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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[581]

No. 41. 1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Der Unheimliche.
Vom Verfasser der „Neuen Deutschen Zeitbilder“.

In einem besuchten deutschen Badeorte, den wir A. nennen wollen, waren eines Tages auf der Vormittagspromenade die Badegäste in einer ungewöhnlichen Aufregung. Alles war im eifrigen Gespräche mit einander. Familien, die zusammen ankamen, schienen zu Hause und auf dem Wege sich noch nicht ausgesprochen zu haben. Bekannte mußten es immer neuen Bekannten erzählen. Selbst Personen, die sich nicht näher standen, hielten einander an, theilten mit, fragten und theilten wieder mit. Alle sprachen über einen und denselben Gegenstand.

„Hat das Feuer heute Nacht auch Sie aufgeweckt?“

„Gewiß, und Sie auch?“

„Das war ein fürchterliches Feuer. Wer konnte da schlafen?“

Und dabei hatte sich etwas zugetragen, was vielleicht, wenn man es wiedererzählt, alltäglich und ordinair genug sich anhören mag, was aber dennoch für die, die es traf, schrecklich und entsetzlich und selbst für die bloßen Zuschauer grausig genug gewesen sein mochte.

Eine Stunde nach Mitternacht hatte plötzlich die Sturmglocke gerufen. Wer erwachte, wer an das Fenster, auf die Straße eilte, fand den Himmel hochgeröthet. Ein großes Feuer mußte ausgebrochen sein mit furchtbar reißender Schnelligkeit. Es sei am Markte, hieß es. Die Häuser waren da hoch, sie standen dicht; die Gefahr war dort eine doppelte. Alles eilte hin.

Das Feuer war in der That ein fürchterliches. Eins der höchsten Häuser des Platzes stand in vollen Flammen. Sie mußten in der unteren Etage ausgebrochen sein. Dort schlugen sie aus allen Fenstern hervor, und inwendig hatten sie schon Alles verzehrt. Sie mußten dann mit rasender Hast bis oben zum Dache hinan geflogen sein. An ein Retten des Hauses selbst war nicht mehr zu denken, auch nicht an ein Retten der Sachen darin. Was nicht schon heraus war, was die Menschen, die sich selbst hinaus gerettet hatten, nicht mit sich getragen, nicht vor sich hinausgeworfen hatten, das war unrettbar verloren. Es konnte nur noch gelten, die Häuser zu beiden Seiten zu bewahren.

„Aber sind alle Menschen aus dem Hause gerettet?“ hieß es. Man wußte es nicht. Man vermißte Niemanden. Aber in dem Hause wohnten Fremde, Badegäste. Wer kannte diese Alle? Manche konnten erst gestern, erst spät am Abend angekommen sein. Wer konnte überhaupt in dem Tumulte und in der Verwirrung eines furchtbaren Feuers gewisse Auskunft geben? Da glaubte man in dem brennenden Hause einen Schrei zu hören. Unmittelbar darauf wurde ein Fenster im zweiten Stockwerk aufgerissen. Wunderbarer Weise hatte das Feuer gerade dieses Stockwerk übersprungen. Aber wer sich da drinnen befand, war dennoch unrettbar verloren. Unten und oben brannte das ganze Haus. Ein Ausweg war nicht da, und nach einer Viertelstunde, vielleicht noch früher, mußte auch jene Etage von den Flammen ergriffen und verzehrt werden, und das ganze Hans zu einem einzigen brennenden Schutthaufen zusammenstürzen, mit ihm, was darin war. Und es war Jemand darin. Eine Dame erschien in dem Fenster.

„Ordinaire Romantik!“ werden meine Leser sagen. „Die Dame war doch jung?“ „Sie war sehr jung noch.“ „Und schön?“ „Gewiß, sehr schön!“ „Richtig, gewöhnliche Romangeschichte!“

Sie rief um Hülfe, laut, entsetzlich, in der Angst des Todes, Sie sprang in die Fensterbrüstung; sie wollte sich hinunter stürzen. Sie wagte, sie konnte es nicht. Sie rang verzweiflungsvoll die Hände. Es war ein furchtbarer Anblick. Ihr Geschrei um Hülfe wollte das Herz zerreißen. Und rund um sie her Dampf, Rauch, Flammen, Gluth, das Getöse der einstürzenden Mauern, das Gekrach der niederfallenden Balken, das Rasseln der Feuerspritzen, das Zischen der Wasserströme, das Rufen der Löschenden. Aber unter den Tausenden von Zuschauern herrschte eine Todenstille. Jedes Auge war nur nach der Unglücklichen hingewandt. Jedes Ohr horchte nur ihren Angstrufen. Es dauerte nur eine Minute, nur den ersten Augenblick der fürchterlichen Ueberraschung, der lähmenden Angst.

„Hundert Pfund!“ rief ein langer Engländer.

„Auch der stereotype Engländer mit seinen hundert Pfund war da!“ werden meine Leser wieder rufen. „Er wollte wohl wetten, ob die Dame doch noch herunterspringen werde oder nicht?“ Er bot sie für die Rettung der Dame, er bot zweihundert Pfund. Da wurde es hinter ihm laut. Er erhielt einen Stoß in die Seite und Jemand rief:

„Herr, haben die Engländer nur Geld und keinen Muth und keine eignen Arme und Beine? Wagen Sie sich selbst hinauf und fahren Sie da oben zum Teufel, aber hier unten scheren Sie sich zum Teufel mit Ihren zweihundert Pfund!“

Als der Engländer sich umsah, stand ein unheimlich aussehender Mensch hinter ihm, der in solcher Weise Deutsch mit ihm gesprochen hatte. Er verschwand vor Schreck in der Menge.

Wer war der Unheimliche? Niemand wußte es, aber die ganze Badewelt kannte ihn: Er hatte ein kaltes, bleiches Gesicht, einen stechenden forschenden Blick, Niemand hatte ihn lächeln gesehen. Wo er auch immer war, da mußte er ein Unglück, ein Verbrechen verkünden, [582] und wo er auch herkam, da hatte sich irgend eine Unthat, ein Unglücksfall zugetragen.

Hinten an dem brennenden Hause wurde es lebendig. Ein junger Mann hatte sich von der Mitte des Platzes aus durch die Leute gedrängt. In der Nähe des Hauses maß er es noch einmal mit einem raschen Blick, als wenn er eine Stelle suchte, an der er hinein dringen könnte. Allein unten stand Alles in vollen Flammen. Keine Thür, kein Fenster, keine andere Oeffnung war da, welche die Möglichkeit eines Einlasses dargeboten hätte. In dem zweiten Stock, dem, in welchem die Unglückliche sich befand und um Hülfe rief, waren die Fenster noch immer von dem Feuer nicht ergriffen. Aber die längste Leiter reichte nicht bis dahin, und wenn auch, konnte man sie mitten in die Flammen der unteren Theile stellen? Unmittelbar war in das brennende Haus nicht zu gelangen.

Der junge Mann hatte mit seinem raschen Blicke schnell weiter beobachtet. Er eilte an eins der beiden nächsten Nachbarhäuser. Sie waren beide von dem Feuer noch verschont; der ungeheuersten Anstrengung der Spritzen war es noch geglückt. Ferner konnte es nicht gelingen. Arbeitsleute waren daher beschäftigt, sie, wenigstens die Theile nach dem brennenden Hause hin, niederzureißen. Zu den Arbeitsleuten an einem der Häuser stürzte der junge Mann. Zwei von ihnen, die mit Aexten versehen waren, riß er mit sich fort. Eine Brechstange, die herrenlos da lag, ergriff er selbst.

„Oben ist dringendere und bessere Arbeit, und – zwar nicht hundert Pfund, aber hundert Thaler Euch, wenn sie glückt.“

Die Leute folgten ihm. Er stürzte vor und mit ihnen in das Haus hinein, das niedergerissen werden sollte, an dessen Niederreißen sie mit gearbeitet hatten. Alle drei verschwanden in dem Hause.

„Wer ist der junge Mann? Was mag er wollen?“ das waren Fragen, die man von Mund zu Mund auf dem Platze hörte.

Man kannte ihn. Er war seit etwa vierzehn Tagen hier. Urner war sein Name. Er sollte ein reicher Kaufmannssohn aus Hamburg oder Bremen sein. Er hatte die Aufmerksamkeit der Badewelt besonders dadurch erregt, daß er einer nicht mehr ganz jungen, kränklichen Dame angelegentlich den Hof machte. Die Dame sollte zudem eine Ladenmamsell sein. Manchem gefiel er nicht. Niemand konnte aber sagen, was ihm an ihm mißfiel. Man mochte ihm daher auch Unrecht thun.

Auffallend war indeß der Unheimliche, als der ihn ebenfalls sah. Er stutzte, dann erkannte er ihn, dann durchzuckte sein Gesicht ein Zug plötzlichen, heftigen, finsteren Zornes. „Du hier, Elender?“ glaubte man ihn rufen zu hören.

Was der junge Mann mit den beiden Arbeitern wollte, war unschwer zu errathen. In das brennende Haus konnte er unmittelbar nicht gelangen. Aber das brennende Haus und das Nachbarhaus hatten eine gemeinschaftliche Brandmauer. Diese wollte er einschlagen lassen, durch sie wollte er in jenes eindringen, zu der Unglücklichen gelangen, sie retten. Aber ob er seinen Zweck erreichen werde, erreichen könne? Brandmauern sind stark; auch Aexte und Brechstangen können stundenlang arbeiten, ehe sie eine Lücke nur zum Durchkriechen hineinschlagen. In einer halben Stunde konnten die Arbeiter das Haus unten eingerissen haben, und es fiel Alles in einander. In höchstens einer Viertelstunde mußte das brennende Haus in allen seinen Theilen von den Flammen ergriffen sein, und wenn es dann auch noch gelang hindurchzudringen, ein Menschenleben war nicht mehr zu retten, nur eine Leiche konnte noch der vollen Verzehrung durch die Gluth entrissen werden. Eine besondere Schwierigkeit war endlich noch dadurch gegeben, daß das Fenster, also auch das Gemach, in welchem man die Unglückliche sah, sich nicht unmittelbar an dem Nachbarhause befand, sondern von diesem durch ein anderes Gemach getrennt war, vielleicht gar ohne eine Verbindungsthür. Noch eine zweite Mauer war dann zu durchbrechen. Neuer Zeitverlust, wenn auch das Seitengemach nicht schon von Feuer und Rauch erfüllt war und einen Durchgang zuließ.

Auf dem Platze war es wieder still geworden. „Wird es ihm gelingen?“ hörte man noch Stimmen ängstlich fragen. Dann vernahm man keine Stimme mehr.

Auch die Dame rief nicht mehr. Man sah sie noch. Ihr Haupt lag auf dem Kreuze des Fensters niedergebeugt, nur die Augen waren gen Himmel gerichtet. Sie rief die Hülfe der Menschen nicht mehr an; sie hatte sie genug vergeblich angerufen. Sie erflehte die Hülfe des Himmels.

Es war eine grausige Stille, die herrschte. Unter den tausend Zuschauern kein Laut, keine Bewegung. Die Arbeiter hatten, wie in augenblicklicher Ueberraschung, ihre Arbeiten eingestellt. Selbst die Spritzen ruheten einen Augenblick. Nur das Feuer prasselte, Balken krachten. Und oben in dem Fenster die Betende, und unmittelbar über ihr das prasselnde Jener. Das Alles konnte hinein wohl das Herz zuschnüren.

„Wird es ihm gelingen, sie zu retten?“ Das war die einzige Frage, die in aller Herzen bebte.

Man hörte Schläge in dem Nachbarhause. Die fielen oben, in einer Höhe mit dem Fenster, in dem die Unglückliche lag. In manches Herz strömte Hoffnung.

Aber das Feuer in dem brennenden Hause hatte weiter gegriffen. Auch in jenem zweiten Stock fing es an zu brennen, dicht neben der Dame. Zum Glück auf der entgegengesetzten Seite von der, auf welcher die Versuche zu ihrer Rettung gemacht wurden.

Die Arbeiter mußten ihr Zerstörungswerk wieder aufnehmen. Die Spritzen mußten sich wieder in Bewegung setzen. Man vernahm kein anderes Geräusch mehr, auch nicht mehr das Schlagen der Aexte. Das Feuer drang wie mit rasender Hast näher zu der Unglücklichen. Schon durch das Fenster neben dem ihrigen sah man den hellen Schein der eindringenden Flamme. Noch wenige Minuten und Alles war vorbei. Und die Minuten flossen dahin, langsam, bleiern, und doch schnell, unaufhaltsam reißend.

Wo waren die Retter? Man sah und hörte sie nicht. Die tödtende Flamme sah man desto deutlicher, heller. Sie erfüllte das Zimmer neben der Unglücklichen. Auf einmal ein furchtbarer Schrei. Die Dame stürzte von dem Fenster zurück. Das Feuer war in das Gemach gedrungen. Man sah sie wieder zu dem Fenster hinstürzen, wie eine Wahnsinnige. Sie konnte es nicht mehr erreichen. Sie war verschwunden, sie mußte niedergesunken sein in dem brennenden Gemache. Und ihr Retter?

Es blieb still da oben. Kein Hülferuf, kein Angstschrei mehr, aber auch kein anderer Laut, und auch keine Bewegung, keine Gestalt eines Menschen. Man sah nur die Flammen, man hörte nur ihr Prasseln. Eine Minute später sah und hörte man mehr. Ein donnerähnliches Krachen erfüllte die Luft. Das Feuer hatte sämmtliche Theile des Hauses ergriffen und verzehrt. Das Haus stürzte zusammen,

„Sie sind Alle todt und begraben!“ riefen tausend todtbleiche Lippen auf dem Platze.

Sie waren es nicht, kein Einziger war es.

Aus dem Nachbarhause kamen sie Alle hervor, unversehrt, auch die Dame. Sie war gerettet.

Hunderte von Augen weinten Freudenthränen. Aber Eins war auffallend. Die Dame war entkräftet, erschöpft, einer Ohnmacht nahe. Sie mußte halb getragen werden. Doch nicht der junge Mann, ihr Retter, trug sie. Er hatte sie den beiden Arbeitern überlassen. Diese hielten die Halbtodte, aber Gerettete triumphirend, freudestrahlend in den Armen.

Er, der sie gerettet, ging finster, in sich gekehrt hinterher, und als er draußen war, warf er noch einen Blick auf sie, um sich zu überzeugen, ob sie außer aller Gefahr sei, dann war er plötzlich verschwunden. Man mochte sich nach ihm umsehen, wie man wollte, er war nicht mehr da. An der Stelle, wo er gestanden hatte, stand der Unheimliche. Der warf erst einen traurigen Blick auf die Gerettete, dann blickte er finster in die Gegend, in welcher der junge Mann verschwunden war.

Wer die gerettete Dame war? Das hatte Niemand gewußt. Einige mochten es wohl wissen, aber sie sagten es nicht, sie hätten es wenigstens in den Augenblicken der entsetzlichen Gefahr nicht sagen können, und in dem erhabenen, heiligen Momente, da das Werk der Rettung vollbracht war, gewiß nicht. –


Jede Badewelt theilt sich in Coterieen, die Damen mehr als die Herren. In jeder Coterie führen Damen die Herrschaft, – für das nichtsthuende Badeleben doppelt recht und billig. Die herrschenden Damen sind in den einzelnen Coterieen nur wenig verschieden. Gewöhnlich sind es ältere Damen, die auch dort, wo sie zu Hause sind, eine gewisse Stellung einnahmen, und jetzt ein gewisses Embonpoint haben. In den höheren Kreisen sind es alle Generalinnen, verwittwete und nicht verwittwete Präsidentinnen, Gräfinnen von uraltem Adel und großem Reichthum. Ministerinnen sind heutiges Tages nicht mehr darunter. Denn die Minister heutigen [583] Tages gelten entweder bei dem Volke etwas, dann will der Fürst nichts von ihnen wissen; oder sie gelten bei dem Fürsten, dann will das Volk nicht viel von ihnen wissen. In jenem Falle spielen sie überhaupt keine Rolle, in diesem müssen sie in Bädern manchmal gar den Schutz der Polizei nachsuchen. Nach der Herrschaft der Minister richtet sich die der Ministerinnen. Alle jene herrschenden Damen führen in der Badewelt ihr Regiment als Mütter oder Tanten, mehr dieses als jenes.

An jenem Vormittage nach dem Feuer saßen mehrere alte Damen an der Promenade beisammen, in einem hübschen, offenen Gärtchen, unter einem schattigen Laubdache. Andere freundliche Lauben lagen hinter ihnen, Blumenbeete umgaben sie, beinahe so bunt, wie die Blumenbeete, die sie auf und unter ihren reichen Spitzenhüten trugen. Sie sahen gewiß recht malerisch aus. Sie sprachen ebenfalls von dem Feuer.

„Und der edle Retter war unser lieber Urner?“

„Ein charmanter, reizender Mensch!“

„Und welcher Muth, welche Aufopferung!“

„Man sah ihm immer das noble Wesen an.“

„Die gute Marianne! Wie glücklich wird das liebe Kind heute sein. Sie liebt ihn so sehr.“

„Glauben Sie wirklich?“

„O, es ist kein Zweifel. Sie konnte es ihm nur nicht so offen zeigen, weil man doch immer nicht wissen konnte – Er soll zwar aus Hamburg sein, und in Hamburg gibt es Urners, und ein paar davon sind gute Häuser. Aber gewiß weiß man das doch nicht, und in einem Badeorte kann man über so etwas nicht immer sichere Auskunft erhalten.“

„Nun, nach der heutigen Nacht kann man gegen diesen braven jungen Mann wohl keinen Zweifel mehr haben.“

„Und auch Vermögen muß er haben. Er hat den Arbeitern gleich heute Morgen die hundert Thaler geschickt.“

„Wie freue ich mich für die gute Marianne!“

„Aber meine Damen, wer war denn die Gerettete?“

„Wie, das wissen Sie nicht?“

„Niemand soll sie gekannt haben.“

„O, gar Mancher mag sie gekannt haben und sehr gut, sehr genau; aber deiner durfte es sagen.“

„Das wäre ja sonderbar.“

„Wir kennen sie übrigens Alle, und wir dürfen es auch sagen, daß wir sie kennen.“

„Wir Alle?“

„Auch Sie kennen sie. Sie sehen sie täglich. Sie kommt sonst jeden Mittag hier vorbei, in stolzer, schwerer Seide, das weiße Amazonenhütchen mit den schwarzen Federn auf den braunen Locken; eine große, schöne, üppige Gestalt –“

„Ah, die!“

„Ja, die!“

„Sie empfängt Herrenbesuche.“

„Sie kostet unsern jungen Herren hier schweres Geld.“

„Daß die Polizei die Person noch duldet!“

„Ah, meine Damen, das ist ja ein wahres Unglück für unsern armen Urner, daß er einem solchen Geschöpfe das Leben gerettet hat.“

„Ich wüßte doch nicht, wie das seiner edlen, muthigen That irgend etwas nehmen könnte.“

„Aber wird die Welt nicht glauben, daß auch er sie gekannt habe?“

„Mag sie glauben!“

„Und nicht auch die arme Marianne? Ach, wie unglücklich müßte sie sein!“

„Marianne kennt ihn besser. Und dann, meine Damen, lassen Sie uns nicht vergessen, wie edel Urner sich gleich nach der That benommen hat. Er hat die Unglückliche aus dem Feuer gerettet; er am meisten hat gearbeitet, um die doppelten Mauern zu durchbrechen. Er allein hat es gewagt, in das schon brennende, von Feuer und Rauch und Dampf erfüllte Gemach zu dringen. Er hat die Bewußtlose, von dem Feuer schon Ergriffene vom Boden aufgerafft, in seinen Armen sie fortgetragen, dann aber, als sie gerettet, als sie keine Unglückliche mehr war, hat er die Unreine den Arbeitern übergeben, und stolz, um nicht einmal ihren Dank empfangen zu müssen, ist er sofort verschwunden. Gewiß, das war edel von ihm.“

Hiermit schienen die alten Damen sämmtlich einverstanden zu sein. Aber nicht so Jemand anders.

Eine junge Dame hatte sich unbemerkt zu ihnen gesellt. Es war eine feine, nicht große Gestalt. Ihr Gesicht war nicht schön, es fehlten ihm regelmäßige Züge, es fehlte ihm alle Farbe. Aber über den unregelmäßigen, bleichen Zügen lag eine ungewöhnliche Anmuth ausgebreitet. Es war die stille, milde, mehr rührende als ergreifende Anmuth eines frommen, unendlich guten Herzens, das viel gelitten, aber immer seine klare Milde, seine vertrauungsvolle Güte und Frömmigkeit behalten hat. Sie war nicht mehr ganz jung, die Dame; sie konnte sieben- bis achtundzwanzig Jahre zählen. Sie war sehr einfach, aber nicht ärmlich gekleidet. Sie hatte die Mittheilung der erzählenden alten Dame angehört. Eine leise Röthe war in das blasse Gesicht gestiegen. Sie hörte auch die letzten Worte, die den Edelmuth des Dank verschmähenden Retters priesen. Die Röthe entschwand aus ihrem Gesichte.

Die alten Damen sahen sie.

„Ah, Fräulein Marianne! Theure Freundin! Haben Sie schon gehört?“

„Sie meinen das Feuer?“ fragte die junge Dame.

„Und die edle, große That des charmanten Urner!“

„Und, theure Marianne, Sie wissen doch, wen er gerettet?“

„Ich weiß es.“

„Aber es braucht Sie nicht zu afficiren. Haben Sie gehört, in welcher wahrhaft noblen Weise er den Dank der Person verschmäht hat?“

„Ich habe davon gehört, auch hier so eben noch. Aber – ich pflege offen auszusprechen, was ich auf dem Herzen habe, und ich weiß, Sie, meine Damen, nehmen mir das nicht übel – edel habe ich diese Handlungsweise des Herrn Urner nicht finden können. Ich glaube, sie war nicht einmal nobel. Sie hat mir recht leid für ihn gethan, doppelt nach jener wahrhaft edlen That,“

„Aber mein Gott, liebe, einzige Marianne, ein solches Geschöpf –“

„Ein solches Geschöpf ist auch ein Geschöpf Gottes.“

„Aber ein sündhaftes, schlechtes, verworfenes.“

„Verworfen ist von Gott kein Mensch, aber wohl ist im Himmel mehr Freude über einen Sünder, der sich bessert und Buße thut, denn über neunundneunzig Gerechte“

„Du gerechter Gott!“ schlugen die alten Damen die Hände über den Köpfen zusammen.

Die stille, sanfte Marianne war bisher in Allem gegen sie so nachgibig gewesen; sie hatte nie eine andere Meinung, nie ein Widerwort gehabt. Und heute auf einmal wollte sie sich emancipiren? Die Damen sahen sich unter einander an.

Die arme Marianne Bohle war sehr krank und ganz allein in das Bad gekommen. Sie hatte keinen Menschen dort gekannt. Wo sie war, wohin sie ging, sie war allein. So sahen die alten Damen die kranke Vereinsamte. Sie sahen auch das frühere Leiden in dem interessanten Gesichte; sie sahen, mit welcher stillen Ergebung sie Alles trug, Krankheit, Schmerz, Einsamkeit. Mitleidig waren sie, die Damen. Sie naheten sich ihr; sie nahmen sich ihrer an, erst freundschaftlich, dann mütterlich. Und Marianne war so dankbar und bescheiden und so gehorsam, mehr als verzogene Enkel, wie eine liebe, gehorsame Tochter. Und heute auf einmal eine andere Meinung, ein Widerspruch! Was war da passirt? Sie sahen sich halb verwundert und halb entrüstet an. Ein Paar schienen es zu errathen.

„Ah, ah, bisher hat sie den jungen Mann noch nicht geliebt, wie sehr er ihr auch den Hof gemacht hat. Seine edle That von heute Nacht hat ihr Herz aufgeregt. Die Leidenschaft fängt an, in ihr zu brennen. Ein solches beginnendes Feuer macht Unruhe; die Unruhe bringt mit sich selbst in Zwiespalt, und das wieder mit anderen Leuten. Die Jüngste ist sie auch nicht mehr. Verstand hat sie ebenfalls. Da überlegt man denn, man möchte gegen die Leidenschaft ankämpfen, es gibt doch allerlei Bedenken. Man kann es nicht. Da wird man denn doppelt empfindlich. – Man muß es ihr schon zu Gute halten.“

Sie hielten sie dennoch nicht zurück, als Marianne, da sie sich sehr angegriffen fühle und der Ruhe und Einsamkeit bedürfe, sich in den Hintergrund des Gartens und dort in eine stille, von der Promenade völlig abgelegene Laube zurückzog. Sie bekamen ja auch bald Ersatz durch einen andern Gegenstand ihrer mütterlichen Liebe und Zärtlichkeit.

Max Urner nahete sich ihnen, der Retter der verflossenen Nacht, der Held des heutigen Tages.

Es war ein schöner junger Mann von gewandter und stolzer [584] Haltung, mit einem Gesichte voll Muth und Geist. Manchem gefiel er nicht, sagten wir schon oben. Aber Niemand konnte sagen, was ihm an ihm mißfiel. War es vielleicht, daß die stolze Haltung und der entschlossene Blick des jungen Mannes bei scharfer Beobachtung zu den Leuten zu, sagen schienen: wir wollen Euch imponiren, Ihr sollt fascinirt werden –? Hatte vielleicht ein noch schärferer Beobachter die geistvollen Züge plötzlich, wenn der junge Mann sich nicht beobachtet glaubte, sich in einen scharfen, lauernden Zug der Verschlagenheit umwandeln sehen? Nur wenige Menschen sind freilich scharfe Beobachter, und weit mehr Andere haben nur ein dunkles Gefühl von dem, was sie sehen könnten, und da gefällt ihnen der Mensch nicht, aber sie können nicht sagen, was ihnen an ihm mißfällt.

Max Urner war heute der Gegenstand der Hochachtung und selbst der Verehrung Aller, die ihn sahen. Er nahm es mit einer bescheidenen, klaren Ruhe hin. Er eilte zu den alten Damen. Wie doppelt stolz, wie doppelt zärtlich waren diese! Aber auch er war heute nicht dankbar dafür. Er war zerstreut, unruhig, sein Auge suchte etwas. Hinten in einer Laube des Gartens glaubte er es gefunden zu haben. Sein Auge wich nicht mehr von der Laube.

Die Damen sahen es, und – kennen alte Damen ein edleres Geschäft, als zwei Herzen mit einander zu verbinden, die sie lieben? Und auch Marianne liebten sie noch immer, trotz heute.

„Ja, theurer Urner, die gute Marianne ist in jener Laube.“

„Und ohne Absicht hat sie sich gewiß nicht in diese stille, dunkle, verschwiegene Laube hineingezogen, in die kein unbefugtes Auge hineinbringen kann.“

„Gerade heute, und nachdem wir von der vergangenen Nacht gesprochen hatten.“

„Und von Ihnen, bester Urner.“

„Sie müssen zu ihr,“ sagte zuletzt eine Ungeduldige geradezu. „Und kommen Sie nicht allein zurück.“

Es war freilich sehr geradezu. Der junge Mann erröthete, und er – ging.

„Die liebe Unschuld!“ sagten die alten Damen hinter ihm her.

„Haben Sie gesehen, wie er roth wurde?“

„Ja, er zeichnet sich sehr vortheilhaft vor den jungen Männern der heutigen Welt aus.“

Max Urner trat in die Laube ein. Sie war wirklich dunkel, abgelegen und verschwiegen genug. Nicht nur kein Auge, auch kein Ohr konnte unberufen in sie eindringen.

Marianne mußte den jungen Mann vorher gesehen haben. Ihr Gesicht wurde dennoch von einer dunklen Röthe übergossen, als er eintrat; dann war es weiß wie frischer Schnee, ihr Körper zitterte. Er erschrak, als er sie so sah.

„Sie sind unwohl, Marianne?“

„Nein, nein.“

„Ich hole Hülfe.“

„Es ist schon vorüber.“

Sie hatte sich zusammengenommen; sie hatte sich wieder erholt.

„Sie waren also wirklich unwohl – ich weiß nicht – –“

„Es war mir so sonderbar – ich weiß nicht“

„Marianne!“

Er sah sie mit einem Blick der vollsten, feurigsten Zärtlichkeit an. Einen Augenblick zitterte noch eine zweifelnde Zaghaftigkeit in seinen Augen; dann glüheten sie von Muth, Dem zärtlichen Blick hatte sie nicht ausweichen können; dem zaghaften hatte sie begegnen müssen; vor dem muthigen schlug sie die Augen nieder. Er mußte heute noch mehr wagen.

„Marianne, ich bin heute so glücklich. Der Glückliche geht rasch, in Sprüngen; auch ich muß es heute. Sie wissen, daß ich Sie liebe, Sie müssen es längst wissen, wenn ich es auch bisher Ihnen nicht sagen durfte. Heute, jetzt, in dieser ernsten Minute unseres Beisammenseins muß ich es Ihnen sagen. Ich kann es nicht länger auf dem Herzen behalten. Heute muß ich auch Alles wagen, auch die Frage meines Herzens an Ihr Herz. Können Sie mich wieder lieben?“ Er hatte ihre Hände gefaßt, er lag vor ihr auf den Knieen, er sah treu und liebend zu ihren Augen empor.

Sie hatte Zeit gehabt, sich völlig zu fassen, und das einfache, zwar liebende, aber dennoch verständige Mädchen hatte sich mit völliger Klarheit gefaßt.

„Stehen Sie zuerst auf, Max.“ Er erhob sich. „Setzen Sie sich ruhig zu mir.“ Er that auch das. Auch sein Wesen war zwar rasch und muthig, aber dennoch nicht minder einfach, klar und natürlich.

(Fortsetzung folgt.)




Preußische Licht- und Schattenbilder.
Ein Lichtbild.
Nr. 3. Karl Freiherr von Stein.

In einer Zeit der politischen Feigheit und Gesinnungslosigkeit dürfte es nicht ohne Nutzen sein, an einzelne deutsche Männer zu erinnern, die den Namen eines deutschen Patrioten in Wahrheit verdienen. Unter diesen glänzt vor Allen hervor Karl von Stein, der Besieger Napoleon’s, der Retter unseres Vaterlandes.

Aus uraltem Freiherrngeschlechte, dessen Urkunden bis zum Jahre Tausend reichen, stammte der Mann, dem Deutschland seine Wiedergeburt, Preußen vor Allem seine geistige Auferstehung zu verdanken hatte. Sein Vater, Karl Philipp von Stein, war ein Charakter, von dem der Sohn in der ihm gewidmeten Grabschrift rühmen durfte:

Sein Nein war Nein gewichtig,
Sein Ja war Ja vollmächtig,
Seines Ja war er gedächtig;
Sein Grund, sein Mund einträchtig,
Sein Wort, das war sein Siegel.

Die Mutter, ein gebornes Fräulein Langwerth von Simmern, besaß einen hohen, klaren Geist, tiefes, lebhaftes, selbst sehr heftiges Gefühl und einen kräftigen Willen, der vor keinem Hindernisse zurückschrak. Der Eltern Tugenden erbten auf den Sohn, der, von zehn Geschwistern der vorletzte, am 26. October 1757, zehn Tage vor der Schlacht bei Roßbach geboren wurde. In solcher Umgebung und im schönsten Theile Deutschlands voll herrlicher Thäler und Berge, von alten Burgen gekrönt, von Reben umkränzt und von tausendjährigen Eichen umrauscht, wuchs der Knabe heran in Liebe zu dem gemeinschaftlichen Vaterlande, genährt von den Ideen der Standes- und Familienehre, frühzeitig mit der Pflicht vertraut, das Leben zu gemeinnützigen. Zwecken zu verwenden, durch Fleiß und Anstrengung den ihm überkommenen Besitz an geistigen und leiblichen Gütern zu mehren. Aus der Jugendzeit ist von ihm folgender charakteristischer Zug bekannt geworden: Als die Brüder und Schwestern unter sich Shakespeare’s Sommernachtstraum aufführten, verschmähte Karl andere Rollen mit dem Ausrufe: „I am the wall“ (ich bin die Mauer). Er hat Wort gehalten, und wurde der Wall, an dem sich fränkischer Uebermuth und Despotismus brach, die Mauer und feste Stütze des Vaterlandes.

Frühzeitig entwickelte sich unter solchen Verhältnissen der historische Sinn, der ihn durch’s ganze Leben begleitete; besonders sprach ihn Englands vielbewegte Geschichte an. Aber auch das classische Alterthum blieb ihm nicht fremd, er schöpfte daraus nicht todtes Wissen, sondern lebendige Begeisterung. So vorbereitet, bezog er die Universität Göttingen, wo er in dem berühmten Pütter einen Lehrer fand, dessen großartige, freisinnige Grundsätze des Staatsrechts Stein sich zu eigen machte. Eifrig widmete er sich den Studien, welche vorzugsweise auf Deutschlands Recht, Geschichte und Verfassung gerichtet waren. In der Wahl seines Umganges zeigte er sich vorsichtig, besonders schloß er sich an Brandes und Rehberg an, welche Beide sein Vertrauen vollkommen rechtfertigten.

Von Rehberg besitzen wir aus jener Zeit eine Schilderung des jungen Stein.

„Es war,“ so schreibt der Freund in seinen Erinnerungen, „in allen seinen Empfindungen und Verhältnissen etwas Leidenschaftliches. Aber welche Leidenschaft! Dem lebendigen und unbiegsamen Gefühle für alles Große, Edle und Schöne ordnete sich bei ihm sogar der Ehrgeiz von selbst unter. Mit den wenigen Menschen, denen er sich hingab, war er durch die Vermittlung seiner Empfindungen [585] verbunden, und wer dazu gelangte, konnte nicht anders, als ihn wieder leidenschaftlich lieben. So habe ich mit ihm anderthalb Jahre auf der Universität zugebracht und einen Bund geschlossen, der für das ganze Leben gelten sollte.“

Der Bund der edlen Jünglinge wurde noch bedeutungsvoller und inhaltreicher durch den Austausch der Ideen, welche das Jahrhundert erfüllten. Es war die Zeit der durch Klopstock, Lessing, Herder und Goethe wiedererwachten deutschen Literatur. Mit Bewunderung wurde von den Freunden der nationale „Götz von Berlichingen“ aufgenommen, die Bedeutung des nordamerikanischen Freiheitskampfes in seinen politischen Folgen von ihnen gewürdigt und erfaßt. Stein erkannte, daß ein neues Zeitalter herangebrochen sei, und die alten Zustände einer Umgestaltung bedürften. Mit dieser Ueberzeugung konnte Stein, der nach seinem Abgange von der Universität einige Monate in Wetzlar zubrachte, um an dem dortigen Reichskammergericht zu arbeiten, kein Genügen an dieser alten, verrotteten Einrichtung finden. Sein Scharfblick erkannte, daß das morsche Gebäude des heiligen römisch-deutschen Reiches einzustürzen drohe, und so entschloß er sich, in die Dienste Preußens zu treten, indem er mit richtigem Instinct Deutschlands Zukunft ahnte, obgleich seine Eltern aus alter Anhänglichkeit an das Kaiserhaus es lieber gesehen hätten, wenn der Sohn sich für den österreichischen Staatsdienst entschieden hatte.

Karl Freiherr von Stein

Kurz vorher fand, besonders auf Anrathen und Wunsch der Mutter, ein Abkommen statt, wonach die übrigen Geschwister auf die Erbschaft des väterlichen Vermögens zu Gunsten Stein’s verzichteten, der sich früh als ein guter Wirth bewährt hatte und darum ausersehen war, sich zu verheirathen und den Namen, so wie den Glanz der Familie fortzupflanzen. Gegen seine Neigung gab er dieser Anordnung nach, die ihn zu seinen Geschwistern und besonders zu dem ältesten Bruder in eine peinliche Stellung brachte, wenn er auch später die größten Opfer brachte, um die scheinbare Ungerechtigkeit der Eltern vergessen zu machen.

Von dem Genius des großen Friedrich und von Preußens frischem Glanze angezogen, eilte Stein nach Berlin, wo er auf Verwendung des verdienstvollen Ministers von Heinitz am 10. Februar 1780 eine Anstellung in dem Departement des Berg- und Hüttenwesens als Referendar fand. Obgleich mit dem technischen Theile seines jetzigen Berufs noch wenig oder gar nicht bekannt, eignete er sich durch Fleiß und Beharrlichkeit bald die nöthigen Kenntnisse an, so daß ihn der ihm wohlwollende Minister schon nach zwei Jahren zum Oberbergrath vorschlug. Der König war mit dieser schnellen Beförderung keineswegs einverstanden und erklärte: er kenne den von Stein und dessen Fähigkeiten gar nicht; gleich Oberbergrath sei doch ein bischen viel; was er doch gethan habe, das zu verdienen? Um das zu werden, müsse man sich doch ein bischen distinguirt haben. Der Minister brachte jedoch so triftige Gründe vor, daß die Stelle an Stein schon den nächsten Tag verliehen wurde.

Mit der Direction des bedeutenden Bergamtes Witten in der Grafschaft Mark betraut, entwickelte Stein in seinem neuen Berufe eine ungemeine Thätigkeit; er gründete eine Bergamtsschule, sorgte für die vernachlässigte Communication und legte zwanzig Meilen Kunststraßen in kurzer Zeit an. Ein dauerndes Denkmal stiftete er durch die Schiffbarmachung der Ruhr, wodurch der Kohlenhandel jener Gegend einen großartigen Aufschwung erhielt. Als stimmführendes Mitglied in der Cleve-Meurs’schen und Märkischen Kammer führte er statt der bisherigen den Verkehr hemmenden Accise eine zweckmäßigere Steuer für die Städte und das platte Land ein, welche diese Hindernisse für immer beseitigte. Sein großes organisatorisches Talent fand von Seiten der Regierung und der von ihm verwalteten Gegend die vollste Anerkennung.

Mitten in dieser segensreichen Thätigkeit wurde er von Friedrich dem Großen zu einer diplomatischen Mission berufen. Die Uebergriffe Oesterreichs und das Streben des Kaisers, seine Macht in Deutschland zu vergrößern, forderte Friedrich’s Wachsamkeit heraus. Zum Schutze des bedrohten Bayern beschloß der König, einen Bund der mittleren und kleinen Reichsstände, ähnlich dem schmalkaldischen Bunde, zu bilden. Es galt, den verderblichen Plänen der österreichischen Vergrößerungssucht entgegenzutreten und die kleinen Fürsten zu gewinnen.

Unter diesen nahm der Kurfürst von Mainz, als erster geistlicher Fürst und Kurkanzler des Reichs, eine hervorragende Stelle ein. Zu ihm wurde Stein, der vermöge seiner Familienverhältnisse mit den dortigen Zuständen bekannt war, abgesendet, und es gelang ihm, dem jungen, kaum siebenundzwanzigjährigen Diplomaten, über die Intriguen des österreichischen und französischen Gesandten zu siegen. Trotzdem bat er um seine Zurückberufung, da der Redlichkeit, Offenheit und Wahrheit seines Charakters dies diplomatische Gaukelspiel voll Verstellung, List und Falschheit widerstrebte. Seiner früheren Wirksamkeit zurückgegeben, setzte er das begonnene Werk in einer Weise fort, daß ein Mann wie Alexander von Humboldt ihm das Zeugniß gab, daß Stein einer der ausgezeichnetsten Bergwerkskundigen seiner Zeit gewesen und zuerst bei der Salzfabrikation chemische Kenntnisse in Anwendung gebracht. So leistete er zunächst im Kleinen Großes, und bereitete sich in beschränkten Verhältnissen für die Leitung des ganzen Staates vor.

Nach dem Tode Friedrich des Großen schlug Preußen unter seinem Nachfolger, der sich von einem Wöllner und Bischoffswerder leiten ließ, jene verderbliche Politik ein, welche mit dem Ruin des Staates enden mußte. Obgleich die neue Regierung Stein ihre Zufriedenheit durch seine Ernennung zum Geheimen Oberbergrath zu erkennen gab, konnte er sich mit ihrem verderblichen System nicht einverstanden erklären. Er forderte einen längeren Urlaub, den er in Gesellschaft des originellen Grafen Schlabrendorf zu einer Reise nach England benutzte.

Hier, an der Quelle des parlamentarischen Lebens und einer freisinnigen Regierung, legte er den Grund zu einer großartigen Auffassung der heimischen Verhältnisse, indem er die Wohlthaten einer freien, ungehemmten Entwicklung für das Volk kennen lernte. Außerdem machte er sich die Fortschritte der englischen Industrie zu eigen, um sie auf seinen bisherigen Wiekungskreis anzuwenden. Mit dieser reichen Ernte von politischen und socialen Kenntnissen kehrte er in sein Vaterland zurück, wo er, nachdem er die ihm angetragenen Posten eines Gesandten nach dem Haag oder Petersburg ausgeschlagen hatte, zum ersten Director der Kriegs- und Domänenkammer zu Cleve und Hamm ernannt wurde.

Unterdeß war die erste französische Revolution ausgebrochen, zu deren Bekämpfung das absolutistische Oesterreich mit Preußen sich verband. Der Kreuzzug der Reaction gegen die junge Freiheit endete mit dem traurigen Rückzug aus der Champagne, welchem später der einseitige Friede folgte, den Preußen in Basel schloß, um freie Hand für die Theilung Polens zu erhalten.

Stein, dessen organisatorisches Talent zur Verpflegung des preußischen Heeres verwendet wurde, lernte in der Nähe die verderbliche Wirkung eines Cabinetskrieges, vor Allem aber „den weichlichen, selbstsüchtigen, den Staatsverein auflesenden Geist der Fürsten, die, gleichgültig gegen das Schicksal des Vaterlandes, nur für die Erhaltung ihres gebrechlichen Daseins besorgt waren,“ genau kennen. Mit Entrüstung sah er schon damals den Zwiespalt der Meinungen im preußischen Heere, die zwischen Preußen und Oesterreich herrschende Eifersucht, die Selbstsucht der kleineren Fürsten, von denen sich der Landgraf beider Hessen weigerte, mit seinen Truppen dem bedrängten Mainz zu Hülfe zu eilen, das er retten konnte. Stein [586] selbst gab damals ein glänzendes Beispiel von Muth und Patriotismus, als die Franzosen sich vor Wesel zeigten, die damals noch unbefestigte Insel Büderich besetzten, und die Festung zur Uebergabe aufforderten. Groß war der Schrecken in der Stadt, und man sprach bereits von der Capitulation, da gerieth Stein in Zorn, bewaffnete die unter seinem Befehl stehenden Trainknechte, stellte sich an ihre Spitze und vertrieb den Feind von der Insel, wodurch er die Festung vor einem solchen Schimpf bewahrte.

Von dem Kriegsschauplatz wurde Stein durch seine Ernennung zum Präsidenten der Märkischen Kriegs- und Domänenkammer abberufen. Zugleich vermählte er sich mit der Gräfin Wilhelmine von Wallmoden-Gimborn, deren Vater, ein Sohn Georg’s II. und der Gräfin Yarmouth, General in den Diensten Hannovers war. Ungeachtet des Unterschieds der Jahre und der Charaktere gestaltete sich das eheliche Verhältniß immer glücklicher. Stein selbst stellte ihr das schönste Zeugniß aus: „Seelenadel, Demuth, Reinheit, hohes Gefühl für Wahrheit und Recht, Treue als Mutter und Gattin, Klarheit des Geistes, Richtigkeit des Urtheils – sie sprachen sich durch ihr ganzes, vielgeprüftes Leben aus und verbreiteten Segen auf alle ihre Verhältnisse und Umgebungen. Nie gab sie auch das leiseste Gehör den Verführungen der Eitelkeit und Gefallsucht, sondern war immer die fromme, zarte, treue Tochter, Schwester und Gattin, in gleicher Reinheit und Anspruchslosigkeit; die Richtung ihres ganzen Wesens ging auf Häuslichkeit, Familienleben, Geselligkeit, Ruhe; sie zu genießen, ward ihr aber nicht beschieden.“

Beim Eintritt in seine neue Stellung fand Stein die Minden’sche Kammer in dem Zustande der größten Unordnung, so daß er sich genöthigt sah, nach seiner Art scharf durchzugreifen. Eine Untersuchung wurde eingeleitet, ein Rath cassirt, zwei in Ruhestand versetzt und ein Secretair unter die Garde gesteckt, was nach damaligen Begriffen als Strafmittel galt. Stein selbst sprach sich nicht von einer gewissen Heftigkeit frei, für die er vielfache Beweise gab. Als ein Canzleidiener ihm eine wichtige Urkunde zur Unterschrift vorlegte und darauf statt des Sandes das Tintenfaß darüber ausgoß, sprang der Präsident auf und rieb ihm mit dem so beschmutzten Papier das Gesicht. Acht Tage darauf tritt derselbe Mann, reingewaschen, mit einem andern Auftrage herein; Stein eilt ihm entgegen, freut sich ihn wiederzusehn und drückt ihm freundlich ein Papier in die Hand, worin der Ueberraschte einen Doppel-Friedrichsd’or findet.

Der Geschäftskreis des Oberpräsidenten umfaßte 182 Geviertmeilen und fast eine halbe Million Einwohner. Mit rastlosem Eifer widmete er sich der umfangreichen Aufgabe; der blühende Zustand Westphalens war sein Werk. Ueber die oft kleinlichen Einzelheiten seines Berufes vergaß er nicht das große Ganze; sein scharfer Blick verfolgte mit warmer Theilnahme die Geschicke Preußens und Deutschlands, welche eine immer schmachvollere Wendung zu nehmen drohten.

Bonaparte’s Siege in Italien zwangen Oesterreich, den Frieden zu Campo-Formio zu schließen, worin es in die Abtretung der deutschen Reichsländer auf dem linken Rheinufer an Frankreich willigte, so wie in die Entschädigung der dadurch beeinträchtigten Reichsfürsten mittels Säcularisation der geistlichen Stifter und Mediatisirung der Reichsstände. Ein geheimer Artikel enthielt die Bedingung: Preußen keine Vergrößerung zu gestatten.

Stein war eben so sehr über Oesterreichs Treulosigkeit, womit es die deutsche Sache aufgab und zur Auflösung des Reiches beitrug, wie über Preußens politische Starrsucht empört. Während der Congreß in Rastatt zusammentrat und das widerliche Schauspiel der Zerrissenheit, Ohnmacht, Kleinlichkeit und Jämmerlichkeit Deutschlands begann, starb der schwache König von Preußen, dem der damals den Verhältnissen nicht gewachsene, wenn auch durchaus ehrenwerthe Friedrich Wilhelm der Dritte folgte. Seine Umgebung, zu der ein Haugwitz, Lucchesini und Lombard gehörten, rieth dem unerfahrenen Könige zur strengsten Neutralität, was der größte politische Fehler war.

Wie Stein darüber dachte, sprach er in einem Briefe an Frau von Berg, seine Freundin, aus: „Was sagen Sie, gnädige Frau, die so empfänglich für große und schöne Thaten, zu dem kraftvollen und tapfern Benehmen dieses jungen Helden, des Erzherzogs Karl, und seines braven Heeres, welche jetzt Deutschland von dieser Räuberhorde, der sogenannten französischen Armee, gereinigt haben? – es ist betrübend, uns gelähmt und in einem Zustande der Starrsucht zu sehn, während man mit Nachdruck die Ruhe Europa’s auf den alten Grundlagen wiederherstellen konnte, die Unabhängigkeit Hollands, der Schweiz, Italiens, Mainz. Wir amusiren uns mit Kunststücken der militärischen Tanzmeisterei und Schneiderei, und unser Staat hört auf ein militairischer Staat zu sein, und verwandelt sich in einen exercirenden und schreibenden. Wenn meine Einbildungskraft mir die Gestalten der einflußreichen und ausführenden Personen vorstellt, so gestehe ich, erwarte ich nur wenig.“

Durch den Frieden von Luneville, am 9. Februar 1801 zwischen Oesterreich und Frankreich geschlossen, kam die definitive Abtretung des linken Rheinufers zur Ausführung. Unwillig, unter französischer Herrschaft zu stehn, verkaufte Stein die ihm zugehörige, auf dem linken Rheinufer liegende Besitzung Landeskrona und erwarb dafür die in Preußen gelegene Herrschaft Birnbaum an der Warthe. Von nun an gehörte er erst gänzlich seinem neuen Vaterlande, dem er den größten Beweis seiner Anhänglichkeit dadurch gab, daß er die ehrenvolle Aufforderung, als Minister in hannöversche Staatsdienste zu treten, entschieden ablehnte, weil seine Ueberzeugung von der Nothwendigkeit einer Vereinigung der zerstreuten und zerstückelten Kräfte Deutschlands sich nicht mit der Pflicht vertrüge, die sein neues Amt ihm auferlegte.

Die deutsche Entschädigungsfrage wurde endlich auf dem Regensburger Reichsfürstencongresse durch den Machtspruch des damaligen Consuls Bonaparte entschieden. Die dazu erwählte Deputation erhielt von Paris den bereits ausgearbeiteten Plan mit dem Bedeuten, sich darnach zu richten, da es der Wille Sr. Majestät des Kaisers von Rußland und des Ersten Consuls sei, daß die Reichsdeputation an dem Plane keinerlei Veränderung vornehmen dürfe. So wurden deutsche Verhältnisse von fremden Mächten, von Rußland und Frankreich, ohne Widerspruch geordnet, und deutsche Fürsten schämten sich nicht, durch Bestechung der französischen Minister und ihrer Maitressen ein Stück Land zu erbetteln, oder die ihnen drohende Mediatisirung abzuwenden. Auch Preußen erhielt an der Beute seinen Antheil und zur Entschädigung für die auf dem linken Rheinufer gelegenen Gebietstheile die Bisthümer Münster, Paderborn etc. Die Verwaltung des neuen Besitztums wurde an Stein übertragen, der hier mit vielfachen Vorurtheilen zu kämpfen hatte. Es gelang ihm, diese durch sein eben so maßvolles als energisches Benehmen zu besiegen, indem er möglichst schonend und mild auftrat, die alten Beamten, zu denen das Volk Zutrauen hatte, in ihren Stellen ließ und den katholischen Priestern, deren Einfluß überwiegend war, mit Achtung begegnete. So gelang es ihm, diese Provinz dem preußischen Staate vollkommen einzuverleiben.

Der von Frankreich und Rußland sanctionirte Länderraub hatte indessen die deutschen Fürsten nur nach neuer Beute lüstern gemacht; besonders kannten die kleinen Herrscher weder Maß noch Ziel. Sie nahmen jetzt die Gelegenheit wahr, sich auf Kosten der unmittelbaren Reichsritterschaft zu bereichern und deren vom Kaiser seit Jahrhunderten bestätigte Rechte und Besitzthümer sich anzumaßen. Bayern ging den übrigen Staaten hierin voran, Hessen und Nassau folgten ihm sogleich nach. Gegen diese Uebergriffe erließ Stein, dessen Güter im Nassauischen lagen, einen geharnischten Brief an den Fürsten. „Deutschlands Unabhängigkeit,“ schreibt dieser geborene Freiherr an den Usurpator, „wird durch die Vereinigung der wenigen reichsritterschaftlichen Besitzungen mit den sie umgebenden Territorien wenig gewinnen; sollen diese für die Nation so wohlthätigen großen Zwecke erreicht werden, so müssen diese kleinen Staaten mit den beiden großen Monarchien, von deren Existenz die Fortdauer des deutschen Namens abhängt, vereinigt werden, und die Vorsehung gebe, daß ich dieses glückliche Ereigniß erlebe.“

Ferner heißt es in diesem Schreiben: „In dem harten Kampfe, von dem Deutschland sich jetzt momentan ausruht, floß das Blut des deutschen Adels. Deutschlands zahlreiche Regenten, mit Ausnahme des edlen Herzogs von Braunschweig, entzogen sich aller Theilnahme und suchten die Erhaltung ihrer hinfälligen Fortdauer durch Auswanderung, Unterhandeln und Bestechung der französischen Heerführer. Was gewinnt Deutschlands Unabhängigkeit, wenn seine Kräfte noch in größerer Masse in diese Hände concentrirt werden?

„Es ist hart, ein erweislich siebenhundertjähriges Familieneigenthum [587] verlassen und sich in entfernte Gegenden verpflanzen zu müssen. Es ist noch härter, alle diese Opfer nicht irgend einem großen, edlen, das Wohl des Ganzen fördernden Zweck zu bringen, sondern um der gesetzlosen Uebermacht zu entgehen, um – doch es gibt ein richtendes Gewissen und eine strafende Gottheit!

Diese männlich kühne Sprache verfehlte ihre Wirkung nicht; sie erregte Furcht und Begeisterung im ganzen Vaterland.

Die großen Verdienste, welche sich Stein in seiner Verwaltung erwarb, lenkten die Aufmerksamkeit des Königs auf ihn, der ihm die durch Struensee’s Tod erledigte Stelle eines preußischen Finanzministers antrug. Aus Bescheidenheit lehnte Stein anfänglich ab, indem er sich die zu einem so wichtigen Posten nöthigen Kenntnisse nicht zutraute; erst auf wiederholtes Dringen entschloß er sich zur Annahme. Im December 1804 trat er seinen neuen Wirkungskreis an, worin er sein administratives Talent von Neuem bethätigte. Indem er durch Aufhebung der äußerst kostspieligen Salzadministration zunächst Ersparnisse zu machen suchte, verfolgte er vor Allem das Ziel, welches ihm vorschwebte, durch Befreiung von allen beschränkenden Fesseln den Handel zu heben und den Wohlstand des Landes zu mehren. Zu diesem Ende setzte er bei dem Könige die Aufhebung aller Provinzial-, Wasser-, Land- und Binnenzölle durch, eine Maßregel, die den Ausgangspunkt einer neuen freisinnigen Handelspolitik bezeichnete und von den segensreichsten Folgen begleitet war. Andere bedeutende Reformen, an deren Durchführung Stein arbeitete, wurden damals durch den Gang der politischen Ereignisse aufgehalten.

Eine neue Coalition, an deren Spitze England stand, hatte sich gegen Napoleon gebildet, der den Kaisertitel angenommen und durch die Besetzung von Hannover und seine Uebergriffe in Italien, Holland und der Schweiz den Frieden und das Gleichgewicht Europas störte. Mit England hatte sich Rußland verbunden, welchem das gedemüthigte Oesterreich und Schweden sich anschlossen. Wieder hing das Schicksal der Welt von Preußens Entscheidung ab. Am Hofe hatten sich zwei Parteien gebildet, an der Spitze der einen, welche für einen engen Anschluß an Frankreich stimmte, befanden sich Haugwitz, Lombard und die Generale Möllendorf, Kalkreuth, Zastrow, Köckeritz, Knobelsdorf, während Hardenberg, Blücher, Stein und vor Allen der hypergeniale Prinz Louis Ferdinand dagegen eiferten und zum Kriege gegen Napoleon drängten. Unentschlossen schwankte Friedrich Wilhelm zwischen diesen entgegengesetzten Meinungen; so entstand jene zweideutige, unzuverlässige preußische Politik, welche zu der verderblichsten Neutralität führte. Der König wollte nach keiner Seite Partei nehmen, den Vermittler spielen und gerieth dadurch mit Allen in Streit. Er verweigerte den Russen den Durchzug und überwarf sich mit Napoleon, als dieser, ohne erst anzufragen, das preußische Gebiet von seinen Truppen betreten ließ.

(Fortsetzung folgt.)




Einiges über die sogenannten Universalmittel.
Von C. Schmitz.

Die Menschheit ist in ihrem bei weitem größten Theile mit ihrem Verstande noch nicht so weit auf’s Reine gekommen, daß sie die ihr innewohnende Sucht für das Abergläubige, Wundergläubige, Unnatürliche aufgeben und dafür die gesunde Vernunft in ihr angestammtes Recht einsetzen sollte. Das Gefühl vom Mystischen, Unerklärlichen, Unnatürlichen ist Jedem, der nicht mit Ernst dem Studium der Natur obliegt, zu sehr an’s Herz gewachsen, als daß er dagegen die allzu geringe Kenntniß der Naturgesetze durch seinen Verstand zur Geltung bringen könnte. Es zeigt sich hierin förmlich ein krankhaftes Sträuben des Menschen gegen seine gesunde Vernunft, und daß dieser Gegensatz etwas Krankhaftes sein muß, liegt schon in dem alten Ausdruck „gesunde Vernunft“. Wie wäre es auch sonst zu erklären, daß sogar gebildete Leute gegen die einfachsten Naturwahrheiten trotzen? Versuche einmal, einer Frau ihre über Nacht gehabte Geistererscheinung auf natürlichem Wege zu erklären, indem Du ihr etwa zu überlegen gibst, ob nicht auch vielleicht der Mondschein diese Täuschung hervorgebracht haben könnte, so bist Du von vorn herein ihr abgesagter Feind. „Greifen kann man nur das Greifbare“, „sehen kann man nur das Sichtbare“ u. dergl., solche einfache Naturgesetze sind diesen Leuten geradezu abgeschmackt; sag’ ihnen dagegen: „Auch das für den gewöhnlichen Menschen Unsichtbare kann das Auge des Erleuchteten schauen,“ so wird solche Behauptung von vorn herein als wahr anerkannt und viel beifälliger aufgenommen, schon weil Niemand zu den gewöhnlichen Menschen gehören will, selbst um den Preis – Gespenster sehen zu müssen.

Diejenige Sorte von Gespenstern, mit welchen wir uns hier specieller beschäftigen wollen, sind die sogenannten Universalmittel. Man wird den Uebergang von den obigen allgemeinen Betrachtungen zu unserem Gegenstande sonderbar finden. Aber ist die Erscheinung eines Universalmittels nicht wie ein Gespenst? Es erscheint plötzlich, fanatisirt alle Welt, die Menschen stürzen sich ihm blindlings in die Arme, dann verraucht der Fanatismus, des Mittels Universalheilkraft ist verduftet und – „ward nicht mehr gesehn.“ – War die Somnambule in der Blumenstraße in Berlin etwa nicht ein solches Gespenst? Oder reist etwa heute noch Jemand zum heiligen Rock nach Trier, um sich heilen zu lassen? Nein! aber das will nichts sagen, denn von ihrem Aberglauben werden die Leute doch niemals geheilt; taucht ein neues Gespenst, ein neuer Wunderdoctor auf – der Fanatismus ist gleich wieder da. Du, der Du Dich heute schämst, vor Jahren zum heiligen Rock gewallfahrtet zu sein, Du läßt Dir vielleicht morgen schon von einer alten Frau Dein Blut besprechen, und findest es ganz selbstredend, daß Dein Blut durch die Zauberformel mit den obligaten drei Kreuzen sympathetisch (!) zum Stillstand gebracht worden sei; während die natürliche und vernünftige Erklärung, „daß das Blut die Eigenschaft habe, nach einiger Zeit an der Luft zu gerinnen, wodurch sich die Blutgefäße selbst verstopfen,“ Dich vollständig kalt läßt. Was hätte auch „die unerlaubte (!) Selbsthülfe der Natur“ für eine Berechtigung, von Deinem Begriffsvermögen acceptirt zu werden, gegenüber der klar zu Tage liegenden Zauberkunst der alten Frau?!

Da treten mir nun aber sieben Leute entgegen, die alle sieben mit pharisäischer Ruhmredigkeit ausrufen: „Herr Gott, ich danke Dir, daß ich nicht so dumm oder abergläubig bin, wie einer von Jenen! Ich habe für alle Gefahren dieses Lebens ein wirkliches handgreifliches Universalmittel, welches mir durch die ihm wirklich innewohnende Heilkraft in allen Fällen hilft.“ Der Eine schwärmt für die Universalheilkraft des Bullrich’schen Salzes und würde es für eine Sünde hatten, irgend ein anderes Medicament jemals über seine Lippen zu bringen. Der Andere sucht sein ganzes körperliches Heil in Morison’s Pillen. Der Dritte geht von der Muttermilch direct zu Petsch’s Aepfelwein über und genießt sein Lebtage nichts Anderes, als den wunderthätigen Saft des Apfels. Der Vierte verdankt seine ganze Gesundheit der Revalenta arabica, und wie sollte er auch nicht? Ist doch das schöne Wort „Revalenta“ allein schon das „Wiedergenesen“! Der Fünfte zwingt Alles mit dem reinen, kalten, frischen, klaren Wasser, womöglich einem Bergquell entnommen; rein macht wieder rein, das ist natürlich. Der Sechste trägt seine Haut nur noch dem Braunscheidtismus zu Markte, denn seitdem auch das kalte Wasser ihm nur geschadet hat, glaubt er an kein anderes Mittel mehr. Und der Siebente endlich haßt alle Mittel, mögen sie naß oder trocken sein, und wirft sich ganz und gar dem wunderthätigen Imponderabile, der Elektricität, in die Arme. Das sind sieben Fanatiker, die sich alle sieben auf ihren Glauben todtschlagen lassen, und kein einziger von ihnen wird eingestehn wollen, daß er sich von Aberglauben oder Wunderglauben leiten lasse.

Wer hat denn nun aber von allen diesen sieben Leuten den besten Glauben? – Der gesunde Menschenverstand entscheidet diese Frage mit kaltem Blute und ohne Vorurtheil, und sagt natürlich: Keiner von ihnen! Sie sind alle Sieben verblendet, sie haben Augen, aber sehen nicht, – sie haben Ohren, aber hören nicht, Sie haben ihre Mittel gebraucht, – jeder ein ganz anderes, sie sind gesund geworden, und haben nur die Unachtsamkeit begangen, daß sie nicht bemerkt haben, wie die Natur so eigenmächtig verfahren ist und sich mit „unerlaubter Selbsthülfe“ ganz heimlich in die Gesundheit hineingeschlichen hat, und zwar in der großen Mehrzahl der Fälle nicht weil, sondern obgleich eines jener Mittel [588] nebenbei angewandt worden war. Eigentlich sollte doch wohl jeder unbefangene Mensch, der nur den Willen hat, seinen Verstand zu gebrauchen, einsehen können, daß hundert der verschiedensten Krankheiten durch ein Mittel zu beseitigen, eine absolute Unmöglichkeit ist, da in der Natur das Wechselverhältniß zwischen Ursache und Wirkung doch einmal in allen Fällen ein bestimmt gegebenes ist. Etwas verständiger würde es schon sein, wenn sich Einer sagte: „Ich will keins dieser sogenannten Universalmittel verachten, sondern jedesmal, wenn ich krank bin, mir dasjenige aussuchen, welches mir am zweckmäßigsten zu sein scheint, und mir aus jedem dieser Universalmittel ein Specialmittel machen.“ Darin läge schon Logik, und wenn er nun so logisch fortführe, und zu obigen sieben Mitteln noch 93 andere sich dienstbar machen könnte, und dann in jedem Erkrankungsfalle das richtige auszuwählen und anzuwenden verstände, siehe! – dann wäre schon ein ganz leidlicher Prakticus fertig. Welcher Arzt möchte wohl das doppelt-kohlensaure Natron in seinem Arzneischatz entbehren? – Aber Bullrich kann er darum doch nicht werden. Welcher Arzt möchte sich in seiner Praxis wohl ohne Aloe und Jalappe behelfen? – Wollte er aber mit diesen, den wirksamen Bestandtheilen in den Morison’schen Pillen, alle Krankheiten durch die Bank behandeln, man würde ihn bald als Giftmischer zum Thore hinaus bringen. Aepfelwein (bitte aber den Zucker nicht zu vergessen!) trinkt auch wohl der Arzt einmal im Sommer, – aber Petsch!? – O nein! – Daß Wicken-, Linsen- und Gerstenmehl recht nahrhaft sind, weiß jeder Bauer, – aber Revalenta arabica?! (Der pseudonyme Erfinder Barry du Barry hat sich wenigstens nicht den Magen dran verdorben, – er ist reich geworden!) – Das kalte Wasser – alle Achtung! Welcher praktische Arzt hätte wohl den greisen Prießnitz mit seinen nassen Einwickelungen, Abreibungen u. s. w. nicht in gutem Andenken und stets im Gedächtniß? Welcher Arzt würde wohl das kalte Wasser in seinem Arzneischatz entbehren wollen? Keiner! – Aber die sogenannte Hydropathie ist ein eben solches „Universalmittel“, wie die andern alle; als Universalmittel hat das kalte Wasser keinen höheren Werth als – „Franzbranntwein und Salz“. Ja, das kalte Wasser unter der Hand eines Unverständigen richtet oft großes Unheil an und schadet oft rascher, als die langsam tödtenden Gifte Wundram’s, Morison’s u. s. w. u. s. w. Eine Lungenentzündung z. B., die durch einen rechtzeitigen Aderlaß vielleicht beseitigt worden wäre, wird von ungeschickter Hand „hydropathisch behandelt“, – der Kranke stirbt am zweiten oder dritten Tage am – „Lungenschlag“, ja wohl! und zwar in diesem Falle wahrscheinlich weil – nicht obgleich – (siehe oben).

Es ist eine bemerkenswerthe Erscheinung, daß die wundergläubigen Anhänger eines Universalmittels nach der Bekehrung von ihrem Aberglauben meist in den größten Haß gegen den früheren Gegenstand ihrer Verehrung verfallen. So habe ich Jemanden gekannt, der Jahre lang für Wundram’s Kräuterpulver geschwärmt hatte, da machte er eines unglücklichen Tages die Entdeckung, daß er mit den schönen, reinen Kräutern doch auch eine ganze Menge Glaubersalz mit verschluckt hatte, und – armer Wundram, Du warst verdammt! So wird dann das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, und keine Messerspitze voll einer Laxanz, möge sie einen Namen haben, welchen sie wolle, darf jemals wieder die Eingeweide dieses Schwergetäuschten verunreinigen. So geht es natürlich auch oft genug der Wassercur. Ich hörte einen Mann schwören, daß ihm kein nasser Lappen jemals wieder an seinen Leib kommen sollte, nachdem ihn die Schmiercur gerettet hatte.

Die Wissenschaft des Hippokrates sieht diesem Jahrmarktstreiben der Welt ruhig zu, leuchtet mit der Diogeneslaterne schweigend umher, prüfet Alles und behält – leider wenig.




Bilder aus dem Seeleben.
2. Das Schiffsgespenst.

Obwohl ich von Geburt ein Deutscher bin, und daher weder einen Lord der Admiralität, noch irgend ein sehr verehrliches Parlamentsmitglied meinen Gönner und Protector nennen kann, war es mir doch gelungen, mich im englischen Seedienst vom anspruchslosen Midshipman zum ersten Lieutenant auf Ihrer Majestät Fregatte „Minerva“ emporzuarbeiten. Ich hatte bisher immer Glück gehabt; der erste ernstliche Unfall traf mich, als die Minerva vor Boston ankerte – ich erkrankte heftig, so heftig, daß der Schiffsarzt erklärte, ich wäre so gut wie todt, wenn ich auf der Minerva bliebe, die am nächsten Tage nach Portsmouth unter Segel gehen sollte. Das Schiff konnte meine Genesung natürlich nicht abwarten, und da ich dem Capitän niemals Gelegenheit gegeben hatte, meinen Tod zu wünschen, so ließ er mich bereitwillig an’s Land setzen, drückte mir seinen Wunsch aus, mich bald und gesund in Portsmouth auf meinem Posten zu sehen, und überließ mich meinem Schicksale. Tags darauf lichtete die Minerva die Anker.

Nach etwa drei Wochen war ich wieder hergestellt und hätte mich gern ohne allen Verzug nach England eingeschifft. Es traf sich glücklich, daß ein Kauffahrercapitän mit Namen Bentham, dessen Bekanntschaft ich zufällig gemacht hatte, sein Schiff eben für Portsmouth segelfertig machte. Ich begab mich zu ihm und ersuchte ihn, mich als einfachen Passagier die Fahrt mitmachen zu lassen.

„Geht nicht, Sir,“ erwiderte er, „durchaus nicht.“

„Warum?“

„Von wegen dem Rheder. Ich darf Niemanden mitnehmen, der nicht zum Dienst gehört.“

„So nehmt mich meinetwegen als Lieutenant mit.“

„Das ginge an, Sir“, sagte Mr. Bentham schmunzelnd, „Ihr brauchtet Euch darum nicht anzustrengen.“

„Wir sind also einig?“

„Hm – was hab ich davon, wenn ich meinen Rheder betrüge?“

Ich gab ihm zu verstehen, daß der Sold, der seinem Lieutenant gebühre, dann in seine Tasche fließen würde, fügte ein kleines Präsent in Gestalt meiner silbernen Uhr hinzu, die ihm in die Augen stach, wofür er mir großmüthig genug ein altes Fernrohr aufdrang, von dem er sich einbildete, daß es mir gefiele, und schloß mit dem Versprechen, mich morgen bei Zeiten auf der „Patience“ einzustellen.

„Gut denn“, sagte Mr. Bentham, indem er nach Yankee-Manier sich das Kinn frottirte. „Ich hab’ zwar schon einen Lieutenant, ich nehm’ Euch als zweiten in’s Register, wenn’s Euch recht ist. Mein Rheder ist ’n verd– Filz; ’s ist nicht mehr als billig, wenn ich ihn auch ein wenig schnüre.“ –

Als ich am nächsten Tage an Bord der Patience kam, war eben ein neuer Matrose der Mannschaft eingereiht worden. Er lehnte an einer Kanone und sah theilnahmlos den kurzen Ceremonien zu, die meine Ankunft begrüßten. In seinen Zügen drückte sich eine Verzweiflung aus, die mir Interesse einflößte. Ich näherte mich ihm und fragte ihn, warum er so finster drein sehe. Anfangs wollte er mit der Sprache nicht heraus; aber nach einigem Zureden wurde er mittheilsamer. Ich fragte ihn, was er getrieben habe, bevor er auf das Schiff gekommen sei.

„Das kann Ihnen all’ Eins sein, Sir“, entgegnete er. „Wenn Sie aber gerade wissen wollen, warum ich hier bin – ich hatt’ in Boston ein Mädel, Sir – o, Sir! Ein Kernmädel, sag’ ich Ihnen. Ich hab’ sie lieber wie mich selbst, meiner Seel’. – –“

„Nun?“

„Nun, Sir! Vorgestern traf ich einen von meinen Cameraden bei ihr, mit dem ich ohnedies im Unfrieden lebte; ich machte nicht viele Umstände und hieß ihn sich zum Teufel scheeren; er schlug mich in’s Gesicht, und da hieb ich ihm meinen Knittel über den Kopf, daß er hinfiel, wie todt. Ich hatt’ nun nichts Eiligeres zu thun, als auf die Gasse zu laufen und mich von ’n Paar Matrosen anwerben zu lassen; denn besser auf’m Schiff, als auf’m Galgen, dacht’ ich. Vierundzwanzig Stunden hielten sie mich in einer Kneipe versteckt, und als sie mir ’nen falschen Bart ’naufklebten und mich auf das Schiff schmuggeln wollten, da begegnete mir – was glauben Sie, Sir, wer mir begegnete?“

„Euer todter Camerad?“

„Jemmy Consly, wie er leibte und lebte! ’N bischen angegriffen [589] sah er aus, aber von Todtsein keine Spur. Ich kann nicht sagen, daß mir das leid that, Sir; was mir aber leid that, das war, daß mich die Theers fest hatten. Ich hatte das Handgeld genommen und mich für zwei Jahre versagt; da half kein Bitten. Unterwegs entsprang ich ihnen – aber so’n verdammter Schlingel von Hochbootsmann – Block hießen sie ihn – war mir auf den Fersen und hatt’ mich gleich wieder fest. Ich werd’s ihm aber gedenken.“

Ich empfahl ihm, sich nichts aus seinem Mißgeschick zu machen, und verließ ihn; denn der Capitän ertheilte Befehl zum Ankerlichten. Der erste Lieutenant ging ihm an die Hand, ich war überflüssig und machte den Zuschauer. An die strenge Ordnung und Disciplin eines Kriegsschiffes gewöhnt, ward ich von dem Chaos von Unordnung, Lärm und Durcheinanderlaufen angewidert, welches auf den Ruf des Capitäns folgte. So streng und musterhaft auch auf den amerikanischen Kriegsschiffen die Mannszucht gehandhabt werden mag – auf einem Jankee-Kauffahrer darf, oder wenigstens durfte man damals nicht viel von Ordnung suchen – zumal wenn ein Capitän commandirte, wie Mr. Bentham.

Wir befanden uns kaum auf hoher See, als er bemerkte, daß er vergessen hatte, sich mit Wein zu versorgen, und schleunigst wenden ließ. Als es dunkelte, lagen wir wieder vor Boston, der Capitän ließ sein Gig aussetzen und fuhr mit Block, dem Hochbootsmann, der ein guter Weinkenner war, und mehreren Matrosen an’s Land. Ich ging in meine Kajüte und machte mir’s bequem, aber ehe eine Stunde vorbei war, rief mich der Allarmruf der Schildwache auf’s Deck. Oben fand ich bereits Mr. Smith, den ersten Lieutenant, welcher mir sagte, der Matrose „von heute“, Jack Watson, sei eben über Bord gesprungen, augenscheinlich in der Absicht, zu desertiren. Ich fragte ihn, warum er nicht schnell ein Boot habe aussetzen lassen, um ihn wieder einzubringen. Worauf er mir antwortete, die Schildwache habe erst gerufen, als man in dem Dunkel nichts mehr habe unterscheiden können. „Eine verd– Mannszucht hier auf der Patience!“ setzte er knirschend hinzu. „Hätte ich’s früher riechen können, ich hätte nie einen Fuß auf ihr schmutziges Verdeck gesetzt. Wenn man einem von den faulen Burschen hier die Katze geben will, muß man erst vierzehn Tage bei Mr. Bentham petitioniren. Dam!!! Ich wollte –“

Mr. Smith mußte seinen Expectorationen ein Ziel setzen, denn eben legte des Capitäns Gig an. Gleich nach Mr. Bentham sahen wir mit Erstaunen Block an Bord erscheinen, der den entwichenen Watson am Kragen hielt. Dieser machte, von Wasser triefend, die Hände auf dem Rücken zusammengebunden, eine jämmerliche Figur. Der Arme war schwimmend dem Gig begegnet, und ohne zu ahnen, wer darin säße, hatte er den Rudernden, die ihn sonst sicherlich in der Dunkelheit nicht bemerkt hätten, lustig zugerufen, ob Land nahe sei? Zu spät hatte er seinen Mißgriff erkannt und war trotz aller Anstrengungen eingeholt und von Block an Bord gezogen worden.

Mr. Smith trug für den Deserteur auf mindestens zwölf Dutzend an, Watson aber schwur hoch und theuer, er habe nicht durchgehen, sondern nur seine Liebste ein letztes Mal sehen wollen, und Capitän Bentham hätte ihm am liebsten die Strafe ganz geschenkt, um nur den Lärm nicht mit anhören zu müssen; da aber Mr. Smith hiergegen gewiß Einsprache erhoben hätte, so erkannte er dem Ausreißer zwei Dutzend zu, die derselbe auch anderen Morgens auf dem Gangwege vom Hochbootsmann vollwichtig aufgezählt erhielt. Watson muckte nicht; aber von dem Augenblicke schrieb sich sein Haß gegen Block her – ein Haß, den er auf alle mögliche Weise äußerte und den ihm dieser mit Zinseszinsen zurückgab. Block schnupfte gern – eine Gewohnheit, die dem ersten Lieutenant in den Tod zuwider war. Wollte Block daher seiner Lieblingsneigung fröhnen, so schlich er zu dem Plätzchen, wo er seine Dose versteckt hatte, und nahm eilig eine Prise, wenn er sich unbemerkt glaubte. Watson bemerkte dies bald, und als der Gegenstand seines Hasses auf einen Augenblick vom Deck mußte, stibitzte er die Dose, schüttete ihren Inhalt in die See und füllte dafür eine Mischung von Pfeffer und Schießpulver hinein, die er sich zu diesem Zwecke verschafft hatte. Dann prakticirte er die Dose wieder an ihren Platz.

Als Block wieder auf Deck kam, war sein Erstes, sich eine Prise zu holen; aber kaum hatte er den Finger zur Nase geführt, als er mit einem fürchterlichen Fluch zurückfuhr. Er hatte den Braten bei Zeiten gerochen und erkannte bald, was den Tabak in seiner Dose ersetzte. Er ließ seine Wuth nicht merken, war aber keinen Augenblick darüber in Zweifel, wer ihm den Possen hatte spielen wollen; das verriethen die Blicke, die er von Zeit zu Zeit auf Jack warf. Dieser bot ihm selbst Gelegenheit zur Vergeltung. Neben dem Maste lag ein Haufen schadhaften Tauwerks sammt den dazu gehörigen Blöcken, d. i. den Rollen, in welchen die Taue laufen. Watson ging zufällig daran vorbei, spie aus und beschmutzte ein Paar von den ohnehin rostigen Blöcken. Im Nu stand Block neben ihm.

„Wer heißt Dich das Deck mit dem schmutzigen Primchensaft besudeln, Du Kerl von einem Ausreißer?“ schrie er, indem er ihn bei der Jacke faßte.

„Es war ja nur ein rostiger, Sir“, entgegnete Jack mit verstellter Demuth. „So’n alter Block ist so nichts Bess’res werth, als angespuckt zu werden.“

Ein lautes Gelächter der nahestehenden Matrosen, ein wüthender Faustschlag von Seiten des Hochbootsmanns lohnte diesen Ausfall; Jack nahm das Erstere schmunzelnd, den letzteren gleichgültig hin, und ich, der ich der ganzen Scene beigewohnt hatte, ohne von den handelnden Personen berücksichtigt zu werden, schritt nicht ein, weil ich mir vorgenommen hatte, mich an Bord der liebenswürdigen Patience an durchaus nichts zu betheiligen, was mich nicht anging – ich betrachtete mich nicht als Officier der Patience, obgleich ich den Titel eines solchen führte.

Daß sich Watson durch tausend Possen, die er dem Hochbootsmann spielte, bei diesem nichts weniger als beliebt machte, läßt sich leicht denken, und wenn ihn Block aus seinem linken Auge – das rechte war ihm bei einer Balgerei von einem Marinesoldaten ausgeschlagen worden – anblickte, so schien es mir, als hätte er jeden Augenblick Lust, seinen Gegner beim Halse zu fassen. Watson hingegen besaß, wenn er nicht eben an sein verlassenes Mädchen dachte, ein fröhliches Temperament, welches ihren Zwist zu einem Quell unerschöpflicher Heiterkeit für die Matrosen machte, und Niemand hätte gedacht, die Sache könne ernstliche Folgen haben, wenn nicht Block’s Jähzorn sie auf eben so schnelle, als tragische Weise zu Ende geführt hätte.

Es war ein sonniger Tag, ein reiner, wolkenloser Himmel – so’n Wetter, wie’s der Städter wunderschön, unvergleichlich, der Seemann aber häßlich und langweilig nennt. Die schwache Brise reichte kaum hin, die Segel zu blähen, das Schiff schien kaum vom Fleck zu kommen, und die Matrosen, mißmuthig und gähnend, beschäftigten sich theils mit Faulenzen, theils mit dem Ausbessern des Takelwerks. Jack stand in den Wandtauen[1], den einen Fuß auf die Webeleinen[2] den andern auf die Brüstung gestützt, und flickte an dem Tauwerk. Dicht über ihm befand sich Block, der mit dem Amt eines Hochbootsmanns das eines Segelmeisters verband, und ihm die nöthige Anleitung gab. Eine Zeitlang arbeiteten sie emsig und stille fort; mit einem Male rief Block, der die Pfeffergeschichte schon vergessen zu haben schien, dem Anderen zu:

„Du, Jack! Du könntest mir ’n Primchen schenken. Ich hab’ meinen Tabaksbeutel leer und möcht’ was zu kauen.“

„Ja, ja, Sir,“ rief Jack bereitwillig. „Bei mir hab’ ich keins, aber ich will eins holen.“ Er eilte in den Raum hinunter, nachdem er zuvor, von Block unbemerkt, bei dem Tabaksdosenversteck Station gemacht hatte, kam zurück, sprang auf die Brüstung und reichte dem Hochbootsmann ein dickes, schwarzgebeiztes Primchen, das dieser nickend in Empfang nahm und zum Munde führte – aber nur, um es gleich wieder puhstend und sprudelnd auszuspeien.

„Warte, Du Schurke!“ knirschte er. „Du hast mir das Primchen in Schnupftaback eingetunkt; bei meinen lieben Augen, ich schlage Dir dafür die Zähne in den Hals.“

Jack lachte.

„Du lachst? Du – Du –“

„Ja, Sir. Wenn Ihr Euren Schwur haltet, geschieht mir nichts.“

„So?“

„Ja, Sir. Ihr habt bei Euren lieben Augen geschworen; Ihr habt ja nur eins.“

Ein Matrose, der in der Nähe beschäftigt war, lachte laut [590] auf; Block aber, den nichts so sehr aufbringen konnte, als eine Anspielung auf seine körperlichen Mängel, hob, schäumend vor Wuth, das Bein in die Höhe und stieß den Absatz seines schweren Schuhes dem Spötter in’s Gesicht, daß dieser taumelte und den Halt verlor – er stürzte – seine Hände griffen vergebens nach einem Halt, er fiel rücklings über die Brüstung – sein Kopf schlug heftig an den Krahnbalken, dann platschte er in’s Wasser und verschwand unter der spiegelglatten Oberfläche, die sich leicht und willig theilte, um ihr Opfer aufzunehmen. Ein paar Luftbläschen, die rasch hintereinander aufstiegen, zeigten die Stelle an, wo er verschwunden war; sie zergingen schnell, wie sie gekommen waren, und Alles war wieder still, ruhig und eben, wie zuvor. Nicht so an Bord.

Block saß unbeweglich auf seinen Ratlines, entsetzt über seine eigene That. Der Ruf: „Ein Mann über Bord!“ hallte durch das Schiff, und so träge und gleichmüthig die Mannschaft der „Patience“ auch sonst sein mochte, dieser Ruf sammelte sie im Nu. Mr. Smith war rasch zur Stelle, ein Boot wurde ausgesetzt und man ruderte nun im Kreise um den Punkt, wo Watson verschwunden war. Plötzlich stießen einige der Rudernden einen Schrei aus und deuteten auf das Haupt des Verunglückten, welches über dem Wasser sichtbar wurde. Man hielt schnell auf ihn zu. Ich stand auf der Dunette und beobachtete mit gespanntem Interesse Alles, was vorging. Watson hob sich plötzlich mit halbem Leibe aus dem Wasser; seine Augen richteten sich auf Block, der noch immer in den Wandtauen saß und ihn seinerseits anstarrte – er schüttelte die Faust gegen ihn, und in der Secunde, wo das Boot dicht an ihm war, als das vorgestreckte Ruder ihn berührte und die ermuthigenden Rufe der Leute im Boote an sein Ohr drangen, sank er unter und verschwand zum zweiten Male. Vergebens ließ Mr. Smith die Leute noch eine halbe Stunde hin und herrudern; sie mußten unverrichteter Sache zurückkehren. Armer Jack! Noch vor kurzem lustig, aufgeräumt, im Vollgenusse Deiner Lebenskraft im Tauwerk gestanden – und jetzt! –

Block, der aus unbekannten Gründen ein Schützling des Capitäns war, ging straflos aus. Trotz meines Vorsatzes, neutral zu bleiben, machte ich diesem bemerklich, ein solches Verfahren müsse einen schlechten Eindruck auf die Mannschaft machen, worauf er mir entgegnete, er selbst wisse am besten, was er zu thun habe, Block sei von Watson gereizt worden und habe jedenfalls nicht die Absicht gehabt, diesen in’s Wasser zu werfen. Ich schwieg und ging meiner Wege.

Seeleute haben einen leichten Sinn, und nach zwölf Stunden dachte Niemand mehr daran, daß es je einen Jack Watson an Bord gegeben habe. Aber sie sollten bald genug an ihn erinnert werden.

Es war in der zweiten Nacht nach dem eben erzählten Vorfalle, als ich durch ein fürchterliches Geschrei, das durch mehrere Cajütenwände gedämpft an mein Ohr schlug, aus dem Schlaf geschreckt wurde. Im Nu war ich aus dem Bett, fuhr in die Kleider und eilte auf’s Deck, wo ich Mr. Smith bei den Matrosen der Wache traf. Alle hatten das Geschrei gehört; Niemand aber wußte, woher es rührte. Da kam Jones, der Steuermannsmate, die Schiffstreppe heraufgelaufen und berichtete mit zitternder Stimme, der Lärm käme aus des Hochbootsmanns Koje. Wir begaben uns dahin; das Geschrei hatte inzwischen aufgehört.

In einem engen Breterverschlag, der eben nur Raum für zwei Hängematten hatte, befand sich, getrennt von den Kojen der übrigen Matrosen, die Schlafstelle von Jones und Block. Der Erstere hob die Lampe in die Höhe, die er mitgenommen hatte, und wir sahen seinen Schlafcameraden zusammengekauert, ohne Lebenszeichen, das Gesicht in die Hängematte gedrückt, daliegen. Mr. Smith näherte sich ihm und tippte ihn auf die Schulter, worauf Block ein tiefes Grunzen ausstieß und zusammenschauderte, ohne sich sonst zu bewegen. Erst als ihn Mr. Smith beim Namen rief und aufstehen hieß, erhob er langsam den Kopf und zeigte uns ein entstelltes Gesicht, welches alle Schattirungen von Hellroth bis dunkelblau zur Schau trug. Er sah gräßlich aus. Mr. Smith ließ ihn ein wenig zu sich kommen, dann fragte er ihn um den Grund seines Geschreies. Block sah sich lange mit leerem, ausdruckslosem Auge um.

„O, Sir!“ sagte er endlich sich aufrichtend und seine tiefe Stimme so viel als möglich dämpfend, „Watson’s Geist ist mir erschienen.“

Nach und nach hatte sich das ganze Schiffspersonal versammelt. Was in der Koje nicht Platz hatte, stand außen und drängte neugierig vor.

„Unsinn!“ sagte Mr. Smith.

„O, Sir! Nichts von Unsinn. Ist das da Einbildung?“

Er zeigte nach seinem Halse, auf dem die Spuren von fünf Fingern deutlich und leserlich eingegraben waren. „Ich kam auf, Sir, weil mich Einer am Halse packte, und da rief mir Watson’s Stimme in’s Ohr, ich sei ein Mörder und solle bezahlt werden – und dann würgte er mich – ich schrie, so gut ich konnte – und da war er weg. O, Sir! Ich wollte ihn meiner Seel’ nicht in’s Wasser werfen.“

Mr. Smith wollte weiter forschen, aber aus Block war nichts mehr herauszubringen, und Jones sagte aus, er sei überzeugt, es sei Watson’s Stimme gewesen, und wie er sie gehört, sei er still und unbeweglich liegen geblieben, was er, einem Gespenste gegenüber, für das Beste halte. Erst als Block still gewesen, sei er auf Deck gelaufen.

Keiner von den Matrosen, die heruntergekommen waren, suchte seine Hängematte wieder auf; sie standen in Gruppen umher und flüsterten. Mr. Smith wandte sich an mich:

„Was denken Sie von der Sache, Sir?“

„Ich denke, es wird sich Einer aus der Mannschaft einen Spaß gemacht haben – vielleicht Jones selbst.“

„Sein bester Freund!“

Ich zuckte die Achseln und schwieg. Am anderen Morgen wurde dem Capitän gemeldet, was vorgefallen war. Er nahm die Kunde mit seinem gewohnten Phlegma auf und machte es wie ich: er zuckte die Achseln und schwieg. Aber es sollte ärger kommen.

Außer der Schildwache befand sich kein Mensch auf Deck – abgesehen von dem Steuermaten. Block, der seit der verwichenen Nacht außerordentlich still und schweigsam geworden war, hatte die Leute eben zum Nachtessen gepfiffen, als man in des Capitäns Kajüte heftig und dauernd läuten hörte. Fast im nämlichen Augenblicke sah ich den Steward über Hals und Kopf vor meiner Kajütenthüre, die ich offen gelassen hatte, vorüberstürzen. Ich hielt ihn auf, und er erzählte mir, am ganzen Leibe zitternd, bleich und athemlos, er habe Mr. Bentham sein Abendessen in die Kajüte bringen wollen, da sei plötzlich dicht vor ihm Watson’s Geist aus dem Boden gestiegen und habe Miene gemacht, sich auf ihn zu stürzen. Er habe in aller Hast die Schüsseln von sich geworfen und sein Heil in der Flucht gesucht. Ich ging nach des Capitäns Kajüte, während der Steward auf’s Deck eilte und Angst und Entsetzen unter der ohnehin schon eingeschüchterten Mannschaft verbreitete. – Von Watson’s Geist war keine Spur zu sehen; wohl aber fand ich auf dem Kajütengange Scherben und Speisen umhergestreut.

Ich traf Mr. Bentham tief in eine Sophaecke gekauert. Er war sehr blaß und sprang hastig auf, als er mich erblickte.

„He, Mr. H…! Habt Ihr – habt Ihr ihn gesehen?“

„Ich verstehe Sie nicht, Sir,“ versetzte ich trocken.

Mr. Bentham erhob sich und ging mit etwas unsicherem Schritte auf mich zu.

„Hört – hören Sie, Sir! Ich hör’s draußen klirren, und wie ich die Thür’ öffne, steht Watson vor mir. Ich bin kein Hasenfuß, Sir; aber wie ich ihn sah – der Teufel hole mich! Ich schaute, daß ich in’s Zimmer zurück kam.“

Ich ließ Mr. Bentham, der fest überzeugt war, einen Geist gesehen zu haben, allein und ging Mr. Smith aufzusuchen. Ich traf ihn auf dem Quarterdeck und fragte ihn, ob er von dem Vorgefallenen schon unterrichtet sei. Nebenbei gesagt – der erste Lieutenant zeigte sich mir gegenüber immer sehr höflich, wenn auch etwas zurückhaltend; er hatte mein Verhältniß zum Capitän gewiß längst durchschaut, vermied es aber, sich darüber zu äußern.

„Ja wohl, Mr. H…“, erwiderte er auf meine Frage. „Ich weiß wahrhaftig nicht, was ich von der Sache halten soll. Die Leute sind in Bestürzung, Block ernsthafter als je, Jones wie verrückt und der Schiffskoch liegt in Krämpfen.“

„Der Schiffskoch?“

„Ja. Er hat den Burschen auch gesehen. Er erzählt, wie er in die Cambüse gekommen, hätte Watson’s Geist dagestanden und wäre bei seinem Anblick ohne das geringste Geräusch durch die Luke hinaus und in’s Meer gesprungen. – Sonderbar! –“

Ich ging zu dem Koch und hörte aus seinem eigenen Munde das wiederholen, was Mr. Smith gesagt hatte. Konnte das Alles [591] auf einer Täuschung beruhen? Block, Jones, der Koch, der Capitän selbst, Alle hatten ihn gesehen – nur ich nicht. Man mußte sich überzeugen. Das Schiff wurde gründlich durchsucht – durch und durch, von der Mastspitze bis in den Kielraum; aber von Watson keine Spur. Ich hatte gehofft, dadurch das Gespenst zu entdecken und die Mannschaft zu beruhigen – aber es erfolgte das Gegentheil. Sie waren nun fest überzeugt, Jack’s Geist sei an das Schiff gebannt, und Einige behaupteten sogar, das einzige Mittel, ein solches Schiff vor dem sicheren Untergange zu retten, sei – den Mörder über Bord zu werfen. Block wagte sich nicht mehr ohne Waffen auf Deck. Wir, nämlich ich und der erste Lieutenant – der Capitän, der selbst von der Gespensterfurcht besessen war, war nicht zu zählen – trafen alle Maßregeln, die Wachen wurden verdoppelt, wir selbst paßten scharf auf – aber vergebens. Einem nach dem Anderen erschien der Geist; die Leute von der Wache sahen ihn, wenn sie auf ihrem Posten standen, an derselben Stelle über die Brüstung an Bord kommen, wo er seiner Zeit hinuntergestürzt war, und wenn sie ihn anriefen, war er verschwunden. Sonderbarer Weise zeigte er sich nie, wenn ich oder Mr. Smith oben war. –

Es war gegen 9 Uhr Abends und ich saß lesend in meiner Kajüte, als ich’s an der Thüre pochen hörte. Es war ein Matrose von der Wache, dem ich eine Flasche Rum geschenkt und dann eingeschärft hatte, mich schleunigst zu rufen, wenn er Watson’s ansichtig werde. Ich fragte ihn nicht erst aus, sondern rannte unverzüglich die Kajütentreppe hinauf. Ich setzte den Fuß auf’s Verdeck und mein erster Blick fiel auf – Watson, der unbeweglich, mit verschränkten Armen an einer alten verrosteten Caronade lehnte und mich starr ansah.

Ich blieb unwillkürlich stehen. Ganz hinten, an der Backbord-Leiter des Quarterdecks, standen die Matrosen von der Wache, dicht zusammengedrängt, wie eine Heerde Schafe, und sahen zitternd nach dem Gespenst hin; dicht hinter diesem stand todtenbleich der Hochbootsmannsmate, Block’s Gehülfe, sonst ein tüchtiger Bursche, und wagte nicht, sich zu rühren.

Watson war völlig naß; Haar und Kleider trieften. Ehe ich mich völlig gesammelt hatte, trat er einen Schritt vor, langte wie grüßend nach dem unbedeckten Haupte, dann ging er lautlos und still zu der Brüstung, und ohne merkliche Anstrengung, ohne das geringste Geräusch schwang er sich hinüber – ich sprang hinzu und sah ihn in den Wellen verschwinden. Mich überlief ein Schauer. Was ich gesehen hatte, war unbegreiflich.

(Schluß folgt.)




Im Spreewalde,[3]
Branitz[WS 1] und Muskau.
Ein illustrirter Ausflug von Ludwig Loeffler.




Postreise! Welche Poesie im Klange dieses Wortes gegen die starre Prosa „Eisenbahn“! Welche Vorspiegelung gemüthlicher Scenen im gut gepolsterten Wagen und traulichen Poststationen! Welche Begeisterung für die gute alte Zeit, in der man dieses Genusses bei jeder Veränderung der Localität theilhaftig werden konnte!

Dies Gefühl der Wonne dauert indessen nur so lange, als man in der Zukunft oder Vergangenheit lebt. Die Gegenwart ist schrecklich, und sie wurde es, als wir (ich bin weder regierender Fürst noch Kritiker, also bedeutet dies „wir“ wenigstens zwei Personen) an einem warmen Augustabend in dem dumpf dröhnenden Kasten aus dem Post-Thorwege der Spandauer Straße hinausfuhren. Die Straßen waren fast fremd, die Menschen andere, als wir die Bilder, Stück für Stück, durch die kleinen Fensteröffnungen der Kutsche vorübergleiten sahen. Ein schleierartiger heißer Dunst lag zwischen den Gegenständen und drang in unser Gefängniß, das außer uns noch eine kränkliche Frau mit einem Bündel Kinderzeug, in das ein junger Weltbürger zweifelhaften Geschlechts gewickelt war, und ein diesem zarten Alter schon seit geraumer Zeit entwachsenes Mädchen enthielt. Ein wenig frischere Luft umwehete uns, als wir auf die trostlose Chaussee kamen, die sich durch die Einöden von Tempelhof und Mariendorf hindurchquält, dagegen stellte sich ein neues Leiden in der nächsten Ortschaft ein. Es war, da wir in eine Beichaise gekommen waren, das Wagenwechseln, bei dem wir bis Lübben allen möglichen Turnübungen unterworfen waren und hinsichtlich unserer werthen Persönlichkeiten fast zu schlecht wegkamen, als in Baruth der Postmeister dem Postillon zurief: „Laden Sie aus, ich habe den Sechssitzigen bestellt.“ Das „Ausladen“ betraf uns.

Traurige kleine Städtchen, noch trauriger in dem herumkletternden Laternenschein der schlaftrunkenen Postknechte, waren die Stationsörter bis zu dem freundlicheren Lübben, wo uns außer einem Blick in den Hain der Luba nichts vergönnt war, als eine Tasse Postkaffee, ein Aufguß, der weder mit Mokka, noch mit Martinique, noch mit St. Domingo in irgend einem Grade der Verwandtschaft steht.

Ein Berliner Schulrath, ein ditto Professor und zwei anerkannte ditto Dichter waren die Vorfahren und wir die Nachkommen, da das Loos zum Beiwagen uns treu geblieben war, und in ihrer, wenn auch nicht unmittelbaren, Gesellschaft durchrollten wir die nachtfeuchte Straße nach Lübbenau, die sich durch weinumrankte Chaumièren, hochstehende Bohnen, Gurken und kleine Waldungen hindurchschlängelt, und an jenem frischen Morgen in den ersten schiefen Strahlen der Sonne glitzerte.

Die kleine Stadt war sonntäglich gewaschen und geputzt, und eine feierliche Stille ruhete auf derselben. In der zopfigen, ziemlich geräumigen Kirche mit einem barocken Denkmal derer von Lynar war wendische Predigt, aber fast nur Weiber, alle im ungewohnten steifen Festtagsanzuge, hörten derselben zu. Am Schluß des Vortrags trat eine Anzahl junger Mädchen in die Nähe des Altars, und wurde dort von dem Geistlichen katechisirt.

[592] Es ist dies eine gute nachahmungswerthe Sitte, da sämmtliche Unverheirathete weiblichen Geschlechts bis zur abgeschlossenen Ehe in gewissen Zeiten aufgefordert und verpflichtet sind, sich dieser Quasi-Prüfung zu unterwerfen.

Die Besteigung des Thurmes schien uns wesentlich, um das Terrain zu recognosciren, auf dem wir uns bewegen wollten, und da sahen wir die üppigen, von unzähligen Wasseradern durchschnittenen Wiesen mit Hunderten von Heuschobern und wurden durch die in den Gärten wuchernden Pflanzen inne, daß wir uns in dem Lande der Gurken, Zwiebeln und des Meerrettigs befanden. Zwei Parkanlagen in diesem Bilde der Landescultur zogen uns an, und um sie näher kennen zu lernen, besuchten wir zuvörderst den Schloßgarten des Grafen von Lynar. Außer einem großen Vermögen sieht man an dem stattlichen Gebäude darin nichts, denn auch nicht eine Spur von Kunstsinn leuchtet aus demselben hervor. Dagegen ist der parkähnliche Garten, welcher es von drei Seiten umgibt, sehr beachtenswerth. Dieser ist nicht groß, aber hinsichtlich der verschiedenen Baumgattungen, versteckten Plätzchen, Brücken und Points de vue mit vielem Geschmack angelegt. Eine starke, natürliche Bewässerung hat eine große Ueppigkeit des Wachsthums hervorgebracht, und Tulpenbäume, hochstämmige Weiden, Weihmuthskiefern und Lebensbaum, Orangerie und epheuumrankte Birken, Platanen und dunkle Tannengebüsche wechseln ab mit saftigen, schwellenden Rasenplätzen und vollen, von Gesundheit strotzenden Kürbis-, Rhabarber- und Maisbosquets.

Lübbenau.       In der Kirche.

Die andere der erwähnten Parkanlagen ist eine zweite Besitzung dieser Grafenfamilie. Es ist der Ort, wo trotz aller Exclusion das Exklusive aufhört, – es ist das mit allem aristokratischen Stolze erbaute Erbbegräbniß. Ein ziemlich großes, von vier starken Mauern umgebenes Campo santo birgt die Gebeine der einstigen Grafen, und bronzene Gedenktafeln theilen die Namen etc. etc. der Todten den Lebenden mit. Ein Tannengehege umgibt den noch neuen Bau, in dem die verschiedenen, oft schon Staub gewordenen Reste der Lynare der letzten Jahrhunderte erst vor wenigen Jahren mit dem ganzen vorrechtlichen Ehrengepräge ihres Standes beigesetzt wurden.

Am Nachmittage, nach einem Diner, in dem wir eine der Schattenseiten von Lübbenau kennen lernten, bestiegen wir einen jener flachen Kähne, die nur in sandigen, ruhigen Gewässern verwendet werden. Eine Bank mit Lehne gab uns in dem ziemlich vier Fuß breiten Fahrzeuge einen ziemlich komfortablen Sitz, und „Polenz“, der Gondolier, ergriff das Ruder, um uns durch das landschaftliche Venedig zu führen.

Die Strahlen der Sonne stachen noch mächtig, als wir aus den dunklen Parkanlagen von Lübbenau in einen der unzähligen Arme der Spree fuhren, bald aber befanden wir uns in dem Bereich des Dorfes Lehde und in dem Schatten seiner einzelnen Gehöfte. Polenz berichtete uns hier in seiner eigenthümlichen Aussprache (er begleitete die Anfangsvocale stets mit einem vorherigen H, ließ dasselbe aber, wo es vorhanden, fort), „daß Lehde hinsofern hein öchst merkwürdiger Hort sei, hals daselbst 34 Grundbesitzer hund 32 Nachtwächter wären“, da nämlich jeder dieser ersteren verpflichtet wäre, eine gewisse Zahl von Nächten zu wachen, zu Kahne die Besitzungen zu umfahren hätte, und daß hiervon nur der Schulze und der Schullehrer ausgenommen wären. Es waren trauliche Enclos, umgeben von hohen Bäumen, Fischbehältern, allen möglichen Geräthschaften und Sachen, die dem Genremaler ein so wichtiges Beiwerk für das Interesse seiner Bilder liefern, und die, wie alle Zufälligkeiten, nicht componirt werden, sondern nur durch das unmittelbare Schöpfen aus der Natur dem Bilde den Reiz der Wahrheit geben können.

Lübbenau. Die Kirche ist aus.

Die Bewohner lagen größtentheils ihrer Sonntagsbeschäftigung ob, d. h. sie thaten nichts, und selbst das Grüßen unseres „Fuhrmannes“ schien hin und wieder störend auf sie einzuwirken, da der Dank erst spät, wie ein fernes Echo nachfolgte. Am lebendigsten waren noch die Hunde, die entweder bellend an ihren sie fesselnden Stricken emporsprangen oder den Kahn am Ufer, so weit es möglich, verfolgten, und die Rinder in ihren Ställen, aus denen sie nur zu Markte oder zur Schlachtbank geführt werden. Bei einem einzeln stehenden Hause, an dem mit großen Buchstaben das Wort „Wotschowska“ stand, neben der Försterwohnung, legten wir an, und bald breitete eine alte Eiche, unter der vor langen Zeiten Gottesdienst gehalten wurde, ihre mächtigen Aeste über, und eine junge Försterin ihr weißes Tischtuch vor den Fremdlingen aus. Es waren hübsche, freundliche Leute, die uns hier mit der wendischen Gastfreundschaft bekannt machten, und der mürrische Ausdruck der früher erwähnten schwand allmählich aus unserem Gedächtniß. Brod, saure Milch und ein Schnaps, der, um einen Docht gegossen, sich nur des darin enthaltenen Wassers wegen nicht als Brennspiritus legitimirt, sind die einfachen Nahrungsmittel, mit denen man unter diesem Urvolke bewirthet wird, und nur an einzelnen bevorzugten Orten kann man, wie wir später erlebten, originell, aber sehr gut zubereitete Fische und Krebse bekommen. Einsam war es da in der Försterei, und die junge liebenswürdige Frau ist, wie sie sagte, nur auf das häusliche Glück angewiesen, und nur ein paar vorüberziehende Fremde bringen einige Veränderung in dies einsame Leben.

Am traurigsten ist es zur Winterzeit, wenn hoher Schnee liegt, oder das dünne Eis noch keine Tragfähigkeit hat und dennoch zu dick ist, als daß ein Kahn durchdringen könnte. Es sieht dann besonders schlimm aus mit den Körpern der Verstorbenen, die alle nach Lübbenau gebracht werden müssen, und denen zu folgen ein Abgesandter jeder der Ortschaften des Spreewaldes verpflichtet ist. Aber dennoch läßt das Völkchen nicht von seinem kleinen Besitzthum und mühsamen Erwerb, und lebt wie seine Voreltern in Sprache und Sitten und wird alt, trotz der fieberschwangeren Dünste, oft bis in die neunziger Jahre.

Unser Steurer führte uns von diesem Haltpunkt aus in einen der neueren Canäle, die sich durch eine große Langweiligkeit auszeichnen, [593] indem sie (natürlich sehr weise und sehr praktisch) nichts als die gerade, zwei Punkte verbindende Linie sind, und bald darauf wieder in einen der Spreearme einmünden. Hier wurde eine andere Art der Weiterbeförderung nöthig, indem des trockenen Sommers wegen theils unser Bootsmann aussteigen und den Kahn über den angeschwemmten Sand ziehen mußte, theils wir uns gezwungen sahen, das morastige, mit hohem Gras und alten Baumstubben bedeckte Ufer entlang zu waten. Aber es war dies nicht das am wenigsten Interessante unserer Fahrt, die bald darauf in dem pittoresken Dorfe Leipe eine abermalige Station erreichte. Herrliche Leute empfingen uns an der Thür des sogenannten Gasthauses mit freundlichem Händedruck, und bald war uns das einfache, aber vortreffliche Mahl auf einem reinen Tuche im Freien servirt und wir umgeben von einem unumstößlichen Beweise vollständigster Eintracht, einem Jagdhunde und einem jungen Reh, während aus einem jenseit des Grabens gelegenen Gehöfte einige neugierige Häubchen durch das Stacket lugten.

Am Schluß unseres frugalen Abendessens wurden wir von unseren Berliner Freunden überrascht, und zusammen traten die beiden Kähne die Weiter- und Rückfahrt an.

Polenz als Vorspann.

Die Abendstunde war herangebrochen, als wir zwischen dem Wurzelwerk, den Stangen und Bretern und den malerischen Strohdächern dahin fuhren. Fast vor jedem Häuschen saßen Weiber und hatten irgend eine Manipulation für die kleine Wirthschaft vor, während die Männer ihre Pfeifen rauchten und die wirklich hübschen Kinder im Wasser herumplanschten oder auf dem Rücken liegend in’s Weltall stierten. Aber das war auch des Sehens werth, denn als wir hinaus kamen auf die Leip’sche Spree, da hatten wir den großen, in Licht getauchten Abendhimmel vor uns, am Horizonte verbrämt mit einem violettgrau gefärbten Strich Gewitterwolken, auf dem sich die unzähligen Heuschober absetzten wie die Hütten eines Kaffernkraals. Es wird später. Immer mehr verschwimmt Eins in das Andere. Schilf und Stackete bilden riesige Sätze in persischer Keilschrift, die einzeln stehenden Weiden nehmen gespenstische Formen an, und das Licht des an dem dunkleren Theil des Himmelsgewölbes leuchtenden Halbmondes gewinnt an Intensität. Hin und wieder huscht ein stiller Kahn vorüber und das leise Geräusch des Wassers unterbricht auf Augenblicke die unendliche über das Ganze gelagerte Ruhe. Unsere Gefährten schlagen einen andern Weg ein. Es ist noch später, und Bohnenstangen und Röhricht vermischen sich mit dem Kirchthurm von Lübbenau, und Stadt und Dorf und Bäume und Breter bilden eine dunkle Masse, zwischen welcher und uns nur ein kleiner glänzender Streifen des sich im Wasser spiegelnden Nachthimmels den Lauf unseres Fahrzeuges anzeigt. Lautlose Gehöfte schweben an uns vorüber. Nur ein alter, gelangweilter Frosch stößt ein einzelnes „Quak“ aus, was aber unerwidert bleibt. Man hört das Picken der Uhren in den Taschen. Plötzlich schlägt Hundegebell an unser Ohr, und dumpfes Gemurmel verräth uns die Nähe von Menschen. Wir sind unter den Bogen der düstern Allee des Schloßgartens – wir sind zurück in Lübbenau!

In Lehde.

Wie es Einem oft nach ungewohnter Beschäftigung zu gehen pflegt, so ging es auch mir, denn als ich am Morgen nach jener Fahrt aufwachte, hatte ich die ganze Nacht auf dem Wasser zugebracht und war in einem halben Canot unter fremde Völker gekommen und hatte mich dort in allen möglichen Unsinn, den nur ein Traum mit sich bringen kann, verwickelt. Ich konnte nicht lange davon ausruhen, denn der Kahn erwartete uns schon wieder, und Polenz hatte bereits seine Paar Kruken jenes Lübbenauer Giftes, welches er mit dem wohltönenden Namen „Bier“ bezeichnete, an Bord gebracht. Welch’ herrlicher Morgen! Wieder fuhren wir an den alten Eichen vorüber, die als Flöße am Eingange zum Spreewalde lagen, während sich unter ihnen die Aeste der darüber hängenden Bäume im Wasserspiegel wie urweltliche Seeschlangen in die Tiefe krümmten und wanden, und wieder gelangten wir nach Lehde. Heute, aber schlugen wir von dort aus einen anderen Weg ein, eine andere Grobla (Spreearm) trug uns weiter. Es war ein heißer Tag; die Insecten durchsummten die zitternde Luft, die blauen und grünen Libellen schossen von Halm zu Halm und die Tausende von funkelnden Thautröpfchen, mit denen jedes Gräschen geziert war, konnten der heraufsteigenden Sonne nicht lange widerstehen. Wir schmorten auf unserem Sitze, welcher Zustand fast unerträglich wurde, als wir in einem der künstlichen Canäle das sengende Gestirn gerade vor uns hatten und nur die Kronen junger Bäume einen kärglichen Schatten gaben.

(Fortsetzung folgt.)



[594]
Die beiden Doppelgänger.
Von Fr. Gerstäcker.
(Fortsetzung.)

Die Goldwäscher waren allerdings an dem Abend erstaunt, Herrn Steinert, der sonst an den Feuern immer das große Wort führte, nicht mehr unter sich zu sehen und von seinem raschen Abschied zu hören. Da Köllern wie Bollenheck aber über die wahre Ursache schwiegen, wurde bald nicht weiter darüber gesprochen. Es kam oft vor, daß einer oder der andere der Männer ausging, neue und reichere Stellen aufzusuchen, was man dort „prospectiren“ nannte. Natürlich wurden solche Wege immer geheim gehalten und Niemand fragte danach, dem man wußte im Voraus, daß man doch keine genügende Antwort bekommen würde.

Köllern und Bollenheck arbeiteten in den nächsten Tagen ihren Claim aus, in dem sie ihre Arbeit vortrefflich bezahlt bekamen. Bollenheck, der übrigens fest überzeugt war, daß ihr früherer Camerad Steinert sie schon die ganze Zeit betrogen – hatte durch diese Arbeit eine kleine Summe in die Hand bekommen, und des Lebens in den Minen überdrüssig, gedachte er sein Glück den Winter durch in San Francisco zu versuchen und dort sein altes Handwerk zu betreiben. Die Verhältnisse dort hatten sich in den letzten Monaten ziemlich geregelt, und er fand daher weit eher die Aussicht einer sicheren Zukunft, als hier in den Minen, wo heute einmal der Ertrag günstig ausfiel, und dann Wochen lang um wenig mehr als den Lebensunterhalt gegraben werden konnte.

Köllern redete ihm natürlich nicht ab und versuchte sein Glück die nächsten Tage, nachdem ihn Bollenheck verlassen hatte, allein. Er war ein Stück weiter den Bergbach hinaufgegangen, schlug dort ein und warf die Erde auf einem ziemlich geräumigen Platze aus, den in früheren Jahrtausenden zu Thal gewaschenen Goldstrich oder die Ader, in der die meisten Körner lagen, dadurch am leichtesten zu treffen.

Emsig mit seiner ziemlich schweren Arbeit in dem harten Boden beschäftigt, hatte er wenig oder gar nicht Acht auf seine Umgebung gehabt, und erst, als er einmal ein tüchtiges Stück mit der Spitzhacke losgeschlagen und sich emporrichtete, seinen solcher Arbeit doch noch nicht recht gewöhnten Rücken etwas zu strecken, sah er neben seiner schon begonnenen Grube den „Einsiedler“ Schütz stehen, der ernst und lautlos seinem Schaffen zusah.

Er ging wie immer in seiner gewöhnlichen Minertracht, aber mit besonderer Sauberkeit gekleidet, hatte auch einen Spaten in der Hand, auf den er sich stützte, und kam Köllern heute nur ungewöhnlich blaß und leidend vor. Sein dunkles, großes Auge haftete auch einen Moment fest und forschend auf den Zügen des jungen Edelmannes, dann senkte es sich wieder und schien den Platz zu überschauen, den er begonnen hatte.

Uebrigens war es etwas so Seltenes, daß er einen seiner Nachbarn aufgesucht hatte – ja Köllern wußte es sich noch nicht ein einziges Mal zu erinnern –, daß dieser ordentlich überrascht davon schien und lachend ausrief:

„Nun, Landsmann, suchen Sie sich auch einen neuen Arbeitsplatz? Fideles Leben das in den Minen, wie? wo man den Boden umgräbt, wie ein alter Maulwurf nach vorweltlichen Schätzen suchend.“

Schütz erwiderte kein Wort – still und schweigend blieb er noch einen Augenblick stehen, schaute den jungen Mann dann wieder ernst, aber nicht unfreundlich, mit einem eigenen Zug von Schwermuth um die Lippen an, drehete sich langsam ab, schulterte seinen Spaten und schritt den Hang hinab dem Bache zu.

Köllern schüttelte leise vor sich hinlächelnd den Kopf, und trat dann auf den Rand seiner Grube und auf die dort ausgeworfene Erde dem wunderlichen Menschen nachzuschauen. Dieser aber verschwand gleich darauf in den dichten Kirsch- und Haselbüschen, die den ganzen Hang bedeckten, und kam auch weiter unten weder rechts noch links wieder zum Vorschein.

„Das ist ein sonderbarer Kauz,“ murmelte Köllern vor sich hin, indem er noch eine ganze Weile dort oben stehen blieb, denn wenn Jener weiter unten oder oben am Bach wieder zum Vorschein gekommen wäre, hätte er ihn von dort sehen müssen; gerade in der Richtung aber, die er eingeschlagen, arbeitete Pauig mit dem Doctor Meier – „ein ganz eigenthümlicher Mensch, aus dem ein Anderer klug werden mag. Etwas muß ihm aber auf der Seele liegen, was es auch sei, wenn auch kein Verbrechen, wie jener Lump, der Steinert, meinte. Wenn man ihn nur zum Reden bringen könnte!“

Immer noch an den schweigsamen Nachbar denkend, an dem er, er wußte eigentlich selber kaum weshalb, solchen Antheil nahm, kehrte er zu seiner Arbeit zurück und schaufelte wieder etwa eine halbe Stunde wacker aus. Dann aber ließ es ihm länger keine Ruhe – er war neugierig geworden, ob Schütz unten mit Pauig und Meier zusammengrübe, und es erfüllte ihn bei dem Gedanken ordentlich eine Art von Eifersucht auf den geheimnißvollen Landsmann.

Ein Vorwand, dort hinunter zu gehn, war auch leicht gefunden, denn sonst besuchten die Miner einander bei ihrer Arbeit nicht. Einen tüchtigen Quarzblock, den er in seiner Grube traf, konnte er nicht gut ohne Brechstange bei Seite wälzen, und er beschloß sich solche bei den Cameraden unten zu borgen.

Rasch stieg er den Hang hinunter, und suchte unterwegs die Spuren des ihm vorangegangenen Schütz zu treffen, war darin aber doch wohl zu wenig geübt, denn er konnte sie nicht auffinden, und ging endlich nur dem klappernden Geräusch der Maschine nach, das ihn bald zu Pauig’s und Meier’s Arbeitsplatz brachte. Hier erbat er sich vor allen Dingen die Brechstange, und dann auf und ab den Bach sehend, sagte er:

„Wohin hat sich denn unser Einsiedler gewandt?“

„Der Einsiedler?“ rief Meier, „ja, der kommt nicht zu uns. Gott weiß, wo der steckt und maulwurft.“

„Aber er ist doch hierher zu den Hang hinab gegangen. Sie müssen ihn wenigstens gesehen haben.“

„Mit keinem Auge,“ versicherte Pauig. „Wir haben freilich nicht aufgepaßt, und da er keinen besonders großen Spectakel macht, ist es recht gut möglich, daß er sich vorbeigedrückt hat, wie er unsere Maschine hier rasseln hörte.“

„Das ist ein merkwürdiger Mensch,“ meinte Meier, „und spricht das gerade zu wenig, was Freund Steinert zu viel schwatzte. Der wär’ übrigens auch der Letzte, den ich prospectiren schickte.“

„Er ist auf eigene Hand gegangen,“ sagte Köllern, „und ich bin gerade nicht böse darüber. Aber guten Morgen – wir versäumen hier Beide unsere Zeit. – Die Brechstange bring’ ich zu Mittag mit an die Zelte“ – und das Werkzeug schulternd, stieg er wieder zu seinem eigenen Arbeitsplatz zurück.

Das eigene Benehmen des sogenannten „Einsiedlers“ ging ihm jedoch fortwährend im Kopf herum. Er wußte selber nicht, wie es kam, aber er konnte den Gedanken an ihn nicht los werden, und so sehr er es bis dahin vermieden hatte, irgend etwas zu thun, das zudringlich erscheinen konnte, so beschloß er doch jetzt, den Mann einmal selber aufzusuchen.

Je länger er nämlich über den schweigsamen Besuch an diesem Morgen nachdachte, desto mehr fühlte er sich überzeugt, daß Schütz hatte etwas von ihm erbitten wollen, durch sein überhaupt scheues Wesen aber davon abgehalten sei. Er wollte ihm nun Gelegenheit geben, sich gegen ihn aussprechen, und wurde er selbst dann zurückgewiesen, gut, dann hatte er sich selber wenigstens keine Vorwürfe zu machen, und gedachte ihn von da an ruhig seinen Weg gehen zu lassen.

Mit Feierabend machte er einen kleinen Umweg, von seinem Arbeitsplatz aus an Schützens Zelt vorüber zu kommen, und fand diesen auch daheim gerade beschäftigt, ein Stück Fleisch zu seinem Abendbrod zu schmoren.

Wie er des Nahenden Schritte hörte, richtete er sich rasch empor, erkannte aber kaum von Köllern, als er ihn freundlich grüßte.

„Nun, haben Sie fleißig gelesen?“ fragte der junge Mann, indem er sich neben das Feuer auf einen dort hingerollten Klotz setzte – „ich sah einige Abende noch sehr spät in Ihrem Zelt Licht.“

„Es ist die einzige Unterhaltung hier in den Minen,“ seufzte Schütz, „und außerdem mochte ich auch die mir geliehenen Bücher nicht so lange behalten.“

„Machen Sie ja keine Umstände damit,“ sagte Köllern gutmüthig, „ich bin durch damit, und hier oben haben sie weiter keinen Werth, als daß man einem Anderen vielleicht einmal wieder damit aushilft. Wir werden uns überhaupt jetzt Beide nach Jemandem [595] umsehen müssen, der uns einen frischeren Vorrath von Lectüre bieten kann. Es wäre am Ende gar kein so schlechtes Geschäft damit in den Minen zu machen, wenn man eine Leihbibliothek errichtete.

„Die wenigsten Miner lesen,“ sagte Schütz, „und wenn man den ganzen Tag hart gearbeitet hat, muß Jemand auch einen sehr regen Geist besitzen, noch Freude an einem Buche zu finden. Den Sonntag vertrinken die Meisten.“

„Und wie sehr hätten wir Alle es doch nöthig,“ sagte Köllern, „dann und wann wenigstens etwas zu treiben, was uns einmal auf kurze Zeit diesem nur allein realistischen Leben entziehen könnte! Gold, Gold und immer nur Gold ist hier die Losung, und mir wenigstens thut es wohl, mich einmal wieder, durch ein gutes Buch geführt in ein ganz fremdes und dem unsrigen fern liegendes Leben hineinzudenken. Ich weiß nicht, ob es Anderen da auch so geht wie mir, aber wenn ich Geschichten aus der eigenen Heimath lese, besonders wenn sie treu und natürlich geschrieben sind, so kommt es mir ordentlich vor, als ob ich selber wieder im alten Vaterland säße und nur eben ein Buch gelesen hätte, in dem das californische Treiben recht lebendig geschildert wäre. Freilich darf ich meine eigene Spitzhacke und Schaufel nicht dabei ansehn.“

„Wohl dem,“ seufzte Schütz leise, „der sich in ein Buch so weit vertiefen kann, die eigene Gegenwart darüber zu vergessen!“

„Und können Sie das nicht?“

„Nein, sagte der Miner nach einigem Zögern, „so viel Mühe ich mir auch dahin gegeben. Ich bin es nicht im Stande.“

„Sie grübeln aber auch zu viel, sitzen zu viel allein, bester Freund,“ brach Köllern jetzt gutmüthig das Eis. „Sie sollten sich mehr an uns anschließen und weniger Ihren eigenen Gedanken nachhängen. Hol’s der Böse, in diesen stillen, schweigsamen Bergen muß man ja zuletzt, wenn man sich von jedem Verkehr abschließt, ordentlich melancholisch werden.“

Schütz erwiderte nichts und sah nur still vor sich nieder, endlich sagte er leise und abwehrend: „Ich fühle mich wohl dabei.“

„Wem nicht zu rathen ist, dem ist nicht zu helfen,“ dachte Köllern, und um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, sagte er: „Sie haben sich jetzt einen anderen Arbeitsplatz gesucht?“

„Nein,“ erwiderte Schütz, „ich bin noch nicht ganz mit meinem letzten fertig und werde ihn wahrscheinlich erst am Sonnabend beenden können.“

„Dann haben Sie sich heute wohl nur vor der Hand nach einem neuen Platz umgesehen – das lange Wählen hilft indessen nichts; Glück ist doch die Hauptsache und jeder Platz dadurch beinah gleich gut.“

„Heute,“ erwiderte Schütz, „hab’ ich mein Zelt noch nicht verlassen. Mir lag es heute Morgen wie Blei in allen Gliedern, und ich blieb deshalb auf meiner Matratze.“

„Ihr Zelt nicht verlassen?“ sagte Köllern, ihn überrascht ansehend, „aber Sie sind doch bei meinem Arbeitsplatz vorbeigekommen!“

Er erschrak über die rasch herausgestoßenen Worte, denn Schütz wurde in dem Augenblick, während er ihn starr und entsetzt ansah, leichenblaß, verharrte einen Moment in seiner Stellung und kauerte sich dann, sein Antlitz in den Händen bergend, still und lautlos am Feuer nieder.

Köllern konnte nicht anders glauben, als daß Schütz einen seiner melancholischen Anfälle bekommen habe, und so gern er hier Trost und Hülfe geboten hätte, war er doch viel zu zartfühlend, in einem solchen Augenblick seine Gegenwart aufzudringen. Er stand leise auf und wollte sich, ohne den Unglücklichen weiter zu stören, geräuschlos zurückziehen, als Schütz, der die Bewegung gehört hatte, rasch den Kopf hob, und, die Hand gegen ihn ausstreckend, sagte:

„Bleiben Sie, Herr von Köllern – bitte, bleiben Sie und – haben Sie Nachsicht mit mir; entschuldigen Sie, daß ich – daß ich mich von einem augenblicklichen Gefühl hinreißen ließ.“

„Mein lieber Schütz,“ sagte Köllern herzlich, „geben Sie sich Ihren trüben Gedanken, was auch deren Ursache sein mag, nicht zu sehr hin. Sie machen sich nur unnöthiger Weise das Herz schwer, und glauben Sie dabei, daß ich selber innigen Antheil an Ihnen nehme und – wenn Sie irgend etwas drückt – gern und willig mit Rath und That Ihnen beistehen werde, so weit eben meine eigenen Kräfte reichen.“

„Ich bin es überzeugt,“ sagte Schütz, indem er sich aufrichtete und einen scheuen Blick umherwarf – „und das eben gibt mir auch den Muth, zu Ihnen zu sprechen – Ihnen etwas mitzutheilen, was ich bis jetzt noch keinem Sterblichen vertraut habe. Sie geloben mir Schweigen?“

„Genügt Ihnen mein Wort?“

„Vollkommen. – Außerdem,“ setzte Schütz, der sich in einer eigenen Aufregung befand, zögernd hinzu, „sind Sie heute selber, wie mit scheint, Zeuge oder Mitwissender meines Unglücks geworden.“

„Ich?“ rief Köllern erstaunt.

„Sie haben mich an Ihrem Arbeitsplatz gesehen?“

„Ja – allerdings.“

„Gut – ich gebe Ihnen aber mein Ehrenwort, daß ich dies Zelt den ganzen Tag heute mit keinem Schritt verlassen habe.“

„Aber wie ist das möglich?“ rief Köllern. „So leibhaftig wie Sie hier vor mir stehn, standen Sie dort, im hellen, lichten Sonnenschein vor mir; aus jede Einzelheit Ihrer Kleidung, Ihrer eigenen Züge wollte ich schwören.“

„Ich weiß es,“ sagte Schütz, der sich jetzt vollständig gesammelt hatte, ruhig, „Sie haben sich auch nicht getäuscht – ich stand bei Ihnen – aber nicht ich, nicht mein sterblicher Körper, sondern – mein Doppelgänger.“

„Ihr Doppelgänger?“ rief Köllern erschreckt.

„Ja,“ sagte der Unglückliche, sein Antlitz wieder in den Händen bergend und in sich zusammensinkend – das ist mein Elend. – Ich habe einen Doppelgänger, der mich verfolgt, eine andere Seele, die nicht mein gehört, und doch mit meinem Körper umherwandelt und auf meinen Geist ihre Qualen überträgt. Das, lieber Köllern, trieb mich aus der alten Heimath über’s Meer und hier in dies wilde, abgelegene Land, nur in dem tollen, thörichten Versuch, meiner eigenen Seele zu entfliehen.“

„Und ist das nicht am Ende doch nur eine fixe Idee, lieber Schütz?“ sagte Köllern theilnehmend.

„Haben Sie ihn nicht selber heute gesehn?“

„Aber können Sie nicht vielleicht in Gedanken die kurze Strecke –“

„Ich bin nicht weiter gegangen, als von meiner Matratze zum Feuer und wieder zurück,“ versicherte aber Schütz, während er sich aufrichtete und seine Augen eine wilde, unheimliche Gluth gewannen.

„Aber es ist ja doch kaum möglich –“

„Möglich?“ wiederholte der Unglückliche leise, indem er wieder scheu den Blick umherwarf, als ob er den Gefürchteten jeden Moment neben sich erwartete, „wenn Sie ihn hätten hier mit mir am Feuer sitzen sehn, wenn Sie ihn Morgens, wie ich, schon draußen in der Grube in voller Arbeit gefunden, wenn Sie ihn Nachts hätten stöhnen und seufzen hören, wie ich, Sie würden nicht von Unmöglichkeiten reden. Wissen Sie nicht, daß oft eine Mutter ihre Frucht in zwei Körpern zur Welt bringt, die nur eine Seele zusammen haben und im Leben und Tode nicht wieder von einander lassen mögen und können? So wurde mein Körper mit einer Zwillingsseele geboren, und während mein Geist sich dagegen sträubt, sie anzuerkennen, gehe ich selber dabei zu Grunde.“

„Dann aber ist diese Einsamkeit auch daß furchtbarste Gift für Sie,“ rief von Köllern rasch. „Warum ziehen Sie sich so scheu in sich selbst zurück, diesen Träumen und Bildern nur mehr und mehr Nahrung zu geben? Warum arbeiten Sie selbst allein, den langen Tag? Brechen Sie Ihr Zelt hier ab und kommen Sie mit zu uns hinunter. Es ist etwas gemischte Gesellschaft dort, das geb’ ich zu, aber doch auch Leben und heiterer Sinn, und in anderer Umgebung wird Sie auch Ihr Quälgeist verlassen, wenigstens nicht mehr die Macht über Sie haben, wie hier, wo Sie ihm und seinem Wirken ja gar nicht ausweichen können.“

„Es geht nicht,“ flüsterte Schütz leise zurück, „ich darf nicht zwischen Menschen, denn dort läßt er mir gar keine Ruhe und stöhnt und ächzt die ganze Nacht, daß kein Anderer in meinem Zelte aushalten kann. Glauben Sie mir, ich habe es versucht, ich habe Alles versucht, ihn zu bannen, aber ich sehe ein, es ist umsonst. Ich kann meinem Geschick nicht entgehen.“

„Sie können, wenn Sie wollen,“ drängte Köllern, der nicht einen Augenblick daran zweifelte, daß des Unglücklichen ganzes Leiden allein in seiner überspannten Einbildungskraft liege; „Sie wissen noch gar nicht, was der feste Wille des Menschen für Macht hat.“

„Er mag eine Seele bewältigen können,“ stöhnte Schütz, „aber er ist nicht im Stande gegen zwei anzukämpfen.“

„Und wollen Sie nicht wenigstens noch einmal den Versuch [596] machen?“ drängte Köllern – „vielleicht mit mir? Lassen Sie uns zusammen arbeiten und hausen, ich bin jetzt ebenfalls allein, und sein Sie überzeugt, daß ich das Sie störende Gebild nicht fürchten werde.“

„Ich will sehen – ich will es mir überlegen,“ sagte Schütz abwehrend, „bitte, lassen Sie mir Zeit, das zu überdenken. – Ich weiß, Sie meinen es gut mit mir – ich fühle Ihre Theilnahme, und sie thut mir wohl, aber – ich kann mich heute noch nicht dazu entschließen. Morgen – lassen Sie uns Morgen wieder darüber sprechen.“

Köllern fühlte, daß Schütz allein zu sein wünschte, und daß er den Kranken nicht drängen dürfe.

„Gut,“ sagte er freundlich, indem er von seinem Sitz aufstand, „ich lasse Sie jetzt allein, lieber Schütz; gehen Sie mit sich zu Rath, und ich hoffe, Sie werden es nicht bereuen, meinem Wunsch zu willfahren – also auf Wiedersehen!“

Schütz stand ebenfalls auf und reichte ihm die Hand, die Jener herzlich drückte, und Köllern stieg dann langsam wieder zu dem gemeinschaftlichen Lagerplatz nieder, wo er die muntere Schaar schon um das helllodernde Feuer versammelt fand.

„Nun,“ riefen ihm ein Paar lachend entgegen, „hat Ihnen der Einsiedler wirklich Audienz gegeben?“

„Er ist krank,“ entschuldigte ihn von Köllern, „weniger an Körper, wie an Geist – schwermüthig vielleicht nur, aber sonst ein braver, tüchtiger Mann, und wir wollen sehen, ob wir ihm hier bei uns nicht die bösen Grillen vertreiben können. Ich werde mit ihm arbeiten, und wahrscheinlich zieht er auch zu uns herunter.“

„Ein Wunder! Ein Wunder!“ rief Meier. „Köllern, Sie haben das Außerordentliche geleistet, wenn Sie ihn dahin vermocht. Fehlt ihm aber wirklich körperlich etwas, so will ich lieber einmal hinauf zu ihm gehn und ihn untersuchen.“

„Lassen Sie ihn heute Abend ungestört,“ mahnte Köllern ab. „Morgen sprechen wir weiter darüber – überhaupt möchte ich Ihre Meinung über Etwas hören.“'

„Und das wäre?“

„Morgen – heute nicht,“ sagte Köllern, der über den geistigen Zustand des Kranken nicht gern hier vor allen Uebrigen verhandeln mochte, denn er wußte recht gut, daß sich ein Theil des leichtherzigen und leichtsinnigen Volkes nur darüber lustig gemacht hätte. Die Uebrigen vergaßen auch bald den Fremden, der sie überhaupt wenig genug interessirte, denn wer kümmerte sich in Californien um den Nachbar, wo Jeder mit sich und seinen eigenen Hoffnungen und Plänen gerade genug zu thun hatte?

Das Gespräch sprang denn auch rasch auf etwas Anderes ab, und als das Abendbrod verzehrt und frisches Holz aufgeworfen war, ein paar Stunden nachzuhalten, ging es wieder an ein Erzählen, Lachen und Necken, und was der und Jener erlebt hatte oder erlebt haben wollte.

Besonders wurde an diesem Abend Restiz geneckt, denn das Gerücht war entstanden, er hätte in voriger Nacht einen Geist gesehen und laut aufgeschrieen. Restiz leugnete allerdings auf das Entschiedenste und wollte sich auf keine Erklärung einlassen. Die Unterhaltung war aber einmal in diese Bahn eingelenkt; eine Menge der verschiedensten übernatürlichen Geschichten wurden nach einander erzählt und die Möglichkeit derselben dann besprochen und kritisirt.

„Hat schon Jemand einmal von einem Doppelgänger gehört, oder wohl gar einen solchen gesehen?“ fragte plötzlich von Köllern, der den Uebrigen bis jetzt theilnahmlos zugehört hatte.

„Nein,“ rief Meier schnell – „kennen Sie ein derartiges Beispiel?“

„Ich nicht,“ sagte von Köllern, „aber da fast alle Arten von übernatürlichen Erscheinungen heute Abend durchgenommen sind, dachte ich, daß das auch dazu gehöre.“

„Doppelgänger?“ fragte Pauig, „was ist das?“

„Nun, siehst Du, Pauig,“ erklärte ihm der eine Maurer, „ein Doppelgänger ist ein Mensch, der zweimal da ist, der sich manchmal selber auf der Straße aus Versehen begegnet und, wenn er sich Abends auszieht, schon findet, daß er selber im Bett liegt.“

„Das ist schauerlich,“ rief Pauig erschreckt – „und thut er Einem was?“

„Na, ob er gerade was thut, weiß ich nicht,“ sagte der Maurer, „aber angenehm ist’s auf keinen Fall.“

„Und wißt Ihr denn, daß mich selber eigentlich ein Doppelgänger nach Californien gebracht hat?“ lachte da der Doctor Meier.

„Sie auch?“ rief Köllnern überrascht aus.

Auch?“ sagte Meier, „wen denn noch?“

„So meinte ich es nicht,“ erwiderte Köllern etwas verlegen, sich so verrathen zu haben. „Ich war nur erstaunt, daß Sie auch an solche Dinge glauben.“

„Der Glaube wird Einem gelehrt,“ lachte Meier, „wenn man eine unquittirte Rechnung nach der andern in’s Haus geschickt bekommt.“

„Hatte Ihr Doppelgeist etwas mit den Rechnungswesen zu thun?“ fragte Köllern lächelnd.

„Außerordentlich wenig,“ erwiderte Meier; „er ließ mich das gewöhnlich besorgen.“

„Aber ich verstehe Sie nicht.“

(Schluß folgt.)


Blätter und Blüthen.

Ein neues Luftschiff. Nächstens wird ein Amerikaner per Luft eine Reise nach England machen. Derselbe heißt T. S. E. Lowe, ist aus New-Hampshire und hat schon 36 Luftfahrten gemacht. Seit seiner letzten Fahrt, die von Portland aus am 4. Juli dieses Jahres stattfand, beschäftigt er sich eifrigst mit der Construction eines Luftschiffes, welches alles Dagewesene an Größe überbieten soll. Die Dimensionen desselben sind so bedeutend, daß das Oelen des Gashälters eine Strecke von beträchtlicher Ausdehnung in der Nähe von New-York in Anspruch nimmt. Diese Dimensionen sind kürzlich folgende: Größter Durchmesser 130 Fuß; Gewicht mit Ausrüstung 31/2 Tonnen; Tragkraft 221/2 Tonnen; Inhalt des Gashälters 725,000 Kubikfüß. Man hat dem Ballon den Namen „City of New-York“ gegeben und er ist fast fünfmal größer als der größte Ballon, der jemals gebaut wurde. Seiner Form nach gleicht er den gewöhnlichen perpendiculären Gashältern mit Korb und Rettungsboot. Indessen läßt die Anwendung werthvoller Verbesserungen glauben, daß er im Allgemeinen viel besser gebaut sein wird als die früheren. Bei ihm kommt mechanische Kraft mit zur Anwendung; ein Kalkofen soll die Leute, die sich auf dem Schiffe befinden, vor der Kälte schützen; außerdem hat man ein neues Fächersystem ausgedacht und will es bei dem Ballon anwenden; und der Stoff aus dem der Gashälter besteht, ist mit einem Firniß umgeben, dessen Erfindung Mr. Lowe für sich in Anspruch nimmt. Für den Gashälter hat man 600 englische Ellen Zeug verbraucht, und 17 Nähmaschinen benutzte man, um die Stücke zusammenzunähen. Der obere Theil des Gashälters, wo die Gasklappe angebracht werden soll, ist dreimal so stark als das Uebrige, außerdem noch durch schwere braune Leinwand fester gemacht und dreifach genäht. Das Netzwerk, welches den Gashälter umgibt, besteht aus starken Seilen, welche zu diesem Zwecke besonders von Flachs gemacht worden sind. Seine Stärke entspricht einer Widerstandskraft von 160 Tonnen und jedes Tau ist im Stande ein Gewicht von 400–500 Pfund zu tragen. Der Korb, welcher unter dem Ballon angebracht werden soll, hat einen Umfang von 21 Fuß und eine Tiefe von 4 Fuß. Er ist rundum mit Segeltuch umgeben. Darin werden sich die Aeronauten befinden. Der schon erwähnte Kalkofen, der darin sein soll, ist 11/2 Fuß hoch und hat 2 Fuß im Gevierte. Mr. Lowe ist von den Nutzbarkeit desselben so überzeugt, daß er es für möglich hält in Regionen hinaufzusteigen wo das Wasser gefriert, und dennoch meint er nichts von der Kälte für sich selbst und die Passagiere befürchten zu dürfen.

Unter dem Korbe befindet sich ein metallenes Rettungsboot mit einer Ericson’schen Maschine. Ihr hauptsächlichster Zweck besteht in der Controle wodurch die Leitung des Ganzen ermöglicht werden soll. Der Propeller befindet sich im Bug des Rettungsbootes in einem Winkel von 45 Graden. Von einem Rade am Ende laufen 20 Fächer aus, von denen jeder 5 Fuß lang ist und die bis zum Ende allmählich an Weite zunehmen, wo dieselbe 11/2 Fuß beträgt. Mr. Lowe glaubt durch Anwendung dieser Mechanik sein Schiff beliebig steigen und sinken lassen zu können; er meint, mit Hülfe derselben im Stande zu sein, zu steuern und die Rotationsbewegung der Maschine zu verhindern. Die Steige- und Fallkraft der Maschinerie soll ein Gewicht von 300 Pfund erreichen, und die Fächer sind so angebracht, daß sie eine rasche Bewegung auf- und niederwärts gestatten.

Mr. Lowe beabsichtigt, anfänglich bis zu einer Höhe von 3 oder 4 englischen Meilen empor zu steigen; indessen will er nicht immer in dieser Höhe bleiben, sondern er denkt sich in einer Entfernung von der Erde zu halten, die ihm gestattet, zu sehen, was man mit ihr thut und treibt. Er will nach Nordosten steuern und will in England oder auch Frankreich landen. Die Entfernung von New-York bis London glaubt er in 48 Stunden durchmessen zu können. Ist es ihm möglich, das auszuführen, was er verspricht, so wird er mehr geleistet haben, als irgend ein Luftschiffer vor ihm. Mißlingt der Versuch, so handelt es sich um den Verlust von 20,000 Dollars. Die Zeit, wo die Fahrt geschehen soll, ist noch nicht bestimmt. Das Schiff wird indessen in 3 bis 4 Wochen fertig, und Mr. Lowe wird wohl dann nicht mit seinem kühnen Plane auf sich warten lassen.


  1. Wandtaue: das strickleiterförmige Tauwerk, welches von den Masten nach der Schiffsseite hinunterläuft.
  2. Webeleinen: Leinen, welche quer über die Wandtaue laufen, wie die Sprossen einer Leiter und worauf die Matrosen beim Hinauflaufen den Fuß setzen.
  3. Unseren außerdeutschen Lesern glauben wir die Mittheilung schuldig zu sein, daß der Spreewald in der preußischen Niederlausitz liegt (Regierungsbezirk Frankfurt a/O.) und in einem sieben Meilen langen Bruch besteht, der, von der Spree vielarmig durchschnitten, bei hohem Wasserstande fast ganz überschwemmt wird und trotzdem sieben Dörfer und viele einzelne Colonien enthält. Der größte Theil dieses interessanten Bezirks ist im Sommer nur auf Kähnen, im Winter nur auf dem Eise zugänglich.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Brandtz