Die Gartenlaube (1859)/Heft 48
Aus dem Gedenkbuche der Gartenlaube.
Drei Tage eines Fest’s – drei Hammerschläge,
Womit der Grundstein deutscher Einigkeit
Ward eingesenkt. Wer zählet wohl die Wege,
Die sie noch gehen muß in Kampf und Streit,
Das Fundament, worauf das Haus soll stehen?
Nur Deiner Kraft, mein deutsches Volk, vertrau!
Wie Du ein Vorbild kannst im Dichter sehen,
Der aus sich selbst so Großes hat vollbracht,
Ein stattlich Haus – wie es der Dichter schaut –
Und drinnen waltet Liebe, Freiheit, Sitte!
Ein einig Vaterland! O helft und baut,
Das Ziel rückt näher, zählet nicht die Schritte.
„An’s Vaterland, an’s theure, schließ Dich an!“
Dann wird dem Volk ein Schillerhaus erstehen,
In dem es ruhmreich mit ihm leben kann.
Der verwandelte Schmuck.
1. Ein Hochzeitsgeschenk.
In einer bedeutenden Stadt des Rheinlandes, ausgezeichnet durch Lage und Geschichte, und von jeher der Sammelplatz zahlreicher Fremden, war das Haus des bejahrten Domcapitulars Rütersen der Mittelpunkt der vornehmen und intelligenten Gesellschaft. Außer den Einheimischen aus den angeseheneren Familien hatten Fremde von Distinction stets Zutritt in die Cirkel des Domcapitulars und fanden daselbst jederzeit zuvorkommende Aufnahme wie angenehme Unterhaltung. Ungeachtet seiner siebzig Jahre war der alte Herr noch immer rüstig, nahm lebhaft Theil an Allem, was Zeit und Welt bewegte, und konnte für die Seele der Gesellschaft gelten, die sich beinahe Tag für Tag in seinem großen, geschmackvoll eingerichteten Hause zusammenfand. Hier lernten Fremde einander kennen, hier knüpften sich geistige Beziehungen an, hier ward wohl dann und wann eine Bekanntschaft angebahnt, die sich später zu einem innigeren und bleibenden Verhältniß gestaltete. Seit zwei Jahren hatte das Haus des Domcapitulars in der Person seiner jungen Nichte Rosaura, der einzigen Tochter seines verstorbenen Bruders, des ehemaligen geheimen Staatsrathes Doctor Rütersen, eine neue Bewohnerin erhalten. Rosaura war mehr als hübsch, aufgeweckten Geistes und hoch gebildet. Eine verständige Erziehung hatte glückliche Naturanlagen so harmonisch entwickelt, daß die junge Nichte des Domcapitulars unter ihren Schwestern eine entschieden hervorragende Stellung einnahm.
Rütersen gewahrte sehr bald den Eindruck, welchen Rosaura auf die meisten Personen machte, die sein gastfreies Haus besuchten. Der schönen Nichte huldigte die Jugend und schmeichelte das Alter. Jedermann sah das stets heitere Mädchen gern, und wenn sie zufällig einmal nicht in der Gesellschaft zugegen war, so empfanden Alle ihre Abwesenheit.
So wenig nun auch der Domcapitular darauf dachte, seiner Nichte, deren Gegenwart ihm selbst in jeder Hinsicht angenehm war, eine Versorgung zu geben, so wenig war er auch abgeneigt, einer entschiedenen Neigung, wenn diese sich einen würdigen Gegenstand aussuche, entgegen zu treten. Rosaura besaß ein nicht unbedeutendes Vermögen, und da Rütersen selbst ein großes Einkommen hatte, andere nahestehende Verwandte aber keine Erbansprüche an ihn machen konnten, so war es ihm frei gegeben, der Nichte im Fall einer Vermählung derselben von seinem eigenen Vermögen noch eine beträchtliche Summe zuzulegen. Diesen möglichen, ja wahrscheinlichen Fall hatte Rütersen schon vor dem Tode seines Bruders in Erwägung gezogen und deshalb ein Testament gemacht, in welchem Rosaura zu seiner Universalerbin eingesetzt wurde, falls er selbst noch vor ihrer Verheirathung aus dem Leben abgerufen werden sollte. Vermählte sich aber die Nichte noch bei seinen Lebzeiten, so erhielt sie vorerst nur eine Ausstattung von ihrem Onkel, während dessen eigentliches Vermögen, mit Ausschluß einer Anzahl Legate für milde Stiftungen, ihr erst später zufiel.
Dem Publicum der feineren Gesellschaft waren diese Vorkehrungen der getroffenen letztwilligen Verfügungen des Domcapitulars kein Geheimniß geblieben. Man sprach davon in mehr als einem Kreise, und es konnte deshalb nicht auffallen, daß Rosaura, durch Jugendfrische, Bildung, natürlichen Verstand und Vermögen ausgezeichnet, für eine glänzende Partie angesehen wurde.
Das junge Mädchen selbst dachte wohl am wenigsten an das, was alle Welt beschäftigte. Sie blickte mit schöner Unbefangenheit um sich und genoß den heitern Augenblick, ohne sich peinlich Rechenschaft darüber abzulegen.
Lange indeß sollte Rosaura nicht so harmlos bleiben. Die vielen Gäste im Hause ihres Onkels, unter denen es an ausgezeichneten Männern von Rang und Namen nicht fehlte, ließen sie nicht alle gleichgültig. Einer besonders, welcher eine seltene Erzählergabe besaß, mehrere Sprachen mit Leichtigkeit handhabte und überall in Europa daheim zu sein schien, zog Rosaura unwiderstehlich an. Sie sah ihn unter allen jüngeren Männern entschieden am liebsten, ließ dies auch, vielleicht ohne es zu wollen, in Kleinigkeiten durchblicken und fühlte sich nach einiger Zeit demselben herz- und geistverwandt. Auch der Domcapitular bemerkte diese nur nach und [694] nach sich vollziehende Verwandlung seiner Nichte, fand aber keine Veranlassung, sie zu stören. Graf von Weckhausen stand in dem Rufe eines höchst achtbaren Mannes, obwohl er sich erst vor Kurzem in der Gegend angekauft, nicht aber im strengen Sinne des Wortes auch daselbst niedergelassen hatte. Einige Monate des Jahres verbrachte er theils auf dem käuflich erworbenen Gute, theils in der Stadt. Diese Zeit war für Weckhausen wirklich eine Zeit der Muße, eine Siesta nach angestrengter Arbeit, um sich zu neuer Thätigkeit zu kräftigen. Fühlte der Graf sich wieder hinlänglich gestärkt, so verreiste er gewöhnlich auf zwei bis drittehalb Monate, kehrte dann wieder zurück und brachte durch seinen Wiedereintritt in die Gesellschaft neues Leben, neuen Reiz in deren zwanglose Reunions.
Aurelio von Weckhausen liebte es nicht, direct von sich zu sprechen, da er aber in Folge seiner häufigen Reisen immer ganz von selbst zum Erzählen genöthigt ward, konnte er seine eigenen Verhältnisse nicht ganz mit Stillschweigen übergehen. So erfuhren denn Alle, die es wissen wollten, daß der Graf einträgliche Quecksilbergruben in Spanien besaß und daß er vorzugsweise der Rentabilität derselben seine großen Einkünfte zu danken habe. Obwohl Aurelio mit liebenswürdiger Bescheidenheit sich alle tieferen Kenntnisse der Hüttenkunde absprach, gab er doch eben so unbefangen zu, daß er die Verwaltung derselben praktisch erlernt habe und daß er sich von den in den Gruben Angestellten nichts vormachen lasse. Gerade aus diesem Grunde und damit er stets eine genaue Uebersicht behalte, müsse er so oft verreisen. Er pflege am liebsten seine Beamten wie seine Arbeiter zu überraschen, weil er die Einsicht gewonnen habe, daß nur auf solche Weise Unterschieden und anderen Betrügereien vorgebeugt werden könne.
Aber auch andere Gegenden besuchte der unterrichtete, in gesellschaftlicher Hinsicht zu den ausgezeichnetsten Persönlichkeiten gehörende Graf. Er kannte Frankreich genau, war in der Schweiz kein Fremdling und sprach über Italien, namentlich über die Städte Ober- und Mittel-Italiens, wie ein Mann, der zu wiederholten Malen längere Zeit daselbst gelebt haben mußte.
Durch alle Kreise der Gesellschaft machte daher die Nachricht von der Verlobung Rosaura’s mit dem Grafen Aurelio von Weckhausen frohe Sensation. Die Meisten hatten diesen Ausgang erwartet, einige Wenige nur ihn für nicht ganz wahrscheinlich gehalten.
Der Domcapitular versäumte nicht, der Verlobung seiner glücklichen Nichte einen möglichst ostensiblen Charakter zu geben. Er freute sich, daß der ihm so nahe Verwandten, deren zeitliches Wohl ihm aufrichtig am Herzen lag, durch seine Gastfreiheit ein so beneidenswerthes Loos gefallen sei. Nun war es seine Absicht, der Welt zu beweisen, daß auch er selbst dies Glück zu schätzen wisse, und aus diesem Grunde ward ein Verlobungsfest gefeiert, wie die Gesellschaft kaum je ein ähnliches erlebt hatte.
Das Glück der jungen Braut wäre vollkommen gewesen, hätte nicht wenige Tage nach dieser Festlichkeit Aurelio abermals eine seiner unaufschiebbaren Geschäftsreisen antreten müssen. Rosaura kostete der Abschied von dem Geliebten, den sie wahrhaft verehrte, viele Thränen, Aurelio erschöpfte seine ganze Ueberredungsgabe, um die Geliebte zu beruhigen, und versprach, als er sich schließlich von der Betrübten losriß, sie bei seiner Rückkehr, die er möglichst beschleunigen wollte, durch eine Ueberraschung zu erfreuen.
Wider Verhoffen blieb der Graf auch wirklich kürzere Zeit aus, als man es die Jahre her, seitdem man ihn kannte, an ihm gewohnt war. Die Sehnsucht nach der seiner harrenden Braut mochte ihm doch keine Ruhe gelassen haben. Mit offenen Armen von Rosaura und dem hocherfreuten Domcapitular empfangen, war sein erstes Verlangen, das er an Letzteren stellte, die Bitte um Beschleunigung der Vermählung. Der alte Herr hatte nichts dagegen einzuwenden; es wurden in möglichster Eile alle bereits eingeleiteten Anordnungen vollends beendigt und der Hochzeitstag, zu dem zahlreiche Einladungen ergingen, festgesetzt.
Den Vorabend desselben verlebte Aurelio von Weckhausen in der Wohnung des Domcapitulars, wo sich eine nur aus den intimsten Freunden und Freundinnen der Braut bestehende Gesellschaft einfand. Man wollte diesen schönen Abend nicht einsam und einsylbig, aber in der erquickenden Stille behaglicher Häuslichkeit, nur von wirklich erprobten Freunden umgeben, verbringen.
Von diesem Gesichtspunkte faßte auch der Graf dies Zusammensein auf, der im Allgemeinen mehr das lautere Geräusch einer großen und recht bunten Gesellschaft liebte. Er meinte, eine solche sei deshalb viel angenehmer, weil unter der großen Menge der Einzelne sich mehr verlieren und mithin Jeder weit leichter sich unbeobachtet ganz nach seinem individuellen Geschmack amüsiren könne.
In diesem kleinen Cirkel vertrauter Freunde befand sich indes Graf von Weckhausen sehr wohl, und gerade weil man ganz unter sich, gewissermaßen en famille war, benutzte er diese ihm günstig scheinende Gelegenheit, um sein Rosaura gegebenes Versprechen zu halten.
Ein Bedienter erschien und überreichte der schönen Braut eine Kapsel in Form eines mittelgroßen Bechers. Sie war von rothem Leder, sehr fein gearbeitet und offenbar ganz neu, und als Rosaura die feinen Silberhaken derselben löste, und die Kapsel auseinander fiel, blinkte ihr ein kostbarer Pokal von Gold daraus entgegen, dessen oberer Rand etwa einen Zoll breit unterhalb der Mündung mit Diamanten und Rubinen besetzt war. In meisterhaften Gravirungen zeigte die eine Seite dieses werthvollen Pokales die Jungfrau Maria mit dem Christuskinde, die andere Seite eine gelungene Nachbildung der Transfiguration. Die ganze, höchst kunstvolle Arbeit erwies sich für Kenner augenblicklich als ein Kunstwerk aus längst vergangenen Tagen und nahm schon deshalb die Aufmerksamkeit Aller in Anspruch.
Rosaura empfing zwar dies kostbare Geschenk aus der Hand ihres Verlobten mit herzlich dankenden Worten, dennoch würde sie an einer anderen Gabe, an einem Schmuck, der sich zu jeder Zeit, in jeder Gesellschaft anlegen ließ, wahrscheinlich noch größeres Wohlgefallen gefunden haben. Sie gab diese ihre innerste Herzensmeinung gewissermaßen zu erkennen, indem sie nach oberflächlicher Betrachtung des seltenen Kunstgebildes die naive Frage an den Grafen richtete: „Sag’ mir, geliebter Aurelio, was soll ich nun eigentlich mit diesem köstlichen Geschenke anfangen? Als Blumenvase kann ich es doch kaum benutzen, dazu ist die Höhlung des Pokales nicht tief genug; ich werde also genöthigt sein, ihn als ein seltenes Kleinod wegzustellen und nur dann und wann, an Tagen, welche schöner Rückerinnerung geweiht sind, mit frohen Regungen ihn zu betrachten.“
„Nicht doch, mein Engel,“ erwiderte Weckhausen, „dieser Becher soll vielmehr die Schale sein, in welcher Du mir täglich den Nektar der Liebe, gesegnet und geheiligt durch Deine Lippen, kredenzen wirst. Er soll uns so lange zur gemeinsamen Trinkschale dienen, als das Glück unserer Herzensvereinigung besteht, das nur die Hand des Todes zu zertrümmern vermag! In diesem Sinne ist er ein Symbol, dessen Heilighaltung ich Dir dringend empfehle.“
Rosaura sah den Geliebten mit einem scheuen Blicke an, da sie diesen Gedanken ein wenig sonderbar fand. Der Domcapitular aber pflichtete dem Grafen vollkommen bei, unterwarf den Pokal einer sehr genauen Prüfung, da er ein Kenner alter Goldschmiedearbeit sein wollte, und knüpfte mancherlei Betrachtungen an die dem Golde eingegrabenen Gebilde, denen sämmtliche Anwesende mit Aufmerksamkeit lauschten.
„Ich halte dieses wahrhaft schätzbare Stück für ein Werk Benvenuto Cellini’s,“ fügte er, den Pokal an Rosaura zurückgebend, hinzu, „wenigstens stammt es aus der Zeit dieses unvergleichlichen Künstlers in der Bearbeitung von Gold und Silber. Welchem seltenen glücklichen Zufall haben Sie die Erwerbung desselben zu verdanken?“
Diese Frage des Domcapitulars richtete die Blicke Aller wieder auf den Grafen, der sogleich bereit war, dem Onkel seiner Braut Auskunft zu ertheilen.
„Wohl muß ich es einen seltenen und glücklichen Zufall nennen,“ versetzte Aurelio, „daß dieser kostbare Becher in meinen Besitz überging. Die ursprüngliche Veranlassung dazu war eine äußerst prosaische, ja ich muß sagen, eine höchst alltägliche. Seit Jahren nämlich schuldet mir ein genuesisches Handlungshaus, mit dem schon mein Vater in Verbindung stand und das wohl in neuerer Zeit von glücklicheren Rivalen etwas stark überflügelt worden sein mag, bedeutende Summen für Quecksilber. Eigentliches kaufmännisches Talent besitze ich nicht, weshalb ich denn auch nicht schroff auftreten und saumselige Zahler sogleich streng behandeln kann. Ich wartete also von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr, machte bereitwillig neue, von dem Hause begehrte Sendungen, wurde aber in Bezug auf zu leistende Zahlung immer von Neuem mit Versprechungen hingehalten. Da entschloß ich mich denn nach vorangegangener Berathung mit meinem Rechtsconsulenten, dem Chef des säumigen Hauses eine ernste Mahnung, der sich eine verständliche Drohung verknüpfte, zugehen zu lassen. Dies geschah bei meiner letzten Anwesenheit in meinen spanischen Besitzungen. Mit dem Erfolge darf ich den Umständen nach zufrieden sein. Ich erhielt [695] allerdings kein Geld, wohl aber ein ganz annehmbares Anerbieten. Das genuesische Haus, von früheren Jahrhunderten her mit den reichsten Handelsherren der einflußreichen italienischen Republiken eng verbunden, befindet sich von jener glänzenden Epoche her im Besitz bedeutender Kleinodien, die es theils durch Heirathen und Erbschaften erworben, theils an Zahlungsstatt angenommen hat. Um nun mit mir nicht zu brechen und sich mir doch auch für das ihm geschenkte Vertrauen erkenntlich zu erweisen, bot es mir einen Theil dieser todtliegenden Schätze, aus lauter alten Gold- und Silbergeräthschaften, altem Geschmeide von kunstvoller Arbeit und mancherlei Edelsteinen in veralteter Fassung bestehend, an, mit dem Bemerken, daß mir dasselbe, falls es nicht innerhalb Jahresfrist wieder eingelöst werde, für immer als rechtmäßiges Eigenthum gehören solle. Natürlich nahm ich,“ schloß Aurelio von Weckhausen seine kurze Erzählung, „diesen Vorschlag, der für mich jedenfalls der kürzeste und sicherste Ausweg war, mit Vergnügen an, und nach dem, was ich bisher von den übersendeten Schätzen, die indeß noch nicht alle in meine Hände gelangt sind, gesehen habe, dürfte ich keinen Schaden bei diesem wunderlichen Handel machen.“
Die versammelten Freunde des Hauses wurden durch diese Mittheilung noch mehr von dem prächtigen Goldbecher angezogen. Das Kleinod wanderte von Hand zu Hand, fand überall Bewunderung, und unter den anwesenden Freundinnen der glücklichen Verlobten gab es mehr als eine stille Neiderin.
Für Rosaura selbst erhielt der Becher nun erst höheren Werth. Sein Alter, sein unbekannter Ursprung, sein vielleicht berühmter Verfertiger machten ihn ihr fast eben so lieb, als den Geber. Sie dankte dem Geliebten mit Worten und Blicken für das schöne Geschenk, versprach, es solle in Zukunft nie beim stillen häuslichen Mahle, nie im frohen Verein heiterer Gesellschaft fehlen. Zugleich sprach sie aber auch die Bitte gegen den Grafen aus, er möge doch, wenn später die übrigen Kleinodien ihm eingehändigt würden, genau zusehen, ob sich unter dem erwähnten Geschmeide nicht doch ein oder das andere Stück fände, das allenfalls auch in der modernen Gesellschaft eine bescheidene Frau als Schmuck tragen könne.
Aurelio neigte gewährend sein Haupt, der Domcapitular befahl, die goldene Höhlung des kunstreichen Pokales mit edlem Wein zu füllen, und indem Rosaura den feurigen Trank, nachdem sie selbst die Lippen damit genetzt hatte, ihrem Bräutigam reichte, leerte dieser den Becher in langem Zuge, um gleichsam sein Versprechen feierlich damit zu besiegeln. Noch einmal ward hierauf der Pokal gefüllt, den nunmehr der Oheim Rosaura’s ergriff, einen Trinkspruch dem glücklichen Paare ausbringend, dem alle Anwesenden jubelnd beistimmten.
Tags darauf wurden Aurelio und Rosaura vermählt, und bei dem Mahle, welches der kirchlichen Feierlichkeit folgte, spielte das originelle Geschenk des galanten Grafen abermals eine Rolle, welche die Schaar der geladenen Gäste ohne Ausnahme in hohem Grade interessant fand.
Vier Wochen, jene glückliche Zeit, die man gern das Paradies der Liebe und Ehe nennt, waren dem jungen Paare ungetrübt verstrichen. Aurelio war der aufmerksamste, zärtlichste Gatte, Rosaura die liebenswürdigste und anmuthigste junge Frau, die man sehen konnte. Es gab entschieden kein schöneres, kein glücklicheres Paar in Stadt und Umgegend. Hunderte blickten mit Neid auf diese begünstigten Menschen, die schon in so frühen Jahren alle Wünsche, um welche tausend Andere ein halbes Menschenalter ringen müssen, in Erfüllung gehen sahen.
In der fünften Woche erhielt Aurelio von Weckhausen schnell hinter einander mehrere Briefe. Rosaura gewahrte, daß die Lectüre derselben ihn nachdenklich stimmte, ohne ihn jedoch in Unruhe zu versetzen, und diese Entdeckung veranlaßte sie zu einigen vertraulichen Fragen wie Liebe und Mitgefühl sie jedem treuen Herzen eingeben. Aurelio beantwortete diese Fragen seiner jungen Frau zuerst durch verdoppelte Beweise seiner Zärtlichkeit, dann aber theilte er ihr mit, daß die leidigen Geschäfte ihn abermals nöthigten, auf unbestimmte Zeit eine Reise anzutreten.
Rosaura erschrak nicht über diese Mittheilung. Sie nahm sie vielmehr lächelnd hin und wünschte nur zu erfahren, wohin den geliebten Gatten diesmal die so leidigen Geschäfte führen würden,
„Wie immer, zuvörderst in meine Gruben,“ erwiderte der Graf.
„Und dann?“ forschte Rosaura weiter.
„Vielleicht nach den Küsten Italiens.“
„Etwa nach Genua?“
„In Genua würde ich wahrscheinlich an’s Land steigen.“
Rosaura legte ihren Arm um Aurelio’s Nacken und flüsterte ihm mit den süßesten Lauten eines liebevollen Herzens zu: „Ich werde Dich begleiten, damit Dir die Pflege, an welche Dich die letzten glücklichen Wochen gewöhnt haben, nirgends fehlt und Du überall, wenn Du nach glücklich verlebter Nacht die Augen aufschlägst, in Deinem eigenen Hause zu sein glaubst.“
„Diesem Vorhaben, meine theure Rosaura, muß ich mich widersetzen,“ entgegnete der Graf von Weckhausen. „Ich pflege stets sehr rasch zu reisen und weder auf Zeit noch Witterungsverhältnisse Rücksicht zu nehmen. Du würdest, an häusliche Bequemlichkeiten aller Art gewöhnt, Deine Gesundheit gefährden, und die Sorgen, welche ich fortwährend um Dich hätte, könnten nachteilig auf die Geschäfte wirken, weil ich immer zerstreut sein würde. Ohnehin, fürcht’ ich, stehen mir diesmal allerhand unangenehme Dinge bevor. Die Mittheilungen und Andeutungen meiner Geschäftsführer gefallen mir nicht. Dafür aber gebe ich Dir das feierliche Versprechen, meine Abwesenheit möglichst abzukürzen, und wenn ich zurückkomme, sollst Du mit mir zufrieden sein.“
Rosaura hätte es lieber gesehen, wenn Aurelio ihrem Wunsche auf halbem Wege entgegengekommen wäre. Sie hatte dies fast erwartet; dennoch konnte sie dem zartfühlenden Manne doch auch nicht zürnen, denn hielt sie Alles zusammen, was ihm zu erledigen oblag, so hatte Aurelio Recht. Die Begleitung einer an die Strapazen weiter Reisen nicht gewöhnten Frau mußte ihm nicht blos hinderlich sein, sondern ihm auch noch einmal so viel Zeit rauben, als wenn er allein die nothwendig gewordene Reise antrat. Rosaura fügte sich daher der bessern Einsicht ihres Gatten und nahm voll Hoffnung auf ein baldiges frohes Wiedersehen von ihm Abschied.
Graf von Weckhausen blieb während seiner Abwesenheit in fortwährendem Briefwechsel sowohl mit Rosaura wie mit dem Domcapitular, und was er schrieb, war nur geeignet. Beide zu erheitern. Erst der letzte aus Genua datirte Brief lautete nicht ganz befriedigend. Man sah es den Buchstaben an, daß die Hand des Schreibenden gezittert haben oder krank gewesen sein mußte, denn die sonst festen Schriftzüge Aurelio’s waren unsicher und von sehr ungleicher Größe. Auch machte der Graf kein Hehl daraus, daß ihn unerwartet ein Unfall getroffen habe. Auf einer Reise des Nachts durch gebirgige Gegenden und auf schlechten Wegen waren die Pferde vor den ungemein hellen Blitzen eines heftigen Gewitters scheu geworden, der Wagen war umgestürzt und sämmtliche darin befindliche Passagiere hatten, der Eine mehr, der Andere weniger Verletzungen bei dem gewaltigen Fall erhalten. Aurelio verstauchte sich den rechten Arm bei diesem fatalen Vorfall, wodurch er genöthigt ward, mehrere Tage ruhig liegen zu bleiben. Jetzt, fügte er hinzu, seien die schlimmen Folgen schon ziemlich beseitigt, nur eine Schwäche in der Hand wolle sich nicht ganz verlieren. Am Schlusse des Briefes fügte er noch mit einigen Scherzworten eine Bemerkung hinzu, welche ein Lob der eigenen Weisheit und Vorsicht enthielt; denn wie leicht hätte Rosaura, wäre er schwach genug gewesen, ihren Bitten nachzugeben, bei diesem Unfälle gefahrvolle Verletzungen davon tragen können!
Dieser Brief des Grafen war von einem Kästchen begleitet, dessen Aeußeres schon verrieth, daß es aus längst vergangenen Tagen stamme. Es war von schwarzem Ebenholz, mit Silber reich verziert, und auf dem Deckel befand sich in erhabener Arbeit eine Herzogskrone, deren stumpfe Spitzen aus Diamanten bestanden. Ein goldener Schlüssel, an grüner Seidenschnur hängend, die unter der Krone befestigt war, öffnete das sehr kleine Schloß dieses Kästchens und enthüllte den überraschten Blicken Rosaura’s einen Schmuck von unberechenbarem Werthe. Keine Königin hätte sich zu schämen gebraucht, diesen Schmuck anzulegen, obwohl die Fassung sehr alt zu sein schien und der Schmuck selbst auch allem Anschein nach über ein Menschenalter nicht mehr getragen sein mochte. Ein feiner Staub von eigenthümlich penetrantem, wenn auch nicht gerade unangenehmem Geruche löste sich unter der Berührung der staunenden Gräfin von dem vielgliedrigen Kleinode ab und bedeckte das blausammtene Bette, in dem es ruhte. Es schien, als habe Aurelio dies prachtvolle Werthstück kaum eines Blickes gewürdigt, sondern es sofort seiner Gattin unverweilt übersandt, damit sie sich daran ergötze und erfahre, wie treu und innig seine Gedanken bei ihr verweilten.
[696] Eilig mußte es bei Absendung dieses Geschenkes zugegangen sein, denn Aurelio’s Brief enthielt nicht einmal eine Andeutung darüber. Wunderte sich Rosaura schon über diese großartige Nachlässigkeit ihres Gatten, so erstaunte sie noch mehr über dessen Reichthümer. Sie vermuthete nämlich, daß der erhaltene Schmuck mit zu den Kleinodien gehören möge, welche das genuesische Handlunghaus ihm in Ermangelung baarer Mittel abgetreten habe.
Rosaura’s Oheim, dem die überglückliche Nichte das erhaltene Geschenk nicht lange geheim zu halten vermochte, pflichtete derselben bei, unterwarf aber sowohl die Arbeit des Schmuckes wie die einzelnen Edelsteine, aus denen er bestand, einer sorgfältigen Prüfung. Der etwas argwöhnische Herr fürchtete nämlich, der Graf möge sich in der Eile durch Unterschieben falscher Steine haben betrügen lassen, eine Ansicht, die um so wahrscheinlicher war, als der Domcapitular bemerkt haben wollte, daß Graf von Weckhausen bei allen ihm zu Gebote stehenden Kenntnissen doch echte Perlen und Edelsteine nicht ihrem wahren Werthe nach zu würdigen verstehe. Um ganz sicher zu gehen, zog der geistliche Herr sogar einen anerkannt tüchtigen Juwelier zu Rathe, der jedoch jeden einzelnen Stein für echt erklärte.
„Wie kommt aber die gnädige Frau Gräfin in den Besitz dieses Schmuckes?“ setzte er, denselben wieder in die Sammetpolster des Kästchens legend, hinzu. „Es ist wohl ein altes Erbstück der Grafen von Weckhausen?“
Der Domcapitular beantwortete diese ihm harmlos scheinende Frage auf ebenso harmlose Weise, indem er dem Juwelier andeutungsweise mittheilte, wie der Graf genöthigt sei, aus Handelsrücksichten solche alte Waare statt neuen Geldes in Zahlung zu nehmen.
„Würde sich die gnädige Gräfin wohl entschließen, den Schmuck nebst Kästchen zu verkaufen?“ warf der Juwelier hin.
„Um keinen Preis!“ rief Rosaura, das Kästchen an sich nehmend. „Der Schmuck ist mir gar nicht feil.“
„Aber die gnädige Gräfin können denselben ja doch nicht anlegen.“
„Weshalb nicht?“
„Weil er unmodern gefaßt ist und –“
„Nun, was haben Sie sonst noch für einen Grund im Hinterhalt?“
„Die Trägerin dieses Schmuckes würde Aufsehen erregen.“
„Wäre das ein großes Unglück?“ fiel lächelnd Rosaura ein.
„Ich weiß nicht,“ erwiderte der Juwelier. „Jedenfalls ist es der Schmuck einer Herzogin.“
„Bester Oheim,“ wandte sich jetzt Rosaura an den Domcapitular, „ist es denn nicht erlaubt, einen herzoglichen Schmuck anzulegen, auch wenn man kein Recht hat, auf die Ehren herzoglichen Ranges Ansprüche zu erheben? Der Schmuck gehört mir ja doch; Aurelio hat ihn rechtmäßig erworben!“
Der Domcapitular wollte seiner schönen Nichte die Freude, welche ihr das reiche Geschenk des Grafen offenbar machte, nicht trüben, er wandte sich deshalb mit der Frage an den Juwelier:
„Nicht wahr, es wäre leicht, dem Schmuck eine andere, mehr moderne Fassung zu geben?“
„Wenn dies gewünscht werden sollte, bin ich gern erbötig, diese Arbeit zu übernehmen.“
„Nicht doch, Oheim,“ fiel Rosaura ein, das Kästchen schließend und den goldenen Schlüssel wieder über die diamantgezierten Zacken der kleinen Krone legend, wie sie ihn vorgefunden hatte, „ich kann eine solche Veränderung wenigstens nur mit Einwilligung Aurelio’s vornehmen lassen!“
Dem Domcapitular machte diese Weigerung seiner Nichte Vergnügen. „Sie sehen,“ sprach er zu dem Juwelier, „wir thun sehr Unrecht, wenn wir alle Frauen der Eitelkeit bezichtigen. Meiner Nichte würde ein Schmuck von so seltenen Steinen gewiß vortrefflich stehen, entspräche die Fassung desselben den Anforderungen der jetzigen Mode, und dennoch will sie nichts davon hören! Am Ende ist’s nur die Herzogskrone, welche diesen Zauber auf Dich übt,“ fügte er mit gefälligem Lächeln hinzu, „denn ich habe schon bemerkt, daß Dich die Vermählung mit Weckhausen gewaltig ehrgeizig gemacht hat!“
Rosaura blieb dem Oheim auf diese Bemerkung die Antwort schuldig, dieser verabschiedete den Juwelier und rief ihm noch in’s Vorzimmer nach:
„Sie sind aber doch bereit, den Schmuck umzuformen, wenn es später noch gewünscht werden sollte?“
„Zu jeder Stunde, Herr Domcapitular,“ lautete die devote Antwort desselben, der sich noch einmal tief vor der in jugendlicher Schönheit und hohem Glück strahlenden Gräfin von Weckhausen verbeugte.
Der Juwelier kehrte nachdenklich zurück in seine Wohnung, Die Betrachtung des alten Schmuckes mit den vielen kostbaren Steinen, die zusammen für Kenner einen fabelhaften Werth hatten, stimmte ihn eigenthümlich ernst. Nur einer sehr alten reichen Familie konnte derselbe angehört haben. Daß er vielleicht schon vor geraumer Zeit in andere Hände übergegangen war, ließ sich denken, denn die politischen Stürme zu Ende des vergangenen Jahrhunderts hatten manche Herrscherfamilie entthront und in die Verbannung gejagt, und es lag sehr nahe, daß die Mitglieder eines solchen unglücklichen Herrschergeschlechtes in einem Augenblick drückender Noth sich gezwungen sahen, einen äußersten Schritt zu thun, um sich vor Mangel zu schützen. War es ihm doch, als hätte er vor einiger Zeit gelesen, daß wirklich ein früher regierendes Haus, das nicht namhaft gemacht war, sich auf solche Weise aus peinlicher Verlegenheit rettete.
Während er noch darüber nachdachte, besann er sich, daß erst vor Kurzem der Verlust eines alten Schmuckes in den Zeitungen annoncirt war. Als Juwelier, der mit edlen Steinen Handel trieb und dem man deren oft Behufs vorzunehmender Abschätzung übergab, war ihm diese Anzeige interessant. Er hatte sich die betreffende Zeitungsnummer aufbewahrt und konnte, von Neugierde getrieben, nicht umhin, dieselbe unter einer Menge Papiere, die ähnliche Bekanntmachungen, auch directe Aufforderungen an Juweliere enthielten, herauszusuchen.
Es währte nicht lange, so fand er das Blatt. Er durchlas die Anzeige, gewahrte aber sogleich, daß der in derselben bekannt gemachte Verlust auch nicht im Geringsten dem Schmucke ähnele, den er so eben längere Zeit in Händen gehabt hatte.
Mit dieser Entdeckung verlor sich das Interesse des Juweliers an dem Schmucke überhaupt, und er würde schwerlich wieder desselben gedacht haben, hätte ihn nicht einige Wochen später der Graf Aurelio von Weckhausen persönlich besucht und ein Gespräch unter vier Augen sich erbeten.
Der Juwelier sah diesen glücklichem Mann – denn dafür hielten ihn zahlreiche Tausende – heute zum ersten Male, und es erging ihm, wie den Meisten, welche Gelegenheit hatten, mit Weckhausen zusammen zu treffen – das ganze Wesen desselben fesselte ihn, nahm ihn ein, knüpfte ihn gewissermaßen fest an dessen Person. Es lag ein Zauber in dem Auftreten Aurelio’s, dem nur Wenige sich zu entziehen vermochten.
O Lampe!
Du stets so Verhöhnter und doch so Begehrter, ich will dir einmal, anstatt mit dem Gewehre, mit der Feder zu Leibe gehen und sehen, wie du da Stich hältst. Ich darf deshalb nicht nur deine äußerliche Seite und dein Behaben beleuchten, sondern muß mich bemühen, zu deinem innern Werth oder Unwerth vorzudringen, wobei ich vorläufig gleich verrathen will, daß die Censur nicht eben glänzend ausfallen wird, so unschuldig und harmlos du dem großen Publicum, das dich lebend nur oberflächlich und zufällig bei Partieen „in die Baumblüthe“ oder sonstigen Ausflügen auf’s Land zu sehen gewohnt ist, auch erscheinen magst. An deinem vortrefflichen Braten ist nichts auszusetzen, und an den denkt Jung und [697] Alt mit Hochachtung, wenn sie dich – etwa bei einem Gang „in den Most“ – im Felde laufen sehen; vielleicht wendest du dich dann eben einem Krautfelde mit drallen blauen Häupter zu und erinnerst dich zugleich an den gut geschmorten Salat dieser Art, der ja bei deinen gebratenen Gebeinen nie fehlen darf. Allen Respect vor dir in dieser Beziehung! Doch laß sehen, was sonst an dir ist!
Ein schöner Märztag, dessen sehnenerweckende Wirkung in’s Freie hinauslockt und das volle Herz dem Frühling entgegenschwellen läßt! Wie lind und lau umschmeichelt Luft und Sonne die sich dehnende Brust! Ja, alle Sinne nehmen Theil an dem Genuß eines so zaubervollen Tages! Das duftet nach frischem Boden und Pflanzenwuchs; das klingt aus der Höhe von jubelndem Lerchengesang, als käme er unmittelbar aus dem segenspendenden Himmel. Das Auge schweift entzückt über die lang entbehrte, unter Schnee verborgen gewesene Erde und die im herrlichsten Grün prangenden Saaten. Und sieh, da ist ja schon, was wir heute suchen, unser trefflicher Lampe! Zuvor aber wollen wir auch dem fünften Sinne, dem Geschmacke, gerecht werden und pflücken uns an jenem klar rieselnden Wiesenbächlein ein paar Blätter frischer, aromatischer Brunnenkresse, uns damit zu erquicken, und nun erst betrachten wir in wohliger Ruhe unser Wild.
Ein – zwei – vier – sechs Stück auf einem gar nicht zu großen Stück Wintersaat! Das ist ein Laufen und Hakenschlagen, ein Aneinanderrennen und Männchenmachen! Jetzt verfolgen wieder Alle einen Einzelnen, bis, während vier sich mit drolligen Sprüngen und Capriolen im tollen Scherz zu unterhalten scheinen, zwei davon hinter einem Rain verschwinden. Die andern mit tiefgehaltener Nase, wie suchende Hunde, hinterdrein, und so beginnt das Manöver immer und immer wieder von Neuem. „Ach, wie die guten Thierchen spielen!“ ruft der Unkundige, während die Rammler[1] sich um die einzige Häsin, von Eifersuchtswuth entbrannt, bekämpfen, d. h. einander so energische Maulschellen austheilen, daß die Wolle umherstiebt. „Ein Hase kämpfen?“ fragt ihr erstaunt, und allerdings klingt das wunderbar von dem furchtsamsten aller Geschöpfe, – ich glaube, ein Laubfrosch hat mehr Muth, – das wegen seiner Feigheit zum Kinderspott geworden. Und doch ist es so! Die Hasen kämpfen hartnäckig und erbittert, – freilich nur gegen Hasen.
So leben sie die Flitterwochen – lange Flitterwochen, – denn sie dehnen sie bis in den Herbst hinein aus, ohne daß selbst die Häsin, die dabei aller vier Wochen Mutter wird, sich durch die Sorge für ihre Kinder sehr in Anspruch nehmen ließe; denn ich will nur gleich hier dieses Geschlechtes schwärzeste Seite bezeichnen: die Häsin ist die schlechteste aller Mütter, welche die Schöpfung bietet, ganz ausnahmsweise schlecht, schlechter wie eine Rabenmutter, [698] der ich überhaupt mit gutem Gewissen nichts Böses nachzusagen wüßte; nur unter den Menschen kommen einzelne Mütter vor, die der Häsin gleichen. Höchstens fünf bis sechs Tage verpflegt diese die Neugeborenen regelmäßig, nachdem sie dieselben in ein ausgescharrtes Loch, das sie, je nach dem Aufenthalt, Feld, Wiese oder Busch, mit Hasenwolle, Gras oder Blättern ausfüttert, gesetzt hat; dann geht sie wieder ihren Gelüsten nach und kehrt nur zuweilen zu den etwa noch daseienden jungen Häschen zurück, um sie zu säugen, was im Ganzen höchstens drei Wochen geschieht, und in dieser Zeit scheint es die Mutter mehr aus eigenen Gesundheitsrücksichten zu thun, um die Milch los zu werden. Der Herr Papa aber kümmert sich nun vollends nicht um seine Nachfolge, und kommt er ja in ihre Nähe, nämlich wenn er der Frau Mama den Hof zu machen gedenkt, da ist’s gar schlimm für die Kleinen, denn dann setzt es Maulschellen nach Herzenslust, da Mosje Lampe, der sich vor einem erwachsenen Hasen nicht einmal seine Furcht merken läßt, einem solchen kleinen Wurm gegenüber sich erst recht er selbst fühlt. Kurz, Herr und Dame sind die abscheulichsten Eltern, denen nur die Fröhnung ihrer unersättlichen Sinnenlust etwas gilt. Das scheint denn auch, mehr oder minder bewußt, der Grund zu sein, daß sich Lampe nicht einmal des Mitleidens der Jäger zu erfreuen hat, die sonst jedem Thiere, z. B. wenn es angeschossen ist und laut oder stumm klagend ihnen in die Hände fällt, ihr Bedauern nicht versagen, selbst nicht dem Fuchs, dem Bösewicht. Lampe wird höchstens ausgelacht, auch wenn er noch so jämmerlich sein „gnädig, gnädig“ kreischt; denn der Fluch der Lächerlichkeit liegt zugleich auf dem erbärmlichen Charakter.
Trotz seinem dummöhrigen Gesicht ist der Patron aber, wenn ihn der Schreck nicht etwa kopflos macht, keineswegs ohne Schlauheit. Schon wie er, wenn er in sein Lager einfahren will, zu Werke geht, zeugt davon. Er rückt nicht etwa direct auf dasselbe los, was man deutlich bei Schnee an der Spur sehen kann, sondern mit Ueberlegung geht er erst ein Stück darüber hinaus und kommt dann auf der Spur zurück, springt nach der Seite ab und wieder ab, bis er endlich mit dem weitesten Sprunge das Lager erreicht.
So sucht er seine Verfolger über seine Residenz zu täuschen. Eben so ist dieser Egoist – freilich bei weitem weniger interessant, als der Fuchs – pfiffig genug, bei Verfolgungen, z. B. von Hunden, einen andern Hasen aus dem Lager zu stoßen und selbst anstatt desselben einzufahren und darin sitzen zu bleiben, während er den Cameraden seinen Balg zu Markte tragen läßt, unbekümmert darum, ob dieser auch Pfiffikus ist, sich durch eine List zu retten, vielleicht, wie Hasemann es in der Noth gern thut, sich unter die weidenden Heerden auf dem Felde zu mischen und so die Hunde von der Spur abzubringen. Auch davon weiß Mancher zu erzählen, wie sie dem Jäger den Schuß auf ihre werthe Person zu vereiteln wissen; indem sie, wie der Fuchs, einen Strauch oder sonst einen zwischen sich und dem Schützen liegenden Gegenstand benutzen, um hinter diesem in schnurgerader Richtung fortzueilen, so daß die Schußlinie gedeckt ist. Bei dieser Gelegenheit will ich einen komischen Fall aus eigener Erfahrung erwähnen, wo ich der Angeführte war.
Ich hatte frühzeitig mein warmes Bett verlassen und eine halbe Stunde bei scharfer Kälte ohne Schnee auf dem Anstande hinter einer Kiefer auf einen solchen Stiefelknecht[2] gewartet und schaute links nach einem alten Wege, wo, meiner Ansicht nach, der Erwartete kommen mußte, da ich ihn dort schon vielfach und regelmäßig hatte wechseln sehen. Heute aber mußte ihn der Satan weiter rechts geführt haben, so daß ich, als mich ein Geräusch veranlaßt hatte, unmittelbar neben mich links zu sehen, Lampe dicht an der andern Seite desselben ungefähr zwölf bis sechzehn Zoll im Durchmesser haltenden Stammes, an dem ich stand, erblickte. In demselben Augenblick bekam er mich in Folge einer unwillkürlichen leisen Bewegung von meiner Seite weg und – duckte sich nieder. So stand ich dicht neben ihm, ohne wegen der allzunahen Gegenwart schießen zu können. Außerdem war es mir zu interessant, das vom Schreck geängstigte Gesicht des Unglücklichen, das, wäre es nicht behaart gewesen, gewiß käseweiß ausgesehen hätte, zu betrachten, und zwar mit der Gewißheit zu betrachten, ihn schon so gut wie in der Jagdtasche zu haben, als daß ich mich hätte beeilen sollen, seiner habhaft zu werden. Ich hatte ja vor mir eine Blöße und hinter mir, fuhr er etwa zurück, lichtes Holz und konnte also überall bequem nachschießen. Allein Springinsfeld hatte anders calculirt; denn nachdem er eine angstvolle Weile dagekauert hatte wagte er sich mit einem Satze vorwärts und ehe ich zu schießen vermochte, deckte er sich durch eine Kaupe verkrüppelten Kiefernanfluges, die auf der Blöße vor mir stand, und flüchtete hinter derselben schnurstracks fort, so daß ich vorspringen mußte, um das Hinderniß im Rücken zu haben. – Zu spät! Als ich herbei kam, war Lampe eben einen Hang hinunter und mir so aus dem Gesicht und Schußbereich gekommen.
Um Lampen, wenn auch nur flüchtig, in den Kinderschuhen kennen zu lernen, kehren wir zurück in’s Feld und suchen uns die jugendlichen Sprößlinge unseres Krautjunkers auf. Da, an der Lehne eines Düngerhaufens, gegen Süden hin, sitzt gleich ein Pärchen. Mit schnobernden Näschen und glotzenden Sehern[3] liegen sie aneinander gedrängt und zusammen gekauert da, die Löffel glatt an den Rücken angelegt[4]. Schwer sind sie von der Farbe ihres Lagers zu unterscheiden, und nur das weiße Fleckchen auf der Stirn, das meistens alle jungen Hasen haben, leuchtet etwas hervor. Ruhig lassen wir sie sitzen, um nicht auch zu den Vernichtern der Hasenjugend zu gehören, die ohnehin schon durch allerhand Raubzeug bis auf die Krähe und Elster herab, der Witterungsverhältnisse und Krankheiten nicht zu gedenken, gefährdet ist. Deshalb ist auch die Vermehrung nicht im Verhältniß zu der Fruchtbarkeit dieses Geschlechtes, denn obgleich der erste Satz gewöhnlich aus nicht mehr als einem bis zwei Stück besteht, sind die anderen Sätze dagegen meist mit vier bis fünf Stück gesegnet, so daß die alte Jägerregel aufgekommen ist: „Im Frühjahr rückt der Hase selbander in’s Feld, und geht zu Egidy selbsechzehn zu Holze.“ Bei dieser Rechnung sind allerdings alle die Fährlichkeiten, die den armen Lampe in seiner Jugend bedrohen, außer Acht gelassen, und selten dürfte sich der Spruch verwirklichen.
Wenn sie zu „Halbwüchsigen“ aufgewachsen sind, werden sie als Leckerbissen betrachtet und haben nun bereits den Menschen mit zu ihren Verfolgern zu rechnen, obgleich sie noch das Gesetz wenigstens bis Egidy, in Schutz nimmt.
Selten verlassen die Hasen dasjenige Revier, auf dem sie gesetzt wurden, sie müßten denn durch allzuheftige Störungen, vielleicht durch immerwährendes Jagen von Hunden, veranlaßt werden, sich ruhigere Reviere zu suchen. Das Frühjahr und den Sommer verlebt der Hase in Saatfeldern, von denen er zugleich, so lange das Getreide noch jung ist, sich äßt; später, und zwar des Nachts, rückt er auf die Aecker mit jungen Krautpflanzen oder Rübensaat. Im Herbst hingegen liegt er in Kraut-, Kartoffel-, Rüben- und Stoppelfeldern, und noch später bezieht er Sturzäcker und Winterrübsenfelder, welche letztere gleichzeitig seine Speisekammern bilden. Kommt endlich der Winter und mit ihm Schnee, so läßt er sich ruhig, wo er sein Quartier hat, einschneien; so wie aber klare Witterung wird, begibt er sich, wenn er nicht gerade bereits auf solchen Feldern liegt, nach den Rübsensaaten und Wintergetreide, um dort, nachdem er den Schnee weggescharrt hat, sich Aesung zu suchen. Bei eintretendem Frost auf Thauwetter bleibt ihm nichts weiter übrig, als mit Knospen von Bäumen und Sträuchern, sowie mit den Schalen junger Stämmchen, am liebsten von der Akazie und jungem Birkenreisig, vorlieb zu nehmen. Findet er Kohl, um so besser; denn das ist seine Lieblingsspeise.
Der Busch- oder Waldhase lebt vollkommen gleich mit dem, der sich im Felde sein Lager erkiest, nur daß er den Tag im Wald oder Busch verträumt und erst des Abends auf die Felder rückt, um früh vor Sonnenaufgang wieder zurück nach seinem Waldrevier zu gehen. Solche aber, die in großen geschlossenen Waldungen ihren Aufenthalt gewählt haben, besuchen die Felder gar nicht, sondern leben von Kräutern, Gräsern, Knospen oder Früchten des Waldes.
Was nun die Jagd auf den Hasen betrifft, so geschieht dieselbe in verschiedener Weise, und zwar einmal, nachdem die niedere Jagd im September aufgegangen ist, auf der Hühnersuche, wo Lampe, wenn er dabei vor dem Hunde herausfährt, „Feuer auf den Frack bekommt,“ oder früh und des Abends auf dem Anstande. Hierbei ist er am interessantesten zu beobachten, wenn er, namentlich am frühen Morgen, vom Felde nach den Holzrändern hereinrückt. Mit wohligem Gefühle, seinen stets regen Appetit gestillt zu [699] haben, hüpfelt er in thaufrischen Gräsern daher, und wenn er auf trockene, sandige Stellen kommt, so gelüstet es ihn wohl zuvörderst, allein oder mit seinen Cameraden herumzuscherzen. Das ist jenes Springen und Hakenschlagen, Männchenmachen und Schnellen, wie wir es bereits beobachtet. Durch das letztere schüttelt er sich den thaufeuchten Balg, und auf so recht sonnigen, trockenen Fleckchen wälzt er sich auch, daß der weiße Bauch des fröhlichen Burschen hellleuchtend zu sicherem Schusse entgegenwinkt.
Später, wenn die Hühner nicht mehr halten, wird Lampe nicht nur so nebenbei auf’s Korn genommen, sondern dann gilt die Suche ihm allein, und er kommt folglich auch um so mehr in’s Feuer; namentlich ist das im Winter, nach einer Neue[5], wo er vorzüglich hält, der Fall. Bei Plattfrost hingegen, wo er ungemein lose sitzt und frühzeitig aus dem Lager fährt, werden Treibjagden auf ihn veranstaltet, wo dann Reinecke und anderes Wild, das zufällig in’s Treiben kommt, Gastrollen geben. Am vernichtendsten für den Hasen, für den Jäger aber höchst amüsant, sind die Kesseltreiben. Einen mächtigen Kreis bildend, nähern sich die Schützen, immer mehrere Treiber zwischen sich, dem Centrum, wobei jeder etwa herausfahrende Hase, sobald er dem Schützen erreichbar ist, Feuer auf den Pelz bekommt, bis der Kreis bereits so enge geworden, daß sich die Schützen ein paar Hundert Schritt gegenüber stehen; dann hört das Schießen nach der Innenseite des Kreises auf. Indem nun die Hasen, die in solcher Weise eingeschlossen sind, im Kreise herumrennen und dann einzeln durchzubrechen versuchen, was man ihnen auch gewährt, schießt man sie auf ihrer Flucht nach außen hin. Sehr oft sind in einem solchen Kessel Hunderte von Hasen, und man kann sich denken, daß, namentlich wenn lauter gute Schützen dabei sind, es gar manche Hasenleiche gibt.
So geht es vom 1. September bis letzten Februar über Lampes Balg her, wobei ihm nebenbei der wilddiebende Bauer und andere Herumlungerer durch Schlingenstellen auf das Martervollste Abbruch thun. Lampe ist nun einmal das verfolgteste, widerstandsloseste Wild, an dessen Braten sich Alles erlaben will, was Herr von Wildungen in seinem „Waidmanns Feierabend“ am Kürzesten und Treffendsten in folgenden humoristischen Reimen ausdrückt:
Menschen, Hunde, Wölfe, Lüchse,
Katzen, Marder, Wiesel, Füchse,
Adler, Uhus, Raben, Krähen,
Jeder Habicht, den wir sehen,
Elstern ja nicht zu vergessen,
Alles Alles will ihn fressen!
Und so mögen denn auch die geehrten Leser, denen ich den Appetit auf Hasenbraten angeregt zu haben wünsche, sich nicht entblöden, möglichst öfters ihr Häschen in Gesundheit zu verzehren und, wenn’s ein Glas Wein dazu gibt, in Gedanken mit mir anzuklingen auf frohe Jagd!
Wunderbar und mannichfaltig bis in’s Unzählbare und Unglaubliche sind die Producte und Fabrikate der Industrie und des Handels, welche Millionen Bedürfnisse und Wünsche aller Arten von Cultur und Geschmack der Menschheit zu befriedigen streben und so das Leben verschönern. Aber Waaren und Werthe würden bei aller Genialität der Technik, Industrie und Kunst immer sehr unansehnlich und reizlos bleiben, wenn man sie nicht zu packen, zu bekleiden, mit Etiketten und schöner Gewandung zu versehen gelernt hätte. Kleider machen Leute und auch Werth und Waare. Die Industrie, Kunst und Wissenschaft der Waaren-Bekleidung ist vielleicht ausgebildeter und großartiger, als irgend eine Fabrikation von Waaren.
Sehen wir uns einige dieser Bekleidungsanstalten für industrielle Producte an.
In den Vorstädten von Manchester, Birmingham, Bristol und London (besonders in Klein-Deutschland, Whitechapel) wird man oft von einem eigenthümlichen, unaufhörlich eintönig schnurrenden, zischenden Geräusch überrascht, das man selten eher begreifen wird, als nach Eintreten in die gewöhnlich schäbig und verfallen, staubig und liederlich aussehende Werkstatt. Halb versunken im Boden, mit Kohlenstaub und Schauer, mit Rauch und Dampf um sich her speiend, als wollte sie wüthend Alles um sich her zerreißen, pufft und pustet eine Dampfmaschine, die, bei Lichte besehen, nichts weiter zu thun hat, als eine andere, sehr simple Maschine fortwährend mit 100 Tischlerkraft hobeln zu lassen. Eigentlich sägt und hobelt sie zugleich und verwandelt, wie es scheint, jedes Stückchen Holz, das man ihr gibt, in glatte, in Länge, Breite und Dicke ganz genau geformte Spähne, Spähne von jeder Länge, Breite und Dicke, je nachdem sie gestellt ward. Diese Spähne fliegen mit reißender Geschwindigkeit unter dem sägenden Hobel oder der hobelnden Säge hervor, ohne daß ein Splitterchen von dem Holze verloren geht.
Die Maschine schneidet die ihr anvertrauten Stückchen Holz einfach, unfehlbar, leicht, spielend und schnell zu Schachtelwänden zurecht, zu Schachteln von allen Größen, zu den kleinsten Apotheker- und den größten Hutschachteln, zu hundert- und tausenderlei Schachteln für Posamentirer, Conditoren, Apotheker, Spielwaaren-Fabrikanten, Schreibmaterialien-Händler, Schwefelholz-Fabrikanten etc., Schachteln von Fichten-, Weiden- und anderem Holze, Schachteln, die fix und fertig zu 3 Sgr. per Groß (12 Dutzend) verkauft werden und in England allein über 10,000 Menschen, allerdings größtentheils Weiber und Kinder, beschäftigen und ernähren.
Aber gegen diese simpelste und unscheinbarste Kleiderform für Industrie- und Handelsartikel ist das Papier- und Pappengewand eine Welt von Variationen und Nahrungszweigen. Kleider-, Mützen-, Blumen-, Muster-, Spitzen-, Bänder- und unzählige andere Schachteln für unzählige weibliche, mysteriöse Luxusbedürfnisse – alle werden von verstärktem Papier, von Pappe in allen Graden von Stärke und Feinheit und künstlicher Verschönerung gemacht. Selbst die patentirten Erfindungen für diese Art von Schachteln sind kaum mehr zu zählen. Chemiker und Künstler, Mechaniker und Professoren der Naturwissenschaften haben ihren Witz angestrengt, schlaflose Nächte hindurch gegrübelt, gehungert und gedurstet, ihr und das Geld Anderer zu Hundertausenden von Thalern verexperimentirt, um diesen Schachteln von Papier und Pappe neue Reize und Formen, neue Ornamente und Decorationen zu schaffen und so das Publicum durch bestechende äußere Reize zu Käufern und Kunden zu machen für Dinge, die ohne diesen Kleiderstaat viel hundert Mal seltener und ohne Freude und Genuß gekauft werden würden. Die feinsten Producte der Papiermühle wandern in die Hände der Pappschachtel-Fabrikanten, die feinsten und weißesten Bogen, einfach weiß oder streifig, körnig, mit tiefen oder hohen Reliefs, mit den zauberischsten Arabesken bedruckt und strahlend in freudigen Farben bis zu echter Vergoldung. Unzählige feine, ausgedehnte Kunst-Industrien arbeiten hauptsächlich, oft mit großen Dampfmaschinen und Hunderten von Menschen, blos für die Pappschachtel-Fabrikanten, die in England über 50,000 Menschen beschäftigen und im Durchschnitt Jeden mit drei Schillingen oder einem Thaler täglich lohnen.
Vor mir steht ein rundes Schächtelchen, zwei Zoll im Durchmesser, zwei Drittel Zoll tief, Deckel und Körper auf einander passend, als wär’s das Werk des geschicktesten Mechanikers, außen mit Gold, Grün und Roth im geschmackvollsten Dessein verziert, außerdem mit vier Goldplättchen, die einander mit mikroskopischer Genauigkeit überragen, das Ganze ein niedliches Kunstwerk ohne Fehl und Flecken. Das Groß dieser Schächtelchen kostet einen Thaler zwei Silbergroschen. Wer sich privatim mit allem Geschick ein einziges dieser Schächtelchen machen wollte, würde an Zeit und Auslagen wenigstens den Fabrikwerth eines ganzen Großes dazu brauchen oder mit 144 Procent Verlust arbeiten. Nur dem fabelhaften Verbrauch von Ausschmückung der Papier- und Pappschachteln verdanken die neuen hübschen Erfindungen der Chromotypographie, Chromolithographie, des Farbendrucks mit Blöcken, des Reliefdrucks etc. ihre Blüthe. Der Parfümer, der Posamentirer, der Verkäufer von wohlriechenden Seifen, der Handschuhladen, eingemachte Früchte und Zuckersachen – das sind die eigenthümlichen Mäcene dieser feinen Künste. Der Chromotypograph lebt nicht von den einzelnen Kunstwerken, die er hervorbringt, sondern von Fabrikation und Verkauf [700] kleiner herrlicher Vignetten und Desseins, die tausend-, zehntausend-, hunderttausendweise bestellt werden, um Seifen und Süßigkeiten, Bonbons und Bänder, Spitzen und Späße, Pomaden und Putzigkeiten aller Art in lockende Gewänder zu hüllen und als Sirenen in den Schaufenstern winken und wirken zu lassen.
Ein Chromotypograph erzählte mir, daß von seinen Bildern, die als Kunstwerke um ihrer selbst willen verkauft werden, immer auch Hunderte als Emballage seiner Handelsartikel dienen. Diese kostbare Art von Verpackung kam vor mehreren Jahren zuerst in Paris auf. Die künstlerischsten Lithographien, von Künstlern sorgfältig colorirt, wurden und werden als Ornamente auf Handschuh-, Spitzen-, Frucht-, Bonbon- und andere Luxusschachteln geklebt und geschmackvoll von feinen Goldstreifen eingerahmt. So standen und stehen sie zu Hunderten in Schaufenstern von Handschuhmachern und Conditoreien, die auf diese Weise zu Bilderläden werden. Aber seitdem die Chromatographie in London eine Fabrikation ward, änderte sich die Sache etwas. Es ist leichter und billiger, von Blöcken farbige Bilder zu drucken, als zu lithographiren, lithographisch zu drucken und die Bilder hinterher noch mit der Hand zu coloriren. Die französischen Schachtelfabrikanten importirten also zuerst englische Chromatographien, die jedoch in Preis und Geschmack wenig Beifall fanden, so daß sich die für solche Sachen ganz besonders graciösen Franzosen selbst dahinter machten und jetzt alle Schaufenster der Erde mit Schachteln schmücken, deren farbiggedruckte und farbiglithographirte Bilder an Schönheit, koketter Sirenenhaftigkeit und Wohlfeilheit die englischen vier- und mehrfach übertreffen. Wenigstens sind sie im Durchschnitt viermal billiger und hundertmal schöner, als die der englischen Verleger, die jedoch fabelhaft großartige Anstrengungen und Capitalauslagen machten, um Markt und Concurrenz zu halten.
Neben der Pappschachtel spielt die metallene eine rasch an Ausdehnung zunehmende Rolle. Die dünnsten, mohnblattartigen Blättchen von Blei, Zinn, Metall, Bronze müssen als Unterjacken für Tabake, Schnupftabake etc. dienen. Dichtere ausgewalzte Blättchen werden in Birmingham von mächtigen, kostbaren Dampfmaschinen millionenweise zu Schachteln, Kästchen, Büchsen von allen möglichen Größen, Formen und schlechterdings unglaublich billigen Fabrikpreisen für alle möglichen Waaren und Handelsartikel so schnell und massenweise fabricirt, daß es förmlich solche Schachteln, Kästchen und Büchsen aus der Maschine herausregnet. Manche davon sind so schön und niedlich, daß man die Waare darin gern blos der Hülle wegen kauft. Eine neue „Idee“ in dieser Schachtelsphäre, ein anziehendes Dessein wird nicht selten besser bezahlt, als die wichtigste Erfindung, und bringt dem ausführenden Fabrikanten goldenen Regen.
Aber auch der Glasbläser verdient durch Flaschen und Fläschchen für wohlriechende Wasser und dergl. mehr, als durch Spiegelscheiben, die er bis zu 5– 6000 Thaler das Stück rein wie Himmelsluft, mauerdick und groß wie Scheunenthorflügel aus dem gemeinen Kiesel zu zaubern weiß. Es ist die Flasche und die vergoldete Etikette darauf, welche die Wohlgerüche und das Wasser darin empfiehlt und an den Mann, besonders an die feine Dame bringt. So steckt viel mehr Capital, Geschick, Kunst und Genie in der Fabrikation der Fläschchen, als in den Artikeln, die darin verkauft werden. Ein Eimer voll reines Wasser, etwas ätherisches Oel, eine homöopathische Dosis reinen Rosenöls – und man hat genug für tausend Fläschchen und tausend Namen. Es ist erstaunlich, welche Fülle und Mannichfaltigkeit von Eleganz und Grazie man in den Fläschchen der Parfümeurs bewundern kann. Daß man kleine, farbige Zuckerkügelchen in Glaskugeln à 1 Penny gefüllt verkauft und die Weihnachtsbäume in London mit Dutzenden und Schocken silberner, goldener, blauer, rother, grüner Glaskugeln für einen Spottpreis ausschmücken kann, ist nicht das kleinste Wunder der modernen Glasfabrikation.
Für viele Kauf- und Handelsleute ist der Töpfer oder vielmehr der höhere Keramiker von größerer Wichtigkeit, als der Bildner in Glas. Wir sprechen nicht von den unzähligen Arten gemeiner irdener Krüge, Flaschen und Töpfe, die ebenso unzähligen nothwendigen oder luxuriösen Handelsartikeln als Behälter dienen, sondern machen nur auf die weißen, seichten Büchsen aufmerksam, die von zwei bis acht und mehr Zoll Durchmesser und entsprechender Tiefe von jeder Art keramischer Mischung bis hinauf zur feinsten Porcellan-Erde für tausenderlei Flüssigkeiten, Schmieren, Oele, Fette, Pomaden und Crêmes millionenweise von mächtigen Dampfmaschinen geknetet, geformt, gedrechselt, polirt und gebrannt werden. Eine gewisse feinere Art dieser Büchsen ist auf den Deckeln mit eingebrannten farbigen Kupferstichen verziert, und sie werden hunderttausendweise als anmuthige verführerische Behälter feiner Fleischsorten, eingemachten Geflügels, von Anchovis und sonstigen Delicatessen verbraucht. Die weißen, kleinen Töpfe für Marmeladen und Gelées allein verkauft man in England zu vier bis fünf Millionen Stück jährlich aus den Fabriken. Noch eine feinere Sorte von echtem Porcellan, mit Blumen und Landschaften von Künstlerhand bemalt, lockt den höheren Koch zum Ankauf kostbarer Confecte, die kokette Dame zu empörenden Ausgaben für Mysterien der Toilette. Die wundervollen Töpfchen enthalten ja Mittel zur Verschönerung der Haut, zur Sicherung ewiger Jugend, zur Erhöhung des Augenglanzes (Arsenik), Vertreibung der Schnurrbärtchen, Auferstehung längst verfaulter Zähne, Färbung und Wiedergeburt der Haare und sonstige Zaubermittel, die nicht unter 1 Thaler oder 1 Louisd’or per Büchse verkauft werden.
Auch der echte Diamant bedarf der „Fassung“. Für sie und deren Ringe, für Armbänder, Halsketten, Diademe und unzählige Kunstwerke des Juweliers muß man kostbare, niedliche Maroquingewänder haben, gefüttert mit Sammet und Seide. Die goldene Uhr, der Edelstein, das Armband, die Brosche müssen dem Käufer in einem sammetgefütterten Maroquin-Prachtkleide vorgelegt werden, sonst schrickt er vor dem Preise zurück. Die Verfertiger dieser Juwelenhüllen gelten als Künstler, werden besser als die feinsten Buchbinder bezahlt und bilden eine beträchtliche Armee unter den Legionen, die keine Industrie-Artikel, sondern nur Kleider für solche fabriciren.
Schon die Zahl dieser Arten von Schneidern ist unabsehbar, sodaß wir gar nicht hoffen können, nur die wichtigsten namhaft zu machen. Von den Papierdüten und Säckchen, die täglich zu vielen Centnern in großen eigenen Fabriken gemacht und ebenso schnell unbeachtet im Kaufladen, beim Bäcker, Conditor etc. verbraucht werden, den Leinwandsäckchen der Sämereienhändler, den Tonnen, Fässern, Holzkasten für gröbere Waaren und Handelsartikel bis hinauf zu den kostbarsten vergoldeten, bemalten, sammetnen und seidenen Couverts, Emballagen und Gewändern der Industrie breitet sich selbst ein unabsehbares Feld industrieller Production und Kunst aus.
Alle diese Hüllen und Gewänder, von denen Millionen in der civilisirten Welt leben, in deren Fabrikation Millionen von Thalern sich reichlich verzinsen, werden im Detailhandel dem Scheine nach immer umsonst zugegeben. Und doch bilden sie selbst einen der fruchtbarsten und lohnendsten Industriezweige, obgleich sie gar keinen eigentlichen Nutzen und Werth haben. Die allerunscheinbarste Hülle würde ganz dieselben Dienste thun, wie die gemalte, künstlerisch geformte, golden und farbenprächtig decorirte Hülle, nur daß sich dann die Waaren nicht so gut verkaufen würden. Das ist der Schlüssel zu dem ganzen Geheimnisse. Die Käufer und Kunden der civilisirten Lebens- und Luxusbedürfnisse verzinsen jährlich ganz unbewußt und nebenher Millionen von Thalern, um ihren Sinn für Schönheit, für Schein und Reiz der Außenseiten zu befriedigen, um die Praxis des Sprüchworts: „die Welt will betrogen sein“ zu erhöhen und auszudehnen.
Das Verpacken und Einkleiden der Waaren ist eine großartige Wissenschaft, die blühendste praktische Kunstproduction und Aesthetik geworden, die sich in manchen Sphären schon bis zum Selbstzweck ausgedehnt hat, sodaß man viele Artikel blos des Gewandes wegen kauft.
Diese Excesse im Schein kosten viel Geld. Nur wo der äußere Schmuck sich in entsprechenden Grenzen und dem Zwecke gemäß hält, wie z. B. in den deutschen Spielwaaren, dieser kosmopolitischen Sprache mit allen Völkern rund um die Erde (– es ist eine der wichtigsten und schönsten Industrien Deutschlands), oder wo die Emballage, die nicht entbehrt werden kann, für etwa dasselbe Geld das Notwendige und Nützliche mit dem Angenehmen und Schönen, mit Geschmack und Grazie verbindet und wirklich gute, civilisirende Waare verschönernd umschließt (wie in der Emballage der Faberbleistifte), stehen Gewand und Waare in richtigem Verhältniß und tragen heiter dazu bei, die Blüthen der Schönheit und freudiger Farben und Formen, womit wir uns gern umgeben, auf alltägliche Dinge und oft häßliche Nothwendigkeiten anmuthig auszustreuen.
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Aus dem Leben des Nilpferdes.
Wir hatten unweit des linken Ufers des Asrakh einen Regenteich oder See aufgefunden, welcher vom Strome bei seiner Ueberschwemmung gefüllt worden und noch bei unserer Ankunft im Februar ziemlich wasserreich war. Außer einer Menge von Vögeln lebten in ihm auch Krokodile und mehrere Nilpferde mit ihren Jungen. Wahrscheinlich hatten letztere die kleinen und verhältnißmäßig niedlichen Jungen in ihm zur Welt gebracht; wenigstens schien mir der stille, ruhige, rings von Wäldern und an einer Seite sogar von Feldern eingefaßte See zu einem Wochenbette für Nilpferde wohl geeignet. Unsere Aufmerksamkeit und Jagdlust fesselten vorzüglich die herrlichen Schlangenhalsvögel, obgleich wir, um auf diese geschickten Taucher feuern zu können, oft bis an die Brust in das Wasser waten mußten, – trotz der Krokodile und Nilpferde, um welche wir uns heute gar nicht kümmerten. Mein Jäger Tomboldo, welcher die Jagd in Vater Adams Kleidung ausführte, hatte eben den vierten Schlangenhalsvogel glücklich durch den Hals geschossen – mehr als den Hals bekommt man von ihm über dem Wasser nicht zu sehen – und watete auf ihn zu, um ihn aufzufischen. Da schreit plötzlich vom andern Ufer her ein Sudahnese laut auf und winkt und gebehrdet sich wie toll; Tomboldo schaut sich um und sieht ein wuthschnaubendes Nilpferd mit mächtigen Sätzen auf sich losstürmen. Das Vieh hat bereits festen Grund unter den Füßen und jagt wie ein angeschossener Eber durch die Fluthen; der Nubier ergreift in Todesangst die Flucht und erreicht, bis zum Uferrande von seinem furchtbaren Feinde verfolgt, glücklich den Wald. Ich war mit meiner trefflichen, leider aber blos leichte Kugeln schießenden Büchse dem treuen, höchst brauchbaren Diener zu Hülfe geeilt und fand ihn im Gebet und stöhnend auf der Erde liegen:
„La il laha il Allah, Mahammed rassuhl Allah! – Es gibt nur einen Gott, und Mahammed ist sein Prophet! – Nur bei Allah, dem Starken, allein ist die Stärke; allein nur bei Gott dem Helfenden, ist die Hülfe! – Behüte, o Herr, deinen Gläubigen vor dem aus deinen Himmeln zur Hölle hinab gestürzten Teufeln! – Du Hund, du Hundesohn, Hundeenkel und Hundeurenkel, du von einem Hund Erzeugter und von einer Hündin Gesäugter – du willst einen Moslim fressen?! Verdamme dich der Allmächtige, und werfe er dich in das Innere der Hölle! – –“ Diese und ähnliche Stoßseufzer und Flüche entrangen sich seinen bebenden Lippen. Dann aber sprang er wüthend auf, lud eine Kugel in sein Gewehr und sandte sie dem Nilpferde nach, welches noch immer vor uns tobte und lärmte. Die Kugel tanzte lustig auf dem Wasser hin und – an dem Ungethüme vorüber.
„Bei dem Barte des Propheten, bei dem Haupte deines Vaters, Effendi,“ bat er mich, „sende Du dem nichtswürdigen Gottesleugner aus Deiner Büchse eine Kugel zu; – denn auch mein schöner Taucher ist ja verloren!“
Ich willfahrte seiner Bitte, schoß und hörte die Kugel auf den Schädel einschlagen. Das Nilpferd brüllte laut auf, tauchte einige Male unter und schwamm nach der Mitte des See’s zu, wie es schien, ohne durch den Schuß wesentlich gestört zu sein. Nur seine Wuth nahm von Stunde zu Stunde zu. Freilich ließ uns unsere Rachsucht fortan die hier und da erscheinenden Köpfe als Scheiben ansehen, nach denen wir, so oft es anging, eine Kugel entsendeten. Ich wußte aus Erfahrung, daß meine schwache Büchsenkugel selbst bei einer Entfernung von noch nicht vierzig Schritten kaum die Haut des Kopfes durchbohren konnte, wollte mir aber gleichwohl das Vergnügen nicht versagen, dem „Abgesandten der Hölle“ unsern Aerger fühlen zu lassen.
Auf unserer Rückreise kamen wir, wenige Tage nach diesem Vorfalle, wieder zu demselben See und trieben während der Jagd das Zielschießen nach den Nilpferdköpfen wie vorher. In das Wasser durften wir uns allerdings nicht mehr wagen; dafür aber schienen die Nilpferde auch das Land zu achten, und so herrschte jeder Gegner in seinem eigenen Kreise; wir auf dem Lande, die Nilpferde im Wasser. Nach einer sehr ergiebigen Jagd kehrten wir Nachmittags auf das Boot zurück, mit der Absicht, die Jagd am anderen Morgen fortzusetzen. Da wurden wir gegen Sonnenuntergang benachrichtigt, daß so eben eine zahlreiche Heerde von Pelikanen im See angekommen sei, um dort zu übernachten. Wir gingen deshalb nochmals zum See und begannen unsere Jagd auf die Vögel, welche im letzten Strahl der Sonne auf dem dunklen, hier und da vergoldeten Wasserspiegel wie große weiße Seerosen erschienen. In wenig Minuten hatte ich zwei Pelikane erlegt; Tomboldo jagte auf der andern Seite und feuerte ebenfalls lebhaft. Ihn erwartend, verweilte ich bis nach Sonnenuntergang auf meinem Stande; als er jedoch nicht erschien, trat ich mit meinem nubischen Begleiter und Beuteträger den Rückweg an. Unser Pfad führte durch ein Baumwollenfeld, welches bereits wieder vom Urwalde in Besitz genommen, gänzlich verwildert und arg von Dornenranken und anderen Stachelgewächsen durchzogen war. Froh unserer Beute und der schönen lauen Nacht nach dem heißen Tage, zogen wir unseres Weges dahin. Schon hatten wir fast das Ende des See’s erreicht, als mein Nubier plötzlich meinen Arm ergriff und mir leise zurief: „Effendi, schau, was ist das?“ Er deutete dabei auf drei dunkle, hügelartige Gegenstände, welche ich, so viel ich mich erinnerte, bei Tage nicht gesehen hatte; ich blieb stehen und blickte scharf nach ihnen hin, da bekam plötzlich der eine der Hügel Bewegung und Leben, – das nicht zu verkennende Wuthgebrüll des Nilpferdes tönte uns grauenvoll nahe in die Ohren und belehrte uns vollständig über den Irrthum, seinen Urheber für einen Erdhaufen gehalten zu haben – denn in Sätzen stürzte sich derselbe auf uns zu. Weg warf der Nubier Büchse und Beute; – „hauen âleïna ja rabbi!“ – „Hilf uns, o Herr des Himmels,“ rief er schaudernd, „flieh, Effendi, bei der Gnade des Allmächtigen – sonst sind wir verloren!“ Und verschwunden war die dunkle Gestalt im Gebüsch; ich aber wurde mir bewußt, daß ich in meiner lichten Jagdkleidung nothwendiger Weise die Augen des Ungethüms auf mich lenken mußte – und, waffenlos wie ich war – denn meine Waffen waren eben keine Waffen gegen den hautgepanzerten Riesen! – stürzte ich mich blindlings in das dornige Gestrüpp. Hinter mir her brüllte, tobte und stampfte das wüste Vieh, vor mir und rechts und links verflochten sich Dornen und Ranken zu einem fast undurchdringlichen Gewirr; die Stacheln der Nilmimose oder Rharrat verwundeten mich an allen Theilen des Körpers, die gebogenen Dornen des Nabakh rissen mir Fetzen auf Fetzen von meiner Kleidung herab – und weiter floh ich keuchend, schweißtriefend, blutend, – immer gerade aus, ohne Ziel, ohne Richtung, gejagt von Verderben und Tod in Gestalt des Scheusals hinter mir. Es gab keine Hindernisse für mich. Wie sehr auch die Dornen mich verwundeten und die Wunden schmerzten, ich achtete ihrer nicht, sondern jagte verzweiflungsvoll weiter, weiter, weiter! Ich weiß es nicht, wie lange die wilde Hetze gedauert haben mag; jedenfalls währte sie nicht lange; – denn sonst hätte das rasende Ungeheuer mich doch wohl eingeholt; – gleichwohl dünkte mich die dabei verlaufene Zeit eine Ewigkeit zu sein. Vor mir dunkle Nacht, hinter mir mein entsetzlicher Feind, – ich wußte nicht mehr, wo ich mich befand. Da, Himmel! – ich stürzte und stürzte tief. Aber ich fiel weich; ich lag im Strome. Als ich wieder an die Oberfläche des Wassers kam, sah ich oben auf der Höhe des Uferrandes, von welchem ich herabgestürzt war, das Nilpferd stehen; auf der andern Seite aber schimmerte mir das Feuer unserer Barke freundlich entgegen. Ich durchschwamm eine schmale Bucht und war gerettet, obwohl ich noch Tage lang die Folgen dieser Flucht verspürte. Von meinem Anzuge hatte ich blos noch Lumpen mit zu Schiffe gebracht. – Tomboldo war auf seinem Heimwege in dieselbe Lebensgefahr gekommen; er wurde ebenfalls von dem Nilpferde angenommen und bis zu derselben Stelle des Ufers verfolgt, über welche ich hinabgestürzt war. In höchster Aufregung langte er bei uns an und rief schon aus einiger Entfernung: „Brüder, meine Brüder, preist den Propheten, den Gottgesandten! Betet zwei „Rakaaht“ mehr für das Wohl meiner Seele! Der Sohn der Hölle und des Teufels war mir nahe und der Arm des Todes griff nach mir; aber Gott, der Erhabene, ist barmherzig und seine Gnade [702] ohne Ende! Preiset den Propheten, ihr Brüder! Ich aber will, bin ich erst dem Verruchten entronnen, einen ganzen Sack Datteln zum Opfer bringen.“
Ich habe diese beiden Pröbchen blinder Wuth des Nilpferdes absichtlich ausführlich gegeben, um der Treue meiner Erzählung keinen Abbruch zu thun; sie mögen zugleich beweisen, daß die Jagd des Ungeheuers ohne Feuerwaffen, welche sehr schwere Kugeln schießen, eben kein Vergnügen für Sonntagsschützen ist. Wie ich bereits bemerkte, haben leichte Büchsenkugeln, selbst wenn sie aus geringer Entfernung abgefeuert werden, fast gar keinen Erfolg. Jede Büchsenkugel durchbohrt den Panzer des Krokodils; aber sie ist viel zu schwach, als daß sie die zolldicke Haut und den mehr als zolldicken Schädel des Nilpferdes durchdringen könnte. Rüppell erzählt, daß er mit seinen Begleitern fünfundzwanzig Kugeln aus glattläufigen Gewehren in einer Entfernung von fünf Fuß (!) auf den Kopf eines Nilpferdes schoß, von denen blos eine einzige die Haut und den Nasenknochen durchbohrte; alle übrigen Kugeln waren in der dicken Haut stecken geblieben. Erst nachdem man fünf Kugeln aus einer schweren Büchse in derselben Entfernung auf den Kopf des Unthieres gefeuert hatte, gab es seinen Geist auf. Vier Stunden lang kämpfte die Jagdgesellschaft mit dem angeworfenen Thiere; dasselbe riß einen kleinen Kahn unter das Wasser, wo es ihn zerschmetterte, und schleifte das große Schiff an der Leine des Wurfspeeres nach Belieben hin und her. Freilich war dieses Thier ein altes riesenhaftes Männchen, welches von der Schnauzenspitze bis zum Schwanzende 131/2 französische Fuß maß; seine Eckzähne waren, der Krümmung nach gemessen, von der Wurzel bis zur Spitze 26 Pariser Zoll lang.
Nilpferde von der angegebenen Größe sind gewöhnlich alte, höchst mißmuthige Männchen, welche getrennt von der übrigen Heerde leben und ungemein bösartig sind. Die Sudahnesen behaupten, daß sie von andern Nilpferden vertrieben worden wären und verachtet würden. Sie werden zur furchtbarsten Landplage, weil auch die muthigsten Jäger es nicht oder nur selten wagen, sie anzugreifen. Dies wird man den Leuten nicht verdenken, wenn man bedenkt, daß ihre Jagdwaffen gewöhnlich blos die Harpune und die Lanze sind. Jene sinnreich ausgeführten Speerfallen, welche an Bäumen befestigt und von dem zur Weide gehenden Thiere selbst losgeschnellt werden sollen (Gartenl. 1857 S. 329), sind, in Nordost-Afrika wenigstens, nirgends gebräuchlich; ebensowenig gräbt man Falllöcher,[6] in welche der zur Nachtzeit herumspazierende Weidegänger gelegentlich hinabpurzelt. So viel ich gehört habe, greift man es niemals anders als mit dem Wurfspieße an. Derselbe besteht aus einem Stücke Eisen, einer Hornscheide, der Haftschnur und der Wurfstange. Das Eisen ist zugespitzt oder wie ein Radirmesser zweiseitig zugeschliffen und besitzt einen starken Widerhaken; es steckt fest in einer an beiden Enden dünner werdenden Hornscheide und ist durch eine starke, oftmals um Eisen und Scheide gewundene Schnur hinreichend befestigt. An dem einen Ende der Wurfstange nun befindet sich eine Höhlung, in welche die Hornscheide eingesetzt wird, am anderen Ende der Stange ist die Leine festgebunden. Beim Wurfe dringt die eiserne Spitze sammt ihrer Hornscheide bis zu der Lanze ein; diese wird durch den Wurf abgestoßen und hängt nun nur noch mit dem andern Ende vermittelst der dort angebundenen Schnur an der Harpunenspitze. Andere Jäger befestigen das eine Ende der Leine an der Harpune und das andere Ende an einem leichten Holzklotz, ohne sie mit der Wurflanze zu verbinden.
Mit dieser Waffe und einigen gewöhnlichen Lanzen begibt sich der Sudahnese auf die Jagd, um sein Wild entweder zu beschleichen, wenn es ein Mittagsschläfchen hält, oder ihm aufzulauern. Das Unternehmen erfordert nicht nur gewaltige Kraft, sondern auch List, Verschlagenheit und Gewandtheit.
Etwa um Mitternacht – nur an ganz menschenleeren Orten auch am Tage – schleicht der Spießwerfer längs des Ufers bis zu einer Ausgangsstelle der Thiere und versteckt sich hier im Gebüsch unter dem Winde. Kommt das Nilpferd erst nach seiner Ankunft aus dem Wasser, so läßt er es ruhig an sich vorübergehen und wartet bis zur Rückkehr. Niemals greift man ein zu Lande gehendes Nilpferd an, sondern wartet stets, bis es, so zu sagen, wieder halb im Flusse ist. Dann schleudert der Jäger ihm die Harpune mit aller Kraft in den Leib und flieht in der Hoffnung, daß das über den Wurf erschreckte Thier sich in den Fluß stürzen werde. So geschieht es auch gewöhnlich, wogegen das Ungethüm beim Heraussteigen an’s Land immer seinen Gegner anzunehmen pflegt. Nach dem Wurfe besteigt der Jäger mit seinen Gehülfen entweder sogleich oder am folgenden Morgen eines der bereit gehaltenen Boote und sucht das verwundete Thier, bezüglich das schwimmende Speerstangenende oder den Holzklotz auf. Sobald man diese Merkzeichen gefunden hat, rudert man höchst vorsichtig, mit bereitgehaltenen Wurfspeeren und Lanzen herbei und nimmt nun die Leine auf. Beim geringsten Anziehen derselben erscheint das Nilpferd in rasender Wuth an der Oberfläche des Wassers und stürmt auf das Schiff los, wird aber von dort mit einem Hagel von Lanzen und Speeren empfangen, welcher es häufig zur Umkehr zwingt. Gleichwohl kommt es nicht selten vor, daß es die Barke erreicht und mit den Hauzähnen zerreißt. Dann haben die Jäger einen sehr schweren Stand und müssen sich eiligst durch Schwimmen und Tauchen zu retten suchen. Livingstone erfuhr, daß es, um dem Nilpferde unter solchen Umständen zu entgehen, das Beste sei, in die Tiefe des Stromes zu tauchen und hier einige Secunden zu verweilen, „weil das Flußpferd, wenn es einen Kahn zertrümmert hat, sich allemal nach den Menschen umschaut und, wenn es keinen bemerkt, davongeht“; mir hat man Aehnliches erzählt. Im günstigeren Falle besteigt ein Theil der Jäger nach dem zweiten Angriffe auf den Flußriesen ein zweites Boot und fischt sich mit ihm das Ende einer zweiten Harpune auf. Nun wird das Ungethüm durch das schmerzerregende Anziehen der Harpunenleinen beliebig oft zur Oberfläche des Wassers heraufgezaubert und ihm im Verlaufe der Jagd der breite Rücken derartig mit Lanzen bespickt, daß er wie der Pelz eines Stachelschweines aussieht. Uebrigens führt man die Jagd nur dann mit einem Male zu Ende, wenn man Feuergewehr zur Verfügung hat; im entgegengesetzten Falle läßt man den im Wasser natürlich viel stärkeren Blutverlust das Seinige zur Abmattung des Thieres thun und nimmt erst am folgenden Tage die Verfolgung desselben wieder auf, da ja die schwimmenden Merkzeichen seinen Aufenthalt immer wieder verrathen. Ein glücklicher Lanzenwurf oder Stoß in das Rückenmark oder zwischen den Rippen hindurch in die Brusthöhle bläst schließlich das Lebenslicht des sattsam gemarterten Höllensohnes aus. Dann schleift man den Leichnam stromabwärts bis zur nächsten Sandbank, auf welcher er, nachdem er mit Thauen an’s Land gezogen worden ist, zerlegt wird.
Der Gewinn der Jagd ist nicht unbedeutend. – Die Eckzähne oder Hauer, das edelste Erzeugniß des Nilpferdes – denn sie wandern aus seinem Rachen in Gestalt künstlicher Zähne in den Mund so manches „Löwen“ und so mancher schönen Frau oder „gereifteren Jungfrau“ – werden schon an Ort und Stelle so theuer bezahlt, daß sie allein ein hübsches Sümmchen abwerfen. Aus der zolldicken Haut schneidet man jene vorzüglichen Peitschen, welche die Deutschen in Nordost-Afrika kurzweg „Nilpeitsche“ genannt haben; sie sind unübertrefflich in ihrer Art, höchst dauerhaft, äußerst biegsam, beim Kameelreisen unentbehrlich zum Antriebe der Reitthiere, bei anderen Gelegenheiten zum Dollmetscher seiner Ansichten, allen denjenigen Afrikanern gegenüber, welche bloße Worte nicht verstehen wollen: auch dienen sie als Hauptwerkzeug bei der entsetzlichen, im Morgenlande aber sehr beliebten „Bastonnade.“ Man hat behauptet, daß sie in Europa ihre Biegsamkeit verlören, hat aber wahrscheinlich nur rohe, und nicht zubereitete, mit Theer getränkte Peitschen im Auge gehabt. Mit einem Worte, die Nilpeitschen sind von ausgezeichneter Güte, und die Haut eines Nilpferdes kann deshalb bis zu dreißig Speciesthaler abwerfen, wenn sie zu Peitschen verarbeitet wird. Auch das Fleisch des Ungeheuers ist geschätzt und wird von den Gläubigen, trotz seiner großen Aehnlichkeit mit dem verpönten Schweinefleische, gern gegessen. Das Fett gilt im Ost-Sudahn als die allervorzüglichste Grundlage zur Haar- und Körpersalbe, Telka genannt, welche alle dunkelfarbigen Afrikaner zu gebrauchen scheinen. Kurz, wenn der Jäger seine Beute zu verwerthen weiß, kann sie einen recht netten Ertrag abwerfen.
Der Fang des Unthieres ist mit der Jagd ein und dasselbe; denn alle bisher gefangenen sind jung harpunirt worden. Selbstverständlich muß vorher die Mutter des jungen Thieres erlegt werden, ehe man auf dieses Jagd machen kann, es würde sonst auch ganz unmöglich sein, das angeworfene Thier lebend in seine Gewalt zu bekommen. Dagegen folgt es dem Leichnam der Mutter fast von selbst. Uebrigens wird man aus dem Erzählten die Schwierigkeit des Fanges leicht ermessen können und begreifen, warum [703] bisher so wenig lebende Nilpferde zu uns kamen. Fast jedes andere Thier ist leichter in die Gewalt des Menschen zu bekommen und fortzuschaffen, als ein Nilpferd! –
Bei Berücksichtigung der eigenthümlich plumpen Gestalt, des merkwürdigen Lebens, der Schädlichkeit und Gefährlichkeit des Nilpferdes erscheint es mir sehr natürlich, daß der Sudahnese, wie der Neger Guinea’s das wüste Vieh gar nicht für ein rechtes, natürliches Wesen, sondern eher für einen Auswurf der Hölle ansieht. Schon der sudahnesische Name „Aeësint“, dessen Bedeutung Niemand kennt, deutet auf etwas Ungewöhnliches hin.[7] Dazu kommt nun die Bedenken erregende Mißachtung aller, auch der kräftigsten Amulete seitens des Ungethüms. „Möge Gott die Affen verfluchen in seinem Zorn“, sagte mir ein Sudahnese; „denn sie sind verwandelte Menschen und Spitzbuben, Söhne, Enkel, Nachkommen von Spitzbuben, aber möge er uns bewahren vor den Kindern der Hölle, jenen Nilpferden! Denn ihnen ist das Heiligste Schaum und das Wort des Gottgesandten ein leerer Hauch. Alle Elephanten halten, weil sie gerechte Thiere sind, Gottes Wort in Ehren, wie Adamssöhne, aber die Nilpferde zerstampfen den „Gottesbrief“ mit ihren Füßen!“ Das Nilungeheuer ist also in den Augen der Eingeborenen gar kein von Allah erschaffenes Wesen, sondern nur die Maske eines verruchten, dem Teufel – vor welchem der Bewahrer die Gläubigen bewahren möge! – mit Leib und Seele angehörigen Zauberers und Sohnes der Hölle, welcher nur zu Zeiten diese Satansgestalt annimmt, sonst aber in seiner Hütte als Mensch erscheint, um andere Adamssöhne abzulocken vom Pfade des Heils. Mit anderen Worten: das Nilpferd ist der Gottseibeiuns selber, wenn auch mit etwas auffallenden und unzierlichen Pferdefüßen und Schwanz!
Dafür gibt es hundert Belege. Viele Menschen haben durch jenen Höllensohn ihr Leben verloren, und ihre Seele ist ihnen aus dem Körper gestampft worden, ohne daß der Leib gefressen worden wäre; – und unter den Todten war sogar ein Fakhïe oder Khorahnverständiger! Ferner ließ einer der Statthalter Ost-Sudahns, Churschid-Pascha, als er einst mit einem Fähnlein seiner Krieger an den Strom kam, diese auf ein Nilpferd Jagd machen, obwohl ihm ein weiser Schëich wohlmeinend davon abrieth; denn dieser wußte, daß das vermeintliche Nilpferd blos die Maske eines verwunschenen Menschen war. Zwar wurde der vom Anbeginn der Welt verfluchte Zauberer getödtet und seine rothe Seele der Hölle zugesandt, aber Churschid-Pascha entging seinem Schicksale nicht. Er war immer hart verfahren gegen die Zauberer des Landes; deshalb bannten ihn diese durch den Blick ihres scheelen Auges. Sein Leib versiechte, weil seine Eingeweide langsam verdorrten, und er wollte, auch krank, noch immer die Meinung der Ulema und des Khadi nicht gelten lassen; denn anstatt sich einem Kundigen des Gotteswortes anzuvertrauen und den Zauber durch diesen bannen zu lassen, vertrauete er den ungläubigen Aerzten aus Frankistán und welkte und siechte dahin. Möge sein Leib in Frieden ruhen und seine Seele begnadigt sein! Uns aber möge der Bewahrer bewahren, der Schützende schützen vor allerlei Zauber und Höllenwerk!
Eine neue Perle im Industrie-Gürtel Englands.
Wie die Göttin der Schönheit ihren Liebreiz einem Gürtel verdankte, hat sich England mit einem massiven Gurte der Kraft industrieller Production umgeben. Er umspannt die langgestreckte englische Hauptinsel in der Hüfte von Yorkshire, von Liverpool und Manchester bis herüber in die Nordsee in der weiten Mündung des Humberflusses mit den Häfen von Hull etc. und den riesigen Grunsby-Docks, und besteht aus einer Hunderte von Meilen langen und zehn bis funfzig breiten, fast ununterbrochenen labyrinthischen Reihe von Dampfschlotten, Rauch- und Dampfschichten in der Luft, massiven Palästen und endlosen Strecken von Arbeiterwohnungen und Städten, Canälen, Flüssen, Eisenbahnen, Omnibus, Krahnen, Spindeln, Rudern, Hebeln, Pumpen, Flaschenzügen, Gewinden und unsäglicher Masse von Maschinerie, die täglich Tausende von Centnern Baumwolle, Wolle und Seide in den verschiedensten Gemischen verschlingen und als gewebte Stoffe von tausenderlei Farben, Formen und Werthen wieder von sich geben, mehr als genug für die ganze Welt, so daß die Engländer fast immer in den fernsten Welttheilen und in der Nähe Krieg führen, um fremden Völkern diese ungeheuern Waarenvorräthe aufzuzwingen, obwohl sie dabei immer mehr zusetzen, als ihnen der gewaltsam und feindselig abgeschlossene Handelsvertrag je einbringen kann, obwohl Mars und Mercur nie Compagnons waren, nie werden, und auf ganz nüchterne, mercantile Weise längst viel größere Handelsvortheile gesichert worden wären, als sie bis jetzt mit Kanonen und Eroberungen erreicht haben.
Der Gürtel von industriellen Palästen in Yorkshire sieht in den älteren Theilen entsetzlich aus in seiner Unendlichkeit von Rauch und Schmutz, von Abfällen und Schlackengebirgen; aber neuerdings erheben sich immer mehr grandiose Phalanstèren der Fabrikation, Paläste, gegen welche die stolzesten Fürstenschlösser zu todten Grimassen hohlen, zehrenden Glanzes zusammenkriechen. Wir könnten Hunderte dieser neueren und neuesten Prachtbauten und Werkstätten der Groß-Industrie nennen und schildern, wählen aber eine statt aller, eine der neuesten und am praktischsten angelegten. Es ist die blos für Alpaca und Mohair bestimmte Manufactur Saltnire an der Ostseite des großen Industrie-Gürtels, eine halbe Meile westlich von Shipley im malerischen Thale des Aire-Flusses, zwischen Eisenbahn und Canal, mit denen beiden die Anstalt in unmittelbarer Verbindung steht. Sie erhebt sich auf sechs Morgen Landes. Die verschiedenen Etagen in der Fabrik, den Waarenlagern, Schuppen, etc. bilden auf dieser Oberfläche noch ein Terrain von zusammen 111/2 Morgen.
Die Hauptgebäude haben die Form eines T. Der horizontale Strich im Süden ist die Fabrik selbst, erbaut im kühnen, italienischen Style mit einer imposanten, eleganten Façade, 550 Fuß lang und 72 hoch mit den sechs Etagen, die in der Mitte durch die Maschinen-Räume, auf beiden Seiten des Haupteinganges, getheilt sind. Nur die oberste Etage bildet einen Raum, den bis jetzt größten unter einem massiven Dache (Krystall-Palast unter Glas-Dach natürlich ausgenommen); die verschiedenen Etagen ruhen auf Bogen, gemauert von patentirten, hohlen Mauersteinen, welche mit ihren Oeffnungen eine vortreffliche Ventilation und Luftreinigung unterhalten. Herrliche Reihen gegossener Eisensäulen und Eisenbalken geben dem Ganzen im Innern Kraft und Eleganz. Auch die Dächer sind von Eisen. Grosse, prächtige Fenster mit riesigen Spiegelglas-Scheiben, wie leuchtende Augen in der noblen Façade, geben dem Bau von dieser Seite das Gepräge eines grandiosen Kunstwerks der Architektur. Alle Bestandteile sind feuerfest.
Der perpendiculäre Strich des T deutet die Waarenlager an, die nördlich 330 Fuß weit bis an den Canal sich ausdehnen. Da hier der Boden abfällt und die Höhe der Gebäude eine gerade Ebene bildet, bekommt das Dach am Canale eine Höhe von 90 Fuß mit 7 Etagen, deren Dach unter Anderem eine gußeiserne Cisterne enthält mit Raum für 70,000 Gallonen Wasser, welches durch eine besondere Dampfmaschine an der anderen Seite des Canals hinaufgepumpt wird und die Anstalt, wie die benachbarten Arbeiter-Wohnungen versorgt.
Die Winkel und Ecken des T sind mit Arbeitslocalen, besonders dem Webeapparat, gefüllt. Der ungeheure Apparat des Kämmens nimmt die ganze westliche Ecke ein, mit Wasch-, Trocken- und Sortirungs-Räumen. Darunter ein Filter mit Reservoir, groß genug, um 500,000 Gallonen Regenwasser von allen Dächern zum Waschen der Wolle aufzunehmen. An der westlichen Ecke reihen sich hinter einer schönen Façade von 240 Fuß Breite Vorrathsräume und Bureaux.
Der Haupt-Dampfschlott, unten 18 Fuß ins Geviert bedeckend und 250 Fuß hoch, verbindet das Nothwendige mit möglichster Schönheit, wie die ganze Anstalt und mehr oder wenige alle englische Architektur neuesten Datums für große industrielle Zwecke. Unten und an der Spitze ist er so construirt, daß der Effect eines [704] italienischen Campanile erreicht wird. Doch könnten diese furchtbaren Kohlendampf- und Rauchthürme auch in ihrem ganzen Aeußeren viel mehr architektonische Schönheit annehmen. Die Dampfkessel, acht an der Zahl, nach dem sogenannten Tubular-Principe construirt, befinden sich 50 Yards vom Schlott unter der Erde und sind mit Sparapparaten versehen, einer großen Masse von vierzölligen Röhren, an deren Geäder Hitze und Rauch der Oefen hindurchströmen, während das Wasser für die Dampfkessel in entgegengesetzter Richtung durch sie hindurchfließt und schon kochend in den Kesseln ankömmt, so daß es sofort in Dampf verwandelt wird. Die Maschinen sind einer Kraft von 1250 Pferden fähig und ruhen in einem Bett, zu welchem 24,000 Centner Steine vermauert wurden. Für die Gaserleuchtung aller Gebäude ist eine eigene Anstalt gebaut worden mit einem Gasometer 60 Fuß im Umfange und 18 Fuß tief, der alle 24 Stunden etwa 100,000 Kubikfuß Gas in 5000 Brenner drücken soll. Die Gasanstalt ist eine Vervollkommnung der bisherigen Beleuchtung und Anwendung des patentirten White’schen Wasserstoff-Kohlenstoff-Systems.
Canal und Eisenbahn laufen bis unter Winden und Krahne der Fabrik, so daß Lasten von Roh- und verarbeitetem Material unmittelbar mit Leichtigkeit ge- und entladen werden können. Alle Bauten sind von Stein und Eisen und werden, wenn vollendet und in voller Arbeit, fünftehalbtausend Menschen Beschäftigung und Brod geben, obgleich sie nur über 100,000 Menschenhände ersetzende Maschinen bedienen werden. Die 4500 Arbeiter bilden mit Familie eine neue Bevölkerung von etwa 10,000 Menschen, welchen diese Maschinen Brod geben, das sie ohne Maschinen nicht verdienen würden, Brod und Straßen neuer Häuser mit Garten und grünen Plätzen, Schulen und Kirchen, großen Lesehallen, bedecktem Marktplatze, Küchen, Wasch- und Badeanstalten, Wohlthaten und Schönheiten, die allen diesen Menschen wahrscheinlich immer unzugänglich bleiben würden, wenn sich die riesige Productionskraft der Dampfmaschine, Capital und vereinigtes Sonder-Interesse Vieler nicht zu solchem praktischen Socialismus zusammengefunden hätte. Einheit und Einigkeit sind überall Bedingungen der Kraft, Schönheit, Cultur und Gesundheit der Völker, wie der Einzelnen.
Wenn es interessiren sollte, geben wir später eine Schilderung der mannichfachen, zum Theil genialen Processe, durch welche allerhand rohe Wollenfasern in die herrlichsten, zum Theil kostbarsten Bekleidungs- und Verschönerungsstoffe veredelt werden.
Fragmente aus Italien.
Es ist erstaunlich, wie sehr sich der politische Gedanke, die Freiheit, so weit sie der jetzigen Welt zu genügen scheint, in diesen letzten zehn Jahren auf sardinischem Boden eingebürgert. Ich würde sie unerschütterlich glauben, wenn ich nicht ein republikanisches Mißtrauen für geboten hielte, allen Institutionen gegenüber, die nicht so viele Wurzeln haben, als es in einem Lande Herzen gibt, ja, die nicht, wie der Baum unter der Gartenmauer hindurch, ihre Wurzeln auf nachbarliches Gebiet erstrecken. Es ist nicht zu leugnen, daß die ungeheure Majorität der Nation mit dem jetzigen Zustande der Dinge höchst zufrieden, ja beglückt ist. Anfangs hat sich ein Theil des Adels dem modernen und liberalen Stande der Dinge widersetzlich gezeigt; da es aber zum großen Theil Hofadel ist, der vom Absolutismus gehörig entwürdigt worden, streckte er die Waffen, sobald er sah, daß sein Herr und König mit Ernst [705] und aufrichtig auf die Sache einging. Der Klerus allein ist noch unzufrieden, wühlt, schürt und intriguirt und wird weder durch die nationale Idee, noch durch das Aufblühen des engeren Vaterlandes von seiner Feindseligkeit bekehrt; ihm allein gehören die Organe, die gegen die Regierung und Volksvertretung eine ernstliche Opposition machen; — aber König, Deputirte, Senatoren, Minister und Beamte sind excommunicirt und die Staatsmaschine fungirt vortrefflich. Vor diesem Decennium hätte man das für eine baare Unmöglichkeit gehalten; für eine baare Unmöglichkeit, daß ein Carignan, der in seiner Familie einen Papst und etwelche Heilige zählt, sich überhaupt excommuniciren lassen, und für eine noch größere Unmöglichkeit, daß die piemontesische Nation dieses Unglück so kaltblütig ertragen könne. Ach, unsere deutschen Kaiser, die armen Heinriche und Friedriche, hatten es nicht so gut; aber die Zeiten ändern sich. Selbst im Klerus gab es Mitglieder, die die neue Epoche mit patriotischer Freude begrüßten und sich den liberalen Ideen aufrichtig anschlossen; daß dies heute weniger der Fall ist, als vor einigen Jahren, daran trägt die Regierung, die in diesen Dingen noch wenig Erfahrung hatte, selber die Schuld. Diese liberalen Geistlichen wurden von ihren Collegen und Bischöfen geplagt und angefeindet, und die Regierung hat sie im Stiche gelassen, anstatt sich ihrer anzunehmen und andere zur Nachfolge aufzumuntern. Dennoch gibt es noch solche, die im Geheimen das Vaterland der Kirche vorziehen, und es darf nur einige Zeit über die Ungeschicklichkeit der Regierung hingehen, und der Liberalismus wird sich vorzugsweise in der niedern Geistlichkeit manifestiren. Habe ich doch selbst schon solche kennen gelernt, die trotz der Besetzung der Legationen mit denen, die sie besetzten, und mit der Regierung des excommunicirten Königs sympathisiren. Gioberti's Bücher haben Früchte getragen, wenn auch nicht ganz solche, wie er selbst zu cultiviren glaubte.
Der König ist populär, sehr populär, wie er es seinem ganzen Wesen nach sein muß. Seine kühle Phantasie hat ihn dem Klerus gegenüber vor jenen Schwankungen bewahrt, welche seinen phantasievolleren Vater, der sich im eigentlichen Sinne des Wortes die Hölle heiß machen ließ, in die Gewalt von Gauklern, Betrügern und Mystikern lieferten und ihn so unglücklich machten. Mit weniger Romantismus im Hirne wurde er, was Karl Albert nur sein wollte, la spada d'ltalia, das Schwert Italiens. Man ist ihm dankbar für diese seine Kühle dem Schrecken der Religion gegenüber und für die Tapferkeit, mit der er leiblicheren Feinden entgegengeht. Dazu kommt sein großes Verdienst, sich in Regierungsgeschäfte so wenig als möglich zu mischen, d. i. ein guter constitutioneller König zu sein, und das Vertrauen, das man allgemein in seinen Willen setzt, es immer zu bleiben. Er liebt die Jagd, die Pferde und die Weiber. Mit der Büchse auf der Schulter das Land durchstreifend, ein Stück Brod, eine Zwiebel, eine Flasche Wein in der Tasche und eine Cigarre im Munde, ist er am glücklichsten. Auf diesen Jagdstreifereien kehrt er in Bauernhütten ein, setzt sich, gekannt oder ungekannt, an den Tisch und ißt mit und wirft sich, wenn er müde ist, auf den harten Boden und schläft vortrefflich. Er hat nicht nur keine Scheu vor der Berührung mit dem Volke, er sucht es auf und fühlt sich wohl dabei. Man sagt, daß er mit einer seiner Geliebten, einer tüchtigen Tambourmajorstochter, heimlich vermählt sei. Als echter Turinese liebt er den Spaziergang unter den Arcaden der Piazza di Castello und der Via del Po. Da sieht man ihn oft mit einem Schlapphute auf dem Kopfe, der ihn der österreichischen Polizei verdächtig machen würde, mit dem Mantel auf einer Schulter, in nichts weniger als eleganter bürgerlicher Tracht, die Cigarre unausgesetzt im Munde, unter dem großen, gewaltigen Schnurrbart, dessen natürliche Grenzen er ausgedehnt, indem er noch ein Stück des Backenbartes dazu nahm. Wer ihn da sieht, der muß sich sagen: da geht, was die Franzosen un gros bonhomme und die Engländer a good fellow nennen. Aber blos gut und was man gewöhnlich mit diesem Lobe zu verbinden pflegt, ist er nicht. Die ihn näher kennen, sagen ihm ein gut Theil gesunden Menschenverstandes nach und nebenbei einen gewissen instinctiven Scharfsinn, der ihn die Stimmungen der Zeit, sowie die Charaktere, die ihn umgeben, rasch erkennen läßt. Auch jene Unthätigkeit hört auf, wo in der Politik seine Person und seine liebsten Ueberzeugungen in's Spiel kommen. Doch am besten wird ihn eine historische Anekdote zeichnen, wie er sie einem Freunde selbst erzählte.
Nach dem Frieden zu Villafranca kam der Kaiser der Franzosen zu ihm und sagte: „Ich habe Frieden geschlossen."
„Frieden geschlossen? Nicht Sie haben Frieden zu schließen, sondern ich, dem der Krieg erklärt worden. Ich habe nicht Frieden geschlossen, ich setze den Krieg fort.“
Der Kaiser gab ihm nicht undeutlich zu verstehen, daß er es dann mit zwei mächtigen Feinden zu thun hätte.
„Ich war schon genugsam außer mir; nun stieg mir das Blut zu Kopfe; ich war wie verrückt und — setzte er lachend hinzu — sagte: „Der Kaiser von Oesterreich ist jung; ich schicke ihm eine Herausforderung; er wird sie annehmen, und wir werden die Sache unter uns abmachen.“
Darauf nahm ihn Louis Napoleon am Arme und sagte: „Vous n’êtes bon qu’a faire des romans.“ (Sie können nichts als Romane spielen.)
Als ihm der Kaiser später von der italienischen Conföderation sprach, rief er aus: „Ich mit einem Oesterreicher in derselben Conföderation? Niemals!“
Worauf der Kaiser wieder: „Sie sind italienischer als alle Italiener!“
Diese Anekdoten sind authentisch und bezeichnend. Am Regieren hängt sein Herz so wenig, daß er immer zum Abdanken bereit ist, wenn es irgend wie nothwendig oder nützlich. Zu wiederholten Malen, wenn sich Cavour seinen tollkühnen Vorschlägen im Ministerrathe widersetzte, sagte er begütigend: „Was liegt Ihnen daran, lieber Cavour? Wenn die Sache nicht geht, werde ich Monsieur de Savoye und Sie bleiben der Graf Cavour.“
Diejenigen, die Victor Emanuel hassen, weil er der Vorkämpfer der italienischen Freiheit, überhaupt einer Freiheit ist, wissen nicht, was sie thun, und wissen nicht, was sie ihm zu danken haben. Er hat die Republik getödtet oder wenigstens aufgeschoben; er hat eine bei weitem gewaltsamere und tiefer gehende Bewegung, als die jetzige ist, die ein Beispiel für Europa gewesen wäre und Nachahmung gefunden hätte, vereitelt. An keinen anderen König hätte sich Manin, hätten sich die Garibaldisten und Mazzinisten so aufrichtig angeschlossen; für keinen hätten sie ihre politischen Ideen den nationalen so bereitwillig untergeordnet. Des klugen Mazzini seit dreißig Jahren ausgestreute Saaten hat der einfache Victor Emanuel geerntet und auf die Felder, die jener gepflügt und aufgewühlt, hat dieser neuen Samen gestreut. Ich weiß nicht, ob dies ein Glück für die ganze Zukunft Italiens zu nennen ist; ich spreche kein Urtheil aus, ich referire nur.
Nach dem König, und in einem beschränkten Sinne nach Garibaldi der populärste Mann Sardiniens ist Cavour, doch ist er mehr im Publicum verehrt und bewundert, als in den betreffenden Kreisen, mit denen er in amtlicher Thätigkeit persönlich in Berührung kommt. Er ist eigenmächtig und läßt seine Ueberlegenheit fühlen. Dies Letztere ist es, was auch den König von ihm entfernt, der ihn nicht sehr liebt und der nicht betrübt ist, wenn ihn die politische Constellation, wie im gegenwärtigen Momente, auf einige Zeit aus dem Rathe entfernt. Cavour stammt aus alter Familie, ist im Grunde sehr aristokratisch gesinnt, scheut die Berührung mit dem Volke und hat wenig Sympathie mit Bewegungen, welche tiefere Schichten aufregen und heben. Aber er ist ehrgeizig, klug und thatenlustig und er hat seine Zeit erkannt. Er weiß, daß er seine politischen Pläne nicht mit der bedeutungslos gewordenen Aristokratie durchsetzen kann, und so hat er sich der populären Idee und den Ideen der Epoche angeschlossen. Das Volk rechnet nicht mit ihm und sieht nur seine Thaten, den Eifer, mit dem er seit Jahren arbeitet, die Folgen dieser Arbeit und das günstige Gesicht, das er als Minister und Deputirter zu allen liberalen Gesetzen und Institutionen zeigt. Neben Victor Emanuels Portrait sieht man überall das seinige. Dieses Gesicht aber deutet nicht im Geringsten auf einen Aristokraten. Cavour sieht aus wie der Sohn kleinbürgerlicher Eltern, der es zu etwas gebracht hat, und seine klugen Augen scheinen die Mittel anzugeben, mit denen man es von Nichts zu Etwas bringt. Selbst diese Augen blicken nur proletarisch klug. Er hat Aehnlichkeit mit Proudhon. Auf der breiten und gewölbten Stirne steht in großen Letter» die Inschrift: Zweckmäßigkeit. Aber er ist ein Patriot; ob mehr ein italienischer oder mehr ein sardinischer, will ich um so weniger entscheiden, als dies im Moment gleichgültig ist und der echte sardinische Patriotismus dem italienischen zu Gute kommt. Auch zerbrechen sich die Italiener nicht den Kopf darüber und verehren ihn aufrichtig. Jedes Kind kennt Cavour und Jedermann beschwört es, daß Cavour durchsetze, was überhaupt durchzusetzen ist. Dieses [706] Vertrauen in die Majorität seiner Leiter ist eine der Stärken der jetzigen italienischen Geschichte und ist eine der neuen Erscheinungen, die in Italien doppelt überraschen. Zu diesen gehört auch der praktische Bon sens, der, wie sich Victor Emanuel schon nach dem Frieden von Villafranca ausdrückte, gegenwärtig durch ganz Italien weht.
Auch Ratazzi, d’Azeglio und die meisten der Männer, die in den letzten zehn Jahren das Land zu regieren oder zu vertreten berufen waren und in nächster Zukunft berufen sind, erfreuen sich trotz mancher Verschiedenheit der Ansichten, trotz der vielfachen Verschiedenheit in Geistes- und Charakteranlagen eines großen Vertrauens, weil man ihres guten Willens, ihrer Vaterlandsliebe sicher ist. So Ratazzi trotz seiner französischen Centralisationsideen, die dem italienischen Charakter und seiner historischen Entwickelung so wenig angemessen sind. Mit aller Gemüthsruhe sieht man die unumschränkte Gewalt, die man im Drange der Umstände der Regierung einräumte, in seiner Hand vereinigt und sieht den vielen und wichtigen Reformgesetzen entgegen, die aus seinen und der anderen Minister Cabineten hervorgehen sollen. Lamarmora ist am wenigsten beliebt, da er als schroffer und absolutistischer Charakter bekannt ist, dessen veraltete Ideen etwas verrostet sind; aber man weiß, daß er nach bestem Wissen handelt. Massimo d’Azeglio mit seinem Künstlergemüthe war dem Volke immer sympathisch. Was ihm in der Meinung anderer Nationen geschadet hätte, brachte ihn im Gegentheil in Italien dem Volke näher. Der Künstler ist dem Italiener nicht der ungewöhnliche Mensch, über den man lächelt oder auch, sobald es sich um Praktisches handelt, die Achsel zuckt, sondern der normale Mensch. Azeglio hat in seiner Jugend ein Libretto geschrieben, dann dieses Libretto in Musik gesetzt, dann die Decorationen dazu gemalt. Dann hat er seine Oper mit den Sängern einstudirt, dann saß er im Orchester und spielte die erste Violine; im gegebenen Moment ging er auf die Bühne und sang die Tenorpartie. Diese Geschichte, die Jedermann kennt, würde hinreichen, ihm das Wohlwollen Aller zu sichern, wenn er auch nicht außerdem für sein Vaterland gelitten und gearbeitet hätte, und wenn man auch nicht wüßte, daß er mit seinem liebenswürdigen Wesen so Manches zu Hause und in der Fremde zum Nutzen des Staates durchsetzt, was Andere mit aller Politik und Diplomatie nicht zu erreichen im Stande sind.
Zu der Zufriedenheit mit den Leitern, König, Staatsmännern und Volksvertretern, kommt noch jene gewisse Selbstzufriedenheit, die man in allen kleineren freien Staaten, wie in Belgien, Dänemark etc. findet und die in Sardinien um so größer ist ihrer Neuheit wegen und als in einem Staate, der es fühlt, daß er an der Schwelle des Berufes angekommen, für den ihn seine ganze Geschichte vorbereitete und bestimmte, und als dieser Beruf bereits angefangen hat, eine Wahrheit zu werden. In Folge dieser allgemeinen Zufriedenheit mit sich selbst herrscht hier, trotz der bewegten Zeiten und der Schleier, die die Zukunft verhüllen, ein Behagen, wie man es unter solchen Umständen aus der Ferne für unmöglich halten würde. Trotz aller Opfer an Geld, Kraft und selbst Menschenleben, die der Krieg gekostet und die die Vorsicht auferlegt, lebt man so sicher in den Tag hinein, als ob man bei Zukunft und Weltgeschichte assecurirt wäre. Man empfängt den Eindruck, daß Piemont heut auf dem Schlachtfelde geschlagen und von der ganzen Diplomatie verlassen werden könnte und daß es trotzdem kein Jota aus dem Programme seiner Zukunft streichen würde; daß seine so wie Italiens Aufgabe feststehe, wie eine absolute Idee, an der keine Aeußerlichkeit, keine Zufälligkeit etwas ändern könne.
Aber Rom wurde nicht in einem Tage gebaut. Zu einem solchen Gemüthszustande gelangt ein Staat nicht in der kurzen Zeit zwischen Palestro und Villafranca, auch nicht während eines Ministeriums Cavour. Wir wollen uns nicht in die Geschichte vertiefen und nachweisen, wie das Haus Savoyen, als es, durch den kleinen Stein des Anstoßes, die Republik Genf, gezwungen, seine Ausdehnungsgelüste dem Norden zu aufzugeben, von dem Moment an, wie es sich am Fuße der Alpen ansiedelte, nun dem Süden in Italien zustrebte; wie später seine Herzoge und Könige, die in den meisten Kriegen zwei und drei verschiedene Allianzen schlossen und mit derselben Treue österreichische, spanische, französische Farben trugen, und zwar als geistreiche, energische Spitzbuben, aber doch als Spitzbuben erscheinen, in den heimischen Geschichtsbüchern aber, in den heimischen Anschauungen, Traditionen, Sagen, Liedern als Nationalhelden auftreten; auch nicht in die Archive wollen wir uns vertiefen, obwohl die Turiner Archive so verlockend schön geordnet sind, daß man daselbst alt werden könnte, wie ein Pergament, obwohl man da höchst interessante, auf die consequente piemontesische Politik deutende Actenstücke findet, wie z. B. jenen noch ganz unbekannten, von oder unter Victor Emanuel dem Ersten aufgesetzten, aus neunzehn Artikeln bestehenden Plan zur Vereinigung des ganzen Italiens, ein Plan, der so geistvoll, so bedeutend, so voll politischer Voraussicht ist, wie das Testament Peters des Großen. Wir wollen es nicht mit Pergamenten und Papieren zu thun haben; wir studiren eine Stadt und ihre Geschichte auch nicht aus Fremdenführern, sondern in ihren Straßen.
Was uns zuerst auffällt, ist die für die Größe der Stadt verhältnißmäßig außerordentlich große Anzahl von Monumenten. So ein kleiner Staat, der erst etwas werden will, muß es sich, um den gehörigen Muth zu seiner Laufbahn zu haben, erst klar machen und sich fortwährend daran erinnern, daß er Kräfte hervorbringe, die ihn zu einer Zukunft befähigen, und wenn sein Programm dahin geht, eine zerrissene Nation zu einigen, muß er zeigen, daß er im Gedanken den Zeiten vorgreift, daß wenigstens der Gedanke der Einheit schon bestehe. Alle Männer Italiens sind schon Sardiniens Männer, alle seine Provinzen hat es schon im Geiste erobert. Dagegen kann kein Gesandter, keine diplomatische Note etwas sagen. Sehen wir uns unter den Monumenten um. Da ist auf der Piazza San Carlo das älteste und schönste Monument des neuen Turin, die berühmte Reiterstatue Emanuel Philiberts von Marochetti. Wir wollen den kräftigen Streiter, das eben so schöne Pferd, die originelle Bewegung, die Lebensfülle des Ganzen nicht beschreiben, wir machen nur darauf aufmerksam als auf das Denkmal des Mannes, den man als einen nationalen Helden betrachtet, weil er die Vergrößerungspolitik Savoyens am energischsten und zugleich sehr klug durchführte; man vergißt gern, daß diese Politik zur Zeit noch eine persönliche, eine Hauspolitik gewesen. Nach Emanuel Philibert eine große Lücke der Zeit nach, denn mit einem Male stehen wir in den neuesten Zeiten und staunen, wie rasch diese große Anzahl von Monumenten aus dem Boden gewachsen sein müsse. Auf der Promenade begegnen wir dreien auf einmal. Da sitzt zuerst der Denker Balbo, der den italienischen Gedanken nie aus den Augen verloren und der katholisch war, weil Italien einmal katholisch ist; unweit vom Grafen Balbo steht das populäre Element in der Armee personificirt in der Statue des Generals Bava, der von der Pike auf gedient und sein Vaterland liebt, und gleich neben diesem der revolutionaire General, der Verschwörer und Flüchtling, der Neapolitaner Guilielmo Pepe, und zwar in dem Momente dargestellt, wo er den Befehl seines Königs, der ihm die Rückkehr gebietet, zerreißt und den Po überschreitet, um dem revolutionairen Venedig mit neapolitanischen Truppen zu Hülfe zu eilen. Ist wo anders in der Welt von einem Könige einem General ein Denkmal errichtet worden, weil er den Befehl seines Königs zerrissen? Die Ursache ist, daß alle italienischen Generale, die ihren particularen Fürsten nicht gehorchen, sardinische, italienische Generale sind. Vor dem Palast Carignan selbst erhebt sich das Denkmal Vincenzo Gioberti’s und zwar in bürgerlicher Tracht, jedes Attributes baar, das an den Geistlichen, also an Rom erinnern könnte. Gioberti hat die Einheit Italiens gepredigt, wenn auch durch Irrthum eine Zeit lang das Primat Roms; und er war ein Bürger Piemonts, selbst wenn er nicht in Turin das Licht des Tages und in der Verbannung den zukünftigen Tag Italiens erblickt hätte.
Vor dem königlichen Schlosse, immer vor den Augen des Königs, steht jener simple Soldat mit gezogenem Degen und mit entrollter Fahne, welchen Mailand noch im Jahre 1856 als eine Huldigung für die sardinische Armee, die bei Novara geschlagen wurde, hinstellen ließ. Also überall in den Straßen geistige Besitzergreifung Italiens, Neapels, Roms, des lombardisch-venetianischen Königreichs, überall Herausforderungen der Machthaber in diesen Ländern, die als unberechtigt betrachtet werden, weil sie nur Particularisten und Separatisten sind. Ihr Rathhaus schmückt die Stadt mit der Statue Karl Alberts, dem man so viel vergibt und vergißt, weil er zuerst offen das Schwert für die populäre Idee gezogen, und unweit von ihm steht Prinz Eugen, der edle Ritter, um daran zu erinnern, wie viele Rettungen der Erbfeind Oesterreich einem Sohne dieses königlichen Hauses zu danken habe, zugleich daran, daß dieser Prinz Turin befreit hat. Selbst der früh verstorbene Herzog von Genua steht da, weil er sich gegen Oesterreich geschlagen und weil er ein Sohn Karl Alberts ist. So sind alle diese und andere Monumente nur gewaltige Lettern, die immer und [707] immer wieder von der einen und einheitlichen Idee predigen. Viele von diesen rühren von Vela, dem Bildhauer des Tages her, der ein merkwürdiges Gemisch der Anfänge aus dem fünfzehnten Jahrhundert, aus der Zeit Donatellos und des crassesten Realismus in seinem Talente vereinigt. Er war früher Professor in Mailand. Die Akademie der Brera ernannte ihn zu ihrem Mitgliede; eine hohe, durch die Tradition geheiligte Ehre, nach der jeder italienische Künstler strebt. Aber Bela erfuhr, daß in derselben Sitzung auch Radetzky und Strassoldo zu Mitgliedern der Akademie ernannt worden, und er schickte der Brera das Diplom zurück, mit dem Bedeuten, daß er solche Collegen nicht haben wolle. Darauf wurde ihm angezeigt, daß er binnen wenigen Tagen Mailand zu verlassen habe. Nun aber ist es nicht so leicht, sich mit zehn bis zwölf Marmorblöcken in die Diligence zu setzen; Bela vertheilte sie an seine Freunde und ging nach Turin, wohin sich Alles flüchtete, was solche und ähnliche Diplome nicht erstrebte, und schuf daselbst die zahlreichen nationalen Monumente und andere mehr oder weniger schöne Kunstwerke.
Solcher kleiner Geschichten könnte man aus der modernen Zeit Italiens Hunderte und Tausende erzählen. Sie würden alle beweisen, wie die Einheitsidee in Allen lebte, die irgendwie Bildung, Intelligenz, Talent besaßen. Wir wollen uns dabei nicht aufhalten; das Lager Garibaldi’s, das man so gern als ein Nest von Räubern darstellt, spricht laut genug, und es bedarf neben diesem keines andern Beweises, daß die beste und edelste Kraft Italiens in den Kampf zog. In seinem Pioniercorps, das anfangs nur aus hundert Mann bestand, befanden sich damals nicht weniger als einundsiebzig Ingenieurs, die Aemter und Arbeiten verließen, um dem Vaterlande zu dienen. In den andern Corps wimmelte es von Gelehrten, Schriftstellern, Künstlern jeder Art, die als gemeine Soldaten dienten, unter diesen auch die beiden hoffnungsvollsten jungen Maler des jetzigen Italiens.
Blätter und Blüthen.
Eine Schauspielerin auf der Reise. Fräulein B. vom Theatre Français in Paris machte eine Reise in die Provinz, um dort einige Gastrollen zu geben. In einer kleinen Stadt in Burgund wurde gehalten, um zu Mittag zu essen; sie wollte sich aber nicht lange aufhalten, um noch vor der Nacht an den Ort ihrer Bestimmung zu kommen. Kaum war sie in der „blauen Glocke“ abgestiegen, als ein Gensd’arm die Reisende um ihren Paß ersuchte.
Fräulein B. war unüberlegt und übermüthig, sie glaubte dergleichen nicht nöthig zu haben, sie lächelte stolz und sagte mit würdevollem Tone:
„Sie müssen wissen, Gensd’arm, daß solch gewöhnliche Dinge nicht für mich gemacht sind.“
Der Gensd’arm war erstaunt über diese Worte und über das wahrhaft königliche Aussehen derjenigen, welche sie aussprach; er sagte sehr ehrfurchtsvoll: „Es ist möglich, Madame, daß so gewöhnliche Sachen Sie nichts angehen, aber ich habe nun einmal den Befehl des Herrn Bürgermeisters, von jedem Reisenden den Paß zu fordern. Haben Sie daher die Güte, mir wenigstens Ihren Namen zu sagen, damit der Herr Bürgermeister selbst entscheidet, ob Sie ohne Paß reisen können.“
„Nun gut, Gensd’arm, sagen Sie Ihrem Herrn Bürgermeister, daß Phädra hier in der blauen Glocke ist.“
Der Bürgermeister war zufällig ein leidenschaftlicher Theaterfreund, er ahnte sogleich eine Schauspielerin und ließ Fräulein B. bitten, sich zu ihm zu begeben.
Fräulein B. erwartete diese Einladung und froh, ein kleines Abenteuer zu haben, machte sie sich sogleich, von ihrer treuen Zofe begleitet, auf den Weg. Sie kam in dem Augenblick, als sich der Herr Bürgermeister zu Tische setzte. „Sie sind es,“ sagte er zu ihr und lorguettirte sie, „die unter dem Namen Phädra reist?“
„Wenn Sie erlauben,“ sagte ernst die Schauspielerin.
„Sehr gut, und Sie glauben, daß dieser Name einen Paß ersetzt?“
„Wenn dies nicht genügt, so heiße ich auch noch Zaïre, Iphigenie etc., mit einem Wort, ich bin Fräulein B., erste Tragödin am Theatre Français. Ich bin in Chalons erwartet, wo ich einige Gastrollen geben werde.“
Der Bürgermeister rieb die Gläser seiner Brille, und nachdem er Fräulein B. lange betrachtet hatte, sagte er: „Es ist traurig für Sie, Madame, daß ich vergangenes Jahr vierzehn Tage in Paris zubrachte und das Vergnügen hatte, Fräulein B. mehrere Mal zu sehen und zu bewundern, d. h. Madame, daß Ihre List ohne Erfolg ist, und ich gewiß weiß, daß Sie nicht Fräulein B. sind.“
„Das ist zu stark!“ rief Fräulein B. heftig.
„Nein, nein, und hundert Mal nein, Fräulein B. ist vielleicht zehn Jahre jünger als Sie, sie ist viel schöner und, sein Sie nicht ungehalten, blühender als Sie.“
Fräulein B. wurde roth vor Aerger und so hastig gegen den Herrn Bürgermeister, daß dieser genöthigt war, den Gensd’arm zu rufen. Bei dem Anblick ihres Gensd’arms beruhigte sie sich und sagte: „Ich will Ihnen beweisen, daß ich Fräulein B. bin. Geben Sie mir gefälligst eine Viertelstunde, und Sie werden sich von der Wahrheit überzeugen.“
Die Schauspielerin ging in ein Nebenzimmer und nachdem sie nach dem Hotel nach Garderobe geschickt, kleidete sie sich als Iphigenie an. Es war inzwischen dunkel geworden, die Lichter wurden angezündet, die Fenster geschlossen, als Fräulein B. eintrat. Es war nicht mehr die Reisende im Tibetkleide und dem Atlashut, es war die Prinzessin von Aulis mit ihrem Diadem von Gold und Edelsteinen.
Sie trat ein und declamirte die herrlichen Verse von Racine; der Bürgermeister rief voll Erstaunen und ganz entzückt aus: „Jetzt erkenne ich Dich, o göttliche B.! Ja, Sie sind es, Du bist Iphigenie, Phädra und Zaïre, Du bist Alles; ja, Sie können ohne Paß reisen, Sie haben keinen nöthig; wollen Sie, daß ich Sie durch meine Gensd’armen escortiren lasse, große herrliche Tragödin?“
Fräulein B., die im Zuge war, declamirte immer; der Bürgermeister hatte schon lange seinen Racine herbeigeholt und las alle passenden Stellen und Antworten.
Aber plötzlich erhob er sich, er war wie hingerissen, ein dramatischer Dämon hatte sich seiner bemächtigt; er riß das Tischtuch vom Tische, machte sich einen Mantel daraus und nun war er auf der Bühne; er spielte die Rolle des Eriphile.
„Bravo!“ sagte Fräulein B., „bravo, mein bester Herr Bürgermeister, Sie sind gottvoll in dieser Rolle.“
„Sie sind es, o liebenswürdige B.,“ rief der Bürgermeister ganz begeistert, „Sie sind es, welche mir diesen göttlichen Funken eingeflößt hat, Sie machen aus mir einen Künstler. Ich folge von nun an Ihren Schritten, Sie gehen nach Chalons, ich gehe auch hin, und wir spielen mit einander die Tragödien von Racine und von Voltaire.“
Fräulein B. fand den Vorschlag sehr belustigend und ermuthigte den Bürgermeister durch übertriebenes Lob und Schmeicheleien, sie versicherte ihm, er habe ein großes Talent, und brachte es so weit, daß er sich mit ihr in den Wagen setzte und nach Chalons fuhr, wo er sogleich dem Director des dortigen Theatern vorgestellt werden sollte, um am andern Tag mit Fräulein B. in der Rolle des Eriphile aufzutreten.
Gegen Morgen, nachdem der Bürgermeister die ganze Nacht bei kühlem Wetter gefahren war, obgleich immer noch eingehüllt in sein Tischtuch, fühlte er seine Begeisterung gewaltig abnehmen, er überdachte seine Lage und bat Fräulein B., das größte Stillschweigen hierüber zu beobachten und von dem Abenteuer, welches ihn nach Chalons geführt, nichts zu erwähnen. Fräulein B. versprach zu schweigen, und der Bürgermeister kehrte eilig, nachdem er sich seines Tischtuchs entledigt, nach Hause zurück. –
Aus dem Gemüthsleben der Thiere. Eine sehr hübsche Beobachtung aus dem Pflegeelternwesen der Thiere verdient wohl in weiteren Kreisen bekannt zu sein. Der Franzose le Vaillant, ein Sohn des berühmten Naturforschers und Reisenden in Afrika, erhielt zwei Weibchen der kleinen Maus der Berberei (Mus barbarus) mit je vier noch säugenden Jungen. Le Vaillaut brachte beide zusammen in ein Behältniß, bereitete jeder ein Nest und erwartete nun, daß jede Mutter ihren Kindern die nöthige Pflege und Wartung angedeihen lassen werde. Dem war jedoch nicht so; jede der Mütter wollte vielmehr die Pflege aller acht Jungen ganz allein übernehmen. Es entspann sich darüber ein wüthender Kampf zwischen beiden Alten; endlich mußte die Eine, wundenbedeckt, der Andern das Schlachtfeld überlassen und für sich selbst eine ruhige Stätte suchen. Sie bauete sich aus den übrigen Halmen und anderen Reststoffen ein Lager und verkroch sich in demselben. Die Andere übernahm nun sofort die Pflege der Jungen, säugte, leckte und reinigte sie und überdeckte sie mit ihrem Körper, um sie zu wärmen. Sie erfüllte eine Zeit lang alle Mutterpflichten mit großer Liebe und Hingebung; bald aber schwanden ihr hierzu die Kräfte, die Milch versiechte und die Kleinen blieben ungestillt. Das nahm die andere Mutter wahr, und augenblicklich verließ sie ihr Schmerzenslager, kehrte zu den Jungen zurück, bemächtigte sich des Nestes und erfüllte nun ihrerseits die Mutterpflichten an sämmtlichen Kleinen. Die andere Mutter blieb nicht ungerührt, sie schloß Frieden mir ihrer Widersacherin und theilte sich mit ihr freundschaftlich in die Freuden und Leiden der Mutterschaft. Beide Alten übernahmen fortan wechselseitig die Pflege der Kleinen, bis diese heranwuchsen und der Mutterbrust nicht mehr bedurften.
Die zweite Sündfluth. Am ersten November 1570, am Tage aller Heiligen, wurde Ostfriesland von einer Wasserfluth heimgesucht, die eine der größten ist, die sich je an dieser Küste ereignet hat. Sie ist in der Geschichte
[708] unter dem Namen der Allerheiligenfluth, oder wegen ihrer weiten Ausdehnung, der großen Anzahl der erblaßten Menschen und des unersetzlichen Schadens an Vieh, Häusern und Ländern, mit dem Namen der zweiten Sündfluth von den Schriftstellern und der Nachkommenschaft benannt worden. Von Calais bis Dänemark, von Frankreich bis zur Elbe hinauf, verloren dabei 100,000 Menschen ihr Leben in den Wellen. Sie begann des Abends mit einem Sturme aus Nordwesten und hielt zweimal vierundzwanzig Stunden an. Wir wollen uns nicht auf die Verwüstungen einlassen, die sie in Brabant, Holland, Friesland, Gröningen und zwischen der Weser bis an Ditmarsen und Nordstrand angerichtet hat, sondern bleiben blos bei Ostfriesland stehen, von welchem uns Tilemann Dothias Wiarda in seiner ostfriesischen Geschichte Folgendes berichtet: Die Deiche konnten der Gewalt der Wellen nicht widerstehen, sie brachen an verschiedenen Stellen durch und so stand fast das ganze Land unter Wasser. Emden war wie eine Insel anzusehen. Das Seewasser erstreckte sich beinahe bis mitten in das Land. Es floß an der einen Seite bis nach Bagband, an der andern bis nach Walle hin. Menschen, Vieh, Häuser wurden von der gewaltigen Fluth fortgerissen.
Harlingerland verlor nach einer noch vorhandenen besonderen Liste in dieser Fluth 796 Menschen, 411 Pferde, 961 Füllen, 1336 Schweine, 1438 Schafe, 115 Ochsen, 1841 Kühe, 1361 Stück einjähriges Hornvieh und 270 weggespülte Häuser. Weil Harlingerland so sehr gelitten, verordnete der damals regierende Graf Erich von Richberg, daß an dem Allerheiligen-Tage jährlich ein Buß- und Bettag gehalten werden sollte. Ostfriedland – man hat kein genaues Verzeichnis davon – soll 3000, die Herrschaft Jever 400, Rüstringen 1000 und Butjadingerland 4000 Menschen eingebüßt haben.
Ein musikalisches Schmuckkästchen. So dürfen wir die in Leipzig bei A. Gumprecht seit einem Jahre erscheinende „Illustrirte Ausgabe erlesener musikalischer Meisterwerke“ – Bach, Händel, Gluck, Haydn, Mozart, Beethoven - nennen, welche den Lesern der Gartenlaube bestens empfohlen sein möge, nachdem auch viele musikalische Zeitungen sich sehr anerkennend darüber ausgesprochen. Nicht sämmtliche Werke oder ganze Opern werden hier gegeben, sondern nur Gleichartiges zu kleinen Gruppen zusammengestellt, deren jede ein selbstständiges Ganze bildet und apart zu kaufen ist; theils für Clavier allein, theils für eine Singstimme mit Begleitung. Das „classische Pianoforte-Album“ enthält 14 gefällige, leicht spielbare Klavierstücke, die als Vorbereitung für schwierigere Werke und zur Bildung des Geschmackes dienen sollen, das „classische Sopran-Album“ 31; das „classische Alt-Album“ 24 Gesangstücke, und zwar diejenigen, welche den Geist jener sechs Meister am reinsten und schönsten darstellen, deshalb der Mehrzahl nach die Grundlage sowohl des Repertoires unserer Concertkoryphäen, wie auch eines soliden Gesangunterrichtes in seinen verschiedenen Stufen bilden. Die Texte sind meist neu übersetzt mit Rücksicht auf correcte Athemverteilung. Jedem Gesangalbum sind eingehende Bemerkungen über den Vortrag der einzelnen Arien, ferner jedem Album Biographien und allgemeine Charakteristiken der Meister, endlich ein Tableau mit den sechs Portraits in Stahlstich beigeben.[8] Die Ausstattung ist im eigentlichen Sinne salonfähig und doch dabei der Preis ungemein billig. Möchten die Albums beitragen, die Kreise immermehr zu erweitern, die Freude haben an den Edelsten und Schönsten im Reiche der Töne.
Karlsruhe hat das Schillerfest auf eine sehr würdige Weise gefeiert. Allen Landsmannschaften und Bannern voran, von Wappenherolden geleitet, wurde eine mächtige Fahne getragen mit den ehrwürdigen Farben der deutschen Nation: Schwarz-Roth-Gold. Wo sie auch erschien, wurde sie mit hochaufjauchzendem Jubel begrüßt. Noch eine zweite Fahne befand sich im Zuge, bei deren Anblick sich unwillkürlich die Fäuste ballten – das Banner Schleswig-Holsteins in dichten Trauerflor gehüllt. Das sprach beredter als Worte. – in Süddeutschland waren überhaupt schwarz-roth-goldene Fahnen und Ausschmückungen sehr an der Tagesordnung.
Leipzig hat bekanntlich auch sein Contingent zu der kleinen Armee von Kanzelrednern geliefert, die gegen das Schillerfest als eine „strafbare Abgötterei eines Menschen“ von heiliger Stätte herabdonnerten. Daß nicht alle Verkündiger des Wortes Gottes mit diesen Herren übereinstimen, mag eine Mittheilung aus Nürnberg beweisen, die wir hier wörtlich folgen lassen:
Der schon durch sein Alter ehrwürdige pegnesische Blumenorden – er wurde im Jahre 1644 zu Nürnberg von Philipp Harsdörfer und Joh. Klaj unter dem Namen: „Der löbliche Hirten- und Blumenorden von der Pegnitz“ zur Beförderung der Reinheit der deutschen Sprache und der edeln Reimkunst gestiftet – hat gestern in den festlich geschmückten Räumen des Saals im rothen Roß eine den Zwecken des Ordens entsprechende Schillerfeier dadurch begangen, daß von einzelnen seiner Mitglieder tiefeingehende Vorträge gehalten wurden. Die Redner gehörten sämmtlich der protest. Geistlichkeit unserer Stadt an. Hr. Stadtpfarrer Dietelmair brachte eine Würdigung Schiller’s im Allgemeinden; Hr. Stadtpfarrer Dr. Lösch betrachtet ihn als dramatischen Dichter und verbreitete sich in eingehender Weise über dessen Werth; Dr. Stadtpfarrer Heller wandte sich zu „Trost und Mahnung” in einem Gedicht an das deutsche Volk und wies hin auf die Nothwendigkeit der Einigung und der Einigkeit; Hr. Stadtpfarrer Kunel beantwortete die Frage; Warum ist Schiller der Dichter der Nation? und die Quintessenz seiner Rede läßt sich in den Worten zusammenfassen: Weil aus allen Werken Schillers seine glühende Liebe zur Freiheit, gestützt auf Gerechtigkeit und Recht, hervorleuchtet. Den Beweis lieferte der Redner durch Citate aus des großen Dichters Werken selbst.
Für unsere Leser. Unsern zahlreichen Freunden glauben wir eine nicht unangenehme Mittheilung mit der Nachricht zu machen, daß es der Redaction der Gartenlaube gelungen ist, eine Anzahl tüchtiger Künstler für einen neuen artistischen Schmuck der Gartenlaube zu gewinnen, von dem wir schon nächstens einige Proben veröffentlichen werden. Neben den naturwissenschaftlichen, technischen und geografischen Abbildungen und Zeitbildern beabsichtigt die Redaction eine Reihe künstlerisch angeführter Illustrationen:
zu geben, die sich durch historische Treue und Originalität der Auffassung ausgezeichnet werden. Daß sich der Text in würdiger Weise den Illustrationen anschließen wird, d. h. daß er nicht nur in einer trockenen Beschreibung des Abgebildeten, sondern in einer lebendigen plastischen und, was die ebenbezeichneten Geschichtsmonente der Deutschen anlangt, in einer kernigen, freisinnigen Darstellung bestehen wird, brauchen wir wohl nicht zu erwähnen. Auch dafür sind die tüchtigen Kräfte gewonnen.
Jeder Mensch hat von Natur die Macht und deshalb auch die Verpflichtung, sich, und soweit es in seinen Kräften steht, auch seine Mitmenschen, gesund und bei langem Leben zu erhalten. Denn Krankwerden, frühzeitiges Altern und vorzeitiges Sterben sind ebensowenig wie Gesundbleiben und ein langes Leben weder Zufälligkeiten noch Vorausbestimmung, sondern die nothwendigen Folgen unseres Verhaltens; sie hängen von ganz bestimmten Ursachen ab und gehen nach feststehenden Naturgesetzen vor sich. Es ist deshalb die Aufgabe jedes wirklich Gebildeten, überhaupt Jedes, der den Namen „Mensch" verdienen will, sich mit jenen Bedingungen und Gesetzen nicht nur vertraut zu machen, sondern denselben auch nach Kräften nachzukommen, um Krankheit und frühen Tod zu verhüten.
Das vorliegende Werkchen soll den Leser mit den Bedingungen zur Gesundheit und zum langen Leben, soweit es zur Zeit die Wissenschaft vermag, bekannt machen. Es lehrt deshalb, gestützt auf den Bau und die Verrichtungen unseres Körpers und seiner einzelnen Organe, ebenso die Pflege des gesunden, wie des kranken Körpers. Müttern und Lehrern ist es aber vorzugsweise deshalb gewidmet, weil diese die Macht haben, durch richtige Erziehung der Kinder ein in körperlicher, wie geistiger und moralischer Hinsicht gesünderes und besseres Menschengeschlecht, als das jetzige ist, zu erziehen.
Zur Empfehlung dieses Werkes bedarf es keiner buchhändlerischen Anpreisungen. Es hat in zwei Auflagen für sich selbst' gesprochen und wird das in der dritten um so mehr können, als sein Werth durch die umfänglichen, dem Standpunkte der heutigen Wissenschaft entsprechenden Verbesserungen und Vermehrungen noch erhöht wird.
Die dritte Auflage des „Buches vom gesunden und kranken Menschen“ ist in einer neuen übersichtlicheren Form bearbeitet, nach welcher das Werk in drei Abtheilungen:
1) vom Baue und den Thätigkeiten des menschlichen Körpers und seiner Organe;
2) Pflege des gesunden Körpers, Schutz gegen Krankheiten;
3) Pflege des kranken Körpers, Behandlung der Krankheiten;
zerfällt. Complet in 7 Lieferungen. Preis für jede Lieferung 71/2 Ngr. Für das vollständige Werk brosch.: 1 Thlr. 221/2 Ngr., gebunden 2 Thlr.
Leipzig, October 1859.
- ↑ Die männlichen Hasen.
- ↑ Stiefelknecht wird häufig der Hase scherzweise genannt.
- ↑ Seher: Augen.
- ↑ Bei ganz jungen Häschen, zwei bis drei Tage alt, hängen die Löffel (Ohren) schlaff herunter.
- ↑ Neue: frisch gefallener Schnee.
- ↑ Die Schillukh, Dinkha und Nuëhr am Weißen Flusse sollen jedoch, abweichend von den Sudahnesen wirkliche Fallgruben auswerfen.
- ↑ An anderen Orten nennt man das Nilpferd „Djamuhs el Bahhr“ – Wasserbüffel.
- ↑ Auch das Alt-Album soll noch vor Weihnachten vollständig erscheinen; die andern beiden Albums sind bereits complet.