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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1858
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[437]

No. 31. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Der lahme Knabe.[1]


     Allein, auf einer ind’schen Matten,
     In eines Eichbaums kühlem Schatten,
     Ein kleiner, lahmer Knabe saß,
     Die Augen braun und groß; und blaß
     Das Antlitz, klug und früh veraltet;
     Die welken Hände auf dem Knie gefaltet.
     Zum Nüssesammeln waren fortgesprungen
     Die andern Kinder – muntre, frohe Jungen.
     Da sprach der Knabe: „Mutter mein,
     Trag’ in den Schatten mich hinein!“
     Da konnte er den Amseln lauschen,
     Und horchen auf der Blätter Rauschen –
Musik der Wildniß – seltsam’ Spiel der Winde –
Sie brachte oft Vergessenheit dem Kinde!

     Auf eine Prairie, wild und weit,
     Blickt er heut voller Herzeleid.
     Der Tag war wonnig, der Himmel klar;
     O, ein liebliches, sonniges Bild es war!
     Um eine Wolke silberblaß
     Ein stolzer Aar die Luft durchschnitt,
     Und unten auf dem wolligen Gras
     Sein dunkler Schatten kreiste mit.
     Und drüben aus dem grünen Wald
     Der Knaben Rufe und Vogelgesang
     Jetzt näher, ferner dann erschallt;
     Wie das in seinem Ohre klang!
„Du gold’ne Welt! – Das Licht der Schönheit scheint
Auf Alles – nur auf mich nicht!“ – und er weint. –

     In dem traulichen, kleinen Breterhaus
     Des Kindes Mutter ging ein und aus,
     Und wie dann heiter ihr Gemüth,
     Summt sie ein halb vergessen Lied.
     Da sieht sie weinen das kranke Kind,
     Und tritt zu ihm und fragt geschwind:
     „Mein liebes Herz, was weinest Du?
     Du und ich sind hier in Ruh’.
     Sie sammeln Nüsse, mühen sich,
     Dumme Buben, für Dich und mich.
     Sieh nur, wie der Adler kreis’t!
     Warum Du weinst, Du selbst nicht weißt.“
     „Mutter mein, ich wünsch’, ich wär’
     Ein Schiffer auf dem weiten Meer!“
„Ein Schiffer auf dem Meer! – was ficht Dich an!
Was haben nur die Lüfte Dir gethan?“

     „Ja, Mutter mein, ich wünsche sehr,
     Ich wär’ ein Schiffer auf dem Meer!
     In der Segel Schatten dann
     Wollt’ ich ziehen Tag für Tag,
     Well’ hinab und Well’ hinan,
     Wie ein alter Schiffer sprach.
     Käme dann von Zeit zu Zeit
     Zu Dir von der Reise weit,
     Wo das Heerdesfeuer lacht,
     Und die Prairie brennt zur Nacht.
     Dann erzählt’ ich, was ich sah
     Auf dem Meere fern und nah.“ –
„Still! still! – sprich nicht vom wilden Meere so;
Besser zu Haus ein Jäger, frei und froh!“

     Halb lacht, halb weint das kranke Kind,
     Und weiter sprach es so, geschwind:
     „Ich wollt’, ich wär’ ein Jägersmann,
     Schneller, als der schnelle Hirsch,
     Berg hinab und Berg hinan,
     Unermüdet auf der Pirsch
     Im Regen und im Sonnenschein.
     Doch das soll ja nimmer sein!
     Hinter’m Haus die Wälder weh’n,
     Vorn die Prairie in dem Thal,
     Hab’ mit Thränen sie geseh’n,
     Ach, wohl tausend Mal.
     Und war doch im Walde nie,
     Spielte nicht auf der Prairie!
O, Mutter, mein, ich wünsche doch so sehr,
Ich war’ ein Schiffer auf dem weiten Meer.“

     Da hat der Knabe in die Höh’
     So eigen aufgeschaut –
     Dem armen Weib, es that ihm weh –
     Sie ging und weinte laut.
     Daß bitter sei des Kindes Loos,
     Das hatt’ sie wohl gewußt,
     Doch daß sein Leid so groß, so groß –
     Durchbohrte ihr die Brust.
     Ach, des geliebten Kindes Schmerz
     Trifft dreifach ja das Mutterherz!
     Hätt’ es enthoben ihn der Noth,
     Sie hätte nicht gescheut den Tod.
So hat sie lange, lange noch gesessen;
Das alte Lied – es war wohl ganz vergessen.

     Pfiff der Märzwind; Hirsch und Rehe
     Zogen langsam in dem Schnee;
     Der lahme Knabe saß im Flur,
     Er sah sie aus der Ferne nur.

[438]

     „Mutter, Mutter, wird nimmermehr
     Die Prairie wogen, wie das Meer?
     Begrünen die Wälder sich wieder, und wann?
     Und kommt der duftige Sommer dann?“
     Sie blickt in Schweigen auf ihr Kind;
     Die großen Augen noch größer sind,
     Und ach, so hell – es war wohl, daß
     Er war so mager jetzt und blaß. –
Es kam der süße Maienmond und gab
Der Mutter Trost und Blumen für ein Grab.

 Louis Legrand Noble.




Der erste Fall im neuen Amte.
Vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“
(Schluß.)


Nach der Criminalordnung konnte ich als Inquirent, auf meine Verantwortlichkeit, handeln, wie ich wollte; nur ein Beschluß des Richtercollegiums konnte mich binden. Der Actuarius hatte aber die Pflicht, wenn er Unregelmäßigkeiten oder gar Gesetzwidrigkeiten in meinem Verfahren bemerkte, mir „seine Bedenken mit Bescheidenheit vorzutragen.“ Das that er.

„Herr Criminaldirector, daß ein Giftmord verübt ist, steht fest. Mahler hat sich durch sein Benehmen verdächtig gemacht. Er hat sich namentlich dadurch sehr verdächtig gemacht, daß er jede Beziehung zu der Louise und Familie Schmid ableugnete, die, wie Sie so richtig geahnt hatten, auch nach meiner jetzigen Ueberzeugung dennoch besteht. Der Wahrheit dürfte also fast nur dann auf den Grund zu kommen sein, wenn es gelänge, ihn mit der Familie Schmid und diese unter sich in Widersprüche zu verwickeln. Dennoch lassen Sie alle diese Personen in Freiheit und geben ihnen somit volle Gelegenheit, so viel zu colludiren, wie sie wollen. Entschuldigen Sie, wenn ich es für meine Pflicht halte, Ihnen diese Umstände zur Erwägung vorzutragen.“

Ich hatte ihn ruhig aussprechen lassen und hatte ihm vorläufig nur wenig zu erwidern.

„Lieber Herr Actuar, ich habe das Alles erwogen; aber auch noch mehr. Indeß darüber später, jetzt thut Eile Noth. – Sie kennen die Unterbeamten des Gerichts. Rufen Sie mir drei oder vier der gewandtesten und zuverlässigsten herein.“

Er verließ das Zimmer und kehrte nach wenigen Augenblicken mit vier Boten und Executoren des Inquisitoriats zurück. Ich instruirte diese einzeln: Zweien trug ich auf, das Mahlersche Haus zu bewachen, das nach zwei Seiten Eingänge hatte; zwei andere mußten das Schmid’sche Haus in Obacht nehmen. So wie einer von ihnen den Mahler oder die Louise Schmid oder den Vater oder die Mutter des Mädchens auf der Straße sah, hatte er ihnen zu folgen und sie nicht aus den Augen zu lassen. So weit es außerdem angehe, hatten sie, auch auf die Gretchen Kopp und das kleine Mahler’sche Dienstmädchen zu achten.

Alle hatten mit großer Vorsicht zu verfahren und sich vor keiner der genannten Personen sehen zu lassen, aus ihrer Verborgenheit nicht hervorzutreten, es mochte sich ereignen, was wollte. Keine einzige der genannten Personen durfte nur eine Ahnung davon haben, daß sie beobachtet werde oder beobachtet worden sei. Am folgenden Morgen um sieben Uhr hatten sie mir am Criminalgerichte zu rapportiren.

Sie begaben sich auf ihre Posten.

„Nun?“ fragte ich den Actuarius.

Der einsichtige und erfahrene Mann hatte meinen Plan begriffen.

„Sie erwarten, daß namentlich der Mahler und die Louise Schmid sich heimlich sprechen und dies morgen ableugnen werden?“

„So ist es, wenn sie schuldig sind.“

„Aber Sie spielen, entschuldigen Sie den Ausdruck, ein gefährliches Spiel.“

„Ich fürchte nicht. Mahler und das Mädchen wissen nichts davon, ob sie gegenseitig übereinander vernommen sind. Es liegt ihnen Alles daran, dies zu erfahren und was Jeder gesagt hat. Beide, von ihrem Gewissen belastet, haben daher ein kaum widerstehliches Verlangen, sich zu sprechen, zugleich, um Ferneres für die Zukunft zu verabreden. Es ist also mit Sicherheit zu erwarten, daß sie nicht nur sich gegenseitig aufsuchen, sondern auch, im Gefühle ihrer Schuld und um ihre Aussagen nicht Lügen zu strafen, auf eine heimliche Art sich zu treffen suchen werden. Dies macht sie von der einen Seite eben so verdächtig, als sie von der anderen Seite, indem sie eben durch ihre Nichtverhaftung sicher geworden sind und deshalb auf genaue Verabredungen und für alle Fälle nicht bedacht sein werden, morgen nothwendig sich in Widersprüche verwickeln müssen.“

„Ihr Verfahren,“ meinte der Actuarius, „bleibt dennoch ein gefährliches und gegen alle Grundsätze der Criminalordnung ist es unzweifelhaft.“

Er hatte nicht Unrecht. Nach den Grundsätzen der Criminalordnung hätte ich, bei dem Vorhandensein eines so schweren Verbrechens, vor allen Dingen die verdächtigen Personen in Haft nehmen müssen, damit sie „einerseits nicht durch Flucht sich der Strafe entziehen oder andererseits durch Verabredungen unter einander nicht die Wahrheit verdunkeln und die Zwecke der Untersuchung vereiteln“ konnten.

Diese Grundsätze hatten auch an sich ihre volle Berechtigung und ich wagte selbst für den vorlegenden Fall viel, konnte eine große Verantwortlichkeit auf mich laden. War wirklich, wovon ich ja eben ausging, Mahler schuldig: konnte er nicht die Freiheit, die ich ihm ließ, dazu benutzen, durch schleunige Flucht ein Leben zu retten, das unter den unmöglich im Voraus zu berechnenden Chancen der bereits eingeleiteten Untersuchung so leicht dem Henker verfallen war? Und wenn auch das nicht, ein einziger Mißgriff der von mir bestellten Wächter, zudem ungebildeter, mir kaum erst dem Namen nach bekannter Unterbeamten, die geringste Unachtsamkeit von ihrer, eine kleine List von seiner Seite, mußten sie ihm nicht, ohne alle Gefahr der Entdeckung, ein Einverständniß mit seinen Mitschuldigen, wenn auch nur Mitwissern ermöglichen, durch welches ich für immer alle Fäden der Entdeckung und Ueberführung wieder aus den Händen verlor?

Ich hatte mich dann schwer verantwortlich gemacht und – ich leugne nicht, daß auch der Gedanke bei mir mit in die Wagschale fiel, ich hatte mich dort, wo ich gerade eine bessere Rechtspflege wieder herstellen sollte, lächerlich, unmöglich gemacht; die Leute waren wirklich aus dem Regen unter die Traufe gekommen.

Und doch mußte ich es wagen; ich konnte, so meinte ich, den Charakteren der verdächtigen Personen gegenüber, nicht anders. Der verschlossene, kalte Mahler; das Mädchen, die, wenn sie seine Geliebte war, unter ihrem sanften Aeußeren die Natur einer lauernden Katze verbarg; die gemeinen, verschmitzten Eltern der Person; sie Alle sahen nicht darnach aus, als ob ich auf gewöhnlichem Wege Geständnisse oder erhebliche Auskunft von ihnen erlangen könne. Und um sie in Lügen und Widersprüche zu verwickeln, dazu fehlte es mir, ohne den eingeschlagenen Weg, an aller Handhabe.

Ich wagte es und verließ mich auf meine Physiognomik, auf meine Psychologie, auf mein Glück. Aber ruhig schlafen konnte ich doch nicht; ich träumte von Auslachen, von Regen, von Dachtraufen, von Mord; zuletzt wollten sie mich sogar köpfen.

Mit dem Glockenschlage sieben am andern Morgen waren die Criminalboten zum Rapport bei mir; und – ich hatte mich nicht geirrt, bis jetzt wenigstens hatte ich richtig gerechnet.

Mahler war vom Gerichte auf dem geraden Wege nach seinem Hause gegangen. Bis Mitternacht hatten die Verhöre gedauert. Er hatte seine Nichte und das kleine Dienstmädchen noch wach gefunden und ihnen befohlen, zu Bette zu gehen; er wollte auch gehen. Einer der Wächter hatte das durch das Fenster der zu ebener Erde gelegenen Stube gehört.

Die beiden Mädchen waren in eine Kammer gegangen. Mahler hatte dann die Hausthür verschlossen; gleich darauf aber war er an dem Fenster der Stube erschienen, hatte es geöffnet und in die Straße geblickt; als er nichts gesehen und gehört, schloß er dasselbe wieder und löschte das Licht in der Stube aus. Wenige Minuten nachher hatte er das Fenster zum zweiten Male geöffnet, [439] aber sehr leise. Eben so leise war er hindurch auf die Straße gestiegen. Er hatte dann das Fenster angelehnt und war nun mit raschen, fast unhörbaren Schritten, immer dicht an den Häusern entlang, die Straße hinaufgegangen, in der Richtung nach dem Schmid’schen Hause.

Der Beamte, der ihn soweit beobachtet, hatte den zweiten, an der Rückseite des Hauses aufgestellten Wächter herbeigerufen. Beide hatten auf verschiedenen Wegen gleichfalls die Richtung nach dem Schmid’schen Hause eingeschlagen; der erste, indem er Mahler von Weitem folgte.

Das Schmid’sche Haus lag am Stadtwalle, am äußersten Ende einer nur mit wenigen, zerstreuten Häusern besetzten Straße. Es lag dort einsam, nach allen Seiten frei.

In diesem Hause hatte schon bei der Ankunft der dahin beschiedenen Wächter eine heimliche, geheimnißvolle Unruhe geherrscht. Die Fensterladen waren fest verschlossen gewesen, aber die Hausthür hatte sich zum Oefteren geräuschlos geöffnet und es war eine Frauensperson darin erschienen, die auch wohl einige Schritte, wie um nach Jemandem auszusehen, auf die Straße getreten war. Bald hatte auch der Schornstein geraucht und aus dem Hause hatte sich ein Geruch von Braten und Backen verbreitet. Man erwartete im Hause Jemanden. Der Erwartete erschien endlich. Die Frauensperson stand wieder in der Thür. Es war die Louise Schmid. Der Angekommene war der Fleischer Mahler.

„Kommst Du doch?“ rief das Mädchen.

Sie rief es mit nur wenig gedämpfter Stimme. Häuser waren nicht in der Nähe und Menschen vermuthete sie hier auch nicht.

„Kommst Du doch noch? Sie haben Dich also frei lassen müssen?“

„Jetzt bist Du die Frau Mahler!“ war die Erwiderung des Fleischers.

Beide umarmten sich. Dann fragte das Mädchen:

„Was haben sie Dir gesagt?“

„Was wollten sie mir sagen? Sie hatten mir eben nichts zu sagen.“

„Von uns hatten sie nichts erfahren.“

„Das wußte ich wohl.“

„Dennoch hatte meine Mutter Angst; aber ich blieb dabei, daß sie Dich noch in der Nacht loslassen müßten und daß Du zu mir kommen würdest. Laß uns jetzt in’s Haus gehen.“

Sie gingen dem Hause zu. Unterwegs mußte der Mann dem Mädchen etwas zum Tragen übergeben haben.

„Was ist es?“ fragte sie.

„Ich habe zwei Flaschen Wein mitgebracht.“

Sie verschwanden im Hause und machten die Thür fest hinter sich zu. Was drinnen geschehen war, hatten die Beamten durch die dicht verschlossenen Laden nicht wahrnehmen können. Nur einmal hatten sie gemeint, Gläserklirren zu vernehmen.

Mahler war bis gegen drei Uhr Morgens in dem Hause geblieben. Als er sich entfernt, hatte ihn das Mädchen bis mitten auf die Straße begleitet, und Beide hatten dann dort durch eine lange Umarmung Abschied von einander genommen. Das berichteten mir die Beamten.

Es verschaffte mir eine große Genugthuung. Mein Verfahren hatte sich, wenn auch aller Regel, allem Herkommen und allen Vorschriften der Criminalordnung zuwider, als ein richtiges, zweckmäßiges erwiesen. Was sind alle Regeln und Gesetze gegenüber dem Rechte und der Eigenthümlichkeit des einzelnen Falles? Jene sind todt, dieser allein ist lebendig; und nur das Lebende hat Recht.

Ich hatte auf einmal einen Anhalt für die Untersuchung, ein Licht in dem Dunkel des empörenden Verbrechens gewonnen, wie ich sie auf dem gewöhnlichen Wege der Vorschriften und des Hergebrachten wahrscheinlich gar nicht, jedenfalls nicht in solchem Umfange und nur mit vieler Mühe und nach langer Zeit würde erhalten haben.

Ich sandte auf der Stelle alle vier Beamten mit dem Befehle zurück, sofort den Fleischermeister Mahler, die Eheleute Schmid und deren Tochter Louise zu verhaften und in die Gefängnisse des Inquisitoriats abzuliefern. Mahler sollte nichts von der Verhaftung der Schmid’s, diese sollten nichts von der Mahler’s erfahren. Ueber das mir Mitgetheilte empfahl ich den Beamten das tiefste Stillschweigen gegen Jedermann an.

Ich wollte zugleich einen kleinen Triumph der Eitelkeit haben.

Ich begab mich auf das Inquisitoriat und ließ den Actuarius herüberbitten, um mir das Protokoll führen zu lassen. Er kam alsbald.

Ich dictirte ihm zunächst einfach die Berichte der vier Beamten Wort für Wort zu Protokoll. Die Ueberraschung, das Erstaunen des Mannes waren in der That groß; aber er war ein braver Mann, er freute sich über das gewonnene Resultat.

Wir sind doch nicht aus dem Regen unter die Traufe gekommen, sprachen seine Augen. Laut sagte er:

„Gott sei Dank, jetzt wird hier Vieles anders werden.“

Aber das gewonnene Resultat war nur ein vorläufiges und es war noch Manches zu thun, um zu jenem Ziele zu gelangen, an welchem erst der zu einer Verurtheilung der Schuldigen erforderliche Beweis hergestellt war.

Die vier Personen waren verhaftet, ganz, wie ich es angeordnet hatte. Sie hatten sich am gestrigen Abende, noch heute Nacht so sicher gewußt. Sie mußten sofort, unter dem ersten überraschenden, ängstigenden Eindrucke ihrer Verhaftung vernommen werden; ihre Vernehmung mußte schnell, ohne Umschweife auf ihr Ziel losgehen.

Ich ließ zuerst Mahler vorführen. Er zeigte keine Spur von Angst oder Unruhe.

„Wann haben Sie die Louise Schmid zum letzten Male gesehen?“ begann ich.

„Ich weiß es nicht genau; es können vierzehn Tage bis drei Wochen sein.“

„Wo?“

„Auf der Straße.“

„Wo waren Sie heute Nacht?“

„In meinem Hause.“

„Die ganze Nacht?“

„Die ganze Nacht.“

„Sie waren gar nicht ausgegangen?“

Er besann sich doch; sein Blick zeigte eine leise Unruhe; aber nach einer Weile antwortete er dreist:

„Nein.“

„Gefangenwärter, führen Sie den Gefangenen in das Gefängniß zurück.“

Da wurde er sehr unruhig; diese kalte Kürze hatte sich wie eine Last auf ihn gewälzt, die ihm den Athem nahm. Er blieb stehen und sah mich fragend an, als wenn ich in meinem Schweigen sein Verderben bei mir trüge, das er von mir heraushaben müsse, als wenn er lieber dem Tode in das Gesicht sehen, als ihn lauernd hinter sich wissen wolle.

„Haben Sie mir noch etwas zu sagen?“ fragte ich ihn.

Er fühlte, daß er sich verrathen habe, und nahm sich zusammen.

„Nein!“

Er ging mit dem Gefangenwärter.

Louise Schmid mußte eintreten. Sie hatte nichts von ihrem sanften Wesen verloren; ein Ausdruck stillen Leidens war hinzugetreten. Wäre ich zum Scherzen aufgelegt gewesen, ich hätte sie mit einer sanft leidenden Katze vergleichen können.

„Wann haben Sie den Fleischer Mahler zuletzt gesehen?“

„Vor zwei oder drei Wochen etwa.“

„Wo?“

„Auf der Straße.“

„War er nicht gestern Abend bei Ihnen?“

„Ich war ja fast bis Mitternacht hier am Gerichte.“

„Aber nachher? Heute Nacht?“

„Ich habe ihn nicht gesehen.“

„Und doch war er bei Ihnen.“

„Er war nicht bei mir.“

„In Ihrem Hause.“

„Wer Ihnen das gesagt hat, der hat mich verleumdet.“

„Sie waren ihm bis auf die Straße entgegen gegangen.“

„Großer Gott, welche abscheuliche Verleumdung!“

„Er sagte Ihnen: jetzt seien Sie Frau Mahler.“

„Das ist nicht wahr, das ist gelogen.“

„Er hatte zwei Flaschen Wein mitgebracht.“

„Herr in Deinem Himmel, wie werde ich armes Mädchen verleumdet!“

Sie weinte. Sie hatte wirkliche Thränen. War sie eine von der Natur so wunderbar und so selten begabte Heuchlerin, daß sie diese Thränen hatte, oder preßte sie ihr die ungeheuerste Angst aus?

Ich fuhr ruhig fort:

[440] „Mahler blieb bis drei Uhr Morgens bei Ihnen?“

„Er war gar nicht bei mir,“ schluchzte sie.

„Als er ging, begleiteten Sie ihn wieder bis auf die Straße und nahmen mit einer Umarmung Abschied von ihm.“

„Es ist Alles schändlich erfunden und erlogen.“

„Ich bringe Ihnen die überzeugendsten Beweise.“

„Das thun Sie. Auf der Stelle!“

„Später; vorher habe ich eine andere Pflicht. Gegen Mahler ist bereits ein dringender Verdacht begründet, daß er seine Frau vergiftet hat. Dadurch, daß Sie hier Thatsachen ableugnen, die auf das Vollständigste bewiesen werden können, machen Sie sich einer Theilnahme an seinem Verbrechen in hohem Grade verdächtig. Der Verdacht steigt, je beharrlicher Sie bei Ihrem Leugnen bleiben. Erwägen Sie das, bevor Sie, wenn Sie unschuldig sind, sich selbst in eine Lage gebracht haben, unschuldig als schuldig verurtheilt zu werden.“ Auch diese Ermahnung fruchtete nichts. Sie sah mich mit ihrer leidenden, mit der unschuldsvollsten Miene an.

Einmal verworfene Frauen haben eine unglaubliche Gewandtheit in der Heuchelei, besonders in der leidenden Heuchelei.

Mit der Person war, wenigstens jetzt, nichts zu machen; ich ließ sie daher abtreten und ihren Vater vorführen.

Der Mann hatte in der Nacht einen Rausch gehabt; man sah es dem aufgedunsenen Gesichte, den rothen Augen, dem wüsten Blicke an, der verrieth, wie wüst es ihm im Kopfe sein müsse.

Ich hatte falsch gerechnet, wenn ich meinte, darum mit ihm leichtere Mühe zu haben. Auf alle meine Fragen, auf alle meine Vorhaltungen, daß Mahler die Nacht über in seinem Hause gewesen sei, antwortete er mir einfach und beharrlich: er sei in der Nacht von dem Verhör durstig nach Hause gekommen und da müsse er über den Durst getrunken haben, und darauf sei er alsbald schläfrig geworden, und er habe sich zu Bette gelegt und wisse von nichts, was in seinem Hause passirt sei. Uebrigens glaube er nicht, daß Mahler dagewesen sei, denn er habe diesen noch nie in seinem Hause gesehen.

Sein Rausch sollte indeß mir mehr Dienste leisten, als ihm.

Ich ließ nach seiner Entfernung seine Frau vorkommen.

Der Gefangenwärter, bevor er sie in das Verhörzimmer führte, theilte mir, um Entschuldigung bittend, mit, daß durch ein Versehen von seiner Seite die Frau im Verhörgange ihren Mann gesehen, wie er gerade in die Gefängnisse zurückgeführt worden sei. Zum Glück habe der Mann sie nicht gesehen, so daß sie sich keine Zeichen hätten geben können. Dieser Zufall kam mir zu Nutzen.

Die gewandte, listige Frau trat nicht mit ihrer gestrigen Sicherheit ein. Hatte sie wirklich Angst, daß ihr noch halb berauschter Mann geplaudert, den Verräther gemacht haben möge? Der Gedanke stieg plötzlich in mir auf.

Es wäre unrecht von meiner Seite gewesen, den Irrthum in ihr zu nähren; aber benutzen durfte ich ihn.

Ich sagte ihr sofort auf den Kopf zu:

„Frau, heute Nacht war Mahler in Ihrem Hause.“

Sie erschrak heftig. Er hat Alles verrathen, sagte ihr Erschrecken.

„Wer hat das gesagt?“ fragte sie, leise zitternd, ablehnend, aber lauernd.

„Ich kann Ihnen auf der Stelle den Mann bringen, der es Ihnen in das Gesicht sagen wird.“

„Es ist nicht möglich.“

„Soll ich?“

Ich griff nach dem Klingelzuge. Ich hätte ihr nach und nach die vier Criminalbeamten gegenüber gestellt, um ihr Alles, was in der Nacht an ihrem Hause passirt sei, in das Gesicht zu sagen. Bei der Angst, in der sie einmal war, konnte ich davon ein Resultat erwarten, zumal da sie in ihrem Irrthum befürchten mußte, daß ich zuletzt doch noch ihren Mann ihr bringen werde. Sie überhob mich der Operation.

„Nein, nein,“ sagte sie ängstlich; „ich will Alles sagen.“

Ihre Angst war mir erklärlich. Sie glaubte an eine Gegenüberstellung ihres Mannes. Sie mußte auch ihm gegenüber die Rolle des Leugnens fortsetzen, ihn also zum Lügner machen. Und nun mußte sie ihn wohl genau kennen, wie das ihn zum Aeußersten, zu den gefährlichsten Geständnissen treiben werde.

„Ich will Alles sagen. Ja, Mahler war die Nacht bei uns; aber in allen Ehren, und er hat nie etwas Schlechtes mit meiner Tochter gehabt.“

„Was that er bei Ihnen?“

„Er ißt gern etwas Gutes. Und seine Frau war geizig und meine Tochter ist eine perfecte Köchin. Das ist Alles.“

„Er ist also öfters zu Ihnen gekommen?“

„Manchmal; aber blos darum.“

„Er hatte gestern Wein mitgebracht?“

„Ja, zwei Flaschen.“

„Er blieb bis drei Uhr?“

„Es mag sein.“

Jetzt mußte ich weiter gehen.

„War er auch vorgestern bei Ihnen?“ fragte ich sie.

„Zu welcher Zeit?“ fragte sie zurück.

„Am Abend?“

„Ich weiß es nicht.“

„Lügen Sie nicht wieder.“

„Ja, ja, es kann sein; ich habe nicht recht darauf geachtet, ich hatte zu thun.“

„Um welche Stunde des Abends war er da?“

„Es kann nach acht Uhr gewesen sein.“

„Wie lange blieb er?“

„Nicht lange.“

„Ging er allein fort?“

„Ich denke doch.“

„Besinnen Sie sich, Sie müssen es wissen.“

Die verschmitzte Frau hatte den Kopf verloren. Ich hatte ihr Thatsachen vorgehalten, die ich, da sie an meine ausgesandten Wächter nicht denken konnte, nach ihrer Meinung nur von Mahler selbst oder von ihrer Tochter oder von ihrem Manne haben mußte. Sie dachte unzweifelhaft an den Letzteren, zugleich mit jener Angst.

„Meine Tochter ging mit ihm,“ sagte sie.

„Um welche Stunde war das?“

„Es konnte beinahe zehn Uhr sein.“

„Wann kam Ihre Tochter zurück?“

„Etwa nach einer halben Stunde.“

„Allein?“

„Mahler hatte sie bis an das Haus zurückgebracht.“

„Was erzählte Ihre Tochter bei ihrer Rückkehr?“

„Was hätte sie erzählen sollen?“

„Wo sie mit Mahler gewesen sei?“

Die Frau wurde auf einmal leichenblaß und zitterte wieder. Mir kam es vor, als ob sie mit Entsetzen sich frage: Sollte mein Mann auch das verrathen haben?

„Sagen Sie die Wahrheit,“ ermahnte ich sie.

Sie sah mich mit großer Angst an.

„Sie wissen auch das?“

„Ich will es von Ihnen wissen.“

Sie glaubte in der That Alles verrathen, und rang die Hände. „O, mein Gott, mein Gott, mein armes Kind! Aber sie ist unschuldig! Glauben Sie mir, Herr Director, bei Allem, was heilig ist, bei Gott im Himmel, sie ist unschuldig, sie hat keinen Theil an dem Verbrechen. Sie hat ihn immer davon abgehalten; sie wollte ja gern warten, bis die Frau, die immer kränkelte, eines natürlichen Todes gestorben sei; aber er hatte keine Geduld mehr, und da hat er es denn gethan. Aber er allein, und sie hat vorher nichts davon gewußt; glauben Sie mir. Glauben Sie mir, daß sie unschuldig ist.“

Die Frau war gebrochen. Die Mutterliebe hatte sie gebrochen. Sie weinte bittere, heftige Thränen der Angst, der Todesangst für ihr Kind, und nun auch der Reue.

„Frau,“ sagte ich zu ihr, „nur ein volles Geständniß von Ihrer Seite kann beweisen, daß Ihre Tochter unschuldig ist, wenn sie es wirklich ist.“

„Sie ist es!“ rief sie.

Und nun erzählte sie Folgendes:

Mahler war vorgestern Abend um acht Uhr in ihr Haus gekommen, wie sehr oft, seitdem ihre Tochter nicht mehr bei ihm im Dienste war. Er war mit dem Mädchen allein gewesen, wie ebenfalls häufig. Er war der Frau bei seiner Ankunft etwas blaß vorgekommen. Sonstige Veränderung wollte sie nicht an ihm bemerkt haben. Kurz vor zehn Uhr war er mit dem Mädchen ausgegangen. Sie hätten blos gesagt, sie wollten ein halbes Stündchen spazieren gehen. Als bald nach halb elf Uhr das Mädchen, von Mahler bis an die Hausthür begleitet, zurückgekommen, habe sie so ganz besonders, so verstört ausgesehen. Sie, die Mutter, habe

[441]

Das Reh.
Wild-, Wald- und Waidmanns-Bilder Nr. 5.



sie gefragt, was sie habe. Da habe sie unter Jammer und Weinen gesagt, die Frau Mahler liege im Sterben. Mahler habe sie zu seinem Hause geführt; sie hätten sich vor das Fenster der Stube gestellt und draußen hören können, wie die Frau schrecklich gestöhnt habe, so daß sie es nicht lange mehr machen könne. Und nun habe Mahler ihr auch gesagt, daß seine Frau sterben müsse; sie sei ohnehin immer kränklich und es geschehe ihr eine Wohlthat damit, wenn sie von ihren ewigen Leiden erlöst würde, und sie Beide könnten desto eher heirathen; er könne es nicht mehr aushalten, bis sie seine Frau werde. Sie habe aber über diese Worte einen solchen Schreck bekommen, daß ihr die Kniee eingeknickt seien, und Mahler sie nach Hause beinahe habe tragen müssen. Früher habe Mahler zwar wohl zuweilen Redensarten geführt, als wenn er den Gedanken habe, seiner Frau Gift zu geben, aber sie, das Mädchen, habe das nie für seinen Ernst gehalten und auch immer gesagt, daß er es nicht thun solle und daß sie gern mit dem Heirathen warten wolle, bis die Frau eines natürlichen Todes sterbe. Das Mädchen habe sich gar nicht trösten können, und sie, Mutter und Tochter, hätten noch bis gegen zwei Uhr Morgens so beisammen gesessen, als es auf einmal an den Fensterladen geklopft habe und Mahler dagewesen sei und gesagt habe, um Mitternacht sei seine Frau gestorben. Er sei darauf gleich wieder gegangen.

Das waren die Mittheilungen der Frau; vielfach offen und aufrichtig, wenn auch sehr wahrscheinlich noch mit mannichfacher Zurückhaltung von Umständen, die auf die Schuld der Tochter Bezug hatten. Weitere Auskunft war aber von ihr nicht zu erhalten.

Ich suchte nach einem auch für Inquirenten goldenen Spruche, das Eisen zu schmieden, so lange es warm war. Allein vergeblich. Ich inquirirte den ganzen Tag bis wieder spät in den Abend hinein.

Aus dem alten Schmid war nichts herauszubekommen. Er versteckte sich hinter seine Gewohnheit, gern zu trinken, und schnell und früh betrunken zu werden. So wisse er von nichts was in seinem Hause passirt sei, und er könne daher nicht dafür aufkommen, was „seine Weibsleute im Hause trieben.“

Louise Schmid gestand zu, daß Mahler in der letztverflossenen Nacht, nach dem Ende der Verhöre, in dem Hause ihrer Eltern bei ihr gewesen, und daß er auch früher hin und wieder dagewesen sei, wo sie ihm dann etwas Gutes habe kochen müssen, was er zu Hause nicht bekommen habe. Sie habe das bisher aus Angst verschwiegen, was, wie sie jetzt einsehe, unrecht genug sei, und ihr Schaden bringen könne. Alles Andere bestritt sie unter stillem Weinen des sanften Leidens. Die Dirne war eben so zähe wie glatt.

Mahler war ein durch und durch kalter, fester Mensch, der keine einzige Stelle darbot, an der man ihn fassen konnte. Daß [442] er gestern Nacht, nach seiner Entlassung aus dem Verhöre, in dem Schmid’schen Hause gewesen, konnte er, nachdem ich ihm die Beweise darüber vorhielt, nicht mehr leugnen. Er wollte nur dagewesen sein und auch den Wein hingebracht haben, um die Familie Schmid für die Angst und Leiden ihrer langen Verhöre zu entschädigen. Daß sie verhört seien, habe er sich denken müssen, da ich ihn nach dem Mädchen gefragt habe. Nur um nicht das Mädchen unschuldig in die Sache zu verwickeln, habe er auch zuerst seine Anwesenheit im Hause abgeleugnet. Alles Andere bestritt er. Wenn die Schmids, Mutter und Tochter, anders sagten, so begreife er das nicht, die Angst müsse ihnen den Kopf verdreht haben. Dabei blieb er.

Ich confrontirte die Frau Schmid mit ihm. Die Frau wiederholte ihm ihre Aussage in’s Gesicht. Er zuckte kalt die Achseln, und erklärte auch ihr, es sei ihm unerklärlich, wie sie zu solchen handgreiflichen Lügen komme.

Zu einer Confrontation zwischen Mutter und Tochter konnte ich es nicht bringen. Es war mir das eine Erscheinung, die mir zeigte, wie auch in dem verdorbensten und verworfensten Menschen noch immer einiges wahre und bessere Gefühl lebt. Nach ausdrücklicher Vorschrift der Criminalordnung hätte ich den Versuch einer Zusammenstellung zwischen Mutter und Kind machen müssen; aber die Frau erklärte mir jedesmal mit einer Festigkeit, die ich nicht bewältigen konnte, nichts in der Welt werde sie bewegen, ihrer Tochter nur ein einziges Wort vorzuhalten, das diese veranlassen könne, sich als Lügnerin darzustellen. Ich mußte von meinen Versuchen Abstand nehmen.

Gegen Mahler hatte ich indeß durch die Aussage der Frau erhebliche Indicien gewonnen. Zu einem Beweise gegen ihn, der seine Bestrafung begründen mußte, bedurfte ich nur noch des Nachweises, daß er im Besitze von Arsenik gewesen sei. Und diesen Nachweis sollte mir die kleine Gretchen Kopp herbeischaffen. Dabei mußte ich mich aber in der That einer kleinen List schuldig machen.

Das brave Kind war nicht zu bewegen, auch nur ein einziges Wort zum Nachtheile des Mannes auszusagen, der sie mit so unendlicher Bosheit des von ihm verübten Verbrechens bezichtigt hatte. Er sei ihr Oheim, er sei ihr wie ein Vater gewesen; sie könne nun einmal nichts gegen ihn sagen, und sie thue es nicht. Dennoch war namentlich über einen Punkt ihre Aussage mir von der größten Wichtigkeit.

Jener häßliche Reiter an der hannoverschen Grenze hatte eine heimliche Zusammenkunft mit einem Menschen gehabt, in dem ich mit großer Wahrscheinlichkeit den Fremden aus dem Wirthshause an der Grenze, also den Fleischer Mahler, zu erkennen gemeint hatte. Ich verband damit den dringenden Verdacht, daß Mahler damals von jenem Menschen sich habe Gift geben lassen. Aber wer war der häßliche Reiter? In dem Wirthshause hatte Niemand von ihm gewußt. Nur Fritz Beck, der Liebhaber Gretchens, hatte ihn gesehen. Er schien ihn auch gekannt zu haben. Jedenfalls konnte durch ihn der Mensch ermittelt werden.

Allein wo hielt Fritz Beck sich auf? Und wie war dem von den Behörden Verfolgten so beizukommen, daß er sich zu der nöthigen Auskunft entschloß?

Das war nur durch Gretchen Kopp zu erlangen; und von ihr erlangte man es nicht, wenn sie den Zweck wußte.

Ich sprach mit ihrem Oheim Kopp über sie und den Burschen. Das Testament der Frau Mahler war eröffnet. Dem Mädchen waren darin die fünfhundert Thaler vermacht. Der Oheim war bereit, in Gemeinschaft mit den übrigen vermögenden Verwandten eine etwa gleiche Summe zuzugeben. Dafür sollte dem Mädchen im Hannoverschen, aber weit genug von der Grenze entfernt, ein bäuerliches Grundstück gekauft werden, und die beiden jungen Leute sollten sich heirathen. „Man könne es ja einmal probiren.“

Das Mädchen war außer sich vor Freude, als ihr das Alles gesagt wurde. Sie fuhr mit ihrem Oheim zur Grenze, um dem Burschen sein Glück anzukündigen. Ich fuhr, wie zufällig, ebenfalls dahin. Ich traf mit Kopp und seiner Nichte zusammen, wie sie eben in der Nähe des Wirthshauses an der Grenze ihre Unterredung mit Fritz Beck hatten. Der Bursch erkannte mich wieder. Ich nahm ihn auf die Seite, und fragte ihn nach dem häßlichen Reiter.

„Der Henker hier auf der Grenze!“

Hatte Mahler von dem Henker das Gift geholt, das ihn dem Henker überliefern mußte?

Ich ließ mir Namen und Wohnort des Henkers nennen, und fuhr dann weiter zu dem nächsten hannoverschen Gerichtsorte. Ich wandte mich dort an das Gericht. Die hannoversche Behörde war sehr zuvorkommend. Noch an demselben Tage wurde der Mann vernommen. Ich wurde zu der Vernehmung zugelassen.

Der an der Frau Mahler verübte Giftmord war auch schon an der Grenze bekannt geworden. Der Henker, sobald er sich bezüglich des Verbrechens vernommen sah, hatte daher eine dringende Veranlassung, wenigstens nicht Alles abzuleugnen, wenn er sich nicht als Mitschuldigen in die Sache verwickelt sehen wollte.

Er räumte sofort ein, daß Mahler Arsenik von ihm erhalten habe, und zwar damals an jener nämlichen Stelle, wo ich mich so sehr in der Nähe der Zusammenkunft der Beiden befunden hatte. Mahler war, so gab er an, des Nachmittags bei ihm gewesen, um ihn um das Gift zu bitten. Er hatte ihn auf den Abend an jenen Ort bestellt, da seine Rückkehr zum Hause des Henkers bemerkt werden und auffallen könne; dort unmittelbar an der Grenze seien sie am sichersten. Zu welchem Zweck Mahler das Gift haben wolle, hatte dieser nicht gesagt. Die Heimlichkeit sei übrigens schon darum geboten gewesen, weil der Giftverkauf auch im Hannoverschen für Privatpersonen verboten sei.

Der Mann wurde mir von den hannoverschen Behörden mit nach Preußen gegeben. Er wiederholte dort seine Aussage dem Mahler in’s Gesicht.

Mahlers Kaltblütigkeit war unterdeß zu einer Unempfindlichkeit geworden. Ihn beherrschte nur ein Gefühl, die Lust zum Leben. Das Leben hatte er aber gerettet, wenn er sein Verbrechen nicht eingestand.

Nach der preußischen Criminalordnung konnten noch so viele und noch so vollkommen überzeugende Anzeichen gegen ihn vorliegen, auf Grund derselben konnte nie eine Todesstrafe, nicht einmal eine lebenslängliche Freiheitsstrafe, sondern höchstens, als sogenannte außerordentliche Strafe, eine Zuchthausstrafe von zwanzig bis dreißig Jahren gegen ihn erkannt werden.

So bestritt er Alles, was gegen ihn vorgebracht wurde, mit einer Beharrlichkeit und Unempfindlichkeit, die, zumal in diesem, von Natur kalten und schlechten Menschen, vollkommen unerschütterlich waren. Es schien eine Art Verzweiflung so in ihm zu wirken.

Indessen waren der überzeugenden Anzeichen gegen ihn genug da. Er wurde nach jenem Grundsatze der außerordentlichen Strafe zu fünfundzwanzig Jahren Zuchthaus verurtheilt.

Louise Schmid, gegen welche, bei ihrem gleichfalls beharrlichen Leugnen, außer ihrem verdächtigen Benehmen, nichts vorlag, als die Aussage ihrer Mutter, wurde von einer Theilnahme an dem Verbrechen Mahler’s vorläufig freigesprochen.

Gretchen Kopp und Fritz Beck wurden ein Paar und zwar ein recht glückliches Paar. –

Und nun, nachdem ich meine Erzählung beendigt habe, höre ich manchen Leser fragen:

„Aber wozu hat er uns diese, nicht einmal so ganz absonderliche Criminalgeschichte erzählt? Welche Idee soll dadurch veranschaulicht werden? Welche Tendenz nur spricht sich darin aus?“

Ich weiß es, ohne Idee und Tendenz thut es die deutsche Novellistik nicht mehr. Nur eine Idee, nur eine Tendenz, dann sind die Geschichte und das Erzählen selbst gleichgültige Nebensachen.

Nun könnte ich Euch in der That auch über die vorstehende Geschichte recht viel von solchen Dingen sprechen, von der Idee eines reinen, schuldlosen, im Gegensatze zu einem verdorbenen, schuldbewußten Charakter; von der erhabenen Idee: „wenn sich das Laster erbricht, setzt sich die Tugend zu Tisch.“ Oder, wenn Ihr eine Tendenz wollt, so könnte ich Euch bitten, anzunehmen, ich hätte Euch einen echt professorlichen – „praktischen Excurs“ aus der empirischen Psychologie geben wollen, oder gar einen Beitrag zu der Kunst des Inquirirens. –

Nehmt, was Ihr wollt, auch nichts. Ich werde zufrieden sein, wenn Euch meine Erzählung gefallen hat, das heißt, nicht blos für Eure Phantasie, sondern auch vornehmlich für Euer Herz.

Also doch eine Tendenz?




[443]
Wild-, Wald- und Waidmanns-Bilder.
Von Guido Hammer.
Nr. 5. Das Reh.[2]
(Mit Abbildung.)


Unter allen Hirschgattungen der Welt ist der europäische Hirsch entschieden der edelste, stolzeste Vertreter derselben, obgleich er an Mächtigkeit durch das Elen und durch den amerikanischen großen Elkhirsch weit übertroffen wird. Man hat ihm deshalb auch mit vollem Rechte ausschließlich die Benennung: „Edelhirsch“ beigelegt. Mit gleichem Recht stellt sich unstreitig das Rehgeschlecht als das zierlichste, liebenswürdigste unter diesen Gattungen dar, selbst noch dem niedlichsten von allen, dem Moschushirschchen, gegenüber.

Ohne unsere Lieblinge jagen oder nur stören zu wollen, stehen wir einmal an einem schönen Morgen Ende Mai oder Anfang Juni recht frühzeitig auf und durchstreifen den frischgrünen, duftigen Wald, um unsere harmlosen Lieblinge zu beobachten. Auch wenn wir keine zu Gesicht bekommen sollten (was aber bei einem halbwege guten Rehstande nicht zu erwarten steht), würde uns unser Gang sicher nicht gereuen, so wunderbar erquickend für Seele und Leib ist’s früh im Walde. Ja, hier jauchzt das Herz auf und nirgends kann sich ein innigeres Morgengebet zum Himmel erheben, als in diesem heiligen Dome. Nicht blos bittend wird sich hier der Mensch seinem Schöpfer nahen, sondern zu allererst dankend, daß er ihn so unaussprechlich Schönes genießen läßt, und dann erst wird er bittend flehen, daß er ihn dieser vollkommenen, liebeathmenden, heiligen Natur würdig machen, daß er ihn mehr und mehr zum Einklange mit ihr führen möge. Wenden wir uns jetzt jenem Gründchen zu, über das sich die Buchen mit ihrem smaragdgrünen Laubdache wölben. Schon leuchtet der Aether über ihnen wie eine Glorie; die noch vor Kurzem schimmernden Sterne sind mit ihrem silbernen Glanze verschwunden, als hätten sie sich aus Demuth vor der strahlenden Wohlthäterin, der Sonne, zurückgezogen. In voller Pracht steigt diese, die Erde küssend, empor; das geblendete Auge muß sich abwenden und mit Erstaunen fällt der Blick auf die im himmlischen Lichte zitternden Wipfel all’ der thauerfrischten Bäume und streift von da an den dicht umwobenen Stämmen nieder auf die nach und nach in goldigem Schein erglänzenden Gräser, an denen die frischen Tropfen des krystallreinen Thaues perlen. Wie spielend dringt der goldige Lichtstrom in einzelnen Streifen in das dämmerreiche Gründchen und schießt über ein murmelndes Bächlein und dessen lebendige Wellen hinweg, die, wie von selbst leuchtend, im Dahinfliehen blauäugiges Vergißmeinnicht und zierlich geformte Farrenkräuter netzen. Der Kuckuck ruft uns zu, als wolle er uns zum Aufschauen der Herrlichkeiten ermuntern; wilde Tauben girren in den alten Buchenwipfeln, der Pirol pfeift mit seinem vollen und doch so schmelzend flötenden Tone seine weithin schallende Weise und all’ die andern Vögel des Waldes singen und jubeln, schmettern und jauchzen dem entzückenden Morgen in dieser entzückenden Natur ihre Freude entgegen.

Da, wo sich das Gründchen einmal verflacht und breiter wird, durchschneidet das Bächlein ein blumiges Wiesenplätzchen, und siehe, welch’ reizender Anblick! – ein Reh mit seinen beiden Kälbchen steht am Bachesrand, hin und wieder das niedliche Köpfchen bewegend und mit den unschuldsvollen, klaren, dunkeln und doch so milden Augen[3] umherschauend, dann sich niederbeugend und äßend oder ein schmeichelnd sich anschmiegendes Kälbchen leckend, das hierauf seinem dahinspringenden Brüderchen folgt. Beide setzen muthwillig über Bach und Stauden, einander haschend und überschießend. Kaum ist etwas Anmuthigeres zu denken, als diese niedlich geformten Rehkitzchen in ihren weißgefleckten Jugendkleidchen; dazu die feuchten tiefschwarzen Näschen und die sammetschwarzen und weißen Ränder der Oberlippe, beides noch gehoben durch das weiße Unterlippchen und die weißen Punkte vorn zwischen dem Näschen und den schwarzen Lippenrändern. Mit gleicher Zeichnung am Kopfe ist das alte Reh ausgestattet, während es ungefleckt in seinem aalglatten, gelbrothen, an den Läuften und nach dem Bauche zu heller werdenden und bis in’s Weiße übergehenden Fell von nicht minder reizendem Aussehen ist. Jetzt schreitet es mit elastischem Schritt durch die thauigen Halme und Blumen, um an einer andern Stelle süße Gräser zu naschen, während die Kitzchen im tollen Spiel mit graziösen Sätzen das Bächlein überspringen, in dessen durchsichtigem Gewässer die Forellen pfeilschnell dahin schießen. Der mütterlich lockende Ton des Rehes läßt die Kälbchen inne halten und sich zur Mutter wenden, die sie nun, das eine an ihr saugend, und das andere sie neckend, umdrängen oder umkreisen. So geht es noch ein Weilchen fort, bis die höher steigende Sonne die Gräser trocknet und das alte Reh weiterzieht. Doch jetzt muß dieses etwas in Wind bekommen haben, denn laut schmälend[4] setzt es mit federleichten Sprüngen dahin und alle drei eilen jetzt den dannen, daß die weißen Spiegel[5] im lichten Grün weithin leuchten, bis sie unserem Auge in der Waldestiefe verschwinden. Auch ein Schmalreh, was unbemerkt hinter einem Erlenbüschchen sich geäßt hat, folgt dem Warnungsrufe und eilt den andern nach. Entweder ist dasselbe ein vorjähriges Kälbchen von dem alten Reh oder es hat sich ihm nur angeschlossen, als seine eigene Mutter durch irgend einen Umstand, vielleicht durch die Schlinge eines Wilddiebes oder den Schuß eines sogenannten Jagdliebhabers, um’s Leben gekommen sein mag.

Benutzen wir die falsche Brunft (s. weiter unten) und suchen wir dieselbe Familie im August einmal gegen Abend auf einem Gehau auf, wo sich das alte Reh, seit die Kälbchen erwachsener sind, seinen Stand gewählt hat, so finden wir einen Bock dabei, der dem jugendlichen, braunäugigen Schmalreh, wie es scheint, zu tief in das glänzende, trauliche Augenpaar gesehen hat, so liebebrünstig folgt er ihm auf Schritt und Tritt. Märchenhaft, vielleicht auch etwas kokett, entflieht es zwar seinen Bewerbungen, feuert ihn aber doch wieder durch einen Lockton an, ihm zu folgen. Wo es sich äßt, da verweilt auch er; zieht es weiter, so zieht er mit. Eine kleine Strecke davon übersieht willig die liebende Mutter mit ihren Kälbchen, von denen das eine, vom Springen müde, sich niedergethan hat, während das andere schmeichelnd zur Alten aufblickt, diese kleinen Liebesabenteuer in der Familie; ist sie doch ganz von ihren neuesten Mutterpflichten erfüllt und lebt froh nur ihren Kitzchen. So waltet die allumfassende Liebe der Natur in ihren verschiedenen Ergüssen auch in unserer kleinen Rehfamilie, und wahrlich, kaum dürfte irgend ein Geschöpf in seiner ganzen Erscheinung mehr im Einklange mit so friedlichem Gebahren stehen, als eben das Reh.

Eine eigenthümliche Erscheinung beim Rehwildpret ist die Ende Juli eintretende und nur ungefähr acht bis zehn Tage dauernde so genannte „falsche Brunft“,[WS 1] im Gegensatz zu der wahren Brunft, die erst Ende November und Anfang December eintritt. Jene hat früher zu unendlich vielen Streitfragen Veranlassung gegeben, bis die Wissenschaft, durch sorgfältige Beobachtungen unterstützt, festgestellt hat, daß die wirkliche Begattung erst in den letztgenannten Monaten geschieht. Merkwürdig aber bleibt es immer, daß bei der falschen Brunft der Bock es nur auf Schmalrehe abgesehen zu haben scheint, indem er, sobald er den Ruf einer solchen jugendlichen Schönen hört, im Fluge herbeieilt, um mit der Schmachtenden zu kosen. Wird nun dieser Ton, am besten mit einem Buchenblatt, einem breiten Grashalme oder nur mit den zusammengekniffenen Lippen, oder auch, und zwar am bequemsten, auf einem dazu gefertigten Instrument, dem sogenannten Rehblatt, welches man in den Mund nimmt, gut nachgeahmt, so kann sich der Täuschende darauf verlassen, daß ein etwa in der Nähe stehender Bock, falls dieser nicht schon wirklich ein Schmalreh treibt[6], augenblicklich flüchtig auf ihn zukommt, glaubend, es sei eine Eroberung zu machen, während er auf diese Weise in den Tod läuft. Es ist dies für den Jäger die liebste Art, einen Rehbock zu schießen, und diese wenigen Tage im Jahre, in denen der Rehbock auf’s Blatt springt[7], werden nicht [444] minder sehnsüchtig erwartet, als die gleichfalls nur kurze und heiß ersehnte Zeit, wenn die Schnepfe zieht. Derselbe Ton, nur feiner gehalten, führt auch oft das alte Reh in der Einbildung, das Kälbchen rufe, herbei; doch kann natürlich hier von Schießen keine Rede sein. Wiederholt sich nun Ende November diese Brunft, diesmal, wie bemerkt, die wirkliche, so verliert sonderbarer Weise gerade um diese Zeit der Rehbock das Gehörn,[8] das erst im Mai wieder ausgewachsen ist, ein gewiß sehr auffallender Umstand, da jedes Thier zur Zeit der Begattung nicht nur sein schönstes Kleid, sondern auch alle Zeichen der Mannheit entwickelt besitzt, das Gehörn beim Rehbock aber eben so entschieden seine männliche Zierde, als seine Wehre gegen Nebenbuhler und Neider ist, gegen welche er sie in der falschen Brunft recht gut zu gebrauchen versteht. Dieser Punkt wurde denn auch von der Partei, welche die Augustbrunft für die wahre hielt, stets in die Wagschale geworfen, und allerdings war er nicht ungewichtig. Dennoch ist die von ihm hergeleitete Meinung eine irrige. Wer vermag die Zwecke der geheimnißvoll waltenden Natur zu ergründen, die hier eine Ausnahme von der Regel macht? Bei der wahren Brunft vergißt auch das Mutterreh die Gattenpflicht nicht über der Mutterliebe; sind ihre Kälbchen doch nun schon selbstständiger. Gleicher Weise bleibt nun der Bock den ganzen Winter über bei seiner Auserwählten, von der er sich erst wieder trennt, wenn das Reh instinctartig mehr die Nähe des Menschen aufsucht, um unter dessen mittelbarem Schutze sein Wochenbett zu halten, und dabei von Raubthieren, die ja stets Ursache haben, den Herrn der Schöpfung zu fliehen, weniger gefährdet zu sein.[9]

So leben diese friedfertigen, harmlosen Thiere in Wald und Flur, Abends aus den Dickichten und Stangenhölzern, in welchen letzteren sie sich den Tag über gern aufhalten, herausziehend, um auf die Gehaue und Wiesen, oder, ist’s im Frühjahr, auf die Saaten zu treten. Im Hochsommer bleiben sie am liebsten in den wogenden Saatfeldern, welche sie mehr vor Ungeziefer schützen, als der Wald. Freilich bringen sie da dem Landmanne durch Niedertreten nicht unerheblichen Schaden. Aber nicht das ganze Jahr feiern sie blos ein Dolce far niente; denn auch sie werden von September bis Ende Februar, in vielen Gegenden das ganze Jahr, theils auf dem Anstande, auf dem Pirschgange oder beim Blatten geschossen, theils mit dem Dachshunde aufgestöbert und im Winter getrieben und dabei erlegt. Nach echter Waidmannsart gilt dies allerdings nur dem Bock oder doch nur einem gelten Reh;[10] allein seit dem Jahre 1848 ist ein wahrer Vertilgungskrieg auch gegen diese, allerdings sehr schmackhafte Wildgattung eingetreten und wer irgend zu jagen berechtigt ist, schießt Reh, Schmalreh und Kälbchen ohne Schonung todt, sich mit dem Grundsatze tröstend: „Wenn ich selbst es nicht schieße, so schießt’s der Nachbar.“

Wir gönnen dem Jäger von Herzen die Freude einer vernünftigen Jagd auf Rehe, wie auf jedes andere Wild; denn wollte man aus lauter Zärtlichkeit für so reizende Geschöpfe niemals eins derselben tödten, so würden sie bald zur unerträglichen Plage werden. Darum, lieber Leser, bist Du nicht Jäger, erfreue Dich am schönen Anblicke des Wildes und Waldes, ohne dem Waidmanne die berechtigte Lust am Jagen zu verargen; bist Du aber selbst Jäger, so bewahre Dir die Fähigkeit des Genusses sinniger und denkender Anschauung der Natur mit ihrer lebendigen Schöpfung und bedenke, daß auch das Schönste auf Erden – warum sollte Dein Lieblingsvergnügen ausgenommen sein? – seine Beschränkung haben muß. Dir bleibt außer der Jagd noch viel Schönes übrig, und dies erkennend wirst Du ein waidgerechter und vortrefflicher Jäger sein können, ohne, wie man oft nicht mit Unrecht sagt, zum „rohen Handwerk“ zu gehören.




Eine deutsche Herculesarbeit vor dem englischen Parlamente.


England kann vor lauter „Ausland“ gar nicht mehr an sich selbst denken. Seit Jahren schon wurden „Reformen“ und sonstige innere Angelegenheiten bald wegen dieses, bald wegen jenes Streites mit irgend einer auswärtigen Macht abgewiesen. Diesen Sommer konnte man Indiens wegen gar nicht zu sich kommen, ohne daß deshalb Indien wieder ordentlich zu ihnen kam. Die Augiasställe zu Hause blieben liegen und der in Indien wird fortwährend mit noch mehr Blut und Leichen gefüllt. Aber einer dieser Ställe, der größte und stinkendste in der Welt, wollte sich heuer durchaus nicht wieder abweisen lassen. Er eroberte ganz London und durchdrang jede Mauer, jede Statue, jede goldene Malerei und jeden gothischen Spitzbogen des gigantischen Parlamentsgebäudes, die Nase jedes Parlamentsmitgliedes – der Themse-Augiasstall, in welchen sich seit Jahrhunderten alle Excremente der Metropolis entladen, ohne daß die zwei Mal täglich zurückkehrende Fluth diese furchtbare Düngermasse in’s Meer hinabführt. Die Themse spült diesen Unrath vor den Nasen der Bewohner und ganz dicht vor den Nasen der Parlamentsmitglieder vorbei stets offen auf und ab, hin und her.

Und als die heiße Junisonne dieses Jahres auf die offene Riesen-Cloake brannte, stank sie bis zum Himmel, „stank“ sie das ganze Parlamentsgebäude zum Hause „hinaus“, wie sich eine Zeitung in alter anglosächsischer Derbheit ausdrückte. Ganz London seufzte mit zugehaltenen Nasen zum Parlamente unten dicht an der Themse, „etwas zu thun.“ Das Parlament schrie im Ober- und Unterhause hinter großen, in Chlorwasser getauchten Vorhängen: „Thut etwas! Bitte, thut etwas! Wer erlöst uns von diesem Vater Themse, dessen Vater und Conservator der Lord-Mayor ist?“ Die Presse brachte alle Morgen frische Leitartikel mit Drohungen allgemeiner Pest, an der London schon vier Mal fast ganz ausgestorben sei. Die Times donnerte besonders erschütternd: „Wir haben uns selbst vernachlässigt! Unsere Sünden werden uns heimsuchen. Thut etwas gegen diesen Gestank! Wo ist der Hercules, der diesen Stall ausmiste?“

Die Weisesten und Mächtigsten im Lande nahmen jetzt ihren Witz zusammen und schrieben und sprachen über die Entstänkerung der Themse. Das Parlament wählte die Sachverständigsten in Stänkerungssachen aus seiner Mitte zu einem ununterbrochen sitzenden Ausschuß in Sachen der Themse gegen 3 Millionen Nasen, von denen die des Parlaments just am dichtesten dabei athmeten. So viel wurde bald als unzweifelhafte Thatsache parlamentarisch festgestellt, daß die Themse nicht nur ein Ding sei, was da sei, sondern auch in einem gewissen Geruch stehe, daß es Anspruch habe als der größte Augiasstall der Welt zu gelten. Diese Wahrheiten waren bald gefunden, aber wo blieb der Hercules? Viele erhoben sich und versprachen, für 10 Millionen Pfund die Themse binnen 10 Jahren zu reinigen und alle 80 großen Hauptcloaken-Ausflüsse hinunter in das Meer zu führen. Andere traten mit Plänen für ungeheuere Fluththore und Thürme auf, um den Themsegestank einzusperren, in die Thürme hinauf zu pumpen und dann anderswo wieder loszulassen, Aber dabei kam Alles heraus, nur nicht der Gestank aus der Themse. Diese Projecte erinnerten nur an Goethe’s Vers:

„Rührst Du den Quark auch noch so lang:
Nur unsern Nasen thust Du Zwang.“

Die Projecte gaben alle Aussicht, daß es für 10 Millionen Pfund in 10 Jahren nur noch ärger stinken werde. Es waren ihrer viele, aber kein Hercules darunter. Wo steckt Hercules?

Vor 45 Jahren wurde im fetten Mecklenburg einem Großvater geistlichen Standes ein sehr wilder Junge geboren, dem er Vater ward, da er keinen mehr hatte, als er geboren war. Großvater ließ den Jungen aufwachsen, ohne ihm den Rücken zu bläuen oder ihn sonst in seiner Wildheit zu brechen. So wurde der Junge stark und groß und lernte nichts und lief in die Welt als Mechaniker, Maschinenbauer, Mitglied des Freihandels-Vereins in Berlin, Laterna magica-Director von Brill und Siegmund u. s. w., um endlich von Hamburg nach London spedirt zu werden und sich jetzt als der verlangte Hercules dem Parlamente Großbritanniens vorstellen zu lassen. So stand er da vor dem Parlamente am 2. [445] Juli Nachmittags und zeigte er den Sachverständigsten unter ihnen mit Wort und That, wie man London erlösen, die Themse befreien und, statt Geld dafür zu geben, noch täglich mindestens 7000 Pfd. Gold herausfischen könne.

Es war eine interessante Scene Nachmittags den 2. Juli auf der prachtvollen Themse-Terrasse an der Hauptfront des gloriosen Parlamentsgebäudes mit dem Rauch-Salon für die Mitglieder in der Ecke unten. Das England gegenüber gern so arm thuende Deutschland kann stolz darauf sein. Hier kamen wir – lauter Deutsche ohne Namen und Rang – mit alten Bretern und Tonnen und schwarzen Kugeln, die man in Frankreich für Hand-Granaten gehalten haben würde, gegen das Parlament angerückt, das sonst so grimmig gegen gewöhnliche Sterbliche verschlossen gehalten wird. Wir drangen ungehindert unter den prächtigen Portalen durch Corridore hindurch vor blauen Policemen vorbei, die da staunten, uns aber nicht anzuhalten wagten, weil dem Hercules, dem Netter und Befreier Londons und des Parlaments, seine Mission auf die Stirn geschrieben zu sein schien. Wir bauten unsere Modelle des großen Rettungs-Apparates auf und die Sachverständigsten des Parlaments und die Glorien Großbritanniens traten heran und stellten sich drum herum, zu sehen, zu hören und zu staunen.

„Paßt auf,“ sagt der Mecklenburger, jetzt Hercules vor dem Parlamente, „so will ich Euch die Themse reinigen und noch täglich mindestens 7000 Pfund Gold herausfischen.“

So stand er da in seinen grauen Hosen, seiner grauen Weste, seinem grauen Rocke und dem großen, schwarzen Barte, den der Herzog von Cambridge nicht größer aufweisen kann, mit den großen blauen Augen und der hohen Stirn vor dem Parlaments-Comité und Lord Palmerston und Sir Benjamin Hall, dem Chef des „Gesundheits-Amtes“, und Lord John Manners und andern Lords und Großen des Reichs und filtrirte ihnen originale Themsejauche vor den Augen zu trinkbarem, klarem Wasser und forderte Sir Benjamin Hall auf, ein Glas davon zu trinken. Dieser nahm Anstand gegen eine so unanständige Zumuthung und sagte:

„Es riecht noch!“

„Das ist die Themse im Allgemeinen,“ sagt der graue Mann, „welche so gesundheitsamtlich riecht.“

Alle lachten und Lord Palmerston am meisten. Gurney, der Parlaments-Ventilator, der schriftlich erklärt hatte, daß er keine Luft mehr schaffen und nicht mehr für die Gesundheit des Parlaments stehen könne, Erfinder eines Projekts, den Themsegestank auf Thürme hinaufzupumpen und den Himmel damit zu verstänkern, tritt heran und sagt:

„Das ist nichts Neues!“

„O, Sie haben jedenfalls schon vorher Kohlen in England gesehen,“ antwortet der graue Mann und Alles lacht wieder. Parton im weißen Hute ist begeistert und ruft:

„Ich habe in meinem Leben nichts so Geniales gesehen.“

„O doch, jedenfalls im Spiegel,“ versetzt der graue Mann, und das Parlament ruft Beifall über dieses verdiente Compliment für den ehemaligen Gärtnerlehrburschen.

Um die Hauptsache nicht zu vergessen, bemerken wir, daß der graue Mann (Freund Bühring, von dem wir in Nr. 43. Jahrg. 1857, bei Gelegenheit der „Plastischen Kohle“ erzählten) aus der Themse dicht vor dem Parlamente originale Jauche holen ließ, diese in eine Tonne füllte, und dann durch einen schwimmenden Kohlenfilter in ein anderes Gefäß überführte. Dazu gab er im Wesentlichen folgende Erklärung: „Diese Kohlenbälle, durch welche der Schmutz filtrirt wird, sind meine patentirte Erfindung, die jetzt von einer Compagnie mit 10,000 Pfund Capital im Großen ausgeführt werden soll. Ich filtrire damit allen Ausfluß der 80 Londoner Cloakenmündungen auf folgende Weise: Jede Mündung wird in ein System von etwa 10,000 Filterbällen, die oben schwimmen, in ein dicht verschlossenes Fahrzeug geleitet. Um den gröbsten Schmutz von den Bällen abzuhalten, leit’ ich ihn erst durch ein gröberes Medium, vielleicht Seegras oder bessere, sehr poröse, grobe Kohlenplatten. Alle größeren, festeren Schmutztheile fallen von selbst zu Boden, und berühren die schwimmenden Filter gar nicht, so daß diese für den feineren und chemischen Reinigungs-Proceß thätig offen bleiben. Alle Flüssigkeit dringt mechanisch oder capillarisch durch die Filterbälle und fließt so, wie Sie’s hier sehen, in die Themse. Den stinkenden Schmutz behalt’ ich sofort in den verschlossenen Kasten, die, wenn voll, als werthvoll beladene Schiffe den Dünger dahin fahren können, wo er am besten bezahlt wird. Die Tonne Dünger aus der Themse kostet jetzt sechs Pfund Sterling. Nehmen wir an, daß der Preis durch Gewinnung alles Düngers sechsfach fällt, bekommen wir doch noch jeden Tag für 7000 Pfund des Stoffes, der bisher nutzlos in’s Meer fließt oder größtentheils die Themse zu dem gemacht hat, was sie geworden, der Pesthöhle Londons. Es ist genau ermittelt worden, daß täglich mindestens 7000 Tonnen fester Schmutz durch die Londoner Cloaken in die Themse geschwemmt werden. Das ist eine tägliche Beraubung der Aecker und Felder um London herum von täglich 7000 Tonnen Brod- und Nahrungsstoff, den Sie zwar auf Umwegen von 40–50 Jahren durch die Fische des Meeres, die Vögel, welche Fische fressen und dann Guano davon auf den Inseln bei Peru u. s. w. absetzen, wieder importiren, aber um welchen Preis, mit welchen Zinsen während der 40–50 Jahre! Liebig sagt ganz richtig: Man muß in den Boden eben so viel wieder hinein thun, als man in Form von Getreide, Frucht oder Grünfutter aus ihm herausnimmt. Läßt man nun aber jährlich viel über 4 Millionen Centner dieses kostbaren Nahrungsstoffes für die Felder in der Themse verschwinden, wo sich diese Quellen neuen Lebens in Lungengifte, Pest und Tod verwandeln, so leuchtet ein, daß man den fehlenden Dünger für schweres Geld von anderswo herbeischaffen oder hungern und dabei doch Themse-Atmosphäre, d. h. doppelten Tod, athmen muß. Ich lasse euch keinen Tropfen schmutziges Wasser mehr in die Themse, und liefere euch den Schmutz, diesen Tod, in Form neuer Lebensmittel im Betrage von mindestens 2½ Millionen Pfund Geldwerth jährlich. Mittel und Capitalien, um diesen Zweck zu erreichen, sind sehr einfach, wenigstens im Vergleich zu den fünfzig- bis hundertfach theuerern Projecten, die dem Parlamente vorgelegt worden sind, von denen keines den kostbaren Dünger herausschafft, sondern nur weit nach unten durch meilenlange Mauertunnels in die Themsemündungen abführen will. Ich stelle vor jeden der 80 großen Cloakenausflüsse verschlossene Kasten in Form von kleinen Dampfschiffen. In diesen Kasten werden sich die Kohlenfilterapparate von je etwa 10,000 Bällen befinden, die auf dem hineinfließenden Unrathe schwimmen, diesen sofort aussaugen und rein in die Themse ableiten. Was zurückbleibt, wird die Kasten bald füllen. Sind sie voll, machen sie andern Kasten und Fahrzeugen Platz, während erstere mit ihrem Inhalte an Orte fahren, wo der Dünger präparirt, getrocknet und comprimirt wird, um dann in trocknen, geruchlosen Stücken verkauft, verfahren und angewandt zu werden. Um die schwimmenden Filterballsysteme mit dem dicksten Schmutze zu verschonen, lasse ich die Cloakenausflüsse zuerst durch ein grobes Medium, etwa Seegras, dann durch grobe Kohlenstücke erst zu den feineren Bällen herandringen. Diese bleiben demnach längere Zeit filterkräftig. Sind sie etwas verstopft, werden sie durch neue ersetzt, während die alten ausgebrannt werden, um sofort wieder als neue verwendbar zu sein. Meine schwimmenden Filterapparate für Zwecke, die viel reines Wasser brauchen, haben jetzt die Form verschlossener Kasten, die wie Fischkasten aussehen. In den Löchern stecken grobe Kohlenpfropfen, durch welche das unreine Wasser, schon von gröberen Bestandtheilen frei (die gröbsten fallen schon vorher zu Boden, weshalb ich meine Apparate auch stets oben schwimmen lasse), an die Filterbälle herantritt. Letztere stecken in Reihen auf Glas- oder Knochenröhren, die in Canäle leiten, durch welche das eingedrungene Wasser aufsteigt, um mechanisch und capillarisch durch die Poren der Filterbälle zu dringen, und so gereinigt durch einen gemeinsamen Canal auszufließen.“

Das war’s etwa. Er sprach noch von der chemischen Filtration der Filterbälle von plastischer Kohle, die so ungeheuer porös ist, daß alle darin concentrirte Körperoberfläche, glatt gelegt, eine ungeheuere Ausdehnung einnehmen würde. Nach Liebig bilden die Poren in einem Cubikzoll Birkenkohle mindestens einhundert Fuß Oberfläche. Einige andere Arten von Kohle sind mehr als doppelt so porös. In diesen Millionen von Poren-Kämmerchen bildet und hält sich vorzüglich Oxygen oder Sauerstoffgas condensirt in etwa 10 Volumen auf; d. h. das in Kohle gebundene Sauerstoffgas würde frei einen zehnfach größeren Umfang einnehmen, als der Kohlenkörper. Unreine, faule Flüssigkeiten nun, welche durch diese Kohle sickern, werden durch chemische Einwirkung dieses Sauerstoffs unschädlich gemacht. Also verwandeln sich z. B. kohlenstoffhaltige Bestandtheile in Kohlensäure, wasserstoffhaltige in Wasser. Stenhouse und Andere haben durch vielfache Versuche gefunden, daß Cadaver aller Art sich, in Kohle gehüllt, zersetzen, ohne je schädliche Gase nach außen zu lassen, da diese alle durch die Kohle [446] chemisch so geändert werden, daß sie entweder als unschädliche, geruchlose entweichen, oder gebunden werden.

Die Bühring’schen Experimente[11] vor dem Comité des Parlaments fielen so befriedigend und überraschend aus, daß es beschloß, sich sofort der Sache anzunehmen. Was in Folge davon geschehen wird, wissen wir noch nicht. Allerdings sind mächtige Schwierigkeiten zu überwinden, da in England die wichtigsten Unternehmungen nicht von Talent und Tüchtigkeit, nicht von den besten Ergebnissen bei Concurrenz, sondern von Connexionen, Referenzen, Relationen, Muhmen, Vettern und Onkels „bei der Spritze“ abhängen.

Da nun ein späteres Experiment Bühring’s vor Bevollmächtigten des Gesundheitsamtes, des „Board of Works“ mit dem mächtigen Sir Benjamin Hall an der Spitze, durch Versehen von Arbeitern unglücklich ausfiel, haben die Feinde auch Waffen in den Händen. Es wurde nämlich bei diesem Experimente eine mächtige Messing-Pumpe angewandt, durch welche das dickste, schmutzigste Lehmwasser mit ungeheuerer Gewalt durch die Filtrirbälle hindurchgerissen ward, so daß es nicht Zeit hatte, zu filtriren, und noch unklar herauskam. Einen darauf folgenden, vollständig glücklichen Versuch mit dem dicksten Themsewasser warteten diese Beamten gar nicht ab.

Doch die Herren des Parlaments sahen zu ihrer größten Befriedigung zum ersten Male den Proceß, wodurch die zum Entsetzen und Fluche gewordene Themse auf die gründlichste, wohlfeilste und profitabelste Weise gereinigt und rein gehalten werden kann. Es war zwar blos ein Deutscher, der’s ihnen zeigte, aber er zeigte es ihnen doch auch.





Pariser Bilder und Geschichten.
Eine Arbeiter-Hochzeit.


Samstag ist der gewöhnliche Tag der Hochzeiten in Paris. Die zwölf Mairien oder Bürgermeistereien, vertheilt in die verschiedenen Quartiere der Stadt, reiche und arme, belebte und fast geräuschlose, werden das Theater der buntesten, festlichen Scenen. Während in den aristokratischen und handelsreichen Vierteln lange Reihen Wagen die eleganten Brautleute, Eltern und Zeugen abladen, drängen einander kleine, aber lebhaft wechselnde Gruppen einfach gekleideter Leute um die Thore, auf den Stiegen und in den Corridors der Mairien der Arbeiterbezirke.

An diesem Tage sehen Sie keine Blouse vor dem ernsten Gebäude, auf dem über der klingenden Uhr die dreifarbige Fahne flattert. Selbst der bescheidene Eckensteher, welcher das Recht erhielt, die Wagenthüren zu öffnen und den Tritt herabzuschlagen, den Arm der jungen Braut und der alten Mutter zum Heraussteigen zu bieten, auch er hat seine stattliche Toilette gemacht, den abgetragenen aber gebürsteten Frack, den hohen Cylinderhut oder die beste Mütze, baumwollene weiße Handschuhe und eine Art von weißer Halsbinde hervorgesucht und sein freundlichstes Lächeln über sein gebräuntes Gesicht gebreitet.

Der Bräutigam, auch wenn er bescheiden zu Fuß einherschreitet, glänzt auf fünfzig Schritte mit seinem kunstreich gearbeiteten Vorhemdchen zwischen dem saubern schwarzen Rocke oder Fracke und hat seine derbe Hand, mit der er vor dem ersten Bürgermeister und der ganzen Versammlung die Feder führen soll, in neue Handschuhe gezwungen, die zu zerspringen anfangen. Die Braut, schüchtern wie ein Landmädchen, die musternden Blicke aller Neugierigen des Stadttheiles aushaltend, in ihren neuen, noch knisternden Schuhen, dem leichten wohlfeilen weißen Kleide und dem künstlichen weißen Blumenkranze im Haar, vielleicht ihre einzigen, leicht vergoldeten Geschmeide an Hals und Handgelenk; und die wenigen Zeugen folgen in ceremoniöser Haltung dem jungen Manne, der heute Alles ordnen und tragen muß – das ganze Gebäude seiner ersehnten Hochzeitsfeier, die ihm so manchen Gang in Kanzleien und Sacristeien und die wenigen ersparten Zwanzigfrankenstücke kostet.

Ich hatte versprochen, Zeuge zu sein, und kam in Eile über den Platz vor der Mairie gelaufen; von Weitem erkannte ich den Vater der Braut, einen geschickten, alten Tischler, an seinem hohen schwarzen Hute neben der Bärenmütze eines Gensd’armen über die Menge hervorragen. Der Gensd’arm war der Vater des Bräutigams und aus den Pyrenäen gekommen, um durch seine stattliche Gestalt und Uniform der Feier Glanz zu verleihen; ich selbst kenne den Geschmack des Volkes und war in Ueberrock und dunklen Handschuhen, aber mit zwei buschigen Blumensträußen für Braut und Ehrenfräulein erschienen.

Der Pariser Arbeiter führt nicht ganz das lustige Leben, das unsere und französische Feuilletons ihm reichlicher schenken, als der Himmel; er fürchtet im Gegentheil viele Götter, den Hausherrn und den Bäcker, seine Cameraden und die Krankheit, kurz Alles was ihn um die Arbeit bringen kann und ihn im Elend unbarmherzig behandelt. Einen Doctor zum Freunde zu haben, ist daher ein beneidetes Glück unter diesem Theile der Pariser. Man hatte mich am Thore erwartet und grüßte mich herzlich.

„Wir haben Nummer 39,“ tröstete mich der alte Gensd’arm, „und kommen erst in einer Stunde an die Reihe.“ Aber der Brautführer (le garçon d’honneur), ein Lithograph meiner Bekanntschaft, der größte Weltmann unserer kleinen Gesellschaft, vielgeübt in zierlichen Worten und anmuthigen Manieren, ordnete schnell seinen Zug, nahm die beiden jungen Frauen unter die Arme und schritt voran in der Stellung, wie auf seinen Lithographien der Kaiser Napoleon erlauchte Gäste die Haupttreppe der Tuilerien hinaufführt. Ich übernahm die alte Mutter und die Arbeitgeberin der Braut, eine lustige, geschwätzige Pariser Kinderschuhfabrikantin; die alten Väter escortirten den Bräutigam, die übrigen Männer folgten.

Im großen Saale des ersten Stockwerkes konnten Sie unsere Pariser Gleichheit beobachten. Mit einem einzigen Blicke hätten Sie die zwanzig Hochzeiten unterschieden, welche eben versammelt waren. Während der Maire, mit der dreifarbigen Schärpe um den Frack und mit dem bürgerlichen Gesetzbuche in der Hand, eben zwei Personen der reicheren Bürgerschaft zu lebenslangem Leid und Freud’ vereinigte und die Gäste dieses Paares in allem Edelgestein, Gold und Seidenzeug prangten, bereiteten sich zwei arme Seelen, beide längst über der Jugend Uebermuth hinaus, mit sorgengefalteten und gelblich verwelkten Gesichtern, in schüchterner Haltung und dürftiger Kleidung vor, um zunächst vor den Maire zu treten; ein einziger Zeuge, alt, gebrechlich und arm, wie sein Ehepaar, stellte sich so gerade als möglich hinter diese und schien verlegen in der Richtung der Thür den zweiten Zeugen zu erwarten, der zu zögern schien; vielleicht saß dieser Unglückliche daheim, vergeblich auf das einzige Sonntagshemd wartend, das die trügerische Wäscherin auf neun Uhr früh versprochen hatte. Alle Gruppen hatten sich streng gesondert; die unsrige, Dank dem erfahrenen Anordner, unserem Lithographen, machte einen sichtbaren Effect in ihrer stolzen Einfachheit; dieser hatte die drei schönen Frauen unserer Gesellschaft klüglich gruppirt und vorangestellt, die sechs martialischen Männer auf den zweiten Plan vereinigt und die alte Mutter sammt zwei „unlithographischen Figuren“, wie er mir zuflüsterte, zwei Arbeitscameraden des Bräutigams, hinter den Ofen geschoben, vor dem wir Posto gefaßt hatten.

Da trat die reiche Bürgerschaft zurück und der Amtsschreiber rief zwei Namen auf, welche deutsch klangen; die armen drei Leute thaten einige Schritte vorwärts, „ohne alle Haltung,“ versicherte unser Gensd’arm, „häßliche Gesichter,“ sagte die Fabrikantin mit einer gewissen Miene, „um den raffinirtesten Zeichner zur Verzweiflung zu bringen,“ rief der Lithograph kopfschüttelnd aus.

Eine leise Unterredung zwischen dem Amtsschreiber und dem invaliden Zeugen fand inzwischen statt; das ärmliche Ehepaar stand gesenkten Hauptes, lautlos seine Verdammung erwartend. Auf ein Wort, das der Schreiber dem Maire in’s Ohr flüsterte, rief dieser laut und mit abwehrender Hand: „bis nächsten Samstag; und bringen Sie zwei Zeugen mit.“

[447] Der Schreiber bereitete sich vor, einen neuen Namen aufzurufen; der einzelne Zeuge, erschöpft von den Anstrengungen seiner diplomatischen Verhandlung und vielleicht auch am Ende seines bürgerlichen Muthes, suchte die Bank und rief:

„Mein Gott! ich bin 120 Stunden weit hergekommen und muß wieder nach Hause.“

„Na, so warte Se bisch zu Ende; der Herre Borgermeister wörd sich scho erweiche lasse,“ rief der Amtsschreiber, „der Andere kimmt vielleicht noch!“

Es waren also Lothringer; auch der Schreiber.

Ich schritt rasch vor und bat den Maire, mich als Zeuge anzunehmen; ein bejahendes Kopfnicken des Maire, der wieder nach seinem Gesetzbuche griff – dann schoben der Schreiber und ich die drei furchtsamen Leute vorwärts, in drei Minuten war Alles vorüber; die Namensunterschrift hatte zwei Minuten gebraucht; der Mann war Schuhflickergesell, 48 Jahre alt, die Frau Köchin in einer kleinen Garküche, 47 Jahre alt; diese Beiden hatten den Rest der Geistesfassung verloren und wankten stumm der Thüre zu; der Zeuge, aus F. an der preußischen Grenze gebürtig, drückte mir die Hand und bat mich, wenn ich einmal nach F. käme, …

Aber ein neuer Namens-Aufruf erscholl; lebhafte junge Arbeiter aus der sogenannten Künstlerwelt, umschwärmt von muthwilligen Freunden, Zimmermalern, Tapetenzeichnern, Möbeltischlern, eilten vor den Maire und ich trat zu meinen Leuten, wo ich von dem Lithographen mit seiner schärfsten Kritik empfangen wurde:

„Das heißt doch Effect verlieren, wenn man ihn Anderen leiht.“

„Es ist doch ein fürchterliches Gesindel in diesen, Paris,“ brummte der Gensd’arm.

„Sie haben Ihre Adresse angeben müssen,“ warnte die Fabrikantin, „man wird Sie schon zu Neujahr zu finden wissen.“

Die Reihe war spät an uns gekommen und die Gäste bekannten einen heißen Hunger, als wir auf der Straße standen. Der Lithograph wollte ein ganz kleines Gabelfrühstück auf dem Wege zur Kirche organisiren, „das nehme sich ganz gut aus;“ der Gensd’arm versicherte, daß das in der Ordnung sei – aber die Frauen fürchteten, mit zerdrückten Kleidern in die Kirche zu kommen, und wir entschlossen uns, den ersten Befehlen der Pantoffelherrschaft zu gehorchen.

In einer kleinen Pfarrkirche der Vorstadt St. Antoine, in einem der verwickeltesten Straßengewirre, wo die Braut geboren war, wurde die Einsegnung vollzogen. Als wir in die Sacristei traten, fanden wir unsere armen Lothringer eben im Begriff, ihre Namen in das Kirchenregister einzutragen; sie hatten ihren zweiten Zeugen aufgetrieben und mitgebracht und blickten muthiger drein. Als der alte Bräutigam herzhaft und auf gut lothringisch den Pfarrer fragte, was er schuldig sei, versetzte dieser mürrisch und im andern deutschen Dialekte der Franzosen, im elsässischen:

„Dreißig Sous für Euch, Andere müschten dri Franke zohle.“

Während unsere eigenen Brautleute sich dem Schreibtische näherten, flüsterte der Gensd’arm, vor Hunger um seine Besonnenheit gebracht:

„Wir werden gar nicht fragen, gar nichts zahlen und ganz im Rechte sein.“

Ein junger Mann eilte durch die offene Thür herein, machte den fortgehenden vier Lothringern ein vertrauliches Zeichen, zu warten und ergriff, freundlich und herzlich mich grüßend, meine Hand.

„Ich erfahre eben,“ sagte er, „daß Ihre Gesellschaft und die meinige in demselben Restaurant an der Stadt-Barriere das Hochzeitessen halten werden; Sie haben schon Ihr Scherflein diesen armen Leuten gebracht,“ fuhr er fort, nach den Lothringern blickend, die verlegen an der Thüre standen, „wir wollen das Unsrige thun und wir bitten Sie nur, uns das Vergnügen zu machen, in unseren Saal zu kommen und mit diesen armen Leuten anzustoßen; wir werden sie in eine Ecke des Saales setzen und tractiren; wir haben uns geschämt, daß unter uns dreißig jungen Leuten kein Einziger das Herz gehabt hat, sich als Zeuge anzubieten.“

Ich drückte ihm die Hand und bat ihn, mir kein Verdienst daraus zu machen, daß ich zufällig etwas Lothringisch verstehe.

„Ah, das war Lothringisch?“ rief der Franzose, „wir glaubten Alle, das sei Preußisch. Aber das thut nichts; versprechen Sie, zu kommen?“

„Ja, gewiß; aber die arme Person ist Köchin und kann vielleicht nicht von ihrer Arbeit abkommen.“

„Haben Sie keine Sorgen, wir werden Alles schlichten; wir sind lauter Künstler und werden wohl einem Bourgeois und seiner Frau das Herz umzudrehen verstehen; ich bin Fortepianobauer, Arbeiter, und hier ist meine Karte.“ –

Er ließ mich stehen und zog schnell seine Gäste nach sich hinaus, so daß die verdutzten Leute fast über die Sacristeithüre in die Kirche gestürzt wären, wo noch mehrere junge Männer von der Hochzeit standen, die ich in der Mairie gesehen hatte.

Der Gensd’arm rollte mittlerweile seine großen, schwarzen Augen Allen zu und schien in der Geldbörse, die er in der Hand hielt, die Taxen oder das Geschenk für den Pfarrer bereit zu halten. Wir begriffen und näherten uns der Thür.

„Herr Pfarrer,“ begann der Gensd’arm in voller Haltung, „ich weiß, daß wir Ihnen nur höflich zu danken haben, und das thue ich denn auch, wie es sich gehört.“

Er verneigte sich und ich erblickte keine Börse mehr in seiner Hand. Der Pfarrer erstaunte, aber ein flüchtiges Lächeln um seinen gutmüthigen Mund beruhigte mich über die Folgen für den sprudelköpfigen alten Soldaten.

„Herr Brigadier,“ versetzte der Geistliche, den Rang des Gensd’armen nennend, „ich habe diese dreißig Sous von den armen Leuten nicht für mich verlangt; ich habe nur arme Pfarrkinder und die müssen mir helfen, die elendesten zu unterstützen – wollen Sie mir wohl fünf Franken im Namen der Gesellschaft in meine Armencasse beisteuern?“

„Herr Pfarrer,“ bat ich, „wir werden zusammenlegen und Sie dann zusammen bitten, unserem alten Herrn zu verzeihen; er hat heftigen Hunger und der Hunger ist ein schlechter Rathgeber.“

„Mein Gott, mein Gott, Herr Pfarrer, nom de Dieu – ah, jetzt fange ich noch an zu fluchen – also ich schweige und bitte Sie nur um Ihre Hand.“

Die beiden Herren machten Frieden, und wir legten zehn Franken zusammen, wovon der Pfarrer nur fünf annahm.

„Es ist Ihnen doch nicht der Hunger vergangen?“ frug ich boshaft meinen alten Brigadier, als wir auf der Straße standen.

„Im Gegentheil,“ sagte er ehrlich, „so oft ich Etwas bewundere, so gibt mir diese Rührung nur noch mehr Appetit; Bewunderung, Freude, Mitleid, ein guter Schlaf, selbst Zorn, kurz jede moralische Regung menschlicher Gefühle ... aber sehen wir, daß wir zum Essen kommen. Meine Damen, Ihre Kleider gehören jetzt der Gesellschaft und nicht mehr aller Welt – also marsch! Herr Lithograph, organisiren Sie.“

Wir saßen schon eine volle Stunde in einem Gartenhäuschen des Gastwirths „Zum fröhlichen Invaliden“ an der Barriere de Grenelle und ich hatte dem jungen Bräutigam meinen muthmaßlichen Antheil an der Zeche eingehändigt; denn solche Arbeiterhochzeiten werden auf gemeinschaftliche Kosten gefeiert. Wir hatten den Brunnen der gewöhnlichen Galanterien längst erschöpft, und Jeder von uns zeigte schon den wahren Grund seiner heitern Laune; der Gensd’arm namentlich begann, die jungen Damen zu necken, und ich hatte ohne große Mühe meine linke Nachbarin, die nun natürlich gewordene Fabrikantin, dahin gebracht, uns Lieder aus der Bretagne zu singen, als die Thüre aufsprang, und meine neuen Freunde, die Künstler, hereinbrachen, sich dann lebhaft entschuldigten und uns baten, mit ihnen auf einen Augenblick in ihren Speisesaal zu kommen, wo das herzlichste Einvernehmen zwischen Lothringen und Frankreich hergestellt sei.

Als wir eintraten, spielte ein junger Mann auf der Clarinette einen langsamen Walzer; alle Gäste bildeten den Kreis und in der Mitte des Saales, wo man die Tische weggeräumt hatte, tanzten die vier Lothringer mit Ernst und Kunst einen Ländler, wie man in Schwaben ihn noch sieht.

Ich sah wohl, daß die drei Männer ziemlich getrunken hatten, und daß die Gutmüthigkeit dieser Herren Künstler boshafter oder muthwilliger Weise sich einen Spaß nicht versage. Nach dem Tanze war es auch nicht schwer, mit Hülfe der nüchtern gebliebenen alten Köchin, der Braut nämlich, die Ehre des Tages zu retten. Wir luden sie ein, auch uns die Ehre ihres Besuches zu schenken, und von da konnte die Köchin ihren schwachköpfigen neuen Gemahl nach Hause schaffen. Der Vetter, welcher 120 Stunden Wegs nach Hause hatte, schlief in einem Winkel unseres Saales ein; nur der vierte Lothringer, der unglückliche Zeuge von heute früh, hielt mit uns aus, bis wir uns trennten.

[448] Er hatte einem der Herren Künstler im andern Saale gestanden, daß er in der That am Morgen vollständig verhindert gewesen sei, auf die Mairie zu kommen. Sein einziges Paar Schuhe, sagte er, habe der Schuhflicker, sein Landsmann, der Bräutigam nämlich, versprochen, früh zeitig ausgebessert zu bringen. Der Mensch, fuhr der Zeuge fort, ohne ein zweideutiges Lächeln hinter seinem breiten Gesichte ganz verbergen zu können, der arme Mensch aber habe wahrscheinlich in seiner verliebten Sehnsucht auch sein Pech vergessen, und als sie ihn nach der Mairie aufgesucht hätten, um ihn auszuzanken, habe sich der verliebte Bräutigam an die Schuhe erinnert, und eine halbe Stunde lang arbeiten müssen, um ihn in die Kirche mitnehmen zu können.

Dr. B–r.





Ein Austernfang bei Helgoland.
Von C. Reinhardt.

Es gibt kein deutsches Land- oder Seebad, wo sich die Badegäste so aneinander schließen und zusammenhalten, als in Helgoland. Der Grund davon liegt darin, daß die Fremden, auf einen kleinen Raum gebannt, nur wenige Vergnügungen finden und am Ende, von langer Weile geplagt, bei Anderen das Talent, die Zeit todtzuschlagen, vermuthen und suchen, was ihnen selbst nur mit großer Anstrengung und sehr langsam gelingt.

Eine solche Gesellschaft von Zeitmördern war es, in die ich an einem schönen Augustmorgen von der Spitze eines Dünenhügels mit sammt dem Grasbüschel, worauf ich gesessen, hineinfiel, weil sich Jemand den Spaß gemacht, meinen Sitz zu untergraben.

Eine Austernharke.

„Wenn Sie so mit der Thüre in’s Haus fallen,“ sagte Einer, „so kann der Grund Ihrer Eile nur darin liegen, daß Sie uns so schnell als möglich sagen wollen, was wir heute anfangen sollen.“

„Haben Sie schon einmal Austern gegessen?“ fragte ich, mich im Kreise umsehend.

„Wenn das ein neuer Zeitvertreib sein soll,“ antwortete verächtlich eine auf dem Bauche liegende Rothnase, „so können Sie uns eben so gut fragen, ob wir das ABC kennen!“

„Gut, also Sie haben gegessen. Aber haben Sie schon einmal Austern gefangen?“

Das hatte noch Keiner. Ein Doctor erinnerte sich zwar an zwei Weißfischchen, die er vor zwanzig Jahren einmal aus dem Wasser gezogen – aber an Austernfangen hatte er noch nie gedacht, so viel er sonst hinabgeschluckt. Er war der Meinung, daß dieselben von selbst an’s Land kämen, wie die Seehunde, und dann von den Fischern gepackt und verpackt würden, um Gott weiß wie weit von ihrer Heimath bei einem Frühstück mitzuwirken.

Mein Vorschlag, einen Kreuzzug nach der Helgoländer Austernbank zu unternehmen, um den Geburtsort unserer kleinen Freunde kennen zu lernen, fand allgemeinen Beifall, und nachdem ich noch bemerkt, daß zu den vermuthlich zu fangenden und zu verspeisenden Austern auch Wein, Citronen, Semmeln und Pfeffer gehöre, welchen letzteren ich zu liefern versprach, wogegen ich die Anderen ersuchte, das Uebrige zu besorgen, stiegen wir zum Strande herab und ließen uns nach der Insel übersetzen.

Da die Austernfischerei eigentlich erst im September beginnt, so wird im Sommer nur wenig – theils zur Cur, theils zum Vergnügen für Badegäste – gefischt, und wir mußten uns zu diesem Zwecke eine Slup miethen, welche uns, nachdem alles Betreffende abgemacht war, am Landungsstege erwartete.

Ein herrlicher, leichter Wind bog nur hier und da einer Welle den Kopf um, so daß er in weißen Schaum zerfloß, und das Fahrzeug schoß ziemlich gleichmäßig und ohne große Schwankungen auf die Südspitze der Düne zu, beschrieb dort einen Bogen um die Brandungen und lief, Düne und Insel im Rücken, in die See hinaus.

Die Insel blieb weiter und weiter zurück, die Düne sah aus, als wolle sie in’s Meer versinken, und wir segelten immer noch darauf los. Einige unserer Gesellschaft machten trotz des ziemlich ruhigen Ganges der Slup bedenkliche Gesichter, während Andere mit Späherblicken rundum suchten, um „die Bank“ zu entdecken, was bei dem Manne am Steuer ein freundliches Schmunzeln hervorrief. – Als wir ungefähr eine Stunde in dieser Weise gesegelt waren, wobei der Mann am Steuer nach dem Kompaß und ein anderer fortwährend nach der Insel geschaut, sprach der rückwärts Schauende einige helgoländische Worte, worauf der Steuermann das Fahrzeug sofort nordwärts drehte und, nach der Insel blickend, uns erklärte, daß wir jetzt auf der „Bank“ seien und die Austernfischerei angehen werde.

Da mir bekannt war, daß die Seeleute nach Landmarken eine Stelle in der See finden, so sah ich mir die Stellung der Gegenstände auf Düne und Insel genau an und bemerkte, daß der Kirchthurm der Insel gerade über der Nordbake der Düne stand, während der Dünenstrand selbst vom Wasser verdeckt war und nur die Hügel hervorschauten, auf welche Weise die Schiffer Lage und Entfernung der Austernbank sehr gut finden. Diese Leute haben indes; eine solche Gewandtheit, sich auf der See zu orientiren, daß ich glaube, sie würden die Stelle auch in finsterer Nacht treffen.

Unsere Schiffer brachten nun ihre Fangwerkzeuge in Thätigkeit. Dieselben bestehen in einem Sack von eisernen Ringen, etwa wie die eisernen Geldbeutel gearbeitet, welche früher einmal Mode waren, nur ungleich größer. Dieser Sack ist an einem breiten, scharfen Bügel befestigt, der nach hinten zu gebogen in zwei Stangen ausläuft, welche in einem Ringe endigen, durch den das Tau gebunden ist. Dieses Instrument, die „Kurre“ genannt, wird über Bord geworfen und an einem Taue hinten nachgeschleppt, indem das Schiff segelt. Das´ scharfe Eisen reißt dabei die Austern von der Bank los und diese fallen in den Sack.

Wir hatten mit den Fischern zugleich unsere Vorbereitungen getroffen; Citronen wurden zerschnitten, eine Essigflasche erhielt von einem alten Praktikus einen Papierstöpsel, der den Essig nur tropfenweise durchließ, meine Pfefferbüchse stand fertig und Freund Dabbertin aus Hamburg saß da mit aufgestreiften Hemdärmeln. ein kurzes dickes Messer in der Hand und einen Eimer mit Seewasser zwischen den Beinen, in welcher Stellung er mordgierig nach dem Taue sah, die baldige Ankunft der ersten Beute erwartend. Natürlich folgten unsere Blicke den seinen, was einige im Voraus gefüllte Weingläser benutzten, um umzufallen und ihren rothen Inhalt über unsere Beinkleider zu schütten, wofür sie indeß ohne Gnade über Bord geworfen wurden, da, wie der Doctor bemerkte, Diogenes auf der See stets aus der Flasche getrunken hätte. – Jetzt zogen die Fischer das Tau an, bis der Sack aus der See auftauchte, und hoben denselben mit einem Ruck in das Fahrzeug.

Unsere Beute bestand in einigen vierzig Stück Austern, von denen die meisten in einem großen Klumpen mauerfest beisammen saßen, so daß wir sie mit einem Hammer auseinander schlagen mußten, worauf sie dem „Austernschlachter“ übergeben wurden, der die erste feierlich und langsam öffnete, mit einem eleganten Kreisschnitt vom Bart rasirte und, nachdem er sie mit zugedrückten Augen verschluckt hatte, mit dem Worte „ausgezeichnet“ seine Meinung klar und deutlich an den Tag legte. In Folge dessen erlaubten wir uns die schüchterne [449] Bitte, nicht blos an sich zu denken, sondern auch das Dasein mehrerer Austernfreunde zu berücksichtigen. Da er uns nun nicht zumuthen konnte, ihm zuzusehen, wir aber auch nicht verlangen konnten, daß er uns die Austern öffne und zusehe, so wurde beschlossen, jedem Mann ein Ei und dem alten Schweppermann zwei, d. h. jeder von uns erhielt nach der Reihe eine Auster und der Oeffner alle Mal zwei, was sich freilich sehr in die Länge zu ziehen drohte; da jedoch noch ein Helgoländer mit „schlachten“ half und ich die meinigen mit dem Bleistiftmesser sehr leicht öffnete, so ging es schneller und das Schlucken war bald allgemein.

Auf dem Austernfang bei Helgoland.

Ein Räthsel ist es, wie die Austern eigentlich in einem solchen Klumpen zusammen leben können, worin es doch den Mittelsten total unmöglich sein muß, ihre Schalen zu öffnen und Wasser und Nahrung zu erhalten, denn einige zwanzig Austern, die wir auseinander schlugen, hatten ganz die Festigkeit und Dichte eines Mauerklumpens. Freilich erzählt man von Kröten, die in Sandsteinen lebend gefunden worden sein sollen, und was eine Kröte im eingesperrten Zustande leisten kann, wird eine Auster wohl auch zu Stande bringen. Es müssen aber auf einer solchen Bank eine große Masse dieser Thiere übereinander gemauert sein, da das Wasser auf der Bank an 80 Fuß und neben der Bank 18–20 Fuß tiefer ist, welche Stärke also das Austernlager haben soll, wie ein Helgoländer sagte[12].

[450] Die Bank selbst soll über 1000 Fuß breit und eine halbe Stunde lang sein und liegt etwa zwei Stunden von Helgoland, östlich von der Düne.

Wenn die Helgoländer für den Handel fischen, so werden die gefangenen Austern gemeinschaftlich verkauft und jeder Fischer erhält eine Art Tageslohn, der etwa 1 Thlr. 18 Sgr. beträgt, was für einen, der eine Slup besitzt und einige Sohne zur Hülle hat, einen guten Verdienst abgibt. Den helgoländer Austernreichthum entdeckte vor zehn bis zwölf Jahren ein helgoländer Fischer, der jedoch die Sache für sich behielt und im stillen fischte, bis Andere auch dahinter kamen.

Nachdem unsere Fischer ihre Kurre noch mehrere Mal in Thätigkeit gesetzt hatten, wobei das Fahrzeug stets auf der Bank hin und her segelte, drehten wir den Schiffschnabel nach der Insel, und traten unsern Heimweg an. Da wir aber den Wind entgegen hatten, so waren wir genöthigt, nach Art der Krebse zu gehen, die man Dwarsläufer nennt, eine Art Taschenkrebse, die stets von der Seite laufen. Wir mußten nämlich laviren. Die Insel, nach der wir wollten, blieb dabei rechts liegen, und unsere Schiffer segelten nach Kuxhaven zu. Als sie glaubten, die Südspitze der Düne gewonnen zu haben, sagte der Steuermann einige Worte, drehte dann plötzlich den Griff des Steuerruders ganz nach Backbord, d. h. links, und rief „ree!“ worauf einer die Fock, das vordere dreieckige Segel, an der Seite festhielt, wo es eben analog, während ein Anderer die Taue desselben in Bereitschaft hielt und uns zurief: „bücken, meine Herren!“ welche Erinnerung auch sehr zur Zeit kam, denn im nächsten Augenblick hätten uns die umschlagenden Segel die Hüte in die See gelegt. Auf diese Weise waren wir durch den Wind oder über Stag gegangen, und segelten nun gerade auf den Landungsplatz zu, den wir vor etwa vier Stunden verlassen hatten.

Die Schellfisch und Hummerfischerei wird in Helgoland mit denselben Fahrzeugen betrieben, nur daß man zum Hummerfang sich öfter kleiner Boote bedient, die nach dem dabei angewandten Instrument Plumperböt genannt werden. - Dieser Plumper ist ein starker eiserner Ring, unter dem ein Netz hängt, worin der Fraß für den Hummer liegt, der Ring wird an einer Leine auf den Meeresgrund gelassen und der Fischer, der dieselbe leicht zwischen den Fingern hält, fühlt augenblicklich, wenn etwas daran ist. Dann zieht er mit einem schnellen Ruck das Ding in die Hohe, damit der Hummer hineinfällt, und holt es nun so schnell wie möglich an Bord.

Ist Meister Hummer im Boot angelangt, so seht er sich sofort auf Schwanz und Hinterbeine, guckt den Schiffer sehr malitiös an, und greift mit seinen respectablen Scheeren rücksichtslos um sich, Wehe dann dem, was er erwischt. Ein Finger z. B. würde ihm nicht mehr Umstände machen, als uns ein Wiener Würstel. Man steckt ihm dann etwas in die Scheeren, was er grimmig festhält, während ihm der Schiffer dieselben mit Bindfaden festbindet, was auch in den großen Hummerkasten geschehen muß, die bei der Insel liegen, sonst nimmt dort die „Kneiperei“ überhand.

Eine andere Art des Hummerfanges besteht darin, daß man eine Art Vogelbauer anwendet. Diese sind von Reisen gebaut haben einen Boden von schweren Steinen und nach oben einen Eingang, um den ein Netz in der Art gespannt ist, daß der Krebs wohl leicht hinein, aber beinahe gar nicht heraus kann. Als Köder trocknet man die Köpfe von Dorsch und Schellfischen und macht sie darin fest, worauf das Instrument, mi einem kleinen Anker versehen, in die Tiefe gelassen wird. Eine Leine, an der ein Stück Holz oder eine Base befestigt ist, die oben schwimmt, zeigt den Ort an, wo der Hummerkorb liegt.

Der Fischfang wird meist mit Angel betrieben. Jedoch muß man nicht glauben, daß der Helgoländer etwa mit der Angelruthe da steht und wartet, bis einer kommt. - Die Haken sind an zwei bis drei Fuß langen Schnüren befestigt, welche in gewissen Entfernungen an eine schwache, etwa bleistiftstarke Leine gebunden werden. – Die Helgoländer Mädchen besorgen dann gewöhnlich das Anstecken des Köders, der in Sandwürmern oder kleinen Fischen besteht, worauf die Schnur sehr sorgfältig in eine hölzerne Mulde zusammengelegt wird, damit sich die Haken beim Auswerfen nicht verwickeln. Solche einzelne Schnuren werden viele an einander gebunden, auf welche Art die ganze Angel oft eine Länge von anderthalb bis zwei Stunden erreicht

Die erste Schnur wird an einen Anker befestigt, von dem eine Boje oben schwimmt, damit man, im Fall die Angel reißt oder ein Sturm die Fischer verjagt, die Geräthe wieder findet; man segelt das Fahrzeug so, daß Ebbe und Fluth quer durch die Angeln streicht; die letzte Schnur bindet man an den Anker der Slup, die dann liegen bleibt, bis der beim Fischen nie fehlende Grog oder Kaffee gekocht ist, worauf die Angeln mit einigen dabei gebräuchlichen Helgoländer Sprüchen aufgezogen werden.

E. R.





Wenn die Eier reif sind, werden sie auch befruchtet und als Laich, der eine weißliche Flüssigkeit bildet, ausgestoßen. Millionen von Eiern werden durch einen kleberigen Stoff, den das Thier in der Brunftzeit absondert, in eine kugelige Maste vereinigt, und heften sich an einem Orte fest, wo sie sich ungestört entwickeln können.

Man findet in älteren zoologischen Werken die Notiz, daß die Austern einen ruhigen Wasserstand lieben. Dies ist folgendermaßen zu verstehen. Die Austern kommen zwar in allen Meeren und an den verschiedensten Stellen vor; die größten Bänke aber sind in geringer Tiefe, ziemlich nahe an der Küste und vor allem in Buchten, welche vor starken Strömungen geschützt sind. Durch solche Strömungen wird nämlich der Laich der Austern, sowie er aus den Schalen derselben hervorgekommen ist, in's hohe Meer hinausgetrieben und bildet dann vielleicht an einem Orte, wo noch nie eine andere Auster gesessen hat, eine Bank. Wo aber ein ruhiger Wasserstand ist, bleibt aller Laich an den eigenen Austernbänken festkleben, so daß ein beständiges Nachwachsen dieser Bänke stattfindet. So erklärt es sich, warum z. B. die Austernbänke von Rocher de Cancale, am Ufer des Canals, zwischen St. Malo, Mont St. Michel und Cancale, trotz des enormen Verbrauchs, der hier seit 150 Jahren stattfindet, sich gar nicht vermindern. In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts brachen die Engländer in der Absicht, künstliche Bänke an ihrer eigenen Küste anzulegen, so bedeutende Massen von Austern in der Bucht von Cancale, daß man sich ernstlichen Befürchtungen für diese Bänke hingab; der Verlust war jedoch in wenigen Jahren ersetzt, Über den genaueren Vorgang des Anwachsens der Austern und über die Lebensdauer der einzelnen Tiere weiß man sehr wenig. Die Fischer von St Malo glauben, daß die Austern durchschnittlich zehn Jahre leben. Altersschwache Austern erkennt man daran, daß die Schalen im Verhältniß zum Thiere sehr groß sind. Werden die Austern nicht gebrochen, so gehen sie auf eine eigenthümliche Weise zu Grunde. Indem beständig neuer Nachwuchs stattfindet, ersticken die Jungen die Alten, indem sie das Wasser von ihnen abhalten und sie verhindern, ihre Schalen zu öffnen. Daß wir Austern brechen, ist also, gewissermaßen ein Act der Humanität.

„Einige Arten von Austern leben in halb süßem, halb salzigem Wasser, in Flüssen nahe an deren Mündung in's Meer. aber immer nur so hoch, wie das Meerwasser mit der Fluth hinauf steigt, Bei der Ebbe bleiben die Thiere dann auf dem Trockenen sitzen. So wie sie fühlen, daß das Wasser sich zurückzieht, schießen sie ihre Schalen sehr fest und halten eine ziemlich beträchtliche Menge Flüssigkeit im Innern der Körperhöhle zurück. Dies befähigt sie, längere Zeit außer Wasser zu leben, so daß sie ziemlich weit transportiert werden können, ohne zu sterben - ein Umstand, der den Austernhandel sehr erleichtert.

„Die Austern haben keine Spur von einem Fuß, Ortsveränderungen ist ihnen nicht gestattet und ihre willkürlichen Bewegungen beschränken sich ausschließlich auf Oeffnen und Schließen der Schalen Für gewöhnlich klaffen die Schalen, um dem Wasser und mit ihm den Nahrungsstoffen freien Zutritt zu gestatten. Die Nahrung der Austern wie aller Muscheln besteht ausschließlich aus Infusorien und kleinen organischen Theilchen, welche in halbaufgelösten Zustande in erstaunlicher Menge im Meerwasser suspendirt sind. Nicht selten findet man beim Oeffnen der Schalen Krebse, Schnecken und andere kleine Thiere zwischen den Schalen angeklemmt. Dies ist rein zufällig; es kommen nämlich hin und wieder solche Thiere in den Bereich der Auster, rühren vielleicht an die Fühler und veranlassen dadurch sofortiges Schließen der Schalen; aber nie werden sie von den Austern gefressen. Wiewohl ihre Mundöffnung groß ist, erlauben doch die weichen Ränder und Fühler des Mundes nicht, daß nur etwas consistente Nahrungsstoffe durchpassieren. In der That stoßen auch die Zähne der Gourmands niemals auf harte Stoffe im Leibe der Auster, wenn es nicht etwa eine unechte Perle ist, die sich zufällig im Mantel der Auster gebildet, und woran sich allerdings schon mancher die Zähne ausgebissen hat. Um solchen Unannehmlichkeiten vorzubeugen, ist es daher besser, die Auster auf einmal zu verschlucken,

als sie zu kauen. Die Austern kommen nicht unmittelbar aus dem Meere

[451] auf unsern Frühstückstisch. Zwischen ihrem natürlichen Zustand und dem Verspeistwerden liegt ein Intermezzo ihrer Existenz welches sie in den sogenannten Austernparks zubringen. Austern nämlich, die unmittelbar frisch von der Bank kommen, riechen gewöhnlich nach Schlamm, sind hart, zähe und haben einen unangenehmen Geschmack, den man verbessern muß, und auch schon in den ältesten Zeiten verbessert hat. Die Austern von Venedig, von den Dardanellen, von der britannischen Küste, welche von den Römern besonders geschätzt wurden, mästete man erst eine Zeit lang im Lucriner See, bevor sie auf den Tafeln der Gourmands erschienen.

„In unserer Zeit beginnt die Austernernte, wenn man so sagen darf, Ende September, und hört im April auf in den Monaten, welche kein r enthalten, bricht man nirgendwo Austern, weit es ihre Laichzeit ist. Zum Brechen dient ein großes Schleppnetz, eine Art eiserner Harke, hinter der ein kupferner Behälter angebracht ist; dieser Apparat wird von einem Schiffe gezogen, das mit vollen Segeln fährt; das Netz rasirt die Oberfläche der Bank, und jeder Bruch bringt 1000 - 1200 Austern ein. Sowie sie gebrochen sind, werden die Austern in die Parks gebracht - große in Felsen oder Erde ausgehöhlte Reservoirs, worin man nach Belieben Meerwasser ansammeln und abfließen lasten kann. Diese Parks sind gewöhnlich, viereckig und ziemlich seicht; mit dem Meere stehen sie durch einen langen Canal in Verbindung, welche nach Belieben mittels einer Schleuße aufgehoben und wiederhergestellt werden kann, Während der Ebbe unterbricht man die Verbindung, mit dem Beginn der Fluth stellt man sie wieder her, um das Wasser zu erneuern. Sehr schädlich ist den Austern der Niederschlag von Schlamm; um dies zu verhüten, sind die Wände der Höhlung mit Kiesel oder Sand ausgekleidet; auch hält man deswegen in den Parks ein bestimmte Mischung von süßem und salzigem Wasser, welche erfahrungsmäßig dem Niederschlage von Schlamm entgegenwirkt. Auch spült man von Zeit zu Zeit die Wände des Parks ab, und gießt frisches Wasser auf die Austern, nachdem man sie vorher, einen Augenblick auf das Trockene gesetzt hat. Lebhafte Bewegung des Wassers vermeidet man soviel als möglich, indem dabei leicht Sandkörner in die Schalen kommen. Je zweckmäßiger die Austern in den Parks ausgelegt werden, je vorsichtiger man sie bewegt, je ängstlicher man den Niederschlag von Schlamm zu verhindern sucht, desto besser und preiswürdiger werden die Austern sein, welche man erzielt. Es schadet der Qualität der Thiere, wenn durch Regengüsse oder Ueberschwemmungen die Menge des süßen Wassers in den Parks zu beträchtlich wird. Auch scheuen die Austern sehr die Kälte, weswegen man sie in einer gewissen Entfernung vom Wasserspiegel halten muß. Dies hat auf der andern Seite wieder den Nachteil, daß man sie dann nicht so leicht inspiciren kann; und schnelles Aussondern der etwa gestorbenen Thiere ist von fundamentaler Wichtigkeit, da eine todte Auster, wenn sie nicht schleunig entfernt wird, einen ganzen Park verderben kann. Die Diagnose des Todes ist leicht zu stellen; wir wissen schon, daß die Schalen todter Thiere klaffen, wenn das Wasser abgeflossen ist. Durch die verschiedene Art und Weise des Wasserwechsels ist man ferner im Stande, die Beschaffenheit der Austern bedeutend zu modificiren, in Etretat, einem kleinem französischem Badeorte in der Nähe von Havre-de-Grace, der sehr reich an Austernparks ist, wechselt man das Wasser mit jeder Fluth – die Thiere werden dadurch hell, glänzend, dick, zugleich aber etwas hart und zähe, in Dieppe erneuert man das Wasser nur alle zwei Monate einmal, wodurch allerdings die Austern sehr zart werden, aber nicht ganz so frisch bleiben, wie in Etretat. Man sieht, daß ein taktvoller Gouverneur eines Austernparks sehr viel aus den seiner Obhut anvertrauten Thieren machen kann.

„Sind die Austern in den Parks für den Handel reif geworden, so verlangt ihr Transport in's Innere des Landes noch manche Vorsichtsmaßregeln. Sie müssen in horizontaler Stellung liegen, mit der gewölbten Schale nach unten, damit sie so wenig als möglich von dem in ihnen befindlichen Wasser verlieren, welches ihre Kiemen bespült; auch bedeckt man sie mit nassem Seegras, um die austrocknende Wirkung der Luft zu verhüten, je schneller der Transport geschieht, desto bester, besonders bei warmem Wetter. Ein Versuch, den man neuerlich machte, die Austern in Schiffen voll von Meerwasser die Flüsse hinauffahren zu lassen, schlug gänzlich fehl, indem das wegen der darin enthaltenen, aufgelösten organischen Theilchen sehr zur Zersetzung geneigte Seewasser in Fäulniß überging. Das betreffende Austernschiff kam in Paris mit einer großen Menge todter Thiere an, welche sich schon von Weitem durch ihren Geruch so unvortheilhaft ankündigten, daß die Polizei sich veranlasst sah, die ganze Ladung zu versenken.“




Blätter und Blüthen



Gebehrden-, Finger-, Fuß- und Knötchen- Sprache. Sprache ist die Fähigkeit eines Wesens, mittelst sinnlich vernehmbarer Zeichen seine Vorstellungen Begriffe und Empfindungen Andern mitzutheilen, Dies geschieht theils durch die dem Auge sichtbare Schrift (hierher gehört auch die Stenographie. Hieroglyphen- und Bilderschrift) theils durch die dem Ohre verständliche Lautsprache. Außer den genannten Mittheilungsmitteln und der überall bekannten Blumensprache gibt es noch einige, die, obgleich zum Theil allgemein gebraucht, dennoch weniger bekannt sein dürften. Hierzu gehören besonders die Pantomimik, die Daktylologie und die Podologie.

Die Pantomimik oder Gebehrdensprache ist das Vermögen, seine Vorstellungen und Empfindungen durch Mienen und Gebehrden, d. h. durch verschiedene Veränderungen und Bewegungen des Körpers und dessen einzelner Theile, insbesondere der Hände, auszudrücken. Alle Menschen gebrauchen beim Sprechen instinctmäßig die Pantomime. Wir sind uns oft unserer Gebehrden und Mienen gar nicht bewußt, ja, es steht oft nicht einmal in des Menschen Macht, sich dieser Begleiterinnen seiner Gespräche und Verrätherinnen seiner Empfindungen und Gesinnungen zu entledigen oder sie auch nur im Zaume zu halten, zu mäßigen oder nach Willkür abzuändern. Die natürlichen Gebehrden begleiten und beleben jede articulierte Sprache, sie sind überall gleich und werden überall verstanden. Wer erkennt nicht die Mienen der Fröhlichen und des Traurigen, des Mitleidigen und des Schadenfrohen, des Liebenden, des Hassenden, des Zornigen, des Neidischen, des Verlegenen? Wer liest nicht in den Mienen die Wirkungen des angenehmen und widrigen Geruches, des süßen, sauren, bittern Geschmackes, den Ekel, das Wohl und Mißbehagen? Wer erkennt nicht an der Bewegung der Hände und der übrigen Körpertheile, an der Stellung des Körpers, an der Haltung des Kopfes, die Beschäftigung des Arbeiters, auch wenn er weder den Stoff, der bearbeitet, noch das Werkzeug, womit er arbeitet, sieht? Wer erkennt nicht an der Stellung und den körperlichen Bewegungen den Schneider, den Schuster, den Schmied, den Weber, den Drescher, den Schreiber? Die natürliche Gebehrdensprache ist demnach die eigentliche Weltsprache, die Sprache des Menschengeschlechts. Mit Hülfe der Pantomimik kann sich demnach der gebildete Europäer dem wildesten Hottentotten verständlich machen. Welches Mittel hatten die Entdecker fremder Länder, um sich den Eingebornen verständlich zu machen? Wodurch machen sich noch heute Handwerksgesellen, wenn sie in Länder kommen, deren Sprache ihnen unbekannt ist, verständlich? nur durch die Pantomime. Man irrt sich, wenn man glaubt, daß durch die natürliche Gebehrdensprache nur sinnlich wahrnehmbare körperliche Formen, physische Handlungen und heftige Gemüthsbewegungen sich darstellen lass. Sie ist im Gegentheile so reich, daß dadurch auch alle Modificationen und Formen des Denkens und selbst die feinsten Uebergänge bei der Verbindung der Begriffe und Urtheile, wobei man z. B. in der Wortsprache die Umstandswörter: ungemein, beinahe, unglaublich u. s. w., wie auch die Bindewörter: aber, entweder - oder, sonst, nur, folglich u. s. w. gebraucht, ausgedrückt werden können.

Um sich hiervon zu überzeugen, gehe man in ein Taubstummeninstitut und sehe, wie sich die Taubstummen, vermöge der allerdings vollständig ausgebildeten Gebehrdensprache, über alles Mögliche besprechen und unterhalten. Es ist schade, daß die ausgebildete Pantomimik außerhalb dieser Anstalten so wenig bekannt ist. In vielen Verhältnissen müßte ihre Anwendung sehr angenehm und interessant sein. Wie hübsch wäre es z. B. für ein Liebespaar, wenn er sich unbeschadet der es umgebenden Gesellschaft mit Hülfe der Pantomime die zärtlichsten Dinge sagen könnte, Man befindet sich mit dem Freunde in langweiliger, steifer Gesellschaft - wie angenehm, wenn man sich mit ihm, dem in der Gebehrdensprache Eingeweihten, ohne irgendeine Störung zu verursachen, gemüthlich unterhalten könnte. Es gibt eine Masse Blumensprachen, in meiner Vaterstadt gab es sogar eine Lehrerin darin, die Liebesleuten beiderlei Geschlechts duftende Selams binden lehrte; aber eine Anleitung zur Gebehrdensprache für Liebende existiert noch nicht. Es würde damit wirklich in unserer bücherarmen Zeit einem dringenden Bedürfnisse der Gegenwart abgeholfen werden. Interessante, die Menschenkenntniß ungemein fördernde Studien kann man machen, wenn man auf dem Markte, auf der Straße die ausdrucksvollen Gebehrden der Käufer und Verkäufer, der Markthelfer, Köchinnen u. s. w. beobachtet, überhaupt, wenn man sich gewöhnt, die Pantomimen lebhafter Menschen genau in's Auge zu fassen. Schauspielern, Malern, Bildhauern, Schriftstellern sind solche Studien unumgänglich nothwendig.

Ein zweites, weniger bekanntes Mittheilungsmittel ist die Daktylologie oder Fingersprache. Man versteht darunter das Buchstabieren mittelst der Fingeralphabetzeichen. Die Römer verstanden darunter die Kunst, an den Fingern zu rechnen, indem sie durch verschiedene Figuren oder Krümmungen, die sie mit den Fingern bildeten, die Zahlengröße auszudrücken. So bezeichneten sie eine Million durch Falten der Hände über dem Kopfe. Diese Art von Sprache wird fast nur in Taubstummen- Instituten angewendet und dadurch sehr selten. Sie ist mühsam zu lernen und zur Mittheilung ziemlich schwerfällig. Welche Aufmerksamkeit gehört nicht dazu, ein 20-30 Buchstaben enthaltendes Wort zu übersehen, etwa wie „Constantinopolitanischer Geschäftsträger.“

Noch ein anderes Mittheilungsmittel ist die Podologie oder Fußsprache. [452] Zwar sind die Füße unbehülflicher, als die Hände, aber dennoch können durch verschiedene Bewegungen mit denselben Buchstaben bezeichnet und zur Mittheilung kurzer Gedanken benutzt werden. Diese Art der Mittheilung heißt Podologie, sie kann sitzend, stehend und tanzend angewendet werden. Man kann diese Sprache, wie auch die vorher genannten, zu geheimen Unterredungen benutzen und die hohe Politik hat sich zuweilen derselben bedient. Die Geschichte erzählt, daß Kaiser Ferdinand III. die Podologie zuweilen gebraucht habe. Als einst ein Gesandter bei Gelegenheit traulicher Unterredung den Fürsten Titius, der vom Kaiser in das Geheimniß der Fußsprache eingeweiht war, rühmte, warnte ihn der Kaiser vor dem Fürsten, weil derselbe mittelst der Astrologie in die verborgensten Geheimnisse einzudringen wisse; und um ihn davon zu überzeugen, ließ der Kaiser den Fürsten Titius rufen, der auch sofort erschien. Der Kaiser hieß ihn an das entfernteste Ende des Saales sich begeben und forderte dann den Gesandten auf, ihm ein Wort in einer ihm beliebigen Sprache in's Ohr zu sagen, worauf der Gesandte lächelnd das englische Wort a dream — ein Traum — dem Kaiser in's Ohr lispelte. Er wollte damit zu verstehen geben, daß des Kaisers hohe Meinung vom Fürsten Titius ein bloßer Traum sei. Unterdessen theilte der Kaiser dem Fürsten das ihm in's Ohr gesagte Wort a dream durch die verabredeten Bewegungen der Füße mit, ohne daß es der Gesandte merkte; und als der Fürst auf die an ihn ergangene Aufforderung dieses Wort sogleich richtig angab, hielt ihn der erstaunte Gesandte in der That für einen Schwarzkünstler.

Ich habe schon oben bemerkt, daß die Podologie auch tanzend angewendet werden kann. Obschon der Tanz in unserer Zeit nicht so in Ehren gehalten wird, wie zur Zeit David's, so bildet er doch immer noch einen Hauptbestandtheil der körperlichen Bildung unserer Jugend. Welch' hohes Interesse könnte man ihm durch die Podologie geben! Wäre es für die Tänzer, wie für die Bewunderer dieser Kunst nicht weit unterhaltender, statt eines sinnlosen Solo, Pas de deux, Pas de trois u. s. w., ein Gedicht, einen Dialog vorzutragen oder vortragen zu sehen? Welche Mannichfaltigkeit der Figuren würde ein solcher Tanz enthalten! Die Tänze der Südländer, z. B. der Bolero der Spanier, mehr aber noch die Tänze der Wilden bieten etwas Aehnliches dar, da durch sie wirkliche Gedanken ausgedrückt werden.

Noch eine Sprache muß ich hier erwähnen, die nach der Pantomimik am meisten verbreitet ist. Es ist dies die Musiksprache, die Sprache des Herzens und der Gefühle. Wo das Wort zu arm ist, da tritt oft Musik an seine Stelle; dies ist bekannt. Weniger bekannt dürfte es vielleicht sein, daß die Noten als Buchstabenschrift verwendet worden sind, indem durch die verschiedenen Intervallen die Buchstaben ausgedrückt werden. Man kann also auf diese Weise in Form eines Walzers, eines Galopps der Geliebten die zärtlichsten Briefchen überreichen.

Zum Schlüsse gedenke ich noch der Knötchensprache. Sie ist im Gefängniß zu suchen. Ein einfacher Faden ist das Material dazu und große und kleine Knoten, ihre Entfernung voneinander, ihre eigenthümliche Verknüpfung sind die einfachen Zeichen, mit denen sich einsame Gefangene die Zeit vertreiben oder etwa Pläne zur Flucht entwerfen. In neuester Zeit haben auch Klopfgeister zu reden angefangen, da dies aber die Sprache unvernünftiger Wesen ist, so kann sie hier, wo von den Mittheilungsmitteln vernünftiger Geschöpfe die Rede gewesen, eben so wenig in Betracht kommen, wie die Sprache der Katzen und Hunde.

Singschwäne. In dem noch ungedruckten Werke: „Anleitung zur Anlegung von naturhistorischen Sammlungen" des Herrn Dr. Schilling zu Naumburg, der früher Conservator am zoologischen Universitätsmuseum in Greifswald war — eine Schrift, welche wir im Voraus allen Freunden der Naturwissenschaften mit bestem Gewissen empfehlen — findet sich eine Stelle über den Singschwan, welche in diesen viel gelesenen Blättern weit verbreitet zu werden verdient. Er sagt über diesen herrlichen Vogel:

Der Singschwan, Cygnus musicus, Bechst., bietet dem Beobachter und Naturfreunde ein überaus schönes Schauspiel dar, nicht allein für dessen Auge, durch seine schöne Körpergestalt und durch die aufmerksame, kluge Weise, die sich bei ihm im Vergleiche mit dem stummen Schwan sehr vortheilhaft in seiner Kopfbewegung und Haltung ausdrückt, sowie durch sein schneeweiße Gefieder, wenn er als leichter und kräftiger Schwimmer, den blauen Wasserspiegel durchfurchend, darauf hinzieht, sondern auch dem Ohre durch die lauten, verschiedenen, reinen Töne seiner Stimme, die er bei jeder Veranlassung als Lockton, Warnungsruf und, wenn er in Schaaren vereinigt ist, wie es scheint, im Wettstreite zur eigenen Unterhaltung fortwährend hören läßt. Wenn bei starkem Frostwetter, wo die Gewässer der See außerhalb der Strömungen nach allen Seiten mit Eis bedeckt, und die Lieblingsstellen des Singschwans, die Schare (Untiefen) ihm dadurch verschlossen sind, diese stattlichen Vögel zu Hunderten in diesen offenen Wassern versammelt liegen, und gleichsam durch ihr melancholisches Geschrei ihr Mißgeschick beklagen, daß sie aus der Tiefe das nöthige Futter nicht zu erlangen vermögen: dann habe ich die langen Winterabende und ganze Nächte hindurch diese vielstimmigen Klagetöne in stundenweiter Ferne vielmals vernommen. Bald möchte man dieses vieltönige, singende Rufen mit Glockenläuten, bald mit den Tönen von blasenden Instrumenten vergleichen, allein sie sind beiden nicht gleich, sondern übertreffen sie in mancher Hinsicht, eben weil sie von lebenden Wesen kommen, und daher unserm Sinne näher verwandt sind, als die Klänge des todten Metalles.

Dieser eigenthümliche Gesang des Singschwanes verwirklicht in Wahrheit die für Dichtung gehaltene Sage vom „Schwanengesang" und er ist oftmals auch der Grabgesang dieser schönen Thiere, denn da diese in dem tiefen Stromwasser ihre Nahrung nicht mehr zu ergründen vermögen, so werden sie vom Hunger so sehr ermattet, daß sie zum Weiterziehen nach milderen Gegenden die Kräfte nicht mehr besitzen, und dann häufig auf dem Eise angefroren und verhungert, dem Tode nahe oder bereits todt gefunden werden, wobei sie dennoch bis an ihr Ende ihre melancholisch hellen Laute hören lassen.

Wie klug die Singschwäne übrigens sind, wenn sie verfolgt werden, habe ich oftmals bei der Jagd nach ihnen gesehen. Unter vielen andern Beispielen will ich nur eins anführen: Ein solches Thier, das auf dem Binnenwasser flügellahm geschossen war, rettete sich zu Fuß auf einen benachbarten Teich, und mischte sich unter die zahmen, stummen Schwäne. Wurde später auf ihn Jagd gemacht, so flüchtete er jedesmal durch ein geschicktes Manöver unter diese, die er außerdem gern mied, indem er sich, wenn er eben nicht von Schützen verfolgt wurde, lieber allein hielt.

L. Brehm.





G. A. Wislicenus, früher in Halle, dann zwei und ein halbes Jahr in Amerika, wohnt jetzt, nach seiner Rückkehr, seit zwei Jahren in Zürich in der Schweiz, wo er zum Theil mit literarischen Arbeiten beschäftigt ist, zum Theil seine Thätigkeit der Erziehung von Knaben und Mädchen widmet, von welchen einige ihm aus Amerika gefolgt, einige andere erst hier von ihren Eltern aus verschiedenen Gegenden Deutschlands übergeben worden sind. Das Pensionat ist sehr zu empfehlen. Meistens besuchen die Zöglinge die dortigen Privat- oder öffentlichen Schulen, die Knaben insbesondere die Cantonsschule, welche aus Gymnasium und Industrieschule besteht, und eines guten Rufes genießt. Es sind mit ihr, außer dem gewöhnlichen Turnen, nach schweizerischer Einrichtung auch militairische Exercitien in Infanterie und Artillerie verbunden, indem die gesammten Schüler, eine bedeutende Zahl, ein Cadettencorps bilden, welches mit denen anderer Schulen und Cantone zuweilen selbst zu Manövern zusammentritt. Als höhere Lehranstalten besitzt Zürich dann die Universität und das Polytechnikum; jene gehört dem Cantone an, dieses ist von der gesammten Eidgenossenschaft gegründet.

Das Verhältniß der Zöglinge zur Familie ist ein trauliches, und insbesondere leben die Mädchen mit der Frau und den vier Töchtern von Wislicenus in steter nächster Gemeinschaft, werden auch zu häuslichen Arbeiten angeleitet. Bei den Privatarbeiten wird Aufsicht und Nachhülfe gewährt. Die Wohnung liegt hoch und frei, dicht vor der Stadt, mit einer reizenden Aussicht, und ist mit einem großen Garten versehen. Die herrliche Umgebung von Zürich, mit Berg, Wald, Wiese und dem klaren See in der Mitte, so wie auch die nahen Hochalpen, geben reichliche Gelegenheit zu Ausflügen und Ferienreisen, und müssen auf Geist und Körper der Zöglinge einen nachhaltig wohlthätigen Einfluß üben. Die Familie von Wislicenus, welche außer den oben Angegebenen noch aus vier Söhnen besteht, unterstützt ihn wesentlich in der Ausführung. Sie bildet einen Kreis, welchem Eltern ihre Kinder gern anvertrauen können.




Ein deutsches Fest im Ausland. An einem Maiabende 1857 war in Gothenburg, der zweitgrößten Stadt Schwedens, eine muntere Gesellschaft junger Deutscher versammelt, die einem scheidenden Freunde das letzte Lebewohl brachten. Ein Theil derselben war zwar früher schon an besondern Tagen zu geselligen Vergnügungen zusammengekommen, aber erst an diesem Abend, wo die geweckte Erinnerung an das gemeinsame Vaterland sie enger zusammenführte, beschlossen sie, in größerer Anzahl einen deutschen Verein zu gründen. An demselben Tag noch, wo früh in der Nacht ihr Landsmann abgesegelt, den 19. Mai, wurde der Verein constituirt, in wenigen Tagen zählte er bereits vierzig Mitglieder, und in stetem Fortschreiten erfreut er sich gegenwärtig trefflichen Gedeihens, An seiner Spitze stehen ein junger Kaufmann, Sohn eines Hamburger Senators, ein Dr. philos. und Privatlehrer, der, wenn auch in England geboren, doch stolz daraus ist, in Deutschland seine Erziehung erhalten zu haben, und ein Ingenieur, der bereits im dänischen Kriege Gelegenheit hatte, als schleswig-holsteinischer Lieutenant seine deutsche Gesinnung zu bethätigen. Wenn die Zusammenkunft des Vereins auch hauptsächlich dem geselligen Vergnügen geweiht, zeigt doch die bereits ganz stattliche Bibliothek, daß auch noch andere Zwecke verfolgt werden. Nicht der geringste davon ist wohl der, allen ankommenden Deutschen eine Zufluchtsstätte zu bieten, wo sie freundliche Aufnahme, bereitwilligen Rath, und im Fall der Noth auch kräftige Unterstützung finden. Vor Kurzem feierte der Verein sein erstes Stiftungsfest und zwar, wegen Abwesenheit des Vorstandes, einen Monat später. Der dazu bestimmte Saal war mit Eichenkränzen festlich geschmückt; über der reichbekleideten Rednerbühne wehete neben der schwedischen die schwarz-roth-goldene Fahne, die, in Deutschland selbst verpönt, hier im Ausland lautes Zeugniß für den der Versammlung innewohnenden deutschen Geist ablegt. Als Ehrenmitglieder waren mehrere Consuln, angesehene Kaufleute, der Pfarrer der dortigen deutschen Gemeinde, sowie der Director der Handelsschule gegenwärtig. Die Festreden der Herren Vorstände wechselten mit ganz tüchtig ausgeführten Quartettgesängen ab, worauf noch der Herr Director Dr. Heinemann eine herrliche Ansprache hielt. Für Erfrischungen war auch bestens gesorgt, und erst spät in der Nacht trennte sich die fröhliche Gesellschaft, voll Freude über das schön gelungene Fest.

Wir haben mit Vergnügen Anlaß genommen, auf diesen Verein hinzuweisen, und überhaupt auf das Verhalten unserer Landsleute im Ausland, wo sie ja überall zerstreut sind, und meistens auch gern gesehen werden. Wenn der Verein auch jetzt noch klein ist, und meistens nur jüngere Mitglieder bat, so bleibt doch ein großer Theil dort fest, und bildet einen älteren Stamm, an den sich die andern Nachkömmlinge anschließen können. Zählt doch gegenwärtig die dortige deutsche Gemeinde schon fünfhundert Seelen. In einer Zeit, wo Schweden in der dänischen Frage eine deutsch-feindliche Stellung inne hat, wo die mächtige scandinavische Partei jede Vermischung mit deutschen Elementen stolz zurückweist, kann es uns nur mit Freude erfüllen, wie unsere Landsleute im Auslande ohne mächtige Kriegszüge ruhig und still Eroberungen machen, wie sie als echte Pioniere deutschen Geistes ihm immer weitere Strecken zugänglich machen, und deutsche Sitte überall weithin verpflanzen. Möge auch der deutsche Verein in Gothenburg, dem wir fröhliches Gedeihen wünschen, das Seinige dazu beitragen, eingedenk der herrlichen Worte unsers Schiller:

An’s Vaterland, an’s theure, schließ Dich an,
Das halte fest mit Deinem ganzen Herzen!




  1. Aus einer demnächst erscheinenden Sammlung „Amerikanischer Gedichte“, übersetzt von Fr. Spielhagen, die sich durch vortreffliche Auswahl und gediegene und geschmackvolle Uebertragung auszeichnet.
    D. Redact.
  2. Die ganze Wildgattung heißt Reh, das Männchen: der Rehbock; das Weibchen: Ricke, Reh; das einjährige männliche Junge: Spießbock; das einjährige weibliche: Schmalreh; die Jungen unter einem Jahre: Kälbchen oder Kitzchen.
  3. Bei allem Wild heißen die Augen eigentlich Lichter.
  4. schmälen, beim Bock schrecken, ist ein Warnungsruf bei geahnter Gefahr und klingt beim Bock wie ein tiefes kurzes Bö, Bö, Bö, das beim Reh weniger tief und voll klingt.
  5. Spiegel: eine Spanne im Durchmesser haltende, herzförmige, weiße Zeichnung am Hintertheile des Rehes, die es namentlich im Springen noch mehr entfaltet.
  6. treiben: verfolgen.
  7. auf’s Blatt springen: dem auf dem Blatte nachgeahmten Tone des Schmalrehes folgen.
  8. Gehörn: Geweih.
  9. Zur Satzzeit, das ist: zur Zeit, wenn das Wild, sowohl Hoch- als auch Rehwild, Junge bekommt, sucht es gern Dickichte, die an Wegen in der Nähe von Kohlenmeilern, Forsthäusern u. s. w. liegen, auf, weil an solchen von Raubthieren gemiedenen Stellen weniger Gefahr für das Junge droht.
  10. Geltes Reh: ein Reh, welches keine Jungen mehr bekommt.
  11. In England hatte man schon viel in dieser Sphäre gearbeitet, ehe Bühring mit seinen plastischen Kohlenkörpern auftrat. Näheres über das hier Angedeutete in der Broschüre von John Stenhouse: „On the Economical Applications of Charcoal to Sanitary Purposes“ u. s. w., worüber ich in der Gartenlaube vor etwa zwei Jahren berichtete: „Ein Abend im Royal Institution“. Hier, wie damals, schreiben wir nicht technisch für Techniker, sondern als Laien für Laien, blos um dergleichen Dinge im Großen und Allgemeinen eben anschaulich zu machen, und die Aufmerksamkeit darauf hin zu leiten.
  12. Ueber die Austern und deren Fang veröffentlicht Julius Althaus in einer der letzten Nummern des Prutz’schen Museums einen Artikel, aus dem wir zur Ergänzung des Obigen einige Mittheilungen entnehmen.      Die Redaction.
    „Unter den Muschelthieren,“ sagt Althaus, „sind die Austern am allgemeinsten bekannt und wegen ihres pikanten Geschmacks geschätzt. Man findet die Austern gewöhnlich in großen Mengen zusammen; sie kitten sich durch Kalk und Sand an unterseeische Gegenstände, Felsen oder Thiere der eigenen Art fest. Die ungeheueren Dimensionen dieser Austernbänke, welche trotz des enormen Verbrauchs, der alljährlich davon gemacht wird, unerschöpflich sind, erscheinen nicht auffallend, wenn man die Art der Fortpflanzung dieser Thiere in’s Auge faßt. Die Austern sind nämlich hermaphroditisch, d. h. dasselbe Thier erzeugt Eier und Samenfäden.[450] Wenn die Eier reif sind, werden sie auch befruchtet und als Laich, der eine weißliche Flüssigkeit bildet, ausgestoßen. Millionen von Eiern werden durch einen kleberigen Stoff, den das Thier in der Brunftzeit absondert, in eine kugelige Maste vereinigt, und heften sich an einem Orte fest, wo sie sich ungestört entwickeln können. Man findet in älteren zoologischen Werken die Notiz, daß die Austern einen ruhigen Wasserstand lieben. Dies ist folgendermaßen zu verstehen. Die Austern kommen zwar in allen Meeren und an den verschiedensten Stellen vor; die größten Bänke aber sind in geringer Tiefe, ziemlich nahe an der Küste und vor allem in Buchten, welche vor starken Strömungen geschützt sind. Durch solche Strömungen wird nämlich der Laich der Austern, sowie er aus den Schalen derselben hervorgekommen ist, in's hohe Meer hinausgetrieben und bildet dann vielleicht an einem Orte, wo noch nie eine andere Auster gesessen hat, eine Bank. Wo aber ein ruhiger Wasserstand ist, bleibt aller Laich an den eigenen Austernbänken festkleben, so daß ein beständiges Nachwachsen dieser Bänke stattfindet. So erklärt es sich, warum z. B. die Austernbänke von Rocher de Cancale, am Ufer des Canals, zwischen St. Malo, Mont St. Michel und Cancale, trotz des enormen Verbrauchs, der hier seit 150 Jahren stattfindet, sich gar nicht vermindern. In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts brachen die Engländer in der Absicht, künstliche Bänke an ihrer eigenen Küste anzulegen, so bedeutende Massen von Austern in der Bucht von Cancale, daß man sich ernstlichen Befürchtungen für diese Bänke hingab; der Verlust war jedoch in wenigen Jahren ersetzt, Über den genaueren Vorgang des Anwachsens der Austern und über die Lebensdauer der einzelnen Tiere weiß man sehr wenig. Die Fischer von St Malo glauben, daß die Austern durchschnittlich zehn Jahre leben. Altersschwache Austern erkennt man daran, daß die Schalen im Verhältniß zum Thiere sehr groß sind. Werden die Austern nicht gebrochen, so gehen sie auf eine eigenthümliche Weise zu Grunde. Indem beständig neuer Nachwuchs stattfindet, ersticken die Jungen die Alten, indem sie das Wasser von ihnen abhalten und sie verhindern, ihre Schalen zu öffnen. Daß wir Austern brechen, ist also, gewissermaßen ein Act der Humanität. „Einige Arten von Austern leben in halb süßem, halb salzigem Wasser, in Flüssen nahe an deren Mündung in's Meer. aber immer nur so hoch, wie das Meerwasser mit der Fluth hinauf steigt, Bei der Ebbe bleiben die Thiere dann auf dem Trockenen sitzen. So wie sie fühlen, daß das Wasser sich zurückzieht, schießen sie ihre Schalen sehr fest und halten eine ziemlich beträchtliche Menge Flüssigkeit im Innern der Körperhöhle zurück. Dies befähigt sie, längere Zeit außer Wasser zu leben, so daß sie ziemlich weit transportiert werden können, ohne zu sterben - ein Umstand, der den Austernhandel sehr erleichtert. „Die Austern haben keine Spur von einem Fuß, Ortsveränderungen ist ihnen nicht gestattet und ihre willkürlichen Bewegungen beschränken sich ausschließlich auf Oeffnen und Schließen der Schalen Für gewöhnlich klaffen die Schalen, um dem Wasser und mit ihm den Nahrungsstoffen freien Zutritt zu gestatten. Die Nahrung der Austern wie aller Muscheln besteht ausschließlich aus Infusorien und kleinen organischen Theilchen, welche in halbaufgelösten Zustande in erstaunlicher Menge im Meerwasser suspendirt sind. Nicht selten findet man beim Oeffnen der Schalen Krebse, Schnecken und andere kleine Thiere zwischen den Schalen angeklemmt. Dies ist rein zufällig; es kommen nämlich hin und wieder solche Thiere in den Bereich der Auster, rühren vielleicht an die Fühler und veranlassen dadurch sofortiges Schließen der Schalen; aber nie werden sie von den Austern gefressen. Wiewohl ihre Mundöffnung groß ist, erlauben doch die weichen Ränder und Fühler des Mundes nicht, daß nur etwas consistente Nahrungsstoffe durchpassieren. In der That stoßen auch die Zähne der Gourmands niemals auf harte Stoffe im Leibe der Auster, wenn es nicht etwa eine unechte Perle ist, die sich zufällig im Mantel der Auster gebildet, und woran sich allerdings schon mancher die Zähne ausgebissen hat. Um solchen Unannehmlichkeiten vorzubeugen, ist es daher besser, die Auster auf einmal zu verschlucken, als sie zu kauen. Die Austern kommen nicht unmittelbar aus dem Meere[451] auf unsern Frühstückstisch. Zwischen ihrem natürlichen Zustand und dem Verspeistwerden liegt ein Intermezzo ihrer Existenz welches sie in den sogenannten Austernparks zubringen. Austern nämlich, die unmittelbar frisch von der Bank kommen, riechen gewöhnlich nach Schlamm, sind hart, zähe und haben einen unangenehmen Geschmack, den man verbessern muß, und auch schon in den ältesten Zeiten verbessert hat. Die Austern von Venedig, von den Dardanellen, von der britannischen Küste, welche von den Römern besonders geschätzt wurden, mästete man erst eine Zeit lang im Lucriner See, bevor sie auf den Tafeln der Gourmands erschienen. „In unserer Zeit beginnt die Austernernte, wenn man so sagen darf, Ende September, und hört im April auf in den Monaten, welche kein r enthalten, bricht man nirgendwo Austern, weit es ihre Laichzeit ist. Zum Brechen dient ein großes Schleppnetz, eine Art eiserner Harke, hinter der ein kupferner Behälter angebracht ist; dieser Apparat wird von einem Schiffe gezogen, das mit vollen Segeln fährt; das Netz rasirt die Oberfläche der Bank, und jeder Bruch bringt 1000 - 1200 Austern ein. Sowie sie gebrochen sind, werden die Austern in die Parks gebracht - große in Felsen oder Erde ausgehöhlte Reservoirs, worin man nach Belieben Meerwasser ansammeln und abfließen lasten kann. Diese Parks sind gewöhnlich, viereckig und ziemlich seicht; mit dem Meere stehen sie durch einen langen Canal in Verbindung, welche nach Belieben mittels einer Schleuße aufgehoben und wiederhergestellt werden kann, Während der Ebbe unterbricht man die Verbindung, mit dem Beginn der Fluth stellt man sie wieder her, um das Wasser zu erneuern. Sehr schädlich ist den Austern der Niederschlag von Schlamm; um dies zu verhüten, sind die Wände der Höhlung mit Kiesel oder Sand ausgekleidet; auch hält man deswegen in den Parks ein bestimmte Mischung von süßem und salzigem Wasser, welche erfahrungsmäßig dem Niederschlage von Schlamm entgegenwirkt. Auch spült man von Zeit zu Zeit die Wände des Parks ab, und gießt frisches Wasser auf die Austern, nachdem man sie vorher, einen Augenblick auf das Trockene gesetzt hat. Lebhafte Bewegung des Wassers vermeidet man soviel als möglich, indem dabei leicht Sandkörner in die Schalen kommen. Je zweckmäßiger die Austern in den Parks ausgelegt werden, je vorsichtiger man sie bewegt, je ängstlicher man den Niederschlag von Schlamm zu verhindern sucht, desto besser und preiswürdiger werden die Austern sein, welche man erzielt. Es schadet der Qualität der Thiere, wenn durch Regengüsse oder Ueberschwemmungen die Menge des süßen Wassers in den Parks zu beträchtlich wird. Auch scheuen die Austern sehr die Kälte, weswegen man sie in einer gewissen Entfernung vom Wasserspiegel halten muß. Dies hat auf der andern Seite wieder den Nachteil, daß man sie dann nicht so leicht inspiciren kann; und schnelles Aussondern der etwa gestorbenen Thiere ist von fundamentaler Wichtigkeit, da eine todte Auster, wenn sie nicht schleunig entfernt wird, einen ganzen Park verderben kann. Die Diagnose des Todes ist leicht zu stellen; wir wissen schon, daß die Schalen todter Thiere klaffen, wenn das Wasser abgeflossen ist. Durch die verschiedene Art und Weise des Wasserwechsels ist man ferner im Stande, die Beschaffenheit der Austern bedeutend zu modificiren, in Etretat, einem kleinem französischem Badeorte in der Nähe von Havre-de-Grace, der sehr reich an Austernparks ist, wechselt man das Wasser mit jeder Fluth – die Thiere werden dadurch hell, glänzend, dick, zugleich aber etwas hart und zähe, in Dieppe erneuert man das Wasser nur alle zwei Monate einmal, wodurch allerdings die Austern sehr zart werden, aber nicht ganz so frisch bleiben, wie in Etretat. Man sieht, daß ein taktvoller Gouverneur eines Austernparks sehr viel aus den seiner Obhut anvertrauten Thieren machen kann. „Sind die Austern in den Parks für den Handel reif geworden, so verlangt ihr Transport in's Innere des Landes noch manche Vorsichtsmaßregeln. Sie müssen in horizontaler Stellung liegen, mit der gewölbten Schale nach unten, damit sie so wenig als möglich von dem in ihnen befindlichen Wasser verlieren, welches ihre Kiemen bespült; auch bedeckt man sie mit nassem Seegras, um die austrocknende Wirkung der Luft zu verhüten, je schneller der Transport geschieht, desto bester, besonders bei warmem Wetter. Ein Versuch, den man neuerlich machte, die Austern in Schiffen voll von Meerwasser die Flüsse hinauffahren zu lassen, schlug gänzlich fehl, indem das wegen der darin enthaltenen, aufgelösten organischen Theilchen sehr zur Zersetzung geneigte Seewasser in Fäulniß überging. Das betreffende Austernschiff kam in Paris mit einer großen Menge todter Thiere an, welche sich schon von Weitem durch ihren Geruch so unvortheilhaft ankündigten, daß die Polizei sich veranlasst sah, die ganze Ladung zu versenken.“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vergleiche zur „falschen Brunft“ die Berichtigung im Artikel: Das Damwild, Fußnote Nr. 2.