der Ausführung zeigte. Die kalten Herbstnächte gaben ihr Veranlassung, sich, wie es auch wohl früher geschehen war, Kohlen in den Ofen ihres Schlafzimmers stellen zu lassen. Das wurde zur täglichen Anordnung, und so konnte es Niemand auffallen, wenn sie eines Morgens vom Kohlendampf getödtet gefunden wurde, denn Jedermann mußte annehmen, daß sie aus Versehen den Ofen zu schließen unterlassen hatte.

[258] Der Entschluß stand fest und der Tag der Ausführung war bestimmt; aber ihr Benehmen blieb unverändert dasselbe, und der aufmerksamste Beobachter hätte kaum ein Anzeichen ihres finsteren Entschlusses zu bemerken vermocht. Rudolph war ein solcher nicht; seiner Befangenheit entging es unschwer, wenn hie und da in Amaliens einfachen Worten der Ton tieferer Rührung hörbar wurde. An dem festgesetzten Tage zog sie sich ruhig, wie sonst, in ihr Schlafzimmer zurück, öffnete den Ofen, damit der Kohlendampf einströmen konnte, und begab sich gelassen zur Ruhe. In leisem, aber innigem Gebete kam es über sie … die Sinne vergingen ihr … sie wußte nicht, ob im Schlafe, oder im beginnenden Tode …

Heftige Schläge an die Thüre schreckten sie empor; sie fühlte eine schwere Beklemmung auf ihrer Brust lasten, wie bleiern lagen die Glieder – aber sie vermochte noch, sich empor zu raffen, als sie die Stimme des Dienstmädchens vernahm, die laut und dringend um Hülfe rief. Sie öffnete, und das Mädchen trat ein. „Um Gotteswillen, gnädige Frau,“ schrie sie unter lautem Weinen, „denken Sie sich das Unglück! Der Herr ist fort …“

„Was sagst Du?“ rief Amalie.

„Fort, sag’ ich Ihnen,“ erwiderte das Mädchen, „rein verschwunden! Ich höre die Thüre gehen, und weil ich mir nicht einbilden kann, wer das sein soll, gehe ich aus meiner Kammer und sehe den gnädigen Herrn, wie er eben die Stiege hinabläuft, in seiner Hausjacke, ohne Hut … Ach, wenn er sich nur nichts zu Leide thut!“

Amalie hörte sie schon lange nicht mehr; sie war dem Zimmer Rudolphs zugeeilt. Das Mädchen aber ließ sich nicht irre machen. „Und wie es hier riecht!“ sagte sie, „man kann ja kaum Athem holen … um Gotteswillen, die gnädige Frau hat den Ofen zu schließen vergessen! Na, da bin ich gerade zu rechter Zeit gekommen! Das hätte ein noch größeres Unglück geben können!“

Amalie kam todesbleich aus dem Zimmer Rudolphs zurück, er war nicht zu finden, und auch keine Spur ließ errathen, weshalb und wohin er sich entfernt haben mochte. Die Schilderung des Mädchens ließ befürchten, daß sein Kopfleiden wiedergekehrt sei und sich bis zu einem Grade gesteigert hatte, den die Aerzte längst als sehr möglich voraus befürchteten. Augenblicklich wurde Lärm gemacht, nach allen Richtungen wurden vertraute Leute ausgesandt, den Entflohenen zu suchen. Sie kehrten alle unverrichteter Dinge zurück, und als nach der winterlich durchstürmten Nacht ein eisiger Morgen anbrach, war es fast zur Gewißheit geworden, daß Rudolph entweder selbst den Tod gesucht habe, oder unfreiwillig von ihm ereilt worden sei.

Vernichtet kniete Amalie an ihrem Bette, auf das sie sich schon zum Tode gelagert hatte, und sandte ein heißes, wortloses Gebet zum Himmel.

…. Am andern Tage Abends saß Therese mit Anna und dem alten Vater um den Ofen versammelt. Draußen fiel der Schnee in feuchten Flocken, ein kalter Wind rüttelte unheimlich an den Fenstern, und es wäre recht traulich gewesen in der warmen behaglichen Stube, wären die Herzen ihrer Bewohner dafür offen gewesen. Der Alte war eingenickt, denn Therese schwieg, sie hatte einen ihrer bösen Tage, die hin und wieder kamen und an denen der unversöhnte Zwiespalt ihres leidenschaftlichen Gemüths sich durch schwere Verstimmung rächte. Auch Anna schwieg; ihre Gedanken waren bei dem fernen Vater, zu dem ihr Gefühl sie immer mehr im Stillen hinzog, als das Erlebte die Frische der Neuheit verlor und dahinter die Erinnerungen alle emportauchten, die ihr bewiesen, wie sehr er sie geliebt.

Plötzlich wurde ein rascher Tritt die Stiege herauf hörbar und näherte sich ungestüm der Thür. Erschrocken sprangen die Frauen auf, auch der Alte erwachte, als die Thüre, heftig aufgerissen, an die Wand schlug. Auf der Schwelle stand Rudolph, bleich, verwildert, in dürftigem, zerrissenem Gewand, Eis und Schnee im durchfrorenen Haar – ein entsetzliches Bild des Wahnsinns.

Therese schrie laut auf und wollte entfliehen; aber sie vermochte es nicht, denn schon lag der Unglückselige zu ihren Füßen, hatte ihr Gewand ergriffen und rief im herzzerreißendsten Tone: „Sie sind hinter mir! Sie verfolgen mich! Sie wollen mich von Dir wegreißen, wollen mich wieder in das Gefängniß zurückschleppen! Ich habe meine Ketten zerbrochen – ich bin frei, Therese – ich will keine Ketten mehr tragen … ich will nicht mehr zurück in’s Gefängniß … o .. o, es ist so finster, so entsetzlich finster in dem Gefängniß …“

Der Auftritt war zu erschütternd, als daß ihm gegenüber die Regung des Hasses oder irgend ein Bedenken Stand halten konnte. Therese brach in Thränen aus, Anna wollte laut jammernd sich neben dem unglücklichen Vater niederwerfen, als dieser sich wieder halb von den Knieen erhob und zu kreischen anfing: „Sie kommen! Da sind sie schon! Hörst Du sie nicht schon hinter mir? … o schütze mich vor ihnen … laß mich nicht von Dir, Therese …“

Er wollte aufspringen zu neuer Flucht, aber die erschöpfte Kraft hatte ihr Ende erreicht; sie hatte im Feuer des Wahnsinns ausgehalten und ihn auf dem weiten Wege durch Kälte und Unwetter geführt – jetzt ließ sie mit einem Male nach; mit aller Schwere des Körpers stürzte Rudolph zusammen und blieb wie entseelt liegen.

Das Dringende der Lage gab keiner langen Erwägung Raum; Rudolph wurde auf ein Lager gebracht, und der herbeigerufene Arzt erklärte mit bedenklichem Kopfschütteln, vor der Hand sei Ruhe das Einzige, was er anordnen könne. Anna wich nicht von der Seite des Vaters; Therese war kälter – sie gedachte, daß der Kranke nur für die erste Zeit der unvermeidlichen Sorge bei ihr verbleiben könne, und daß für seine Unterkunft an einem andern Orte gesorgt werden müsse. „Ich werde seine Frau von dem Geschehenen in Kenntniß setzen,“ sagte sie zu ihrem Vater, „seine Frau mag bestimmen, wohin er gebracht werden soll.“

Der Brief an Amalien ging ungesäumt ab. Inzwischen entzog auch Therese sich der traurigen Aufgabe nicht, den Kranken zu pflegen, der regungslos und in fortdauernder Bewußtlosigkeit dalag. Da – an seinem gramvollen. Lager, in der stillen Dämmerung des Krankenzimmers, bei dem Tone der bangen Athemzüge, die sich aus seiner gemarterten Brust emporarbeiteten, da stieg das Andenken an die eigenen langen Leidensjahre mildernd vor ihrer Seele empor. Zurücksinnend gedachte sie der vergangenen Zeiten – ein rosig beleuchteter Zug, schwebten die Tage der Kindheit, die Jahre ihres Glücks an ihrer Seele vorüber … unter ihnen und überall in sie verflochten die lächelnden Bilder von Amalien und Rudolph … und von der innern Erweichung brach die Rinde, die noch um ihre Gefühle gelegen war. Erleichtert, beruhigt, erhob sie sich, faßte Rudolphs fühllose Hand und rief: „Von jetzt an sei Friede, zwischen uns Allen!“

Dem schönen Gelöbnisse folgte die Gelegenheit, es zu erproben, auf dem Fuße. Von Anna geleitet, trat Amalie in das Zimmer. Einen Augenblick standen die beiden Frauen unsicher und befangen einander gegenüber; dann eilte Therese mit ausgebreiteten Armen auf Amalien. „Vergeben Alles und vergessen!“ rief sie im zärtlichsten Umfangen. „Möge der Himmel über uns nach seinem Gefallen walten – Friede sei von jetzt an zwischen uns!“

Amaliens Festigkeit war erschüttert, wie noch nie – Hand in Hand traten sie an das Lager des Leidenden; wechselnd und vereinigt pflegten und bewachten sie ihn, und das gleichgeliebte Kind zweier Mütter stand, sie Beide noch inniger verbindend, zwischen ihnen. Rudolphs Zustand blieb geistig der gleiche; er kam nicht zu sich, aber die Zerstörung des Körpers stand darüber nicht still – er verfiel sichtbar und täglich mehr und mehr, und es bedurfte nicht der Bestätigung des Arztes, um zu erkennen, daß seine Laufbahn zu Ende gehe.

Eine letzte Hoffnung hatte man auf des Kranken vielerfahrenen und bewährten Freund gebaut, und er hatte auch nicht gezögert, sich einzufinden, als er das Schicksal des Freundes erfuhr. Weindler war vielleicht nie so befangen an ein Krankenbett getreten, aber auch er schied ohne Hoffnung. „Armer Freund!“ sagte er, „das waren der Schläge zu viel für Deine empfindlichen Organe! Es mag wohl sein, daß man manch feineren Genuß darüber entbehren muß – aber es ist doch ganz gut, wenn man mit etwas gröberen Nerven geboren wird! ..“

Ergriffen, wie selten, nahm der Arzt Abschied von den Frauen. „Haben Sie Acht,“ sagte er, „er wird in diesem Zustande bleiben bis an’s Ende. Dann wird er einen hellen Augenblick haben und mit ihm hinübergehen.“

Und so kam es. Wenige Tage nachher bewegte sich Rudolph ungewöhnlich hastig und wiederholt; wie ein Schleier flog es von den starren Zügen weg, der Mund wurde weich und ein tiefer Seufzer stieg aus der todeswunden Brust. Therese und Amalie standen zu beiden Seiten des Lagers und beobachteten in ängstlicher Spannung jeden Athemzug des geliebten Kranken. Jetzt begannen [259] seine Lippen sich zu bewegen, und leise, aber wohlverständlich lispelte er in kurzen Absätzen:

Viel Pfade zieh’n bergauf, thalab,
Sie münden all’ im stillen Grab;
Darin zu ruhn ist Schlafengehn …

– „Und das Erwachen – Wiederseh’n!“ rief Therese, leise über ihn gebeugt. Auch Amalie neigte sich zu ihm. Wie von elektrischem Schlage berührt, öffnete Rudolph die Augen: er sah die Beiden über sich, las in ihren schmerzverklärten Zügen die Versöhnung … er erblickte Anna in Thränen aufgelöst neben ihnen …. und auch über seine Züge glitt ein lächelnder Schimmer des Entzückens, wie mitten in finsterer Waldeinsamkeit ein verlorener Sonnenstrahl sich Bahn bricht. Dann sank er zurück; Theresens Kuß nahm ihm den letzten Hauch von den Lippen; Amalie und Anna weinten auf seine erstarrenden Hände. Hand in Hand folgten sie dem Befreiten zum Grabe; Hand in Hand in unzertrennlicher Freundschaft gingen sie Beide bis zum eigenen Grabe.




Die Wolfsgrube am Superior-See.
Von F. Fenneberg.

„Schneid’ das Canoe los, wenn Dir Dein Leben lieb ist! Hinein und fort!“

Es war gut, daß die Weisung schnell vollzogen wurde, denn der Sprecher und sein Gefährte waren kaum im Canoe und hatten dasselbe vom Lande abgeschoben, als nahe an hundert mit den Kriegsfarben bemalte und bewaffnete Indianer auf die Stelle kamen, wo das Canoe lag, und einen Hagel von Pfeilen auf die Fliehenden abschossen. Deren Schnelligkeit hatte sie indeß von Folterqual und Tod, die sie sicher erwarteten, gerettet, und sobald das leichte, aus Birkenholz gebaute Schiffchen sich von der Küste entfernt hatte und auf den klaren, kalten Fluthen des Superior-Sees tanzte, sodaß die eilbeschwingten Pfeile sie nicht mehr erreichen konnten, erhoben sich die Beiden von ihrer liegenden Stellung und handhabten die leichten Ruder kräftig, um sich so schnell wie möglich jeder Gefahr zu entziehen.

Laute der Entrüstung und Wuth über getäuschte Hoffnungen erreichten ihr Ohr, unbeachtet oder nur mit einem schweigenden Lächeln erwidert, und dann ruhte der, der zuerst gesprochen, von seiner Arbeit aus und füllte seine Pfeife mit einer Mischung von Tabak und gut getrocknetem Kin-ne-ken-ic und sagte lachend zu seinem Gefährten: „Unsere Scalpe sind jetzt sicher, und diese blutdürstigen Teufel müssen sich nun eine andere Belustigung suchen, als die, zu sehen, wie lange es dauert, uns bei langsamem Feuer zu rösten.“

„Der gute Manitou vergißt seine Kinder nicht.“

„Manitou oder nicht Manitou, wir würden eben jetzt an einen Pfahl gebunden, voll von hervorstehenden feinen Splittern, mit einigen hundert Messerschlitzen am Leib, ein Haufen Holz würde um uns herum brennen, und wir schnell der künftigen Welt entgegeneilen nach der beliebtesten Mode der Indianer, ihre Feinde zu rösten, wenn nicht glücklicher Weise unser Canoe nahe für uns versteckt gewesen wäre. Wie hätte Dir das gefallen, alter Junge?“

„Ching-wau-konce[WS 1] würde, den Todesgesang auf seinen Lippen, gestorben sein.“

„Ich weiß das, „Weiße Fichte“, aber ich liebe es eben nicht, zu solcher Musik zu tanzen.“

„Der rothe Mann fürchtet den Tod nicht!“

„Auch ich nicht, aber ich möchte doch lieber einen andern Weg einschlagen, als diesen. Und dann, wer weiß wohin wir kommen, wenn der Tod uns überfällt?“

„Nach dem Lande der glücklichen Jagdgründe, wo die Blumen nie welken und der Matcha Manitou (böser Geist) keine Macht hat!“

„Indianer-Religion und des weißen Manns Bibel – glücklicher Jagdgrund und Himmel sind das Gleiche, wie ich denke, und was mich anbelangt – doch sieh dort!“ Der Redende deutete nach dem Norden, wo der Himmel und das Wasser sich zu begegnen schienen, während die Wolken, dunkel und von unbeschreibbarer Gestalt, dahin eilten und ein dumpfer, tiefer Klang gleich fernem Donner zu hören war.

„Die Möve fliegt hoch und landwärts. Der Geist der Gewässer ist erzürnt über seine Kinder, und sein dunkler Flügel breitet sich rasch von seiner nördlichen Heimath aus,“ war die Antwort des Indianers, während sein Ruder tief und kräftig durch das noch ruhige Wasser schnitt.

„Lieber dem Sturm als der Folter trotzen!“ sagte sein Gefährte und griff wieder nach seinem Ruder. Getrieben von ihren kräftigen Armen flog das kleine Boot, gleich einem Strauß der Wüste, seinem Ziele zu.

Die Freundschaft zwischen dem weißen Manne und seinem rothen Bruder war nicht so sonderbar, als man vielleicht zu glauben geneigt ist, denn selbst heut zu Tage sind solche Verhältnisse nichts weniger als ungewöhnlich, wenn wir fern von dem schrillen Laute, der aus den mächtigen Lungen des eisernen Pferdes ertönt, unsere Fußstapfen auf dem felsigen Pfade gegen Sonnenuntergang richten, wenn wir es wagen, in beinahe unbekannte Regionen zu dringen, in denen das wilde Pferd ungefesselt durch Zaum und Zügel umherschweift und nie durch Sattel oder Sporn belästigt wurde, und wo der Tritt der Büffelheerden gleich dem zornigen Brüllen des Oceans zu dem Ohre des Wanderers dringt, wo der graue Bär seine Höhlen wühlt, und der Adler inmitten ewigen Schnees sein Nest baut und sich hoch in die Lüfte sonnenwärts erhebt, das Sinnbild von Macht und Freiheit!

Erzogen in einer wilden Schule, in der halb civilisirten, halb wilden Weise, wie es an den äußersten Grenzen der Civilisation üblich, wäre es sonderbar gewesen, wenn der kräftige und furchtlose Bursche nicht frühe den Fesseln der Gesellschaft entflohen wäre und das wilde, herumschweifende und oft gefährliche Leben eines Jägers und Trappers erwählt hätte.

Richard Winters war für ein solches Leben geschaffen, denn die gütige Mutter Natur hatte ihn mit Muskeln von Eisen und einem Pulse geschaffen, der nie durch bleiche Furcht getrieben schneller schlug. Schlank und groß, an Entbehrungen und harte Arbeit gewöhnt, mit der Büchse nie sein Ziel verfehlend, in allen Geheimnissen der Waidmannskunst erfahren, schnellfüßig und unermüdbar auf der Fährte, wie mit seinem Ruder auf Strömen und Seen, in den finstersten Stunden der Nacht, wie im dichtesten Urwald sich heimisch fühlend, waren nur Wenige, wenn nicht Keine, die von den Freuden und Früchten eines solchen Nomadenlebens einen so reichen Antheil wie er zogen. Ohne einen Anstrich der modernen Verfeinerung von Sitten und Manieren besaß er ein edles, mannhaftes Herz, das nur durch das Recht regiert wurde, das alle menschlichen Geschlechter als Brüder erkennt. Seine schwarzen Augen waren stets wachsam, seine Züge hatten nur wenig Schönheitslinien aufzuweisen, trugen aber den Stempel unerschütterlicher Entschlossenheit, und wie er in seinem birkenen Canoe saß, nach echter Jägerweise phantastisch gekleidet, konnte man in ihm das meisterhafte Musterbild des furchtlosen Pioniers der Civilisation sehen.

Sein Gefährte Ching-wau-konce, die „Weiße Fichte“ genannt, ein vollblütiger Indianer, war ihm an Größe überlegen, aber nicht an Stärke und Muth. Stolz auf seine Federn, seinen Wampum und seinen Ruf als tapferer Krieger, ein echtes Kind des Waldes, vergaß er nie einen ihm erwiesenen Dienst oder eine ihm zugefügte Beleidigung. In einer Stunde furchtbarer Gefahr, zu der Zeit, wenn der Bär aus seinem langen Winterschlafe erwacht und die Gegenwart des weißen Mannes nicht fürchtet, hatte Winters ihn gerettet. Er hatte ihn gerettet, im Augenblicke, wo der Tomahawk aus des rothen Kriegers Hand geschleudert, sein Messer gebrochen war, er aus vielen schweren Wunden blutete und die Klauen des Bären in seinem Körper begraben, seine scharfen Zähne nahe seinem Herzen waren! Er hatte ihn gerettet mit Gefahr seines Lebens, wie tiefe Narben bewiesen, von sicherem Tode durch den wüthenden hungerigen Bären des Nordlandes, ihn, der für Richard dazumal ein Fremder und noch dazu ein Indianer war.

Freundschaft, auf solchem Webstuhl gewoben, ist nicht jenes dünne, sommerfadenartige Gewebe, das in der Gesellschaft der Reichen und der Modeherrn unter diesem Namen bekannt ist, sondern sie war stark und tief und dauerte so lange als ihr Leben selbst. Die Zeit knüpft solche Freundschaft nur fester, und nur dann, wenn Erinnerung und Leben zu Ende, ist solch’ ein Gewebe gebrochen [260] oder ein einzelner Faden seiner ursprünglichen Stärke und Schönheit beraubt.

Von dieser Zeit an, nun schon vier oder fünf Jahre – lebten diese zwei Männer, die sich in einem Tamarack-Gehölz an der Küste des Superior-Sees in der obenerwähnten Weise begegneten, als Brüder, und der rothe Mann würde sich den schrecklichsten Folterqualen unterzogen haben, wenn er dadurch seinen weißen Freund auch nur vom geringsten Schmerz oder Uebel befreien konnte. Sie waren Brüder, wenn auch nicht durch die Bande des Bluts, so doch durch den Bund ihrer Herzen, und wehe dem, der es wagte, seine Hand drohend gegen einen von ihnen zu erheben!

Der Sturm hatte nun begonnen, und das kleine Schiffchen ward von den hochgehenden Wogen wie eine Feder umhergetrieben. Fern von dem Lande und von der laubbedeckten Küste, wo der Koem-au-is-tique seine Fluthen in den See ergießt, fuhren sie gegen Isle Royal, das noch viele Meilen entfernt war. Sie waren furchtlos und gewandt, aber was kann der schwache Arm des Menschen thun, wenn er mit dem Nordsturm und der zürnenden Woge kämpft? Als die Gefahr am höchsten war, der Sturm am wüthendsten heulte und die Wogen über dem Schiffchen zusammenschlugen, brach das Ruder des Indianers, wie eine dünne Gerte. Winters verdoppelte nun seine Anstrengungen, aber auch sein Ruder war zu schwach, um dem Druck der Wogen zu widerstehen, es brach ebenfalls, und sie waren hülflos dem Toben des wüthenden Sturmes preisgegeben.

Widerstandslos von dem Sturme fortgetrieben, waren sie bald von ihrem Wege entfernt und wurden nach der Küste getrieben, die sie erst vor kurzer Zeit verlassen. Nur ihre vollkommene Selbstbeherrschung, ihre genaue Kenntniß der Handhabung eines Canoes und die bewegungslose, statuengleiche Haltung, die sie beobachteten, rettete sie von dem Umstürzen des gebrechlichen Fahrzeuges. So saßen sie mehrere Stunden lang auf dem Boden des Canoes, bis sie der Sturm auf einen Felsen an der Küste trieb und das Canoe zerschmetterte.

Winters hatte sich glücklicherweise an einem kleinen Baume, der in einer der Felsenspalten festgewurzelt war, festgehalten und war verhältnißmäßig sicher. Nicht so sein rother Freund, der bei dem Umschlagen des Canoes von demselben getroffen und, von den scharfen Felsenriffen verwundet, durch die zurücktreibenden Wellen weit vom Lande ab in den See getrieben wurde. Winters athmete tief auf, dachte einen Augenblick über seine Lage nach, und dann ertönte der Schrei des weißen Mannes selbst durch den heulenden Sturm, denn sein erster Gedanke war die Sicherheit seines Freundes gewesen. Eine Zeit lang kam keine Antwort, und Winters war im Begriffe ihn als verloren aufzugeben und sich einen Platz zu suchen, von dem aus er die Küste erreichen konnte, als eine freundliche Woge den verwundeten Indianer der Küste nahe brachte, und er dessen mit schwacher Stimme gegebene Antwort hörte. Ohne an sich oder an die drohende Gefahr zu denken, stürzte sich Winters in die schäumenden Wogen und faßte den Körper seines Freundes. Furchtbar und lang war der Kampf mit dem wüthenden Elemente, doch endlich war er mit Unterstützung der Macht, die den Wirbelwind regiert, erfolgreich und Beide erreichten das feste Land.

Ihre Lage war aber nicht die angenehmste. Auf einer feindlichen Küste, ohne zu wissen, wo sie waren, umgeben von dem Sturm und dichter Finsterniß, ihre Büchsen im tiefen See begraben, ohne es wagen zu dürfen, ein Feuer anzuzünden, ohne Lebensmittel oder die Gelegenheit solche beizuschaffen, und einer von ihnen schwer verwundet: dies war eine Lage, die selbst Nerven von Stahl und waldgeborne Männer auf die Probe setzen konnte. Sie suchten sich indeß einen Platz aus, wo sie sich bequem niederlassen konnten, legten sich neben einander nieder und waren so schnell entschlafen wie ein Kind, das von seiner Mutter in Schlaf gewiegt wird. Sie schliefen, während der Sturm wüthete und tödtliche Gefahr sie umringte, trotz Hunger und Schmerz, – ruhig schlafend, bis Mutter Natur ihnen sagte, daß ein anderer Tag glorreich für ihr schönes Reich, die Erde, hervorbreche!

Der Morgen brach an in Glorie und Sonnenschein, und mit dem ersten Vorgesang der Vögel des Waldes brachen unsere kühnen Jäger auf. Die Natur, stets gebieterisch in ihren Forderungen, verlangte Nahrung, und diese war für waffenlose Männer im dichten Urwalde nicht so leicht zu erhalten. Die feuchten Moose (Leberkraut), die überall auf den Felsen wuchsen, konnten wohl ihr Leben fristen, aber dies war keine genügende Nahrung für sie. Wie konnten sie sich eine bessere verschaffen? Sie waren zu erfahren und hatten zu viel gelernt in der rauhen Schule eines Lebens an der Grenze der Civilisation, als daß sie einen Augenblick gezögert hätten, um zu berathen, was sie thun sollten. Die „Weiße Fichte“ war kaum erwacht, als er aus den dünnen Wurzeln, die sich an die beinahe erdlosen Felsen anklammern, kunstvolle Schlingen machte, um die Hasen, von denen der Wald voll war, zu fangen. Er stellte die Schlingen vorsichtig auf, und nur kurze Zeit verging, bis mehrere Schlingen ihre Opfer festhielten. Während der rothe Mann die Hasen abbalgte, ausweidete und zum Braten zurecht machte, fertigte Winters aus einem Hasenbeine einen groben aber scharfen Angelhaken an. Dann flocht er aus Baumrinde einen starken und langen Faden, befestigte die Angel daran, steckte auf dieselbe ein Stück Fleisch als Lockspeise und versuchte sein Glück im tiefen See. Auch er hatte Erfolg, und ihr Mahl von gerösteten Hasen und Fischen war ihnen ein größerer Genuß, als ein Mahl auf silbernen Tellern in der Heimath des Reichen.

„Weiße Fichte,“ sagte der Trapper, als er einen Haufen Beine, die er von jeder Fleischfaser befreit hatte, bei Seite schob und seine Pfeife anzündete, „es ist nicht Zeit für uns, lange hier zu bleiben.“

„Die Krieger der Ojib-was wissen, daß der böse Geist des Sturms über den Gewässern schwebte,“ sagte der Indianer, „und sie werden nicht vergessen, an der Küste nach seinen Spuren zu forschen!“

„Ja, und unser Feuer wird sie auf unsern Weg führen, gleich dem Aasgeier, der uns zeigt, wo ein todter Büffel liegt.“

„Der Rauch von trocknem Holze mischt sich mit den Wolken und verschwindet, und nur grünes Holz trübt den heitern, sonnerfüllten Himmel.“

„Aber ihre Augen sind scharf wie die des Adlers, wenn er mit ausgebreiteten Flügeln segelt und nach seinem Opfer späht,“ erwiderte Winters.

„Das Auge des Fischreihers kann nicht den Pfad der Forelle unter dem Wasser sehen, noch das Auge des Kriegers den weißen Rauch in dem Nebel der Morgenluft.“

„Das ist Alles wahr, aber ich bleibe nicht gern hier.“

Die Weiße Fichte sann einige Secunden nach. „Der Jäger möchte seinen Mocassin vom Pfade der Gefahr abwenden. Es ist gut!“

„Ja, und welchen Weg wollen wir einschlagen?“

„Der gejagte Cariboo[1] versucht vergebens die Jäger von seiner Fährte abzubringen; er weiß nicht, wohin er seine Schritte richten, noch in welchem Dickicht er seine vielzweigigen Hörner verbergen soll.“

„Wir wissen indeß doch mehr, als die stummen Thiere des Waldes.“

„Der Manitou gab seinen Kindern das Wissen, das sie zum Meister über Alle macht.“

„Ja, und wir thäten besser es zu benützen, wenn wir hoffen sollen uns zu retten.“

„Mein Bruder ist kein Kind,“ erwiderte die Weiße Fichte, „sondern ein gewaltiger Jäger. Sein Stamm ist zahllos wie die Blätter auf den Bäumen, wie die Tropfen in dem Busen des großen Sees.“

„Du sprichst wahr, und wir wollen zu ihnen gehen.“

„Die Winde und das Moos am Baume sind am dicksten an der Seite, von wo der mächtige Nordwind bläst.“

„Die Sonne geht im Osten auf und weit über die westlichen Prairien unter.“

„Das glänzende Auge des Manitou funkelt stets vom nördlichen Himmel, und das Blitzen seines Gürtels strömt weit über die Welt.“

„Ich kenne den Nordstern und das Nordlicht gut genug,“ sagte Winters. „Es ist keine Gefahr, daß wir uns verirren, so lange wir dem See folgen; komm denn und laß uns aufbrechen.“

„Wenn die Sonne den Thau auf den Blumen getrocknet, dann läßt der Mocassin keine Spur hinter sich.“

„Das ist auch wahr, und so, Weiße Fichte, haben wir nichts zu thun, als so ruhig wie ein Biber zu sein für eine Weile, und dann wollen wir unsere Scalps retten, wenn wir können.“

„Der Gesang meines Bruders wird noch in den Wigwams seines Stammes gehört werden. Ching-wau-konce hat gesprochen.“

Jetzt legte er sich auf den Boden nieder, schloß seine Augen und war anscheinend bald in tiefen Schlaf versunken.

(Schluß folgt.)



[261]
Die Holzschnitzerei im Berner Oberlande.
Von H. A. Berlepsch (in St. Gallen).

Aus dem lauten, wirren Getriebe der völkerbewegenden Weltindustrie hat sich ein still bescheidenes Naturkind in einen der heimlichsten Winkel des großen, erhabenen Alpengebäudes, an die Ufer des Brienzer Sees geflüchtet; es ist die Berner-Oberländer Holzschnitzerei. Während es drunten im gehügelten Mittellande dampft und braust, surrt und klappert und die Maschinen des Fabrikgebäudes mit dämonischer, geisterhafter Thätigkeit den Dienst der Menschenhand überflüssig machen zu wollen scheinen; – während dort die reichen Geldleute rechnen und speculiren, Briefe hin- und herfliegen, das Steigen und Fallen der Baumwollen- und Rohseiden-Preise Berichte von größter Wichtigkeit, die Ernte-Resultate in fremden Ländern Lebensfragen des schweizerischen Manufactur-Erwerbes geworden sind und die Arbeitskräfte wie todte Nullen betrachtet werden, die erst Werth durch den davorgestellten Zähler des Fabrikanten, Kaufherrn oder Exporteurs bekommen, – hämmert und sägt, schnitzelt und raspelt das stille Bergvölklein der Berner Oberländer daheim in seinen vier Pfählen, unbekümmert um die großen weltbewegenden Handels-Conjuncturen, in naiver Einfalt den Führungen des Genius der Kunst folgend. Die Geschicktesten unter ihnen sind auch die allzeit Gesuchten, und freiherrlich-unabhängig liegt die Größe ihres Verdienstes in ihren eigenen Händen.

Schnitzler-Saal in der Fabrik der Gebrüder Wirth in Brienz.

Die Oberländer Holzschnitzlerei ist ein Erwerb, der aus sich selbst entstanden ist, ein Industriezweig, der, von der Pike auf dienend, durch eigene Kraft sich emporgearbeitet hat zu der Bedeutung, welche er seit kurzer Zeit einzunehmen beginnt. Nicht Einflüsse von Außen schufen, beförderten und hoben diese autodidaktische Volksbeschäftigung, nicht mächtig bewegende Fluktuationen führten als Nothwendigkeits-Folge deren Aufnahme und Cultur herbei (wie z. B. im Gebiete der gewebten Waaren seiner Zeit das siegreiche Emporkommen der fremdländischen Baumwolle, welche den inländisch erzeugten Flachs und die darauf basirte Leinen-Industrie verdrängte), – nicht Momente des Zufalls gaben die Veranlassung oder den ersten leisen Anstoß zur Anhandnahme einer ursprünglich den localen Bedürfnissen und subjektiven Fertigkeiten des Volkes fernliegenden Erwerbsbranche; – der gut ökonomische, echtschweizerische, haushaltende Grundsatz:

„Die Axt im Haus’ erspart den Zimmermann“

(Schiller’s Tell.)

das Selbstständigkeits-Bedürfniß eines Gebirgsvolkes und dessen Unbekanntsein mit dem eindringenden Luxus, welcher heutzutage am Wohlstande des schlichten Bürgers als zehrende Schmarotzerpflanze nagt, – die urthümlich alte, einfache und solide Bauernregel: „Meiner Hände Arbeit ist der Boden meines Wohlstandes,“ war die Basis, auf welcher die Holzschnitzerei zu wachsen, zu blühen und Früchte zu tragen anfing. Schon Jahrhunderte und Jahrhunderte lang war sie von den viehzüchtenden Alpenwirthschaft treibenden Thalbewohnern der Schweiz ausgeübt worden, und nicht über die Grenzen seiner stillen, schönen Heimath hinaus bekannt geworden; die Urväter des Grütli-Bundes hatten sich selbst ihre „Melchkübeli“ und „Nidelkellen“ (Rahmlöffel), ihre „Gepsli“ (Schüsseln) und „Täufeli* (Milchgefäße), ihre Teller, Löffeli und Gabeln aus Holz geschnitzt und hingen in dieser Beziehung bei ihren häuslichen Einrichtungen weit weniger von den eingeführten Eisenschmiedewaaren Steiermarks, Solingens, und Schmalkaldens oder den zerbrechlichen Thonproducten Schwabens und der Eidgenossen im Pruntruter Lande ab, als die Städter.

Bis zu den Zeiten des Sturzes der ersten napoleonischen Herrschaft wurde die Schweiz noch wenig von Fremden bereist; nur Naturforscher und sehr reiche Leute, namentlich Engländer, waren [262] die einzigen, die mit großem Kostenaufwande in jene Gebirgswinkel eindrangen, wo jetzt Gasthof-Paläste stehen und im Sommer ein drängendes Touristenleben sich jagt. Napoleon hatte durch den Bau der Simplonstraße zuerst den praktischen Beweis geliefert, daß im wildesten Gebirge Weg und Steg für den Verkehr zu ebnen sind; seinem Vorgange folgten, gedrängt von den größeren Anforderungen der Zeit, andere Thalschaften. Es entstanden die großen Alpenstraßen über den Gotthard, Bernhardin und Splügen. Hiermit erweiterte sich das Straßennetz im Alpenlande allgemein; der Aufschwung aller Industrie trug wesentlich dazu bei. Aber mit den verbesserten Verkehrsmitteln wurde es auch leichter, bequemer, billiger, das Wunderland der Schweiz zu besuchen; der Fremdenverkehr wuchs, und alle jene abgelegenen schönen Thalgelände, die bis dahin zur Außenwelt in kaum irgend einer Beziehung standen, wurden jetzt Reiseziel. – Die Wanderer, überrascht und schwärmend für des Bergvolkes Sitten und Gebräuche, Einfachheit und Genügsamkeit, nahmen neben seltenen Mineralien und gepflückten Alpenpflanzen auch Exemplare jener urthümlichen Holzgeräthe als Reise-Erinnerung mit in die Heimath. So kam’s, daß nach und nach aus den anfänglich für den eigenen Gebrauch geschnitzten Holzwaaren ein kleiner Luxus-Handelsartikel wurde. Die Schnitzler (deren es von ausschließlichem Beruf nur wenige gab) verwendeten mehr Aufmerksamkeit auf ihre Arbeit, lauschten die Wünsche und Meinungen der Fremden schlau ab und suchten die ursprüngliche derbe Naivetät, welche diese Holzsculpturen kennzeichnete, durch allerlei verzierende Beigabe zu verschönern.

Ein junger Lauterbrunner, Heinrich Mugel, soll der Erste gewesen sein, der im ersten Decennium unseres Jahrhunderts Einfassungen zu Tintengläsern schnitzelte und so die in der Kindheit schlummernde, ungekünstelte Handfertigkeit auf ein bis dahin fremdes Gebiet übertrug. Als eigentlicher Begründer der Holzschnitzerei, wie sie in der Gegenwart eine namhafte Stellung einnimmt, wird jedoch allgemein Christen Fischer von Brienz bezeichnet. Jetzt beschäftigt sie einige tausend Menschen und setzt jährlich etwa eine halbe Million Franken um, die, da das Rohmaterial, beinahe an Ort und Stelle gewonnen, sehr billig ist, nahezu als reiner Verdienst anzusehen sind. Thun, die beiderseitigen Ufer des Thuner und besonders des Brienzer Sees, sowie das Hasli-Thal sind die Heimath dieser ihre Producte über die ganze civilisirte Erde verbreitenden Industrie.

Die meisten Arbeiten trugen bis in die jüngste Zeit das entschiedenste Gepräge des selbstwüchsigen Dilettantismus, der sich eine gewisse Fertigkeit in Behandlung stereotyper Formen angeeignet hat. Vor zwanzig Jahren konnten die meisten Schnitzler kaum eine Figur, eine Blume oder Arabeske anatomisch oder proportionirt richtig zeichnen, geschweige denn daß sie klare Begriffe von den Gesetzen der plastischen Composition, von den ästhetischen Bedingungen der Gruppirung gehabt hätten. Alles, was die Besten unter ihnen kannten und konnten, waren die der Natur unmittelbar abgelauschten Momente, und auch diese beschränkten sich wiederum nur auf Gegenstände, die ihrem Wahrnehmungsvermögen, dem Gesichtskreise der Alltäglichkeit entsprachen. Gemsen und Alpenrosen gaben die hervorragendsten Modelle für ihre Kunstfertigkeit ab, also Dinge, die ihres alpinen Charakters halber von den Fremden am Ehesten gekauft wurden. Ein droben in den Felsenlabyrinthen durch das Fernglas in seinen Stellungen beobachtetes Gratthier, eine als Schildwacht auf hervorragendem Vorsprung aufgestellte Vor-Geis, ein ruhig als Einsiedler grasender Gemsbock war vielleicht von einem talentvollen Schnitzler ziemlich naturgetreu wiedergegeben worden, und die ganze große Schaar der übrigen Gemsenschnitzler warf sich als Freibeuter über dieses Prototyp her und copirte es, je nach den subjektiven und individuellen Fähigkeiten, gut oder krüppelhaft. Woher kam es, daß man noch jüngst in den bedeutendsten Magazinen von Interlaken, Bern, Thun, Brienz etc. so wenig Gemsengruppen sah, in denen lebhafte Action ausgedrückt wurde? Eben daher, daß den Schnitzlern gute Vorbilder fehlten und sie von sich aus nicht fähig waren, das Thier anders als in ebenmäßig passivem Zustande darzustellen. Hierzu gesellte sich nach und nach noch eine den Fremden zu Lieb ausgebeutete Unwahrheit, eine Carrikirung der Natur. Die Schnitzler nahmen im Laufe der Zeiten wahr, daß Damen und elegante Touristen, welche für ihren Schreibsecretair, für ihren Curiositäten-Tisch daheim eine Gemsengruppe kaufen wollten, immer denen den Vorzug gaben, welche am kokettesten mit spindeldürren Steckelbeinchen, am ballettänzerhaftesten, am blasirtesten geschnitzt waren. Die „Holzschnäffler“, welche recht wohl wußten, daß die Gemse derben Knochenbau, eisenfeste Schenkel und gar nicht so feenhaft zarte Spinnebeine hat, die dem Thiere bei seinen lebensgefährlichen Sprüngen schlechte Dienste leisten möchten, zogen es vor, der Thorheit der Fremden, der sublimen Geschmacksverirrung zu huldigen und eine ganz neue Species von Gratthieren zu schaffen. Als ich im vorigen Sommer einem der besten Gemsenschnitzler, dem im Rosenlaui-Bade stationirten Jean Zurflüh[2] von Meiringen, dahin bezügliche Bemerkungen machte, holte er mir aus einem Winkel seines Ausstellungs-Glaskastens einen pompös in Nußbaumholz geschnitzten, strammen, derbbeinigen Gemsbock. „Den kauft mir kein Mensch ab,“ sagte er lachend, „d’Lüt wei derige Gamsche nöd.“ Später hörte ich die gleiche Aussage von anderen Schnitzlern bestätiget.

Seit den letzten Jahren hat sich bezüglich der einseitigen Auffassung, der incorrecten Zeichnung, der beschränkten Formen-Auswahl viel gebessert. Verschiedene Factoren haben dazu beigetragen. Zuvörderst gebührt der Regierung des Kantons Bern die Anerkennung, daß sie zur Aufhülfe besseren Zeichen-Unterrichtes und praktischer Anleitung im Jahre 1852 in Gadmen und 1854 in Meiringen unter Leitung des Bildhauers Lüthi von Solothurn Schnitzlerschulen etablirte und mit Geldmitteln begabte, in denen arme Knaben Unterricht empfingen. Ja, letzteren wurden sogar, da den meisten alle und jede Mittel fehlten, die erforderlichen Werkzeuge auf Staatskosten[WS 2] angeschafft und geschenkt. So wurde dem namentlich in diesem Kantonstheil furchtbar im Aufblühen begriffenen Proletariate auch von dieser Seite entgegengearbeitet. Leider soll der Besuch der Schulen so unregelmäßig gewesen sein, daß dieselben wieder eingehen mußten. – Von wesentlichem Einfluß auf die Geschmacksverbesserung war es ferner, daß große Unternehmer, mit guten Kenntnissen ausgerüstete Fachmänner die bisher von Schnitzlern ganz auf eigene Faust ausgeübte Kunst systematisch organisirten, fabrikmäßig zu betreiben anfingen, gute Vorlagen beschafften und auf eine Verbesserung und Abklärung des Geschmackes hinwirkten. Solche Progressisten sind namentlich die Herren Gebrüder Wirth in Brienz und Kunsthändler Wald in Thun, von denen gleich ausführlicher die Rede sein wird. Immerhin ist’s wunderbar, daß diese Leute bei ihrer enormen Material-Fülle, die sie in Modellen aus Paris beziehen, nicht einmal die vortrefflichen Rittmeyer’schen Zeichnungen in „Tschudi’s Thierleben der Alpenwelt“ kannten.

Ein, wenn man will, fabrikähnlicher Betrieb des Geschäftes nach bestimmten Branchen bestand schon früher; nur dadurch konnte jeder dieser Empiriker einigermaßen es zur Vollkommenheit in einem Fache bringen, daß er sein ganzes Leben hindurch ein und dasselbe Modell oder doch ganz verwandte bearbeitete. So ist noch heutigen Tages die Arbeit ziemlich ausgeschieden. Die kleinen, puppenhaften Berner-Oberländer Holzhäuschen, mit den steinbelasteten Dächern, grünen Jalousieen und fein durchbrochenen Lauben-Geländern, die so saftig-braun aus Mahagoni-Fournitüren und tannenem Resonanzbodenholz construirt werden und in allen feinen Spielwaarenläden Deutschlands zu haben sind, kommen meist aus Iseltwald (nördlich unterm Faulhorn am Brienzer-See gelegen), während das gegenüber am anderen Ufer liegende Oberried fast nur Salat-Bestecke liefert. Einer der besten Baumeister dieser pygmäischen Holzhäuser ist Ulr. Abegglen in Iseltwald. – Meiringen und Guttannen im Hasli-Thal galten lange Zeit als die Orte, wo die meisten Gemsengruppen geschnitten wurden, und wieder andere hatten besonderen Ruf für Cassetten u. dergl. m.

Jetzt ist Brienz, gegenüber den berühmten Gießbach-Fällen, unstreitig der Hauptort der Holzschnitzerei, und jeder Tourist, welcher das Berner Oberland bereist, sollte nicht unterlassen, die dort etablirten Fabriken und einzelnen Künstler zu besuchen. An der Spitze derselben steht das Etablissement der Herren Gebrüder Wirth (geborene Elsasser), die in einem langen Gebäude über 200 Arbeiter in den verschiedensten Branchen beschäftigen, an Ort und Stelle aber nichts verkaufen. Wir geben in beikommender Zeichnung einen ihrer Arbeitssäle. Ihre Magazine sind in Paris (Bv. des Italiens 17 und Rue d’Hauteville 40). Sie zählen die besten [263] Schnitzler zu den Ihrigen, unter denen Joh. Huggler und Rud. Trauffer für Figuren, Jakob und Peter Thomann und Peter Fischer für Ornamente zu nennen sind. Hier geht die persönliche Kunstfertigkeit, das freie selbstbildende Schaffen Hand in Hand mit dem Dienst der Maschine, mit der mechanischen Vervielfältigung eines Modells. Die Theilung der Arbeit ist hier, so viel möglich, Grundgesetz des Geschäftsbetriebes geworden. In einem der Säle arbeiten die Schreiner, welche mit Hülfe der Circular-Säge und anderer durch Wasserkraft in Bewegung gesetzter Instrumente aus großen Nußbaumbohlen die platten Wände zu den reizenden Cassetten zuschneiden, die für zarte Frauenhände der cultivirten Welt beider Hemisphären bestimmt sind. Daneben ist ein Saal, in welchem minutiöse strohhalmbreite Vertical-Sägen, durch Wasserkraft und Brangen in Bewegung gesetzt (ähnlich wie die breiten Blätter einer Sägemühle), senkrecht sich hebend und fallend in ungemein rapidem Tempo arbeiten. An diesen feinen Schneide-Mechanismus bringt der Arbeiter einen handhohen, glatt vorgerichteten Nußbaumklotz, auf dessen oberer Fläche in scharfen, zarten Linien eine Arabeske, ein gothisches Ornament oder irgend ein Dessin gezeichnet ist. Mit großer Fertigkeit dreht und schiebt der Arbeiter den Klotz, daß der Sägenschnitt den Zeichnungen in den feinsten Wendungen folgt, und binnen wenig Minuten (wenn die Figur nicht sehr complicirt ist) zeigt sich der Block als ausgesägtes Stirnprofil irgend einer eleganten Verzierung. Er wandert nun in eine zweite Hand. Diese bringt ihn abermals an eine Vertical-Säge, welche im Querschnitt bleistiftdicke oder noch dünnere Scheibchen davon absägt, reizend gestaltete, durchbrochene Täfelchen nunmehr darstellend. Noch immer aber sind es rohe Formen. Jetzt erst kommen diese Täfelchen in die Werkstätten der Schnitzler, welche mit Hohlmeißeln und feinen Grabsticheln die Kreuzrippen und Quergurte aushöhlen, die sich durchschlingenden und umrankenden Ornamentzweige abrunden, hohlkehlen und gleichsam ciseliren. Diese in ihren Größen genau berechneten, „niedlinetten“ Verzierungsplättchen werden nun auf die platten Wände der Cassetten, auf die Flächen der vorgerichteten Rahmen, Lesepultchen, Meubles und was sie überhaupt schmücken sollen, so fein befestiget, daß sie wie aus einem Stück geschnitzt erscheinen. Mit dem Braunbeizen ist die eigentliche Holz-Arbeit beendet. In diesem halbfertigen Zustande sendet die Fabrik ihre Producte nach Paris. Dort erst werden sie völlig garnirt, die Cassetten mit Scharnieren und Schlössern versehen, mit Sammet ausgeschlagen, überhaupt für den Verkauf und Export erst vollendet. Dies ist aus dem fabrikativen Betriebe beispielsweise nur ein Bild; die Vielseitigkeit des Geschäftes in seinen andern Branchen zu schildern, mangelt hier der Raum. Der Katalog dieser Fabrik enthält allein 900 Nummern verschiedener hier verfertigter Gegenstände. Unser Bild stellt einen Schnitzlersaal dar, wo Uhrengestelle und Spiegelrahmen, Weihwasserkessel und Reliquienschreine, Kartenhalter und Lichtschirmträger, Zündholzkästli und Damen-Necessaires, Consolen mit heidnischen Karyatiden und Schreibzeuge mit alpinen Thiergruppen, kurzum Artikel des Luxus, wie sie das gesteigertste Bedürfniß der noblen Welt, die größte Eleganz nur verlangen mag, gefertigt werden. Man lasse sich von Herrn Flury-Urfer zum Kreuz in die Fabrik der Herren Wirth führen, um dort Modellkammern zu sehen, die sicherlich das Schönste wie ein Museum in sich vereinen, was die moderne Holzschnitzlerkunst producirt hat. Mit gleicher Anerkennung muß indeß auch anderer derartiger sehr tüchtiger Werkstätten gedacht werden, die leichtere, courante Waare, namentlich viel in Ahorn- und Legföhren-Holz liefern. Zu diesen gehören namentlich die der Herren Joh. Flück, Michel und Abplanalp, J. M. Roetter und Comp. und Jacob Wyder in Brienz. Als geschicktester Blumenschnitzler unserer Tage gilt Andreas Baumann daselbst, und die Gebrüder Bury in Ringgenberg (unweit Interlaken) haben großen Ruf als Gemsen-Sculpteurs.

Außerdem arbeiten aber noch Hunderte von Familien daheim in ihrem Stübli mit den Kindern und verkaufen die Producte ihrer Kunstfertigkeit an die Händler, unter denen die Firma Wald in Thun eine der ersten Stellen einnimmt. Auch dieses Geschäft hat große Verdienste um die Hebung der Schnitzlerkunst und stellte seiner Zeit in Bern bei der dritten schweizerischen Industrie-Ausstellung die reichste Sammlung künstlerisch gearbeiteter Stücke aus. Sein bester Ornamenten-Schnitzler ist Joh. v. Almen.

Zu den feinen und gut ausgeführten Schnitzereien wird, wie schon bemerkt, Nußbaumholz verwendet, für die minder kostbaren das des Berg-Ahorn (Acer pseudoplatanus); doch ziehen die Schnitzler das Holz der „Lenne“ (Acer platanoïdes) jenem noch vor, weil es von feinerem Gewebe und noch weißer und zäher sein soll. Für Löffel, Salatscheeren, Serviettenbänder, Nußknacker und ähnliche Producte der geringsten Sorte benutzt man meist das sehr feste, theils okerröthlich, theils gelbweiß aussehende Holz der Legföhre (Pinus pumilo). Arme Leute machen es sich zur Aufgabe, geeignete Stämme des letzteren, oft mit Lebensgefahr, vom Gebirge zu holen, namentlich von Wänden, deren Föhren-Gestrüpp nicht unter dem Schutz und der Wacht der Forstbehörden steht. – Als Seitenzweige sind die mit Schweizerlandschaften bemalten Holzschnitzereien zu betrachten, die, seit 1833 besonders von den Gebrüdern Wirtz in Bern, für alle Gegenstände unserer Kunst, sogar für Meubles in Anwendung gebracht werden.




Eine Vorlesung über und für Kinderwärterinnen und Erzieherinnen.

Was immer der Mann für einen Beruf erwählt, er muß erst jahrelang darauf losstudiren und dazu lernen. Dagegen lernt das Weib für die wichtigste ihrer Lebensaufgaben, für die Erhaltung und Erziehung des Kindes in seinen ersten Lebensjahren, geradezu nichts oder höchstens Dummes und Schädliches von Groß- und Schwiegermüttern, von Tanten und Muhmen. Als ob der liebe Gott dem Weibe im Schlafe den Verstand für seinen Beruf gegeben hätte, und als ob Mädchen und Frauen bei ihrem kleinern Verstandesorgane (Gehirn) und bei ihrer zur Zeit noch äußerst mangelhaften Schulbildung nicht einer längeren und gründlichern Vorbereitung für ihren so äußerst wichtigen Beruf als der Mann bedürften!

Soll die Menschheit anders und besser werden, so muß man auf die Erziehung der Menschen in ihren ersten Lebensjahren sein Hauptaugenmerk richten, denn in diesen Jahren wird der Grund für das ganze übrige Leben gelegt, und alles Gute und Schlechte, was der Erwachsene thut, verdankt er seiner ersten Jugend. Die Unmasse der verschiedensten Aberglauben und Glauben, die Unzahl der Unarten und Laster stammt aus der frühesten Kindheit; Nichts davon ist angeboren, Alles anerzogen.

Man trenne sich doch ja endlich einmal von dem Gedanken, daß der Verstand beim Kinde später schon noch kommt und mit dem Verstande auch der Sinn für das Gute, die Tugend. Damit ist’s nichts. Vom ersten Augenblicke des Lebens an beginnt schon mit Hülfe der Eindrücke durch die Sinne und das Gefühl innerhalb des Gehirns die Entwickelung des Selbstbewußtseins, des Verstandes, des Gemüthes und Willens, und ganz allmählich schreiten bei richtiger Uebung und Gewöhnung diese sogen. geistigen Thätigkeiten und die damit innig verbundenen moralischen Eigenschaften ihrer Vervollkommnung zu, während sie bei falscher Anregung in Folge unpassender Eindrücke zum Bösen ausarten.

Das Hauptgesetz bei der geistigen und moralischen Erziehung des Menschen läßt sich mit wenigen Worten ausdrücken und lautet: man halte Alles vom Kinde ab, an was es sich nicht gewöhnen soll, und wiederhole dagegen beharrlich das, was ihm zur andern Natur werden soll. Man bedenke dabei stets, daß das Kind zunächst vorzugsweise durch Nachahmung lernt, ebenso Schlechtes wie Gutes, und deshalb sorge man für gute Vorbilder. Erziehen Eltern von mehreren Kindern das erste Kind nur recht gut, dann wird dieses den andern als gutes Vorbild dienen und den Eltern das so schwierige Geschäft der Erziehung sehr erleichtern.

Was die körperliche Behandlung des kleinen Kindes betrifft, so ist vor Allem auf die richtige Ernährung durch passende Nahrungsmittel, auf ordentliches Athmen in guter (reiner, warmer) Luft und auf naturgemäße Pflege der Haut und Sinne zu achten.

Nach diesen wenigen, aber die Hauptregeln der Erziehung enthaltenden Vorbemerkungen wenden wir uns nun zu den Kinderwärterinnen (Ammen, Muhmen und Kindermädchen). Sie sind es leider, die in den meisten Familien dem Kinde als Vorbilder und [264] Erzieher dienen müssen, denen das Kind ebenso seine guten wie schlechten Eigenschaften, und in den allermeisten Fällen auch seine Gesundheit wie Krankheit zu verdanken hat, weil sie es sind, mit denen das Kind die meiste Zeit umgehen muß. Würden die Mütter ihre Kinder überhaupt so wenig als nur möglich Wärterinnen anvertrauen, oder würden sie wenigstens in der Wahl und Beaufsichtigung derselben gewissenhafter zu Werke gehen, sicherlich würden sie, vorausgesetzt nämlich, daß die Mütter selbst verständig und zum Erziehen reif genug wären, an ihren Kindern weit mehr Freude erleben, als dies zur Zeit der Fall ist. – Furcht, Ekel, leichtes Erschrecken, Aberglauben, falsche Gemüthsstimmungen sind bei Kindern schlechte Angewöhnungen, die sich in der Regel, ebenso wie üble Gebehrden, durch Nachahmung von der Wärterin (oft freilich auch von den Eltern) auf das Kind übergetragen haben und in den späteren Lebensjahren nicht so leicht wieder abzugewöhnen sind, die sich übrigenn die Meisten auch gar nicht abzugewöhnen bestreben, da man dieselben als angeboren, ererbt, mit der Mutter- oder Ammenmilch eingesogen, als Folgen der Constitution (besonders der nervösen) oder des Temperamentes (zumal des reizbaren, sanguinischen, cholerischen) und deshalb als unabänderlich ansieht.

Eine mürrische oder traurige, mundfaule, brummige Kindermuhme wird ganz gewiß aus ihrem Pflegling, der ja seiner Pflegerin Alles nachmacht, kein freundlich-lächelndes, jauchzend-zappelndes Kind erziehen, wie dies ein redseliges, heiteres, mit dem Kinde scherzendes und tanzendes, singendes Kindermädchen thut. Freundlichkeit in der Stimme und Miene, im Blick und überhaupt im ganzen Benehmen gegen das Kind ist deshalb ein Haupterforderniß einer guten Wärterin, denn diese Freundlichkeit übt den größten Einfluß auf die Entwickelung des Gemüthes im Kinde aus. – Eine Wärterin, die vor Spinnen, Raupen, Würmern, Mäusen und dergl. Thierchen unter den Gebehrden des Schreckens oder Ekels Widerwillen zeigt, wird sehr bald auch im anvertrauten Kinde diesen unverständigen Widerwillen erzeugen; ebenso wie die Furcht vor Gewitter, Finsterniß, Alleinsein u. dgl. recht leicht dem Kinde durch seine Umgebung angewöhnt werden kann. – Es ist ferner für die Entwickelung des musikalischen Gehörs und der Liebe zur Musik gar nicht egal, ob ein Kind von einem jungen, melodisch und reinsingenden Trinchen, oder von einer alten, heiser und mißtönig krächzenden Trine gewartet wird, ob es öfters einen alten verstimmten Klimperkasten oder ein gutes Instrument spielen hört.

Sehr gefehlt wird von den Erziehern und Wärterinnen kleiner Kinder während der Entwickelung und Ausbildung der Sprache, die ja nur durch das Nachahmen des gehörten Vorgesprochenen zu Stande kommt. Anstatt durch deutliches und richtiges Vorsprechen, sowie durch gleichzeitiges Vorzeigen der eben genannten Gegenstände, Laut und Vorstellung in inniger Verbindung mit einander dem Gehirne ordentlich einzuprägen, verunstaltet man die meisten Worte und lehrt dem Kind ein Kauderwälsch, welches sich nur schwer wieder abgewöhnen läßt. – Ebenso werden leider nur zu häufig kleinen Kindern durch ungebildete Dienstleute schlechte Redensarten und Heucheleien beigebracht, die anfangs sogar von den Eltern dem klugen Kinde als possirliche angerechnet werden, später aber, wenn das Kind allmählich verständiger wird, zu groben Fehlern heranwachsen.

Der häufigste Grund zur Verziehung des Kindes, vorzugsweise zur Entwickelung des Eigensinnes, wird durch das Herumtragen, Schaukeln, Wiegen und Einsingen gelegt, weil diese Bewegungen im Kinde allmählich ein Behaglichkeitsgefühl erzeugen, welches, wenn es nicht befriedigt wird, dasselbe zum Schreien veranlaßt. So entwickelt sich nach und nach beim Kinde die Gewohnheit, durch Schreien die Erfüllung seiner Wünsche zu erzwingen, und es kommt dann, wenn die Eltern und Wärterinnen so schwach sind, diesem Eigensinn des schreienden Kindes nachzugeben, recht bald dahin, daß das Kind bei jeder Verweigerung seines Willenn trotzt, starrt, bis zum Steckenbleiben schreit und unbändig wird, was schwache Eltern wohl gar noch für krampfhaft erklären und vom Arzte mit Medicin wegcurirt haben wollen. Jetzt soll nun erst mit Schlägen eine Unart aus dem Kinde vertrieben werden, die in Folge der früheren verkehrten Erziehung (Gewöhnung) sich bilden mußte. Verdienten nicht weit mehr die Eltern als das Kind diese Schläge?

Wie das trotzige Schreien eines Kindes zum Erzwingen des Gewünschten, sodann die Bildung des widerwärtigsten Eigensinnes und selbst Jähzornes die Folge eines anfangs scheinbar ganz unschuldigen Gebahrens des Kindes und Nachgebens von Seiten der Erzieher ist, ebenso entwickeln sich die schimpflichen Laster des Heuchelns, Lügens und Stehlens meistens aus einem „niedlichen“ Gethue den Kindes, wofür es nämlich die Erzieher ansehen. Ja als schon recht klug und verständig bewundern sie das Kind, wenn es sich, allerdings oft auf recht komische Weise, verstellt, oder eine scherzhafte Unwahrheit sagt, oder mit List Etwas unrechtmäßig an sich bringt. Aber diese den Eltern gar nicht selten große Freude bereitenden Thaten im ersten Kindesalter sind es, welche mit dem Kinde zu Unthaten heranwachsen, die durch die Schule nicht mehr zu tilgen sind und den Eltern später das Herz brechen. Jedoch sind solche Eltern stets weit entfernt, sich selbst die Schuld an der Verworfenheit ihrer erwachsenen und der erduldeten falschen Erziehung wegen mehr beklagens- als verdammenswerthen Kinder zuzuschreiben; sie betrachten das Nichtgerathensein eines Kindes als ein unverdientes Unglück oder die Lasterhaftigkeit wohl gar als ein unabänderliches Angeborensein.

Einem Kinde eine gute Erziehung zu geben, ist übrigens dann gar nicht so schwer, sobald man dasselbe von frühester Jugend an zum Gehorchen gewöhnt hat. Freilich läßt sich der Gehorsam dem Kinde nur durch die konsequenteste und gleichförmigste Behandlung beibringen. Man verbiete nicht zuviel und Unerhebliches, überhaupt Nichts, was man nicht wirklich hindern kann, und niemals im Scherze oder mit Lachen, oder im Zorne mit heftigen Gebehrden, sondern ruhig und mit wenigen Worten. Was dem Kinde einmal befohlen wurde, muß es vollziehen und jedem Verbote muß es sofort Folge leisten; was sich das Kind nicht angewöhnen soll, aber doch thut, darf demselben nicht blos manchmal (wie es gerade die Laune der Mutter und Erzieherin mit sich bringt), sondern muß stets, wenn es geschieht, verboten werden, bis ihm endlich dieses unrechte Thun und Treiben ganz unmöglich wird. Den Gehorsam des Kindes zu erbitten und zu erschmeicheln oder wohl gar durch Versprechungen und Belohnungen zu erlangen, ist ein großer Fehler bei der Erziehung. Ueberhaupt versehen es die meisten Mütter darin, daß sie über ein ganz unschuldigen Gebahren des Kindes, wie über das zufällige Beschmutzen der Kleider und das Zerbrechen von Gegenständen, über lautes und lebhaftes Benehmen des Kindes während eines Besuches etc., lange Strafpredigten, oft in großem Zorne, halten, während sie wirklich unmoralische Vergehen stillschweigend zulassen. Man trifft’s in Familien wohl auch, daß stolze Mütter den Wärterinnen gar nicht erlauben, dem unartigen Sprößlinge Etwas zu verbieten, sodaß dieser recht bald in der Heuchelei so weit kommt, daß er unter den Augen der Eltern artig zu sein sich bestrebt, während er an den Dienstleuten sein Müthchen kühlt und so zu einem inhumanen, seine Untergebenen maltraitirenden, also verächtlichen Menschen heranwächst.

Kurz, zum Guten wie zum Schlechten wird beim Menschen der Keim in seiner ersten Jugendzeit gelegt (nicht etwa mit auf die Welt gebracht), uno dabei helfen die Wärterinnen getreulich mit.

Darum muß diesen, wie nächstens noch weiter besprochen werden soll, weit mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden, als dies zur Zeit geschieht.

Bock.


Der Proceß Leuthold.
Von Dr. J. D. H. Temme.
(Schluß.)

Nachdem Dr. A. mit der Mutter einig war, erhielt er durch diese ein Schreiben von der Tochter. Sie hielt sich zu ihrem Vergnügen bei einem Verwandten, Amtmann Hotz, in Bern auf, hieß es. Von da schrieb sie. Sie dankte ihm für die Sorgfalt, mit der er ihre Mutter behandle, wünschte ihren Dank ihm mündlich aussprechen zu können und bestellte ihn auf einen bestimmten Tag gegen Mitte [265] nach dem Bade Heinrichsbad bei St. Gallen. Er antwortete ihr, wie ihr entgegenkommendes Wohlwollen ihn rühre, und daß er an dem bestimmten Tage in Heinrichsbad sich einfinden werde. Er reiste mit der Frau Leuthold hin. Babette war aber nicht da. Man wartete drei Tage vergeblich auf sie. Am dritten traf endlich ein Brief an die Mutter von ihr ein, sie könne unmöglich kommen, weil ihrem Verwandten Hotz 80,000 Franken gestohlen seien.

In Zürich erhielt er dann bald nachher selbst einen Brief von ihr, des zärtlichsten Inhalts. „Theuerster Herr Doctor!“ Er möge ihr Ausbleiben im Heinrichsbade nicht falsch auslegen. In ihrem Inneren glühe es von Freundschaft, die an Liebe grenze. Sie habe nie geglaubt, daß die Sehnsucht nach einem theuren Freunde sie so quälen könne. Sie hoffe ihn bald zu sehen. „Verzeihen Sie meine zuvorkommende Gesinnung. Ihre Barbara Zollinger.“ Zärtliche Antworten folgten hin und her.

Zuletzt gegen Ende September kam eine Einladung nach Bern, in den Gasthof zum Bären. Dr. A. reiste mit der Frau Leuthold hin. Babette war aber wieder nicht da, und die Leuthold ging in ihre Wohnung allein, sie zu holen; A. mußte im Gasthofe zurück bleiben. Die Leuthold kam allein zurück, die Babette habe nicht mitkommen können; es sei ein junger Doctor da, der Absichten auf sie habe, und von dem sie sich nicht habe losmachen können. A. und die Leuthold blieben dennoch drei Tage zusammen in dem Gasthofe und lebten wohl. Am dritten Tage schickte sie ihn nach Thun, wohin sie mit der Tochter nachkommen werde; er mußte dort wieder um mehrere Tage warten. Endlich kam die Leuthold mit der Geliebten; es war ein hübsches, elegant gekleidetes junges Mädchen. Sie blieben die Nacht in Thun und fuhren am andern Tage nach Aeschi; dort wurden die jungen Leute bald einig, und es fand die Verlobung statt.

Die junge Braut mußte dann aber sofort verreisen, in Erbschaftsangelegenheiten nach Uster, wie man ihm sagte, wo im August der Oberst Kunz gestorben war, der Pathe der Braut „und noch mehr“. Sie reiste mit der Mutter ab; A. aber wurde nach Interlaken bestellt, wo er die Braut bald wiederfinden werde; sie kam zwar nicht, statt ihrer aber traf die Frau Leuthold wieder ein, und die Beiden blieben wieder beisammen. Die Babette werde in Bern zurückgehalten. Erst nach einiger Zeit langte endlich auch die Braut an, aber sie mußte bald in ihren Erbschaftsangelegenheiten wieder fort; A. und die Leuthold blieben allein in Interlaken zurück, und lebten da wohlauf und vergnügt im Hotel Ritschard, einem Gasthofe ersten Ranges; A. ließ sogar einen Freund hinkommen, in dessen Gesellschaft sie dann Reisen in dem schönen Berner Oberlande machten. Das lustige Reiseleben setzten A. und die Leuthold fort, nachdem der Freund sie wieder verlassen hatte, drei Wochen lang im Ganzen. Die Braut kam nicht zu ihnen zurück, obwohl mehrere telegraphische Depeschen von verschiedenen Seiten sie jedesmal vergeblich anmeldeten.

Als endlich Mitte October A. nach Zürich zurückkehrte, erfuhr er dort, daß eine Babette Zollinger gar nicht existire, daß die Leuthold gar keine Tochter habe, und daß die Person, die ihm als solche vorgestellt worden und mit der er sich verlobt, eine Weißnäherin Namens Anna Messerschmidt aus Zürich sei. Von wem er zuerst die Aufklärung erhalten hatte, erinnere ich mich nicht mehr ganz genau; entweder war es die Wittwe Suter, bei der die Messerschmidt wohnte, oder diese war es selbst. Die Suter behauptete nachher bei ihrer Vernehmung, sie sei es gewesen, und eine Confrontation hat darüber nicht stattgefunden. Gewiß ist, daß auch die Messerschmidt bei der ersten Gelegenheit, da er sie wieder sah, ihm Alles offen und aufrichtig bekannt hatte.

A., nachdem er von der mit ihm gespielten Komödie – oder wollen wir es einstweilen noch mit der Staatsanwaltschaft als Verbrechen des Betrugs bezeichnen? – Kenntniß hatte, wurde von der Leuthold nach Aarau bestellt, wo er dann unter der Drohung, er werde sie sonst mit ihrer ganzen Sippschaft einsperren lassen, von dem Weibe, die er noch immer für reich hielt, eine Entschädigung forderte. Sie stellte ihm ohne Schwierigkeit einen Schuldschein von 10,000 Fr. aus.

Das war im Wesentlichen die Aussage des Dr. A. auf die Befragung des Staatsanwalts. Er hatte sie, wie gesagt, vielfach leicht, lächelnd, selbst scherzend abgegeben. Das sollte anders werden. Das Kreuzverhör der Vertheidiger mit ihm begann.

„In welchem Verhältnisse,“ wurde er zuerst befragt, „er mit der Anna Messerschmidt geblieben, nachdem ihm schon Alles entdeckt sei?“ Der Vertheidiger der Messerschmidt las dabei einen Brief vor, den er, A., am 27. October an sie geschrieben, und in dem es hieß: „Geliebte Anna, ich berichte Dir, daß ich morgen um zehn Uhr nach Baden reise, um zu sehen, wie Wort gehalten wird. Ich hoffe, daß Du Schritte für Deinen Paß gethan hast, wie ich für den meinigen. Sei unverzagt und bleibe treu; zweifle nicht an mir, der ich Dich liebe“ u. s. w.

Seine Antwort sagte Folgendes: Er hatte ihr Alles verziehen. Er hatte sie selbst für betrogen gehalten. Er verlobte sich von Neuem mit ihr und redete mit ihr ab, daß sie zusammen nach Amerika gehen wollten, da er doch hier einmal in eine „schandvolle Lage“ gekommen sei. Darum jener Brief und die Besorgung der Pässe. Das war zu der Zeit, als er die Schuldverschreibung über 10,000 Fr. von der Leuthold hatte und diese noch für reich hielt. Als aber darauf die Leuthold wegen des Weidmann’schen Betrugs in Untersuchung gerieth und nun ihre Verhältnisse bekannt wurden, da brach er auch das mit dem Mädchen kaum wieder angeknüpfte Verhältniß wieder ab, und er konnte, trotz der „schandvollen Lage“, in die er hier gerathen war, hier in seiner bisherigen Stellung als Assistenzarzt verbleiben.

„Ob er schon früher verlobt gewesen?“ wurde er gefragt. Er mußte Ja sagen. Er war seit Jahren mit einem braven Mädchen in seiner Heimath verlobt gewesen. Er hatte das Verhältniß aufgelöst, als ihm eine gemeine Betrügerin die erste beste Person zuführte, unter der Vorspiegelung von Geld, unter eben so frechen wie lächerlichen weiteren Vorspiegelungen und Schwindeleien. Er hatte das Verhältniß aufgelöst, ohne einen Grund angeben zu können, obwohl von Freunden ermahnt und verwarnt, ja obwohl –

„Auf wessen Kosten er seine Studien vollendet und sein Doktorexamen gemacht habe?“ fragte ihn der Vertheidiger.

Der Vater seiner Braut hatte ihm, der keine Mittel besaß, 900 Fr. dazu hergegeben. Er mußte es selbst sagen vor dem Gericht, vor den Geschworenen, vor allen den Leuten. Und er hatte diese Braut verlassen, unglücklich gemacht, das Geld hatte er nicht zurückerstattet, konnte er nicht zurückerstatten. Ein Gemurmel der Entrüstung erfüllte den Gerichtssaal.

„Wußte die Messerschmidt von dem Verhältniß zu Ihrer Braut?“ fragte der Vertheidiger. Es war die Zeit gemeint, da A., nach Mittheilung des Betrugs, sich zum zweiten Male mit der Messerschmidt verlobt halte.

Der Zeuge mußte „Ja“ antworten.

„Und was that sie?“

„Sie wollte zurücktreten.“

Und die Messerschmidt saß auf der Anklagebank, und er auf dem Zeugenstuhle! Aber freilich, eine andere Anklage, als der Staatsanwalt gegen ihn anstellen konnte, hatte schon gegen ihn begonnen und wurde immer weiter geführt, und die Strafe ereilte ihn schon während und mit dieser Anklage.

„Wie lange die Reise mit der Frau Leuthold und theilweise der Messerschmidt nach Thun, Interlaken und weiter in das Berner Oberland gedauert habe?“ fragte ein anderer Vertheidiger.

„Drei Wochen.“

„Ob die Reise viel Geld gekostet?“

„Zwölfhundert Franken.“

„Wer das Geld bezahlt habe?“

„Die Frau Leuthold.“

Sie waren auf den Eisenbahnen in der ersten Classe gefahren; sie hatten in den Gasthöfen ersten Ranges logirt. Sie hatten sich nichts abgehen lassen, meist der Herr Doctor mit der Frau Leuthold allein. Sie hatte ihm eine vollgespickte Börse zum Bezahlen der Reisekosten übergeben. Er hatte ihren Leibarzt und Reisemarschall gemacht, und noch mehr. So war das Geld des armen Weidmann verpraßt, der unterdeß schon angefangen hatte, mit Weib und Kindern zu hungern, um die Geld- und Lustgier des nichtswürdigen Weibes noch immer mehr befriedigen zu können. Freilich der Teufel der Habsucht hier und da!

„Ob ihm die Leuthold nicht auch Geschenke gemacht?“ fragte wieder ein anderer Vertheidiger den A.

Er mußte es einräumen; er hatte von der Frau erhalten: neue Kleider, Tabatieren, goldene Hemdknöpfe, zwölf feine Battisthemden, Foulards, einen goldenen Ring, eine silberne Cigarrenspitze, baar Geld, zusammen über 1000 Fr. werth. Ein Theil [266] war ihm im Namen der Messerschmidt übersandt worden, wenn er in deren Namen Briefe erhielt.

In dem Gerichtssaale verbreitete sich das Gerücht, der Zeuge habe sogar die Frechheit gehabt, gerade in der Kleidung hier vor Gericht zu erscheinen, die er von der Leuthold zum Geschenk angenommen habe.

„Von wem der Rock sei, den er da trage?“ fragte ihn ein anderer Vertheidiger.

„Von der Frau Leuthold,“ mußte er antworten.

„Auch die Beinkleider?“

„Ja.“

„Ich habe genug,“ sagte der Vertheidiger, und nur Blicke der Verachtung trafen den Zeugen.

Er hätte auf die letzten Fragen nicht zu antworten brauchen, aber er hatte den Kopf verloren unter der Wucht, mit der ihn vernichtend die sittliche Strafe des Volksgerichts traf. Mit dem Gefühle seiner Vernichtung verließ er den Zeugenstuhl und den Saal.

Nach ihm wurden noch ein paar andere weniger erhebliche Zeugnisse erhoben. Dann begannen die Vernehmungen der Angeklagten über den Fall.

Die Frau Leuthold räumte die ihr zur Last gelegten Thatsachen ein, fand aber kein Verbrechen darin. Sie wollte die ganze Sache mit den Eheleuten Kambli verabredet haben; die Frau Kambli habe ihr auch die Anna Messerschmidt als brauchbare Person zugewiesen. Im Kambli’schen Hause sei die Messerschmidt für ihre Rolle instruirt, angekleidet und aufgeputzt worden, die Frau Kambli selbst habe noch Sachen dazu zusammengeholt. Er, der Kambli, habe die telegraphischen Depeschen nach Interlaken besorgt.

Die Eheleute Kambli bestritten, von dem Plane und der ganzen Komödie der Leuthold irgend etwas gewußt zu haben. Die Frau Kambli wollte ihr auch die Messerschmidt nicht zugewiesen haben; das sei von der Witwe Suter geschehen, bei der die Messerschmidt gewohnt und die eine Jugendfreundin der Leuthold sei. Die übrigen Bezichtigungen der Leuthold räumten beide Eheleute Kambli ein, aber sie wollten nicht gewußt haben, um was es sich handle; die Leuthold habe ihnen vielmehr nur gesagt, es handle sich um eine Commission, die die Messerschmidt bei vornehmen Leuten ausrichten solle.

Die Frau Suter wollte von gar nichts wissen; sie gab nur zu, daß sie die Leuthold in ihrer Jugend gekannt, und daß die Messerschmidt bei ihr gewohnt habe und jetzt wieder bei ihr wohne. Sobald sie – wie ich meine, von dieser selbst – die Geschichte erfahren, habe sie dieselbe von der Fortsetzung abgemahnt, und auch sie habe zuerst den Dr. A. über Alles aufgeklärt.

Die Messerschmidt bekannte offen die ganze Komödie oder Betrügerei. Die Leuthold habe sie aber erst auf dem Wege nach Bern unterrichtet, mit folgendem Vorgeben: Sie habe eine Tochter in Bern, mit dieser wolle sie einen armen jungen Mann, den Dr. A., glücklich machen; sie, die Messerschmidt, solle einstweilen die Rolle dieser Tochter spielen, bis es ihr, der Leuthold, gelungen sein werde, das Verhältniß ihrer Tochter zu einem reichen Manne, mit dem sie verlobt sei, zu trennen. Die Messerschmidt hatte, zugleich gegen das Versprechen, daß auch sie glücklich gemacht werden solle, die Rolle, in der sie nichts Verbrecherisches fand, übernommen. Sie hatte dem A., der ihr ebenfalls gefallen, und dessen frühere Verlobung sie erst später erfahren, schon in Thun und Interlaken Alles entdecken wollen, die Leuthold hatte sie aber keinen Augenblick mit ihm allein gelassen. In Zürich hatte sie ihm nachher sogleich Alles mitgetheilt. Die Messerschmidt mochte ein leichtsinniges Mädchen sein; sie war unverkennbar ein ehrliches und gutmütiges Geschöpf. Sie machte einen günstigen Eindruck, man interessirte sich fast allgemein für sie.

Nach den Vernehmungen der Angeklagten folgten die Plaidoyers des Staatsanwalts und der sämmtlichen Vertheidiger über alle zur Verhandlung gekommenen Verbrechen. Die Reden waren geschickt, leidenschaftslos; einzelne Vertheidiger redeten meisterhaft. Der Präsident gab ein bündiges, klares, völlig unparteiisches Resumé; er verlas dann die von den Geschworenen zu beantwortenden Fragen.

Eine der nichtsnutzigsten, verwirrendsten und schädlichsten Proceßinstitutionen ist das System der Fragestellung an die Geschworenen in dem französischen Strafprocesse. Es ist in die deutschen Strafproceßgesetze übergegangen. Anstatt, wie es die Natur des ganzen Geschworeneninstitutes nothwendig mit sich bringt, und wie es auch im englischen Processe geschieht, die Geschworenen einfach die Frage beantworten zu lassen: ob der Angeklagte des angeklagten Verbrechens (Mord, Diebstahl, Betrug u. s. w.) schuldig sei, wird die That, die das Verbrechen bilden soll, in möglich viele einzelne Momente, Thatsachen und Thatsächelchen zerlegt, mit allen möglichen Einschachtelungen, Alternativen, Eventualitäten, Spitzfindigkeiten und Haarspaltereien, daß oft den Richtern selbst und den Staatsanwälten und Vertheidigern wüst und wirr darüber im Kopfe wird, und die Geschworenen gar nicht mehr wissen, wo ihnen der Kopf steht. Da werden oft achtzig bis hundert solcher Fragen ausgestellt, wo eine einzige zureichte und in England zureicht. Das nennt man Recht, und es geschieht, damit den Geschworenen, den Volksrichtern, ja nicht zu viele Macht eingeräumt werde. Der alte Napoleon wußte wohl, was er that, als er den Franzosen das Scheinbild eines liberalen Strafprocesses gab.

Das Züricher Strafproceßgesetz hat jenes einfache und richtige englische System der Fragestellung aufgenommen. Den Geschworenen wurde über jedes der einzelnen verhandelten Verbrechen nur eine Frage vorgelegt.

Sie gingen in ihr Berathungszimmer. Das Publicum war wesentlich nur in einer Beziehung auf ihr Verdict gespannt. Ueber den Hauptbetrug, – an Weidmann verübt, – hatten die Geschworenen gegen die Hauptverbrecherin, – Frau Leuthold, – kein Verdict abzugeben; daß der Ehemann Leuthold werde für schuldig erklärt werden, bezweifelte man nicht; es konnte sich nur fragen, bis auf welchen Betrag; die Frage war untergeordnet.

Der Knecht’sche Fall hatte nur ein theoretisch-juristisches Interesse, und richtig bemerkte ihr Vertheidiger, in Beziehung der Leuthold sei es gleichgültig, ob sie den Fall auf ihre ohnehin schon große Rechnung nehmen müsse oder nicht, es komme aber auf das Recht an.

Mit großem, allgemeinem Interesse wurde aber der Entscheidung des sog. Betrugs gegen den Dr. A. entgegengesehen, bei dem zugleich vier, außerdem straflose Personen betheiligt waren. Das Züricher Strafgesetzbuch faßt zwar, wie oben bemerkt wurde, im §. 239 den Begriff des Betrugs sehr weit auf, und es rechnet unter denselben ausdrücklich im §. 256 als „unbenannten Betrug“: „Vergehen, welche zu keiner der in diesem Gesetzbuche besonders benannten Arten des Betruges gehören, allein unter die Bestimmungen des §. 239 fallen, sollen mit der Strafe derjenigen Art belegt werden, mit der sie, nach dem Ermessen des Richters, am meisten verwandt sind.“ Und als solcher unbenannter Betrug war die That angeklagt.

Allein der §. 239, der danach der zuletzt entscheidende bleiben soll, fordert immer eine zum Nachtheil der Rechte eines Anderen unternommene Täuschung, und da fragte sich denn mit Recht Jeder, welches Recht des Dr. A. denn in Nachtheil oder nur in Gefahr gebracht worden sei. Die Vertheidiger gingen alle möglichen Rechte des Mannes durch. Daß ein Vermögensbetrug nicht vorliege, habe die Staatsanwaltschaft selbst anerkannt, indem sie eben auf unbenannten Betrug geklagt habe; auch habe klar der Dr. A. keinen Vermögensschaden, vielmehr mancherlei pecuniäre Vortheile bei und von der Geschichte gehabt. Auch ein Betrug in Bezug auf den Familienstand habe nicht stattgefunden. Das Gesetz erfordere dazu rechtswidrige Veränderung oder Unterdrückung des Familienstandes eines Menschen. Möglicherweise könne man daran hier nur bezüglich der Messerschmidt denken, die sei ja aber Angeklagte und nicht Beschädigte. Wolle man etwa speciell eine betrügliche Verleitung zur Ehe annehmen? Weder die Leuthold, noch die Messerschmidt, noch irgend ein Anderer habe nur im Entferntesten ernstlich daran gedacht, den A. mit der Messerschmidt zu verheirathen. Die Leuthold habe nur den jungen Mann an sich fesseln und mit ihm allein ungestört und in Freuden ein paar Wochen in der Welt umherreisen wollen; die Anderen hätten nur an einen Scherz gedacht. Welches Recht des Dr. A. sei dann verletzt? Sein Leben, seine Gesundheit war nicht in Gefahr. Seine Keuschheit? Oder vielleicht seine Ehre? Es sei ein schlechter Scherz, eine heillose Posse mit ihm gespielt. „Wenn aber für alle Männer, denen das passirt, eine Criminalklage erhoben werden soll, dann müssen wir uns hier permanent erklären.“ Habe wirklich die Ehre des Dr. A. gelitten, so habe er sie selber vernichtet. Er habe sich roh, gemein, habsüchtig benommen; er habe seine Braut, die Jugendfreundin, verlassen, um Millionen zu heirathen; als es mit den Millionen nichts geworden, habe er sich [267] an die 10,000 Fr. gehalten und der Messerschmidt die Ehe versprochen, um auch sie wieder sitzen zu lassen. Gewiß schütze der Staat auch ideale Güter, aber der Dr. A. habe nur sich selbst entehrt; und die Genossen dieser Selbstentehrung säßen auf der Anklagebank? Es bleibe erdenklich nur ein Recht auf Wahrheit übrig. Ein solches Recht gebe aber das Leben nicht, mithin könne das Gesetz es nicht durch Strafe schützen. Es sei schön, wenn alle Menschen nur die Wahrheit sagen möchten. Aber jeden Lügner zu einem Criminalverbrecher machen? Ueberdies verlange das Gesetz zum Betruge ausdrücklich eine Täuschung zum Nachtheile fremder Rechte; also neben der Wahrheit noch eine besondere Rechtsverletzung.

Der Vertheidiger der Messerschmidt hatte für diese noch besonders hervorgehoben, daß sie in keiner Weise auch nur unanständig bei der Sache sich benommen habe, sowie daß sie auch bisher in gutem Rufe gestanden.

Die Geschworenen beriethen lange und kehrten mit folgendem Verdicte zurück:

„Der Ehemann Leuthold sei schuldig der Theilnahme des Betrugs gegen Weidmann, jedoch nur zu einem Betrage von 100 bis zu 800 Fr.

„Dir Ehefrau Leuthold sei schuldig des Betrugs gegen Knecht und gegen den Dr. A. (Der anderen Betrügereien hatte sie sich selbst schuldig bekannt, die Geschworenen hatten daher kein Verdict darüber.)

„Anna Messerschmidt sei schuldig der Theilnahme an dem Betruge gegen den Dr. A.“

Die drei anderen Angeklagten, die Eheleute Kambli und die Wittwe Suter, wurden nichtschuldig erklärt. In dem Saale gab sich vielfache Ueberraschung kund. In Betreff des Dr. A.’schen Falles hatte man überhaupt kein Schuldig erwartet, am wenigsten gegen die Anna Messerschmidt, unzweifelhaft die auch moralisch am wenigsten Compromittirte auf der Anklagebank, weit weniger, als die drei nicht schuldig Befundenen. Und gerade sie hatten die Geschworenen ausgesucht! sagte man.

Staatsanwalt und Vertheidiger plaidirten noch über das Strafmaß. Der Staatsanwalt beantragte gegen die Frau Leuthold zwölf Jahre Zuchthausstrafe. Das Weib hatte bis dahin ihre unerschütterliche äußere Ruhe bewahrt. Die Aussicht auf eine so schwere und lange Strafe versetzte sie in große Aufregung; sie konnte lautem und heftigem Weinen und Schluchzen nicht gebieten. Ihr Mann blieb nach wie vor freundlich und stumpf.

Psychologisch interessant war das Benehmen der Anna Messerschmidt. Sie hatte während der ganzen zweitägigen Verhandlung sich sehr ernst, ehrbar, bescheiden und äußerlich ruhig benommen. Nur als ihr Vertheidiger in seiner Rede hervorhob, daß sie die Unverdorbenste und am meisten zu Berücksichtigende in der Gesellschaft auf der Anklagebank sei, mußte sie lange und bitterlich weinen. Die Verkündigung des Wahrspruchs der Geschworenen hörte sie dann wieder äußerlich ruhig an; als sie darauf aber das Weinen der Frau Leuthold hörte, brachen auch ihre Thränen wieder hervor, und sie wurde erst wieder ruhig, als der Präsident des Gerichts ihr Strafurtheil verkündete. Sie war zu vier Wochen einfachem Gefängniß verurtheilt, worauf jedoch drei Wochen unverschuldeter Untersuchungsarrest angerechnet wurden, so daß sie nur noch acht Tage zu verbüßen hatte. Eine so geringe Strafe hatte sie wohl nicht erwartet. Die helle Freude stieg ihr in das Gesicht.

Der Ehemann Leuthold wurde zu achtzehn Monaten Gefängniß verurtheilt; er hörte es mit seinem vollen Gleichmuth an. Die Frau Leuthold erhielt eine Zuchthausstrafe von zehn Jahren. Sie wurde abgeführt, indem sie laut heulte. Mitleid begleitete sie nicht aus dem Saale.

Das Bedürfniß anderer Richter über die verbrecherische Schuld, als der von der Regierung angestellten und abhängigen ständigen Richter, hat sich vielfältig, auch in deutschen Ländern, gezeigt. Wo gar diese Richter unter dem Damoklesschwerte moderner Disciplinargesetze stehen, da ist das Bedürfniß in der That ein unabweisbares, wenn nicht das Recht und alles Vertrauen zu der Rechtspflege vernichtet werden sollen. Ich kenne aber kein bedenklicheres Surrogat für solche ständige Richter, als das moderne französisch-deutsche Geschworeneninstitut.

In der Schweiz, namentlich in Zürich, ist dieses Institut mehr der englischen Jury nachgebildet. Ich habe es hier dennoch immer mindestens für Luxus gehalten, da hier die Richter sämmtlich, vom untersten bis zum obersten, von und aus dem Volke, von dem gesammten Volke und aus allen Classen des Volkes, und nur auf wenige Jahre gewählt werden. Der Proceß Leuthold hat in meiner Ansicht mich – nicht irre gemacht.

Aber eins hätte ich beinahe vergessen. Der Mitangeklagte Kambli, der, wie bemerkt, schon früher bestraft worden, war damals auch auf mehrere Jahre zur Strafe der „Eingrenzung“ verurtheilt, einer Art von Stellung unter polizeiliche Aufsicht, so daß er ohne polizeiliche Erlaubniß die Grenzen seiner Kirchgemeinde nicht überschreiten durfte. Diese Eingrenzung bestand noch, als er im October v. J. Nachricht erhielt, daß es mit der Leuthold nicht ganz richtig stehe. Er hatte damals der Leuthold Geld geliehen; sie befand sich gerade in Bern, und um sein Geld zu retten, reiste er schleunigst nach Bern, ohne vorher jene polizeiliche Erlaubniß einzuholen. Hierfür wurde er der „Verletzung der Eingrenzung“ schuldig erklärt und zu zehn Tagen Gefängniß und 50 Fr. Buße verurtheilt.




Reisende.
Von Fr. Gerstäcker.
Mit Illustration von L. Loeffler.

Es gibt auf der Welt zwei Menschenclassen, die sich wesentlich von einander unterscheiden. Die Einen, besonders reich mit Sitzfleisch begabt, kleben an der Scholle, werden groß und alt dabei und sterben endlich, ohne von Gottes Erdboden mehr gesehen zu haben, als was sie eben nicht gut vermeiden konnten –: ihre unmittelbare Umgebung. Wie es draußen aussieht, glauben sie Anderen auf’s Wort; daß der Himmel sich auch noch über andere Länder, als die spannt, die ihren festen Horizont bilden, haben sie aus Büchern gelernt und sind mit diesem Bewußtsein zufrieden. In dem gewöhnlichen Kreislauf des Lebens arbeiten sie ihren steten Gang, und wenn man sie einmal in ihr letztes ruhiges Kämmerchen legt, können sie von den gehabten Strapatzen ordentlich ausruhen.

Und sind sie glücklich dabei? – warum nicht? Sie bilden sich um sich selbst ihre kleine, abgeschlossene Welt, mit Sorgen und Mühen genug für einen ganzen Erdtheil, wie mit Freuden hinlänglich für ihre Bedürfnisse, und begnügen sich damit, ein Halm in dem großen Aehrenfelde zu sein, das unser Schöpfer auf die Erde gesäet hat. Mit den Nachbar-Aehren können sie sich ja immer unterhalten, und am letzten Tage werden wir doch alle mitsammen ausgedroschen.

Die andere Gattung hat, mehr oder weniger, kein Sitzfleisch. Wie der Wandervogel durchstreift sie die Welt, bald in größeren, bald in kleineren Zügen, nach allen Richtungen; sie erkennt keine Grenzen an, hat deshalb aber auch großentheils keine ordentliche Heimath: sie ist nirgends Stammgast, und fliegt (an einen dünnen Faden gebunden, den die Polizei in Händen hält und Paß nennt) nach allen Seiten hin gar fröhlich aus.

Und ist die glücklich? – warum nicht? Jedenfalls wollen wir uns dieselbe einmal näher betrachten.

Diese letzte Gattung wird gewöhnlich – um sie von der anderen, die gar keinen Namen hat, zu unterscheiden – unter die etwas allgemeine Rubrik: Reisende gebracht. Das Wort „Reisende“ faßt aber viel zu verschiedene Begriffe in sich, um so ohne Weiteres verstanden zu werden. Es möchte deshalb nöthig sein, diese diversen Reisenden schärfer zu zergliedern.

Eigentlich versteht man unter dem Wort: Ein Reisender, wenn nicht das ganz bestimmte Adjektiv „armer“ dazu gesetzt wird, nur Länder- und Waaren-Reisende. Die Uebrigen sind, solange sie sich unterwegs befinden, Passagiere, sobald sie in einem Gasthaus einkehren, Fremde. Nur Länder- und Waaren- [268] Reisende behalten ihr Prädicat unter allen Umständen und Verhältnissen bei, und man versteht hier unter den Ersteren nur solche, die in einem wissenschaftlichen Interesse oder aus reiner Neugierde die Welt durchstreifen, während der „Waaren-Reisende“ in einem weit beschränkteren Kreis den Gegenstand oder die Waaren an den Mann zu bringen sucht, „in denen er macht“.

Um mit den Ersteren, als den unabhängigsten, zu beginnen, so haben Reisende, die in einem etwas großartigen Maßstab die Welt durchziehen – gleichgültig welchen Zweck sie dabei verfolgen – also solche, die sich an keine Grenzen kehren und, wie der Deutsche sagt, „immer fortgehen und nie wiederkommen“, das Vorurtheil der Menge vollständig zu ihren Gunsten.

Wer einen einzelnen Menschen oder eine Familie todtschlägt, heißt ein Mörder und wird entweder gehenkt oder zu Zuchthaus begnadigt – wer sie dagegen in Masse und zu Tausenden schlachtet, ist ein Held und wird erst nach seinem Tode (in Marmor) ausgehauen. Aehnlich so ist es mit den Reisenden.

Wer sich auf der Landstraße, in einem kleinen District ohne bestimmte Beschäftigung und Arbeit herumtreibt, heißt ein Landstreicher und gelangt in irgend eine Besserungsanstalt, oder wird auch, zum Besten des Nachbarstaates, einfach und in passender Begleitung über die Grenze geschafft. – Wer sich dagegen auf einem recht großen District, womöglich über die ganze Welt, ohne bestimmte Beschäftigung und Arbeit herumtreibt, heißt ein Reisender, und sogar die Polizei ist freundlich gegen ihn.

In Kattun.

Aber auch solcher Reisenden gibt es wieder verschiedene Arten und Classen. Einige ziehen über den ganzen Erdball, um jeden einzelnen Berg so genau auszumessen, als ob sie einen passenden Rock für ihn zuschneiden wollten; Andere sammeln Steine und Pflanzen, wieder Andere balgen Vögel ab, stopfen größere Thiere aus, blasen Fische und Spinnen auf und spießen Schmetterlinge und Käfer, um sie später in besonders dazu bestimmten Kasten durch einheimische Insecten getrocknet fressen zu lassen. Wieder Andere thun von alledem ein Wenig, oder auch gar Nichts; diese wollen nur sehen und genießen, und dabei die Welt „kennen lernen“; alle aber schreiben mehr oder minder dicke Bücher mit passenden oder unpassenden Illustrationen dazu, und ärgern sich nachher über Nachdrucker und literarische Diebe, die von ihnen doch nun einmal leben müssen.

Diese Art von Reisenden ist meist harmlos und wird nur in einzelnen seltenen Fällen durch eine krankhafte Wuth, irgend etwas vorzulesen, gefährlich. Selbst dann ist ihnen aber immer ziemlich leicht auszuweichen, während die zweite Art von Reisenden, die sogenannte Gattung der „commis voyageurs“ vollkommen unausweichlich ist.

Im Fechten.

Diese durchziehen besonders Europa nach allen Richtungen hin, brandschatzen dasselbe zum Besten der Hauptbücher ihrer Principale, wie ihrer eigenen Portemonnaies, und gehören dabei zu den unwiderstehlichsten und unausstehlichsten Exemplaren ihres Geschlechts.

Kenntlich sind sie sehr leicht an ihrem auf der Mitte des Kopfes gescheitelten Haar, an einem kleinen, elegant gearbeiteten und eigenthümlich geformten Lederkoffer, den ein Lohnlakai hinter ihnen her durch die Stadt trägt, wie überhaupt an ihrem ganzen faden Wesen. In Gesellschaft von Damen spielen sie dabei stets die Liebenswürdigen, in Gesellschaft von Herren erzählen sie nur unanständige Anekdoten, und untereinander prahlen sie mit dem Nutzen, den sie ihren Principalen bringen, die sonderbarer Weise alle zu den geizigsten, kurzsichtigsten und ungerechtesten Exemplaren des genus homo gehören.

Der commis voyageur fuhr früher nur in Einspännern, kannte alle Wirthshäuser an der ganzen Straße und war eigentlich der alleinige und unumschränkte Colporteur von Neuigkeiten und Anekdoten für sämmtliche kleine Städte und einzeln gelegene Wirthshäuser. Durch die Eisenbahnen hat sich das freilich bedeutend verändert. Der vermehrte Verkehr sendet jetzt seine Boten und Zeitungen nach allen Winkeln aus, und dem commis voyageur widerfährt es zuweilen, daß er nach Vortrag einer, wie er glaubt, nagelneuen Anekdote ein altes Heft der Fliegenden Blätter vorgezeigt bekommt, in dem er auch eine Illustration dazu findet. So fährt er jetzt meist mürrisch über die unpassende Gesellschaft, aber doch aus Sparsamkeitsrücksichten dritter Classe von einer Stadt zur anderen. Es versteht sich indeß von selber, daß dem Principal zweite Classe dafür verrechnet wird.

Die commis voyageurs machen in verschiedenen Artikeln, als da sind: in kurzen und langen Waaren, in Knöpfen, Wein, Kattunen, Schwertern, Lederwaaren, Glas, Scheeren, Stecknadeln und tausend anderen Gegenständen. So verschieden aber auch das Product, mit dem sie umgehen, so gleich und ähnlich sind sie sich im Ganzen untereinander, und wenn es einen Superlativ unter ihnen gibt, so bilden diesen nur die in Wein machenden, also die sogenannten und überall bekannten Weinreisenden. Es sind dieses die liederlichsten und unvermeidlichsten von Allen, und so hartnäckig sie Nachts in ihrem Hotel hinter Flaschen und Gläsern sitzen und keine frühere Polizeistunde als zwei oder drei Uhr Morgens anerkennen, so unabweislich sind sie, wo sie einem alten oder neu zu gewinnenden Kunden ihrer „weltberühmten Firma“ ein Faß saueren Weines aufhängen wollen – und auch wirklich aufhängen, denn sie gehen einmal nicht eher wieder fort. Doch ihr Charakter ist geschichtlich geworden und deshalb eine weitere Beschreibung derselben völlig unnöthig.

Ein so zahlreiches Corps nun diese commis voyageurs bilden, so haben sie doch noch, und zwar seit Errichtung der Eisenbahnen, eine neue Gattung beigefügt bekommen, und zwar: die Diplomaten, die wir jetzt nothwendig dieser Classe einreihen müssen. Die Diplomaten machen eben „in Politik“, wie Andere in Kattun, Band, Stecknadeln oder Wein, nur mit dem Unterschied, daß sie zweite Classe fahren und erste berechnen, nie auf ihre Principale schimpfen, überhaupt außerordentlich vorsichtig in ihren Ausdrücken sind, Alles „gewußt haben“ (wie sich erst später herausstellt), nie etwas verrathen und Adressen statt Preiscourante bei sich führen. Uebrigens stiften sie im Ganzen, bei einem vortrefflichen Gehalt und noch besseren Diäten, mehr Unheil als alle übrigen commis voyageurs (selbst inclusive Weinreisende) zusammen.

Gleich nach den Diplomaten, von diesen aber sehr verschieden, kommen wir zu den sogenannten „armen Reisenden“, eine sehr wunderliche und gemischte Menschenclasse, deren Existenz aber, im Gegensatz zu den vorigen, durch die Eisenbahn einen sehr bedeutenden [269] Stoß erhalten hat. Ihre Wirksamkeit konnte sie freilich nur erschweren, nicht vernichten.

Die „armen Reisenden“ gehören meist Alle dem Handwerkerstande an, denn liederliches Gesindel, das sich mit einem heugestopften Tornister bettelnd an Kreuzwegen herumtreibt und sich fälschlicher Weise für einen „armen Reisenden“ ausgibt, kann nur als ein Auswuchs des sonst gesundem, kräftigen Stammes betrachtet werden. Der wirkliche „armen Reisende“ hat in den letzten Tagen nie etwas Warmes gegessen, trägt seine Stiefeln statt an den Füßen oben auf dem Tornister, wodurch er stets auf dem einen Beine etwas hinkt, und nennt betteln in seiner Kunstsprache fechten – symbolisch dadurch vielleicht seinen ewigen und hartnäckigen Kampf mit dem Leben anzudeuten. Eine andere auffallende Eigenschaft an ihnen ist, daß sie in Gegenwart von anständig gekleideten Fremden stets äußerst schwermüthig und niedergedrückt aussehen, während sie unter ihres Gleichen und in der nächst zu erreichenden Schenke heiter und glücklich scheinen.

Auch ein Reisender.

Das Zeitalter vor der Erfindung der Eisenbahnen war indeß ihr goldenes, als noch Lohnkutscher und Extraposten die Landstraßen belebten, Frachtwagen ihre Tornister oft meilenweit trugen und sie selber, aus einer Arbeit entlassen, wochenlang dazu gebrauchten, ehe sie einen anderen Arbeitsort erreichen konnten.

Damals hatten sie keine Feinde auf der Welt, Postillone und Gensd’armen vielleicht ausgenommen. Bequem hinten auf dem Bedientenbock einer Extrapost stationiert, den Tornister neben sich, ein Knie über das andere geschlagen, die kurze, qualmende Pfeife im Munde, war die Chaussee ihre eigentliche Heimath, und an ihrem Lebenspfad standen zwei Reihen hochwüchsiger Pappeln – wie traurig hat sich das aber jetzt verändert.

Welcher Handwerksbursche kann jetzt noch bei einem Bahnzug hinten aufsitzen? und fahren die selbst in einem Coupé, wofür sie – etwas Unerhörtes im früheren Handwerksburschenleben – sogar bezahlen müssen, wo bleibt ihnen dann noch Zeit, das unterwegs so nöthige und unentbehrliche „Fechten“ zu besorgen? Ehe sie nur an irgend einer Station – auf denen überhaupt nie etwas gegeben wird – den Hut abgezogen und ein klägliches Gesicht geschnitten haben, pfeift die verwünschte Locomotive schon wieder, und jede weitere Hoffnung auf Erfolg ist erbarmungslos abgebrochen.

Außerdem existirt durch die Eisenbahnen gar keine Entfernung mehr zwischen Hauptstädten. Die Pappelalleen, neben denen sie hinsausen, fliegen wie Gespenster einer früheren, glücklicheren Zeit an ihnen vorüber, und der am Morgen kaum gepackte Tornister muß an dem nämlichen Abend schon wieder entlastet werden, die Beine unter einen neuen Arbeitstisch zu strecken, den Kampf mit einer frischen Meisterin aufzunehmen.

„Es wird Nichts besser auf der Welt,“ ist ein altes gutes deutsches Sprüchwort, und die „armen reisenden Handwerksburschen“ vor allen Anderen haben diesen traurigen Wahlspruch, unter der Fülle der Ereignisse, zu ihrem Motiv genommen.

Alle diese vorgenannten Classen nun könnten wir auch noch unter den Sammeltitel „Zweck-Reisende“ bringen, von denen wir zu den Vergnügungs-Reisenden übergehen würden, blieben nicht noch zwei Gattungen, die keinen eigentlichen, wenigstens keinen freiwilligen Zweck haben, und nie im Leben zum Vergnügen reisen würden.

Die Ersten sind die Postillone und Frachtfuhrleute und in neuerer Zeit die Conducteure, die Alle nur ein bestimmtes kurzes Ziel haben und dann umkehren, ihre Bahn von vorne zu beginnen. Früher machten die Frachtfuhrleute davon eine Ausnahme, indem sie, fast wie die Schiffscapitaine, eine gewisse Fracht für irgend einen entfernten Theil Deutschlands übernahmen und denselben auch, ob die Reise Wochen oder Monate dauerte, getreulich ablieferten. Jetzt erstreckt sich ihre Wirksamkeit höchstens von einer Eisenbahnlinie bis zur anderen, und wie bei Postillonen und Conducteuren liegt ihr Reiseziel innerhalb zweier Stationen – ein ewiges Kommen und Gehen, Abschiednehmen und Wiedersehen, wenn man in neuerer Zeit überhaupt noch von dem sentimentalen Abschiednehmen etwas Anderes beibehalten hätte, als vielleicht den Abschiedstrunk.

Derartige Angestellte könnte man auch füglich Zwangs-Reisende nennen, denn was einem Theile des Menschengeschlechts Erholung and Vergnügen gewährt, wird bei ihnen zur oft unangenehmen Pflicht, mit der sie Jahr aus Jahr ein dieselbe Strecke durchfliegen. Reisende kann man sie eigentlich gar nicht nennen, und doch sind sie stets auf Reisen, sind ununterbrochen unterwegs. Ja, sie lernen die Strecke, die sie hin und her fahren, so genau kennen, daß sie jeden Steinhaufen, jeden Baum und Strauch auswendig wissen, und vollständig competente Richter über das beste Bier in allen Gasthäusern oder Stationen auf eine Entfernung hin werden, über die man sonst nur brieflich Nachricht erhalten konnte.

Aber sie führen kein gemüthliches Leben, denn nicht umsonst hat die deutsche Sprache für das Wort Heimath gar keinen Plural. Es gibt eben für den Menschen nur eine Heimath, und wer, wie ein solcher Conducteur oder Postillion, sich zwei, drei oder noch mehr derselben gründen muß, um an den verschiedenen Orten, wo er gezwungen ist, seinen Rasttag zu halten, nothdürftig zu Hause zu sein, der entbehrt vor allen Dingen das größte und höchste Glück das der Mensch kennen sollte, das Glück des eigenen Heerdes. Wollten wir es recht genau nehmen, so wären das eigentlich die richtigen und einzigen „armen Reisenden.“

Zwangspassagier.

Noch gibt es eine Art von Zwangspassagieren, die eben wie die vorigen ein gegebenes Ziel haben; sie gehören aber einer unheimlichen Gattung des Menschengeschlechts an, und man trifft sie auch nie einzeln, sondern immer nur paarweis: den „Zwangspassagier“ mit zusammengebundenen Händen, seinen Gefährten mit Czackow oder Helm, Flinte und Seitengewehr. So sitzen sie in den Wartesälen dritter Classe, bis der nächste Zug kommt, mit Niemandem verkehrend, von Allen gemieden, und wenn die keuchende Locomotive hält, nimmt ein besonderes Coupé die Beiden auf, bis sie an irgend einer anderen Station plötzlich wieder verschwunden sind – still und unheimlich, wie sie gekommen. Reisende sind es freilich, wenn sie auch Beide gerade nicht zu „ihrem Vergnügen“ reisen.

Ehe wir aber zu den wirklichen Vergnügungsreisenden übergehen, gerathen wir auf ein Mittelding zwischen Vergnügen und Zweck, das gewissermaßen den Uebergang von einer Classe zur anderen [270] bildet. Es sind dies die Badereisenden, insofern der angebliche Zweck ihrer Reise oft weiter Nichts als nur ein Vorwand ist – eine Thatsache, die sich besonders bei der schönen Hälfte dieser Art von Reisenden nur zu häufig ergeben soll.

Der Ursprung wirklichen Bahnreisenden, d. h. solcher, die in der That genöthigt sind, zum Besten ihres maltraitirten Körpers eine Heilquelle aufzusuchen, verliert sich in das graue Alterthum, und die Meisten von ihnen verlangen, daß ein paar Gläser Wasser mit einem Dutzend warmer Bäder das wieder in drei oder vier Wochen aus dem Körper jagen soll, worauf elf Monate im Jahre mit allem nur erdenklichen Eifer gesündigt wurde. Trotz aller vergebens erhofften Erfolge aber bleiben die Versuche doch Jahr nach Jahr dieselben, und die Einbildungskraft muß dann ersetzen, was die Natur nicht im Stande war zu erreichen. Wenige Menschen haben soviel Phantasie, wie Badereisende.

(Schluß folgt.)


Erinnerungen an Wilhelmine Schröder-Devrient.
Von Claire von Glümer.
IV.

Mit der Scheidung trat Wilhelmine Schreiber-Devrient in die Sturm- und Drangperiode ihres Lebens ein. Während sich ihr ganzes Wesen in Kampf und Schmerz rasch entwickelte, wurde sie auch immer selbstbewußter in ihrem künstlerischen Schaffen; mehr und mehr offenbarte sich in ihr jene Gluth und Kraft, durch welche sie auf der Bühne wie im Leben so unwiderstehlich hinriß.

Um die Kunst war und blieb es ihr bis an’s Ende heiliger Ernst, und ihrem schöpferischen Genius kam der beharrlichste Fleiß zu Hülfe. Mit Entrüstung hörte sie die vielverbreitete Ansicht aussprechen, daß Talent und Genie nicht zu arbeiten brauchen.

„Es ist ja doch nur ein ewiges Suchen in der Kunst,“ sagte sie oft, „und der Künstler ist verloren, ist todt für die Kunst, sobald er sich dem Wahne hingibt, am Ziel zu sein. Bequem ist es freilich, mit dem Costüm die ganze Aufgabe abzustreifen und ruhen zu lassen, bis man sie nach Anordnung des Repertoirs wieder aufnehmen muß. Ich habe das nie gekonnt. Wie oft, wenn mir das Publicum seinen Beifall zujauchzte und mich mit Blumen überschüttete, bin ich beschämt in mein Kämmerlein gegangen und habe mich gefragt: Wilhelmine, was hast Du nun wieder gemacht? und dann hat es mir keine Ruhe gelassen; ich habe tagelang, nächtelang darüber nachgedacht, bis ich das Bessere gefunden hatte.“

Sehr empfindlich war die Künstlerin gegen die Verstöße und Unachtsamkeiten, durch welche der Schauspieler so oft die Illusionen des Publicums zerstört. Es empörte sie, wenn Rebecca den Schmuck, durch den sie ihre Rettung zu erkaufen versucht und von dem sie noch eben gesagt hat: „er ist von hohem Werth“, zu Boden fallen läßt, sobald sie seiner nicht mehr bedarf; oder wenn Agathe das Taschentuch, das sie als „Flagge der Liebe“ dem Geliebten entgegen wehen ließ, in die Coulisse wirft, wenn die Arie zu Ende ist. „Es fehlt diesen Leuten an Respect vor ihrer Kunst,“ sagte sie; „sonst könnten sie sich nicht in dieser Weise gegen sie versündigen.“

Bis in die geringsten Einzelheiten suchte sie sich ihre Aufgabe klar zu machen. Sie studirte nicht allein am Charakter der Musik, es genügte ihr nicht, die Handlung des Stückes, die Gestalten der Mitspielenden und vor allem das Wesen, das sie selber darstellen sollte, bis in die leiseste Nüance jeder Stimmung zu kennen, auch das äußere Beiwerk war ihr wichtig. Sie lernte fechten, um den Romeo geben zu können; sie forschte nach den Sitten des Landes und der Zeit, worin sich die Handlung jedes Stückes bewegte, nach den geselligen Formen der verschiedenen Stände, nach den häuslichen Gebräuchen, und ihr Costüm war immer aufs Genaueste dem Geist ihrer Rolle angepaßt.

Dabei wurde sie von dem richtigsten Instinct, dem feinsten Geschmack geleitet. Eine reich gekleidete, mit Schmuck überladene Agathe, eine Emmeline in Florschürze und seidenem Mieder, eine Norma oder Armida mit geschnürter Taille war ihr ein Gräuel. Gegen die Ristori, die sie nie gesehen hatte, war sie eingenommen, weil diese Künstlerin auf einem ihrer Bilder den antiken Gürtel mit der Spitze nach unten trägt. Es war Wilhelmine unbegreiflich, wie eine „gescheidte Frau“ solchen Verstoß begehen könnte. Sie wußte freilich ebenso genau um den Hochzeitsschmuck einer altdeutschen Bürgerstochter Bescheid, wie um das Priestergewand einer Vestalin und um die Tracht des Schweizermädchens, wie um den malerischen Anzug einer Jüdin aus dem 12. Jahrhundert.

Wenn sie die Agathe gab, trug sie im ersten Act ein schmuckloses, häusliches Kleid, wie sich’s für eine Försterstochter paßt. Um die Stirn hatte sie als Vorband ein weißes Tuch gelegt, um den Zuschauer an die Verwundung durch das herabstürzende Bild zu erinnern, von der wir heutzutage, bei der undeutlichen Aussprache der meisten Sängerinnen, kaum etwas erfahren. Erst zu Ende des Duetts mit Aennchen nahm sie das Tuch wieder ab. Im zweiten Act ließ sie das blonde Haar in langen Locken auf die Schultern fallen – ein Schmuck, der in alten Zeiten Vorrecht der Bräute war. – Ihr Kleid war von schlichtem weißen Stoff und altväterischem Schnitt, an die Zeit des 30jährigen Kriegs erinnernd, und die grüne Schärpe, die sie leicht um die Taille geschlungen hatte, bezeichnete ebenso graziös als zeitgemäß die deutsche Jägerbraut.

Als Emmeline erschien sie in einem Rock von grobem Wollenzeug, in einfachem rothen Mieder mit Hemdsärmeln von Leinwand. Dazu trug sie eine weite Schürze, bunte Strümpfe, die vom Knie zum Knöchel reichten, sodaß sie barfuß in ihren Lederschuhen stand, und das blonde Haar fiel in langen Zöpfen über den Rücken hinunter. Aber auch in dieser schmucklosen Tracht war sie von hinreißender Schönheit. Wenn sie im dritten Act am Fenster der Hütte erschien, die Hände gefaltet, die Augen in träumerischer Freude zum Himmel erhoben, sprach sich die Bewunderung des Publicums oft so stürmisch aus, daß sie eine ganze Weile wie im stummen Gebet dastehen mußte, ehe sie das Terzett:

Ach, wie herrlich ist der Morgen;
es verschwinden alle Sorgen!

beginnen konnte.

Ueber den Romeo sagt sie in einem Brief an Emmy La Grua, eine junge Sängerin, die sich, wie viele Andere, Rath und Belehrung suchend an sie gewendet hatte: „Die größte Schwierigkeit für die Darstellung dieser Rolle liegt darin, daß sie für eine Frau geschrieben wurde; die Künstlerin hat daher die ungeheuere Aufgabe, ihr Geschlecht vergessen zu machen und in Haltung, Bewegung, Stellung einen feurigen, von der ersten Liebesgluth durchdrungenen Jüngling darzustellen. Nichts darf ihr Geschlecht verrathen, soll die ganze Situation nicht lächerlich werden. Sie muß gehen, stehen, hinknieen wie ein Mann; sie muß den Degen ziehen und sich zum Kampfe anstellen wie ein geübter Fechter, und vor allen Dingen muß alles Weibische aus ihrem Costüm verbannt sein. Keine zierlichen Locken, kein eingezwängter Fuß, keine „schöne Taille“! Das Hutaufsetzen und Abnehmen, das Handschuh-Aus- und Anziehen ist nicht minder wichtig.“

Wie Wilhelmine Schröder-Devrient diese Aufgabe erfüllte, wird Jedem unvergeßlich sein, der sie darin bewundern durfte. Vom ersten Auftritt an, wo Romeo mit festem Schritt und trotzig erhobenem Kopfe an der Spitze seiner Krieger erscheint, um den Capuletti Frieden zu bieten, bis zu dem letzten Aufschrei im Todeskampfe, dem letzten Zusammensinken an Giulietta’s Sarge war sie in jedem Blick, in jedem Zucken der Lippe, in jeder Handbewegung der stolze Patriciersohn, der liebeglühende junge Held, den sie – Shakespeare nachdichtend – in die Bellinische Oper übertrug.

In dieser dichterischen Kraft, die ihr in einem Maße verliehen war, wie keiner anderen Bühnenkünstlerin, lag das Geheimniß ihrer Größe. Im Fidelio, in Donna Anna, in Gluck’s und Weber’s Opern, in allen Rollen, in die sie sich mit Bewunderung und Liebe versenkte, befähigte sie diese Kraft, sich jeder Intention des Meisters anzuschmiegen und Alles, was er gedacht, gefühlt, vielleicht nur geahnt hatte, so lebendig zu gestalten, daß die Darstellung das vollendetste Weiterschaffen im Sinn und Geist des Dichters, des Componisten war. Aber wurde ihr eine jener gehaltlosen Aufgaben zu Theil, wie sie in hundert alten und neuen Opern zu finden sind, so waren Dichtung und Handlung nur noch der Rahmen, in dem sich ihre Dichtung bewegte, und die Musik war nur das Idiom, in welchem sich ihre Freuden und Schmerzen, [271] ihre Sehnsucht oder Leidenschaft aussprach. Darum erschien selbst Bellini’s Musik gewaltig, wenn sie den Romeo sang.

Sie hat uns oft erzählt, wie ihr der Romeo – später eine ihrer Lieblingsrollen – „offenbart“ wurde. Die Capuletti und Montecchi wurden in Dresden zuerst von der italienischen Operngesellschaft gegeben. Signora Schiasetti gab den Romeo. Von einer längeren Urlaubsreise zurückkommend, hatte Wilhelmine die Oper einige Mal gesehen, hatte aber – so wenig wie das übrige Publicum – weder dem ungeschickten Text noch der seichten Musik Geschmack abgewinnen können. Plötzlich wurde ihr die Partie des Romeo mit dem Bemerken zugeschickt, daß sie dieselbe in acht Tagen für die erkrankte Signora Schiasetti singen müsse. Wilhelmine erschrak vor dieser Aufgabe; es erschien ihr fast unmöglich, die große Rolle in so kurzer Zeit, noch dazu in fremder Sprache, einzustudiren. Dennoch ging sie fleißig an’s Werk, und es gelang ihr, sich die Musik in der gegebenen Frist zu eigen zu machen. Aber die Gestalt, die sie darstellen sollte, war ihr fremd geblieben, sie konnte sich nicht dafür erwärmen, fühlte sich unsicher und war überzeugt, daß sie in dieser Stimmung wenig zu leisten vermöchte.

„Die Befangenheit verschwand zwar, sobald ich in’s Costüm kam,“ sagte sie, „aber statt dessen kam eine Art von Taumel über mich. Als der Vorhang zum letzten Male fiel, wußte ich nicht, was und wie ich gesungen und gespielt hatte. Das Publicum überschüttete mich mit Beifall, ich wußte nicht warum. Ich war wie im Traume. Statt, wie sonst, die Kleider zu wechseln, ließ ich mir nur den Mantel geben, fuhr nach Hause, warf mich – noch immer im Costüme Romeo’s – auf das Sopha und blieb dort, die Hände unter den Kopf gelegt und mit weit offenen Augen zur Decke starrend, bis fünf Uhr Morgens liegen.“

In diesen Stunden zog die Oper Scene auf Scene an der Künstlerin vorüber. Sie sah Romeo – ihren Romeo, wie er an diesem Abend das Publicum entzückt hatte – eine herrliche Jünglingsgestalt voll Feuer und Leben. Stolz, trotzig, aufbrausend dem Feinde gegenüber, liebeglühend im Verkehr mit Julia, aber auch hier unfähig, den stolzen Sinn zu beugen. Wie flammt er auf, als das Mädchen, sich nicht entschließen will, mit ihm zu fliehen! wie wendet er sich von ihr ab, stampft mit dem Fuße und preßt die übereinander geschlagenen Arme fest zusammen, als wäre er nur so im Stande, den Ausbruch seines Zorns zurückzuhalten!, Und doch ist die Liebe noch mächtiger als der Zorn. Singend bricht sie hervor mit dem innigen Flehen:

,Des Geliebten Glück und Leben
Sind in Deine Hand gegeben!“.

Er kann nicht leben ohne die Geliebte, er muß sie besitzen und wird den Kampf mit einer Welt nicht scheuen, um sie zu erringen.

Aber plötzlich heißt es: „sie ist todt!“ und nun bricht der junge Held zusammen. Mit dem herzzerreißenden Aufschrei „Giulietta“ wirft er sich zu Boden, als ihr Sarg vorüber getragen wird – und als er sich nach langer, langer Pause langsam aufrichtet, spricht sich’s in dem zum Himmel erhobenen Blick, den wie in Schmerz erstarrten Zügen, dem Zusammensinken der eben noch so kräftigen Gestalt unverkennbar aus, daß alle Saiten dieser tief und heftig fühlenden Seele zerrissen sind, daß Romeo nur im Tode Erlösung zu hoffen hat.

So tritt er, gebrochen und doch stark im Entschluß, zu sterben, in Julias Gruft. Aber die Jugend glaubt schwer an den Tod, die ganze Lebenskraft des Jünglings sträubt sich gegen die Schauer des Grabes. In jedem Wort, in jedem Ton seiner herzzerreißenden Klagen spricht sich das Grausen aus – leise anklingend in dem ersten Seufzer: „Hier ist ihr Grab!“ deutlicher in dem zagenden: „Oeffnet des Sarges Deckel, daß ich sie sehe!“ endlich in dem lauten in Thränen ersterbenden Jammerruf: „Wach’, o erwache bei meinen Klagetönen, Dich rufet, Dich rufet Dein Romeo!“ womit er sich über die Leiche der Geliebten hinwirft. Julia hört ihn nicht; sie bleibt starr und stumm, Romeo muß sterben!

Er trinkt das Gift. Mit verhülltem Gesicht steht er da, sieht nicht, wie Julia erwacht, umherblickt, ihn erkennt. Aus anderen Welten glaubt er ihre Stimme zu hören. Aber sie ruft noch einmal – er wendet sich, sie lebt! Mit vorgestreckten Händen stürzt er vorwärts – nur um einen Schritt, dann bleibt er stehen, wie versteinert vor Entsetzen. Aber nur für einen Augenblick. dann entringt sich ein Schmerzensschrei der tief athmenden Brust und mit dem verzweiflungsvollen Ausruf: „Du lebst!“ schließt er die Geliebte in die Arme. Er will nicht sterben. Noch einmal flammt alle Liebesgluth, alle Lebenskraft in ihm auf – aber der Tod gibt sein Opfer nicht los. Noch einmal umfaßt Romeo mit zitternden Händen das Haupt der Geliebten; noch einmal drückt er den Mund auf das bleiche Antlitz, dann sinkt er zurück, der Blick erlischt, und während das letzte matte Lächeln auf den Lippen erstarrt, greift die Hand wie im Traume nach den Blumen, die auf den Stufen zu Giulietta’s Sarge liegen.

„Als ich im Morgengrauen von meinem Lager aufstand“, erzählte Wilhelmine, „war mir der Romeo, wenn ich so sagen darf, in Blut und Leben übergegangen, und ich habe ihn seitdem mit Begeisterung gesungen.“

Fast immer war die Künstlerin während des Spiels so begeistert, daß ihre ganze Umgebung dadurch gleichsam belebt und vergeistigt wurde. Charakteristisch sind die Antworten, die Jenny Lind, Henriette Sontag und Wilhelmine Schröder-Devrient gaben, als sie gefragt wurden, wie sie bei ihren Darstellungen die Decorationen betrachteten. Jenny Lind sagte: „Für mich existiren keine Decorationen, ich weiß gar nicht, wozu sie da sind. Ich trete hinaus und weiß nicht anders, als daß ich singe, singen muß.“ Henriette Sontag erwiderte: „Ich sehe bei meinem Wirken die Decorationen stets als das an, was sie sind, aber ich bin bemüht, so gescheidt und so eifrig, als es mir möglich ist, sie zu meinen künstlerischen Zwecken zu benutzen. Ich denke und empfinde mich so lange in sie hinein, bis sie mich mit inspiriren können, doch nie so, daß ich mir dessen nicht mehr bewußt wäre.“ Wilhelmine Schröder-Devrient antwortete: „Das Alles ist mir freilich nur Kram und Plunder, aber das Zeug muß zu dem werden, was ich will. Es muß vergeistigt werden, bis es mir wirklich lebt, zu Gestalten wird. Im nächsten Augenblicke ist’s mir zwar wieder der nackte Plunder, aber im Moment haben mir doch wirklich die Bäume gerauscht, die Blumen geduftet, die Cascaden geschäumt, die Gestirne geleuchtet, die Gewitter geflammt und gedonnert. Wem das nicht geschehen kann, der kann selbst nicht flammen und donnern.“

Ging ihr durch zu häufige Wiederholung einer Oper die Illusion verloren, so mußte sie selbst ihre Lieblingsrollen eine Weile ruhen lassen. Wie französische Schauspieler hundert Mal hinter einander dieselbe Rolle ganz in derselben Weise und mit demselben Erfolge geben können, war ihr ein Räthsel. Als sie in London acht Mal hinter einander im Fidelio aufgetreten war, konnte sie ihn eine Weile nicht mehr singen, und daß ihr auch zu andern Zeiten ihre Aufgabe oft schwer geworden ist, spricht sich in ihren Tagebüchern aus. Einmal schreibt sie nach dem Fidelio:

„Das Räderwerk meiner Gefühle konnte heute nicht gehörig in Schwung kommen; es hackte und knarrte recht störend in Beethovens himmlische Harmonien! Unser abscheulich zugiger Musentempel[3], den ein höllisches Feuer verzehren möge – machte meinen ganzen Körper in bitterem Frost erbeben, und die physische Kälte ging über auf meine Seele, die heute wie ein wahrer Eiszapfen war, von dem die göttlichen Töne des Meisters nur einzelne, kaum erwärmte Tropfen loslösen konnten. Nicht immer schwingt sich die Begeisterung zur rechten Höhe. Die moralische Kraft fehlte mir heute, und an den kalten Seelen, die unser Publicum bilden, kann man sich auch nicht wärmen; da gibt es keinen Funken, trotz allem Daraufschlagen! Lederne Seelen!!“

Eine Lieblingsgeschichte der Künstlerin war, wie sie sich von der Aufgabe befreit hatte, in Halevy’s „Guido und Ginevra“ zu spielen. Sie hatte schon manchen häßlichen, unsinnigen Operntext, manche langweilige Composition überwunden, aber diese Ginevra ging über ihre Kräfte. Nachdem sie sich vergebens in Bitten und Vorstellungen erschöpft hatte, um die Aufführung der Oper zu verhindern, beschloß sie, das häßliche Stück „todt zu spielen“.

Im ersten Act trifft Ginevra von Medicis, Tochter des Herzogs Cosmo, ihren Geliebten, den Bildhauer Guido, bei einem ländlichen Feste. Die Sängerin Ricciarda, die den jungen Künstler ebenfalls liebt, wird eifersüchtig und fordert im zweiten Acte den Anführer der Landsknechte, Fortebraccio, auf, die Prinzessin zu ermorden. Er singt zwar erst:

„Sagt, wie kann man denn an Schätzen
Fröhlich sich ergötzen,
Wenn man hoch ohne Gnade
An dem Galgen schwebt?
Nein, ich will ganz bescheiden
Lieber Armuth leiden,
Und will huld’gen der Tugend,
Die mich stets belebt.“

[272] Gleich darauf läßt er sich aber durch einen Schmuck bestimmen, die Unthat zu vollführen. Er bringt der Prinzessin einen vergifteten Schleier, den sie auf der Stelle um ihr Haupt schlingt und der sogleich – während sie einem ländlichen Tanze zuschaut – seine Schuldigkeit thut. Mit dem Ausruf:

„Ha, wehe! welche Qual!
Ein ungeheurer Schmerz, er tobt in mir –
O sterben! – Ha, hinweg mit dem Schleier!“

fährt Ginevra empor. Fortebraccio erzählt dem erschrockenen Herzoge, daß ein Schiff vom schwarzen Meer den Schleier soeben nach Livorno gebracht hat. Der Haushofmeister Lorenzo fügt hinzu:

„Schon hat viel Opfer sich grausam die Pest gesucht,
„Und wer noch lebt, entweicht in wilder Flucht.“

worauf denn auch sämmtliches Hofpersonal und alle Landleute, die noch eben so fröhlich tanzten, das Weite suchen, indeß die arme Ginevra an den Folgen des Giftes verscheidet.

„Da starb ich denn wirklich einmal wie eine Vergiftete,“ sagte Wilhelmine; „ich machte die Sache mit Zuckungen und Grausen so überzeugend, daß nach Schluß des Actes der Intendant mit dem Arzt herbei gestürzt kam und angstvoll fragte: „„Um des Himmels willen, was ist Ihnen – sind Sie krank? das war ja fürchterlich!““ „Nein,“ gab ich ruhig zur Antwort, „krank bin ich nicht, ich sterbe nur an Gift, das ist nicht meine Schuld.“

Im dritten Acte wird Ginevra beigesetzt in einer finstern Gruft, deren Zugang eine Steinplatte verschließt. Aber das Gift ist nicht zureichend gewesen – sie erwacht, erinnert sich der Trauergesänge, die sie wie im Halbschlaf gehört hat, und bald wird ihr klar, daß sie „lebendig hier im öden Grabe“ dem gräßlichsten Tode entgegen geht. Eine Scene haarsträubender Verzweiflung beginnt. „Mit den Worten:

„O Qual sonder Gleichen,
Mitten unter Leichen
Hier im ew’gen Schweigen
Begraben zu sein!“

begann ich wie rasend in Entsetzen und Todesangst umher zu jammern“, erzählte die Künstlerin. „Ich kratzte mit den Händen an der Wand umher, zerraufte mein Haar, zerschlug mir die Brust. Es war so entsetzlich, daß der Hof mitten im Acte aufbrach und das Publicum in die äußerste Bestürzung gerieth. Der Intendant bat und fluchte, – ich blieb unerschütterlich. Warum gebt Ihr mir solche Dinge zu singen? es ist Eure Schuld, sagte ich. Nun habt Ihr was Ihr verdient, da Ihr eine Künstlerin zwingt, das Häßliche darzustellen.“ Die Rolle der Ginevra mußte einer andern Sängerin übertragen werden, und bald darauf wurde die Oper ganz vom Repertoir gestrichen.

Daß Wilhelmine Schröder-Devrient auch Rollen, die ihr nicht zusagten, zur Geltung bringen konnte, hat sie oft bewiesen, auch noch in ihrer letzten dramatischen Schöpfung, der Venus in Richard Wagners Tannhäuser. Mit Widerstreben, nur aus Gefälligkeit für den Componisten, den sie schätzte, übernahm sie die Partie, die für eine 43jährige Frau nicht paßte. „Ich weiß nichts aus der Rolle zu machen“, sagte sie. Und doch ist sie bis jetzt die einzige Sängerin, welche die zauberreiche Frau Venus der Sage darzustellen vermochte.




Blätter und Blüthen.


Endlich haben wir die Seeschlange doch? Wieder die alte Ente, die schon tausend Mal durch die Zeitungen geschwommen ist! So wird der Leser ausrufen, und wir können es ihm nicht verdenken. Bisher hatte man aber das räthselhafte Ungeheuer des Oceans immer nur gesehen, jetzt, so sagt man, ist es gefangen worden, und das würde einen Unterschied machen. Wir wollen die Sache erzählen: Vor der Küste von Nord-Carolina, etwa hundert und sechszig Meilen vom nordamerikanischen Festland entfernt, liegt im stürmischen Meer die Inselflur der Bermudas. Sie besteht zum großen Theil aus Korallenriffen; die Zahl der Inseln beträgt, genau gezählt, so viel als das Jahr Tage hat; aber nur fünf sind bewohnt, und unter ihnen ist Bermuda die größte; dort hat der englische Gouverneur seinen Sitz. In der Hafenstadt Hamilton erscheint ein Wochenblatt, „the Bermudian“, und dieses berichtet in seiner Nummer vom 25. Januar 1860 Folgendes: „Am Sonntag, 22. d. Monats, zwischen zehn und elf Uhr Morgens trieb in der Hungarybay ein merkwürdiges Seethier auf den Strand. Zwei Männer, die am Wasser hingingen, vernahmen ein Geräusch, wie von einem großen Fische, der die Fluth peitscht, und eilten nach der Gegend bin, wo sie etwas sich bewegen sahen. Sie fanden ein ihnen unbekanntes Thier noch lebend, aber es war erschöpft, obwohl es noch zuckend um sich schlug. Es war hellfarbig, hatte einen wie Silber glänzenden Ueberzug, von dem in Folge der Zuckungen Vieles abgescheuert war und in Menge umherlag. Sie zogen das Thier völlig auf’s Land. Die Haut fühlte sich rauh und warzig an, war aber ohne Schuppen. Fast über die ganze Länge den Thiers lief eine Rückenflosse; sie bestand aus kurzen, dünnen Stacheln, welche durch eine transparente Haut mit einander verbunden waren und keinen Zoll weit auseinanderstanden, mit andern Worten, diese Rückenfinne war gleichsam unterbrochen durch regelmäßige Zwischenräume. Der Kopf hatte etwas Hundsartiges und eine vorstehende Schnauze, die Augen lagen flach, die Brustflossen waren klein, die Flossen am Bauche noch kleiner, die Kiemen groß, aber ohne Zähne. Auf dem Kopfe hat das Thier einen Kamm. der aus acht röthlichen Stacheln besteht, von denen die drei ersten bis zur halben Höhe durch eine dünne, durchsichtige Haut mit einander in Verbindung stehen. Diese feinen Kammstacheln können nach Belieben aufgerichtet oder niedergelegt werden und sind von unregelmäßiger Länge. Von der Spitze der Schnauze bis zur Spitze des Schwanzes mißt das Seethier sechszehn Fuß sieben Zoll: es hält elf Zoll im Durchmesser vom Rücken bis zum Bauche, an der Stelle, welche etwa fünf Fuß vom Kopf entfernt ist, von da ab läuft der Leib nach unten hin verjüngt zu und in einen spitzigen Schwanz aus, der keine Flosse hat. Man schnitt diese „Seeschlange“ auf und fand in ihr einen Rogen von etwa drei Fuß Länge; das Thier war also ein Weibchen und ein Fisch. Die drei Doctoren Hinson, P. B. Tucker und Cullen zerlegten es. Herr Matthew Jones, Verfasser des Werkes: „Der Naturforscher auf Bermuda“, ist im Besitze des Kopfes und anderer Theile des Skeletts; er will das Thier wissenschaftlich beschreiben. Ist nun dasselbe vorhanden, so fragt sich, wohin dasselbe zu classificiren sei.“ – So steht, wie gesagt, im Bermudian vom 25. Januar 1860. Die Zoologen werden wissen, ob ein Seethier, wie das obige, überhaupt möglich sei, und ihnen überlassen wir die Entscheidung, da wir selbst kein Urtheil haben. Daß viele Schiffscapitaine und Gelehrte steif und fest an eine Seeschlange glauben, ist bekannt; manche wollen sich sogar den norwegischen Kraken nicht nehmen lassen. Daß wir überhaupt schon alle Seethiere kennen, wird im Ernst Niemand behaupten wollen; kann nun Matthew Jones mit dem Geripp jenes bermudischen Schlangenfisches hervortreten, so wäre ein bisher nicht beobachteter Bewohner der Tiefe bekannt. Ob und in wie weit der Bermudian „gehumbugt“ hat, wird sich gelegentlich herausstellen.




Aus Nordamerika. Die deutschen Blätter in Nordamerika haben sich schon oft darüber lustig gemacht, daß die dortige Thran- und Stockfischaristokratie, das heißt die reich gewordenen Kaufleute, während ihrer Reisen in Europa sich gern an die Höfe drängen, für vornehme Leute gelten wollen und nach der Heimkehr sich dann der hohen Bekanntschaften rühmen. Dieses „Knack- und Protzenthum“ drängt sich seit einigen Jahren auch in die napoleonischen Tuilerien, wird aber dafür in folgender Art gegeißelt. „Diese amerikanischen Faullenzer (so ruft einer unserer Landsleute aus), welche sich Europa aus dem Eisenbahnwagen betrachten und sich in Paris vierzehn Tage in einem Hotel garni aufhalten! Ihr erster Gang ist zum amerikanischen Gesandten, um durch ihn Einlaß in die Tuilerien zu erhalten. Diese stoischen Republikaner, diese Käsekrämer, Landschwindler, Seifenfabrikanten, Schweins- und Walfischthranhändler, oder was sie sonst sein mögen, stürzen sich mit einer Servilität zu den Füßen des Menschen, welcher jetzt zeitweilig in den Tuilerien wohnt, daß die Franzosen und ihr dermaliger Despot sich über solche Republikaner mit Recht moquiren. Welcher grimmige Hohn, wenn wir an den alten Franklin denken, wie er bescheiden und doch stolz am Hofe Ludwigs den Sechzehnten erschien, und wenn wir dagegen die Laffen betrachten, welche sich haufenweise in Napoleons Zimmer treiben lassen. Es ist hübsch von ihm, daß er mit diesen den Maul aufreißenden Käsehändlern seinen Spuk treibt und mit einem Lächeln an ihnen vorübergeht, ohne sie eines Wortes zu würdigen. Darin zeigt er mehr Charakter, als diese republikanischen Lumpen, die vor seiner Hofclique sich entwürdigen. Auch hier zu Lande machen sie sich lächerlich. Der erste beste Schwindler, der sich für einen deutschen Baron, ungarischen Grafen oder polnischen Edelmann ausgibt, kann die pfiffigen Yankees und ihre Frauenzimmer über’s Ohr hauen. Und weshalb sollten nicht lebenslustige Industrieritter diese Lächerlichkeit der Amerikaner ausbeuten? Sie erwerben sich überdies ein Verdienst um die republikanischen Principien, indem sie ihre einfältigen Opfer vor der ganzen Welt blamiren und beweisen, daß andere Leute eben so gut den Baron spielen können, als ein Baron selber. Wie lächerlich ist es, daß der Hüter des Grabes auf St. Helena, Rougemont, dem Amerikaner Kimball einen Stein von dem leeren Grabe des Tyrannen Napoleon geschenkt hat, um diesen Stein in die Säule Washingtons setzen zu lassen! Die Amerikaner finden das erhaben! Welche Zärtlichkeit: ein Napoleonsstein im Washington-Obelisk! Welche feine Anspielung auf das Schicksal Amerika’s, da ja Napoleon der französischen Republik einen großen Leichenstein auf das Grab gesetzt hat!“




Für „Vater Arndt“

gingen weiter bei dem Unterzeichneten ein: 1 Thlr. G. Bley in Bernburg – 1 Thlr. Hiritz, Amtsgerichtsarzt in Salem – 1 Thlr. Richter in Lübben – 2 fl. E. St–n. in Wien, der zweite Beitrag aus Oesterreich – 10 Ngr. Gesington in Sch. – 9 fl. K. in Reichenberg (dritter Beitrag aus Oesterreich).

Ernst Keil.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Cariboo (sprich Karibu): eine Hirschgattung, deren Hörner sich durch eine ungewöhnliche Zahl von Zweigen auszeichnen.
  2. Nicht zu verwechseln mit jenem Ruodi Zurflüh, den J. Scheer in seiner vortrefflichen Alpengeschichte: „Rosi Zurflüh“ kürzlich debütiren ließ. Allen Alpenfreunden möge bei dieser Gelegenheit die kernige Novelle empfohlen sein.
  3. Das alte Theater in Dresden.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Namensvarianten vereinheitlicht
  2. Vorlage: Staaskosten