Die Gartenlaube (1858)/Heft 11
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No. 11. | 1858. |
(Fortsetzung.)
Der gesuchte Mann.
Ein schöner Frühlingstag hat in den Nachmittagsstunden eine Menge Wiener lustige Welt im Prater versammelt. Man vergnügt sich auf dem grünen Rasen, unter den frisch ausgeschlagenen Bäumen, in den Zelten und Theatern auf die harmloseste Weise. Es ist ein ungemein lebendiges und freundliches Bild, dieses wechselnde Volksgetümmel voll Scherz und Heiterkeit.
Ein Herr und zwei Damen, welche zwei Kinder, einen Knaben und ein Mädchen, führen, alle fünf elegant und gewählt gekleidet, winden sich hindurch und fragen zuweilen einen Mann oder ein Weib aus den niedern Ständen nach dem Zelte „zu den drei Mohrenfürsten“ und sie werden stets mit der allen Wienern eigenthümlichen Dienstfertigkeit zurechtgewiesen. Endlich gelangen sie zu dem etwas abgelegenen Zelte, das sie erfragt haben, im sogenannten Wurstelprater, und der Herr zählt von der rechten Seite des eben nicht glänzenden Gebäudes die im Boden befestigten Tische.
„Hier, der sechste!“ sagt er zu den Damen. „Wir sind zur Stelle, wohin wir auf so eigenthümliche und geheimnißvolle Weise bestellt sind. Es ist auch gleich fünf Uhr,“ fährt er, seine goldene Taschenuhr ziehend, fort, indem er mit den Damen am bezeichneten Tische Platz nimmt. „Also naht der Augenblick, wo wir erfahren sollen, ob ich wirklich funfzehn Monate vergebens alle erdenklichen Nachforschungen angestellt und ob wir unverrichteter Sache heimkehren und Freund Eduard keinen Trost, ja keine Hoffnung mitbringen sollen, oder ob mein rastloses Bemühen im weiten Ungarland endlich in Wien noch mit Erfolg gekrönt werden soll.“
Der Sprecher und seine beiden Zuhörerinnen sind uns bekannte Personen. Er ist der Rechtsanwalt Dr. Liebheld; die hohe stattliche Dame ist seine Gattin, die Kinder sind die seinigen, welche er hat nachkommen lassen, und das schlanke, holde Mädchenbild mit den sanft gerötheten Wangen und den treuen, herrlichen blauen Augen ist Lieschen, das liebe Kind, das ehemalige hübsche Dienstmädchen. Mit ihr ist eine merkwürdige Veränderung vorgegangen; in die Augen springend ist die ihrer äußern Gestalt, denn sie ist eben so modern, eben so fein gekleidet, wie Frau Liebheld. Es scheint aber auch, daß die innere der äußern entsprechend ist: sie drückt sich in der Unterhaltung mit ihrer Begleitung gewandt, fein und mit dem Tone aus, welcher nur den Gliedern der höhern Gesellschaft eigen zu sein pflegt. Sie wird auch von Doctor Liebheld und dessen Frau als Ebenbürtige und nichts weniger als Dienende oder Untergeordnete behandelt.
„Der Himmel wäre Ihnen eine solche Genugthuung schuldig,“ sagte Lieschen scherzend. „Sie haben sich wahrlich die vollgültigsten Ansprüche darauf erworben.“
„Der Himmel erkennt nur solche Ansprüche nicht an,“ versetzte Liebheld.
„Aber er ist gerecht und ich übertrage ihm täglich zwei Mal im Morgen- und im Abendgebet, Ihnen zu vergelten, was Sie seit Jahr und Tag für mich gethan haben und noch zu thun gedenken. Womit aber könnt’ er Ihnen besser vergelten, als wenn er Sie endlich die so sehnlich gesuchten Leute auffinden läßt?“
„Wenn es wahr ist,“ sagte Frau Liebheld, „daß Gott und die Heiligen die Bittgebete unschuldiger und guter Kinder mehr berücksichtigen, als die anderer Menschen, so werden wir doch zuletzt kurz vor dem zu unserer Abreise festgesetzten Termin zum Ziele unserer Wünsche gelangen.“
„Jubelt nur nicht zu früh!“ sagte der Advocat. „Wir sind schon gar zu oft getäuscht worden. Die ganze Geschichte mit der geheimnißvollen Bestellung hierher und diesem Abzeichen, an welchem ich erkannt werden soll“ – er deutete leicht auf ein kleines schmales ponceaufarbiges Band im untersten Knopfloche seines Rockes – „ist am Ende wieder eine läppische Komödie, die sich ein Wiener Spaßvogel mit uns macht.“
Die drei sich also unterhaltenden Leute hatten jetzt eben so wenig bemerkt, daß sich ihnen ein fein gekleideter Herr in den höhern dreißiger Jahren genähert, wie sie vorhin wahrgenommen, daß ihnen zu beiden Seiten zwei Männer gefolgt waren, bald der eine näher, bald der andere, und endlich der eine rechts, der andere links an den nächsten Tischen Platz genommen hatten. Ihrem Aeußern nach schienen die Letzteren dem mittleren Bürgerstande anzugehören, während der zuletzt Hinzugetretene ein bei weitem vornehmeres Ansehen hatte. Als Doctor Liebheld, von seiner Frau auf diesen Herrn aufmerksam gemacht, die Augen zu ihm aufschlug, deutete derselbe stumm auf ein ganz gleiches Bändchen, welches auch er in demselben Knopfloche trug.
„Mein werther Freund,“ sagte der Fremde mit ostensibel lauter Betonung und mit der ungarischen Aussprache des Deutschen, „wenn es Ihnen und den geehrten Damen gefällig ist, so machen wir noch einen kleinen Spaziergang.“
Während er sprach, deutete er mit seinen großen schwarzen Augen sehr bezeichnend auf die beiden schlichten Männer an den [142] nahen Tischen. Und ohne Umstände bot er Frau von Liebheld den Arm und redete leicht und gewandt von der Bühnendarstellung des Leopoldstädter Theaters vom vorigen Abend, als wären sie zusammen darin gewesen. Doctor Liebheld führte Lieschen dicht hinter dem erstern Paar und ging eben so ungezwungen auf das Gespräch ein. Somit schritten sie den nach der Donau sich ausbreitenden Partien des Parkes zu. Als sie aus dem Menschengewühl waren, sagte der Fremde:
„Jetzt, meine Damen, haben Sie gefälligst Acht, daß Niemand uns zu nahe kommt oder uns überhaupt beobachtet, während ich mit dem Herrn spreche.“
Er nahm nun des Doctors Arm und die Doctorin und Lieschen führten sich. Die Letztere glaubte wirklich, die Männer von den Nebentischen einige Zeit hinter sich zu sehen.
„Mein Herr,“ nahm der Fremde leise das Wort, „Sie suchen seit einiger Zeit die Familie eines in Ungarn geborenen Griechen, Namens Georg Theodoro.“
„So ist’s, und Sie haben mir durch meinen Agenten Hoffnung gemacht, durch Sie Nachrichten über diese Familie zu erhalten.“
„Nun wohl, ich will nicht leugnen, daß ich der einzige Mensch bin, welcher Ihnen genaue Auskunft über besagte Familie ertheilen kann. Doch muß ich durchaus erst wissen, zu welchem Zweck Sie diese Nachrichten so sehr wünschen, mit solcher Beharrlichkeit erstreben?“
„Auf diese Frage werde ich Ihnen erst dann genügend antworten, wenn Sie mich überzeugt haben werden, daß Sie selbst ein Glied dieser Familie sind, welches bei den ihr zu machenden höchst wichtigen Mittheilungen selbst wesentlich interessirt ist.“
Der Fremde schwieg einen Augenblick nachdenkend, während sein scharfes Auge mißtrauisch in den Zügen des Advocaten forschte, dann sagte er zögernd:
„Ihr Agent hat Sie mir als einen königlich baierischen Rechtsanwalt genannt. Ich habe zu diesem Stande kein sonderliches Vertrauen. Der Name Georg Theodoro ist verschollen. Niemand kann sagen, was aus dem Träger desselben geworden ist. Ein Ihnen unvorsichtig allzurasch entgegengebrachtes Vertrauen könnte die Familie Theodoro in Gott weiß welche Rechtsverwickelungen stürzen. Wir sind das in Ungarn so gewöhnt.“
„Darüber kann ich Sie vollkommen beruhigen,“ entgegnete Doctor Liebheld lächelnd. „Ich setze Ihnen das Ehrenwort eines deutschen Mannes, der niemals von der wächsernen Nase des Rechts zu seinem persönlichen Vortheil Gebrauch gemacht hat, zum Pfand und gebe Ihnen, wenn Ihnen dieses Ehrenwort zu Ihrer Sicherheit nicht genügen sollte, jede nur gewünschte Garantie, daß die Eröffnungen, welche ich der Familie Theodoro zu machen habe, dieser nicht nur keinen Nachtheil, sondern im Gegentheil Vortheil, großen Vortheil, Glück und Freude bringen werden. Ich habe die Familie Theodoro seit Jahr und Tag nicht gesucht, um einen Rechtsstreit mit ihr zu contrahiren, sondern um eine ihr schuldige Verbindlichkeit zu lösen.“
Der Fremde hatte mit steigender Spannung zugehört, strich sich den Bart nachdenklich und sagte dann:
„Nun wohlan, mein Herr, ich selbst bin nicht sowohl ein Glied der Familie Theodoro, sondern ich bin vielmehr in meiner Person die ganze Familie selbst. Es gibt außer mir keinen Verwandten des Georg Theodoro. Wenigstens ist er bis zu der Zeit, wo er sich aus Ungarn entfernte und bald darauf verscholl, nicht verheirathet gewesen. Das sind nun fast einundzwanzig Jahre. Ob er sich im Auslande später verheirathet und Leibeserben erzielt hat, darüber kann ich nichts sagen; denn ich habe nie wieder von ihm gehört. Es ist auch nicht wahrscheinlich, weil er ein Weib in Ungarn liebte und dieses zu ehelichen beabsichtigte. Die Auserwählte seines Herzens hat von ihm nie wieder etwas gesehen, noch gehört.“
„Er hat sich später wirklich auch nicht verheirathet,“ sagte Liebheld. „Wenn nicht Kinder von ihm aus der früheren Lebenszeit am Leben sind, so gibt es überhaupt keine von ihm. In welchem Verwandtschaftsgrade stehen Sie zu ihm?“
„Ich bin sein einzig Geschwister, sein jüngerer Bruder. Er war mein Ernährer und Erzieher. Als er sich entfernte, war ich erst sechzehn Jahre alt.“
„Und wie alt war damals Ihr Bruder?“
„Wohl ein hoher Zwanziger.“
„Ich will es Ihnen genau sagen: er war zweiunddreißig Jahre alt. Und nun werden Sie mir die Bemerkung erlauben, daß es etwas unwahrscheinlich ist, daß ein Mann von zweiunddreißig Jahren noch einen Bruder von sechzehn Jahren habe.“
„Das ist doch so unwahrscheinlich nicht, und um so weniger, als ich das Kind einer zweiten Frau unseres Vaters bin. Dieser war kurz vorher aus dem Leben geschieden und hatte Georg sterbend die Pflicht auferlegt, für mich und meine Mutter zu sorgen.“
„Womit können Sie mir beweisen, daß Sie Georg Theodoro’s einziges Geschwister sind?“
„So viel als möglich durch obrigkeitliche Atteste, doch muß die Sache auch der Mühe lohnen. Sie werden mir nicht zumuthen wollen, daß ich ohne Grund und Zweck und blos um Ihnen, dem mir gänzlich Unbekannten, einen solchen Beweis zu führen, Reisen und Ausgaben mache, Zeit aufwende.“
„Gewiß nicht. Können Sie sich mir nicht vor der Hand durch Legitimationspapiere überhaupt als Träger des Namens Theodoro aufführen?“
„Nichts leichter.“
Der Fremde zog ein Papier aus der Brusttasche und überreichte es dem Advocaten, der es voneinanderschlug. Es war der in Oesterreich unentbehrliche Reisepaß. Liebheld las: Philipp Theodoro, Handelsmann aus Kremnitz in Ungarn.
„Dies genügt vor der Hand zu den ersten Mittheilungen, die ich dem Erben Georg Theodoro’s zu machen habe. So erfahren Sie denn, mein Herr, daß Ihr Bruder nicht mehr am Leben ist und ein nicht unbedeutendes Vermögen hinterlassen hat, welches Ihnen ausgeantwortet werden wird, sobald Sie sich mir genügend als einzigen Verwandten des Verstorbenen legitimirt haben werden. Die Auszahlung der Hinterlassenschaft wird dann noch an eine von Ihnen leicht zu erfüllende Bedingung gebunden sein, über die ich mich jetzt noch nicht näher auslassen kann.“
„Und Sie hätten sich ganz allein und aus keinem Grunde weiter ein Jahr und länger in Ungarn aufgehalten, um mir ein bedeutendes Vermögen auszuliefern, auf das ich keinen Rechtsanspruch erhoben habe?“ fragte der Fremde, ungläubig mit dem Kopfe schüttelnd.
„Dieses anscheinende Räthsel soll Ihnen gelöst, dieses Mißtrauen in menschliche Gerechtigkeit benommen werden, sobald Sie sich mir als alleinigen Erben Georg Theodoro’s werden documentirt haben. Ich versichere Sie hoch und theuer auf Treue und Glauben, daß die strengste Rechtlichkeit hier zu Ihrem Vortheil handelnd auftritt, wenn Sie wirklich der sind, für welchen Sie sich eben ausgegeben haben und daß durchaus keinerlei Hintergedanke dabei im Spiele ist.“
„Sie bleiben so lange in Wien, bis ich Ihnen den verlangten Beweis geliefert?“
„Das versteht sich. Hier ist meine Karte. Sie sollen nicht bereuen, mir vertraut zu haben.“
Der Fremde schien nichtsdestoweniger nicht sonderlich erfreut über die erhaltene Nachricht. Sein Benehmen war und blieb zurückhaltend und zweideutig und deshalb wenig geeignet, der Familie des Advocaten Vertrauen einzuflößen. In diesem Sinne sprachen sich auch die beiden Frauen gegen Liebheld aus, als der Fremde sich nach kurzem und ziemlich frostigem Abschied mit dem Versprechen, er werde den Beweis so schnell als möglich beibringen, entfernt hatte. Die drei zusammengehörigen Personen, welche sich von der endlichen Entdeckung des lang gesuchten Menschen Freude und Erheiterung versprochen hatten, waren verstimmt, ja selbst die Kinder waren schweigsam geworden; der Fremde hatte auf Alle einen gleich starken und unangenehmen Eindruck gemacht.
Polizeiverhör.
Die achte Stunde des folgenden Morgens brachte der kleinen Familie eine unangenehme Ueberraschung in ihre Wohnung, und zwar in der Person eines Polizeicommissairs und zweier Polizeidiener. Vom Ersteren wurde Doctor Liebheld auf’s Höflichste ersucht, sich anzukleiden und ihm auf das Bureau seines Chefs zu folgen. Doch habe er den Befehl, auch sämmtliche Papiere des Herrn Doctors mitzubringen. Der artige Beamte versicherte die Damen, sie brauchten keinerlei Besorgniß zu hegen; er sei überzeugt, [143] es werde sich Alles schnell zur Zufriedenheit der Behörde und des Herrn Doctors aufklären, und er bedauere nur die kleine Störung, welche ihnen zu machen Amtspflicht ihn zwinge. Alle Effecten der Familie wurden sorgfältig untersucht und alle Papiere hinweggenommen. Doctor Liebheld suchte seine Frau und Lieschen so gut als möglich zu beruhigen und versprach, bald wiederzukehren; doch blieben sie in Bestürzung und Angst zurück und ihr Kummer stieg, als jener an diesem Tage nicht wiederkehrte.
Der Advocat hatte ein anständiges Zimmer, aber erst am andern Tage wurde er zum Polizeidirector geführt. Der Beamte war ungemein höflich.
„Sie müssen entschuldigen, geehrter Herr Doctor, daß ich Sie erst heute um eine Unterredung bitte. Es mußten gestern nöthige Recherchen dazu gemacht und Vorbereitungen getroffen werden. Sie sind selbst Jurist und wissen deshalb genau, wie viel von Ihren wahrheitsgetreuen Antworten auf meine Fragen für Ihr eigenes Wohl abhängt. Ich darf Ihnen nicht verhehlen, daß Ihr Thun und Treiben in Ungarn und Oesterreich seit einem Jahre die Aufmerksamkeit der Polizei hat erregen und Sie in Verdacht bringen müssen, als hätten Sie unredlichen Verkehr mit Leuten von zweideutigem Rufe, und die Dinge, die gestern in Ihrem Besitz gefunden wurden, sind leider geeignet, diesen Verdacht zu bestätigen, wenn nicht gar zu verstärken.“
„Ich kann und werde jeden Verdacht gegen mich beseitigen und darthun, daß meine Absicht eine reine und edle ist.“
„Ich wünsche und hoffe es, mein Herr,“ versetzte der Polizeidirector in einem glatten Tone, welcher den Zweifel keineswegs ausschloß. Die Herren nahmen auf dem Sopha Platz, dann fuhr der Beamte fort: „Sie haben über ein Jahr lang Nachforschungen nach einem Manne aus den untern Ständen, Namens Theodoro, in Ungarn gehalten. Welchen Zweck haben Sie bei diesen ungewöhnlichen Recherchen?“
„Ich suchte nicht den Mann – denn der ist ja nicht mehr am Leben – sondern seine Nachkommenschaft, seine Familie, seine Erben, um diesen aus dem Nachlasse des Verstorbenen zu übergeben, was zu diesem Zwecke in meine Hände gelegt worden ist.“
„Wenn Sie ein Erbe auszuantworten haben, weshalb betreten Sie, der Rechtsanwalt, nicht den für solche Fälle gesetzlich vorgeschriebenen Weg und wenden sich an die Behörde, deren Kenntniß der Personen und Verhältnisse Sie schnell zum Ziele führen mußte? Warum schlugen Sie nicht einen zweiten gebräuchlichen Weg ein, und forderten in den öffentlichen Blättern des Königreichs Ungarn oder aller österreichischen Staaten die betreffenden Personen auf, sich bei Ihnen zu melden?“
„Der Grund liegt eben in einer seltsamen Verwicklung der Verhältnisse, und da dies nicht mein Geheimniß ist, da ich blos Beauftragter bin, welcher seine Ehre für das Verschweigen der bestimmenden Umstände verpfändet hat, so werden Sie mir erlauben, daß ich Ihnen die Antwort auf diese Fragen schuldig bleibe.“
„Damit kommen Sie nicht durch, mein Herr, und Sie müssen selbst einsehen, daß Sie mit dieser Ausflucht nur den bereits auf Ihnen lastenden Verdacht vermehren.“
„Aber worin besteht der Verdacht? Gegen ihn will ich mich verantworten.“
„Ist es nicht verdachterregend genug, daß Sie über Jahr und Tag von Vilagos aus in allen ungarischen Städten nach Personen eines Namens forschen, der selbst nicht zu den gut renommirten gehört? Daß sie dabei immer die Mitwirkung der Behörden scheuen? Aber dazu kommen noch ganz andere und wichtigere gravirende Umstände. Weshalb hielten Sie sich mit den beiden Damen, Ihren Begleiterinnen, nur einen einzigen Tag in Kremnitz auf, wo Sie doch leichter, als an andern Orten, über das, was Sie wünschen, hätten belehrt werden können, und weshalb sah Ihre schnelle Entfernung aus dieser Bergstadt einer Flucht ähnlicher, als einer Abreise?“
„Der Grund lag in einer unbesiegbaren Furcht meiner Frau, daß ihr von einer in Kremnitz wohnenden einflußreichen Person Schlimmes zustoßen könnte, und nach früheren bösen Erfahrungen mußte ich selbst gemeine Rachehandlungen von jenem hochgestellten Manne fürchten, denen wir uns nur durch eine schnelle Abreise entziehen zu können glaubten.“
„Und wer ist dieser hochgestellte Mann, den mit Recht zu fürchten Sie angeblich Ursache haben?“
„Der Oberbergmeister von Hammerstein.“
„Welchen Grund haben Sie zu solcher Furcht?“
„Herr von Hammerstein war der Verlobte meiner Frau, eh’ ich sie kennen lernte. Ihr Rücktritt und ihre Verbindung mit mir riefen sehr unwürdige Schritte gegen uns auf, und wir haben Ursache, gegen ihn fort und fort auf der Hut zu sein.“
„Wußten Sie denn nicht, daß Herr von Hammerstein in Kremnitz amtirt?“
„Wir erfuhren es leider erst in der Stadt selbst, in welcher wir aus seelischen Gründen gern länger verweilt hätten.“
„Welches waren diese Gründe?“
„Weil Kremnitz der Geburtsort meiner Frau ist, wo sie nur die paar ersten Jahre ihres Lebens zugebracht hat, so daß ihr nur dunkle Erinnerungen daran vorschweben.“
„Wer war der Vater Ihrer Gattin?“
„Der verstorbene Bergmeister von Schönebeck. Der ehemalige, nun auch aus dem Leben geschiedene Oberbergmeister von Holdrat war ihr mütterlicher Großvater.“
In den Zügen des Polizeidirectors ging während dieser harmlosen Mittheilung eine Bewegung vor. Er versank einige Augenblicke in Nachdenken; dann fuhr er fort:
„Wie reimt sich mit diesem offenen Bekenntniß Ihre Angabe zusammen, daß Sie der Beauftragte eines Andern wären?“
„Die Angabe der Familienverhältnisse meiner Frau hängt ja nicht mit dem mir ertheilten Auftrage zusammen, die Verwandten eines griechischen Handelsmannes aufzusuchen.“
„Nicht?!“ betonte der Beamte scharf und mit einem Anfluge von Spott. „Verbuchen Sie nicht, der Wiener Polizei was weiß zu machen. Es durfte Ihnen schwerlich gelingen.“
Aber das befremdende Erstaunen in den Zügen des deutschen Advocaten war doch zu natürlich und ehrlich, als daß der Polizeidirector nicht davon hätte stutzig gemacht werden sollen.
„So wissen Sie durch Ihre Gattin nicht, in welchem Verhältnisse jener Handelsmann Georg Theodoro, dessen Ableben Sie behaupten, und dessen Erben Sie suchen, zum Großvater Ihrer Gattin, Herrn von Holdrat, stand?“
„Davon weiß weder ich noch sie etwas. Sie hat nie den Namen Theodoro genannt und schwerlich den Träger desselben gekannt.“
„Aber ist er nicht bei Ihnen gestorben und hat Ihnen sein erworbenes Gut zur Vererbung an seine Familie hinterlassen?“
„Nein, so ist es nicht. Ich habe den Mann nie gekannt. Ich bin ja nur der Beauftragte eines Andern.“
„So kennen Sie auch wohl den Siegelring nicht näher, den man gestern mit dem Reisepaß Georg Theodoro’s zusammengepackt bei Ihnen gefunden hat?“ Die Frage war mit Erbitterung und mißbilligendem Kopfschütteln gesprochen.
„Nein, ich kenne ihn nicht. Er ist mir anvertraut worden, damit er mir vielleicht das Aussuchen der Erben Theodoro’s erleichtere.“
„Und auch Ihre Gattin kennte nichts von der geheimen Geschichte dieses Ringes, sie die Enkelin seines ehemaligen Besitzers, sie die Tochter seines nachherigen Besitzers?“
Liebheld war sprachlos vor Erstaunen, und der Polizeidirector schlug eine höhnische Lache auf; denn er glaubte den Mann nun verstrickt zu haben.
„Sie wüßten nicht, daß sich um diesen Ring die verhängnißvolle Geschichte und gewissermaßen der Untergang jener Familie dreht, welcher doch Ihrer Angabe zu Folge ihre Gattin entsprungen ist?“
„Nein, bei Gott! nein!“ stammelte Liebheld.
„Wüßten nichts von jener grauenhaften, über allen Zweifel feststehenden Erscheinung des Geistes, der diesen Ring sucht, diesen Ring verzweiflungsvoll verlangt, um diesen Ring gräßliche Jammertöne ausstößt, und dieses umgehende Gespenst ist doch durchaus kein anderer Geist, als der des Vaters Ihrer Gattin? Und auch diese wüßte von dem Allen nichts?“
„Mein Erstaunen steigt mit jedem Worte, das ich weiter von Ihnen vernehme. Ich darf mit Bestimmtheit annehmen, daß auch meine Frau nichts von allen diesen Dingen weiß, sonst hatte sie mir ganz gewiß Mittheilungen darüber gemacht.“
„Aber wie sind Sie denn in Besitz dieses Ringes gekommen? Doch wohl auf keinen Fall anders, als durch Erbschaft Ihrer Gattin von Ihrem Großvater, Herrn von Holdrat?“
[144] „Nichts weniger als das. Meine Frau hatte mit dem Ringe nie etwas zu schaffen. Ich zweifle, daß sie ihn je gesehen hat. Er gehört zur Nachlassenschaft jenes Georg Theodoro und ist mir, wie ich Ihnen bereits gesagt, anvertraut worden, damit er mir vielleicht das Aufsuchen der Erben dieses Mannes erleichtere.“
„Und wer ist denn dieser Auftraggeber, der im Besitz dieses wichtigen Ringes war, an welchem doch eigentlich nur Ihre Gattin Interesse haben kann? Wer ist der Mann, welcher jetzt im Besitz der übrigen Nachlassenschaft Georg Theodoro’s ist, die an die Erben zu bringen er sich so viel verhüllte, lichtscheue, geheimnißvolle Mühe und so viel Geld kosten läßt? Wer ist dieser merkwürdige Mensch?“
„Seinen Namen zu nennen, verbietet mir jetzt noch mein gegebenes Ehrenwort. Sehr wichtige Gründe halten ihn ab, hervorzutreten.“
„Ich glaub’ es wohl!“ lachte der Beamte boshaft. „Aber können Sie sich als Rechtsgelehrter und vernünftiger Mensch vorstellen, daß wir uns mit solchen Lappereien abspeisen lassen, wenn es sich um die endliche Lösung eines hartnäckig allen Versuchen geschickter Meister widerstandenen Räthsels, um die seit zwanzig Jahren erstrebte Aufhellung eines undurchdringlichen Dunkels handelt, dessen innerster, geheimnißvoller Kern ein Verbrechen ist, sein muß, über dessen Art und Weise und Beschaffenheit nicht einmal Vermuthungen aufzustellen waren? Nein, mein Herr, hoffen Sie nicht, so durchzukommen. Ihre Angaben sind lauter Widersprüche. Sie haben uns zur ersten Dämmerspur in diesem finstern Labyrinth verholfen, und Ihre Zusammenkunft mit einem bestraften Verbrecher und höchst verdächtigen Menschen gestern im Prater hat uns die Gewißheit verschafft, nach welcher Seite wir vorzuschreiten haben.“
„Dieser Mensch ist der einzige Bruder und Erbe des verstorbenen Georg Theodoro.“
„Genug mit diesem Märchen!“ sagte der Beamte bitter. „Wir wollen doch sehen, ob Ihre Gattin nicht mehr weiß von dieser wichtigen Sache.“
„Meine Frau ist als dreijähriges Kind von ihrem Großvater aus Kremnitz und Ungarn geführt worden, und weil ihr Großvater und Vater Feinde waren, so –“
„Ganz recht! ganz recht! Todfeinde!“ fiel der Polizeidirector hastig ein.
„So hat der Erstere, ihr Erzieher, nie etwas über ihren verstorbenen Vater bei ihr verlauten lassen. Sie kann Ihnen deshalb keine andern Angaben machen, als ich.“
„Wir werden sehen. Wenn Sie Ihrer Gemahlin Unangenehmes ersparen wollen, so geben Sie die beobachtete Rückhaltung auf, und machen Sie ganz offene Mittheilungen. Sie sehen, ich bin von jedem Ihrer Schritte unterrichtet. Es handelt sich um die Aufklärung einer der dunkelsten und räthselhaftesten Thaten, bei welcher selbst die Geisterwelt betheiligt ist. So werden Sie einsehen, daß Sie mit Vorwänden wie gegebenes Ehrenwort und poetischen Erfindungen nicht auskommen.“
„Mein Herr, ich kann nur dem Fürsten Staatskanzler oder dem Kaiser selbst nähere Eröffnungen über Personen, die durchaus geschont werden müssen, und über bis jetzt unbekannte Thatsachen machen.“
„Wohl! Ich werde Seiner Durchlaucht Ihr Gesuch vortragen.“
Am Abend wurde Doctor Liebheld in das Palais des Fürsten Metternich geführt.
Am folgenden Morgen schrieb er einen kurzen Brief an Eduard Kahlert folgenden Inhalts:
„Endlich Land, lieber Junge! Und was für ein Land! Ja, die gestern entdeckte Insel, die sich so lange meinem spähenden Blicke entzog, ist ein Wunderland. Aber noch liegt sie in der Perspective vor mir. Was werden wir erst entdecken, wenn unser Fuß auf ihrem festen Boden wandelt! Mit dem „wir“ meine ich Dich und mich; denn es ist des Kaisers Wunsch, der sich persönlich für unsere Angelegenheit interessirt, daß Du selbst mitwirkst. Komm also unverzüglich hierher. Wir werden erst eine Audienz beim Kaiser haben, und dann zusammen die Reise nach Kremnitz in Oberungarn machen, in dessen Goldbergwerken das geheimnißvolle Drama spielt, dessen Entwickelung und Abschluß herbeizuführen wir vom Schicksal berufen zu sein scheinen. Mache Dich gefaßt, Wunderbares zu erfahren!“
Unter den verschiedenen Fragen, welche die öffentliche Meinung beschäftigen, erregt und verdient keine eine größere Aufmerksamkeit, als die Durchstechung der Erdenge von Suez. Sie allein hat welthistorische Bedeutung, ihr gegenüber treten alle Tagesangelegenheiten in den Hintergrund zurück. Unabsehbar in ihren Folgen, stellt sich die Eröffnung einer abgekürzten Wasserstraße zwischen dem mittelländischen Meere und dem indischen Oceane jenen denkwürdigen Begebenheiten zur Seite, welche in der Cultur-Geschichte [145] der Menschheit Epoche bilden. Seit der Entdeckung Amerika’s und der Fahrt um’s Cap der guten Hoffnung, hat sich in den wirthschaftlichen Verhältnissen West-Europa’s ein Ereigniß von höherer Wichtigkeit kaum zugetragen. Eben so klar ist es, daß das Näherrücken der civilisirten Nationen des Abendlandes für den Orient in politischer und socialer Beziehung eine heilsame Veränderung hervorzubringen berufen ist. In Begleitung der Waaren und Reisenden werden Ideen nach dem Osten strömen, und was eiserne Gewalt vereinzelter Völker nicht vermocht – die im Kastengeist gebannte Gesellschaft umzubilden – wird den geistigen Waffen der gesammten gesitteten Staaten sicher gelingen. Die Trennung zweier Erdtheile wird auf diese Art die Einigung aller herbeiführen, und der Wasserweg zwischen zwei Meeren wird zum festen Band zwischen Hunderten von Millionen Menschen werden.
Schon im grauen Alterthume bestand zwischen den historischen Völkern Europa’s und den südlichen und östlichen Ländern Asiens ein beständiger und reger Handelsverkehr. Die Griechen und hierauf die Römer sammt den ihrer Herrschaft unterthänigen Provinzen strebten nach den kostbaren Erzeugnissen Arabiens, Indiens und China’s in dem Maße, als mit dem Vorschreiten ihrer Bildung oder ihrer Eroberungen die Lebensbedürfnisse an Zahl und Verfeinerung zunahmen. Die Hauptartikel, die man aus dem Morgenlande bezog, bestanden in Specereien, Edelsteinen, Perlen, Elfenbein, Seiden- und feinen Baumwollenwaaren. Hierfür schickte man nach jenen Gegenden Leinwand, Weine, wollene Tücher, Silbergeräth und besonders viel Gold.
Der Weg, auf welchem dieser Austausch stattfand, war ein dreifacher. Der längste und mühevollste ging vom Indus über Persien nach dem caspischen und von hier nach dem schwarzen [146] Meere. Ein zweiter führte durch den persischen Golf nach dem Euphrat und mündete in den syrischen Häfen. Ninive, Babylon, Palmyra und Tyrus verdankten ihren Wohlstand vorzüglich der Vermittelung dieses Handels, und als diese Städte, sammt den Reichen, die sie verherrlichten, in Trümmer zerfielen, erbten Basrah, Bagdad und Mosul freilich nur einen Theil der Blüthe ihrer mächtigen Vorgängerinnen. Die dritte Straße zwischen Ost und West lief durch den arabischen Busen über Egypten, theilweise mit Benutzung des ptolemäischen Canals, nach den Mündungen des Nils und endete in dem weltberühmten Hafen Alexandria’s.
Als Vermittler dieses Austausches nennt die Geschichte die Phönicier, das kühnste und bedeutendste Handelsvolk der alten Welt, hierauf die Perser und die verschiedenen Colonien griechischer Abkunft.
Der Sturz des weströmischen Reiches, das Vordringen gewaltiger Barbarenhorden in die Gefilde weitvorgeschrittener Bildung störte für eine Zeit die Beziehungen beider Welttheile zu einander; doch hörten dieselben selbst nach Begründung der Araberherrschaft, so wie mit dem Auftreten der Osmanen in Vorderasien nie gänzlich auf. Alexandria und Constantinopel versahen den Occident mit den Gütern des Morgenlandes.
Als Abnehmer und Weiterbeförderer der hier, so wie in andern minder ansehnlichen Häfen aufgestapelten Waaren trat zuerst Venedig und hierauf dessen kühne Nebenbuhlerin, Genua, auf. Die Kreuzzüge, indem sie die europäische Menschheit mit dem Osten in unmittelbare Berührung versetzten, erweckten von Neuem die Begierde nach dem Besitze der Schätze Indiens, und das Wiederaufleben der Künste und Wissenschaften, auf welches Wohlstand und Genußsucht folgten, setzten die Völker in den Stand, ihre Bedürfnisse in größerem Maße zu befriedigen. Bald nahm auch der Norden an dieser Thätigkeit Theil und die Hansastädte setzten die von den Venetianern und Genuesen zugeführten Waaren nach verschiedenen Ländern weiter ab.
Indeß gestaltete sich der orientalische Handel für keinen Staat so gewinnreich, als für die Königin des adriatischen Meeres. Sie war es, die selbst nach Eroberung Constantinopels (1453) und Egyptens durch die Türken ihre Verbindung mit dem Osten aufrecht zu halten, ja zu einem Monopol für sich umzuwandeln wußte. Die hierauf entstandene Vertheuerung der Waaren, so wie der Neid, welchen Bevorzugung und Glück erzeugen, riefen in den am atlantischen Oceane wohnenden Nationen den heißen Wunsch hervor, sich die zum Leben nöthig gewordenen Gegenstände auf anderem Wege zu verschaffen. So kam es, daß, im Auftrage seines Königs, der Portugiese Bartolo Diaz zu Ende des funfzehnten Jahrhunderts das Cap der guten Hoffnung erreichte und daß, von den Andeutungen der Wissenschaft unterstützt, Christoph Columbus, in der Absicht, den Seeweg nach Ostindien für den spanischen Hof zu entdecken, auf eine neue Welt, Amerika, stieß.
Nicht mehr rastete der Unternehmungsgeist, und was Diaz und Columbus versucht, erreichten wenige Jahre später Vasco de Gama und Magellan. Ersterer fuhr auf dem von seinem Landsmanne bezeichneten Wege um das Vorgebirge der guten Hoffnung, damals von den bestandenen Stürmen Cap der Stürme genannt, und traf im Jahre 1498 zu Melinda auf dem Strande von Zanguebar, kurz darauf aber auf der Malabarküste zu Calicut ein; während Magellan funfzehn Jahre nach dem Tode des genialen Mannes, der selbst nach Entdeckung Amerika’s die Durchfahrt nach dem indischen Meere zu suchen nicht aufgehört, diese an der südlichen Spitze des neuen Continents glücklich bewerkstelligte.
Ein Schiedsrichterspruch des Papstes Alexander VI. hatte die zwischen Spanien und Portugal entstandenen Streitigkeiten wegen des Besitzes der neuentdeckten und noch zu entdeckenden Ländereien dahin gelöst, daß alles Land 360 Meilen westlich von den Azoren den Spaniern, östlich den Portugiesen gehören sollte. Wie die westliche Halbkugel unterworfen, gehört nicht in den Rahmen gegenwärtiger, den orientalischen Verkehr schildernden Skizze. Während die Spanier in Amerika blutigen Fuß faßten, eroberte der tapfere Albuquerque Calicut, Goa und überhaupt die Küsten von Malabar, nahm ferner Malacca und ermöglichte das weitere Eindringen in die indische Inselwelt. Die Eroberung von Ormuz machte die Portugiesen zu Gebietern im persischen Golfe.
Vergebens trachtete die Lagunenstadt, die ihrem Monopol drohende Gefahr von sich abzuwenden. Der Karavanenzug konnte mit dem directen Seehandel den Wettstreit nicht bestehen, um so weniger, als jener wegen des brutalen Regiments der Türken immer unsicherer und kostspieliger wurde. Die Königin der Adria, auch von der Ligue von Cambray angefochten, büßte ihr Meeresscepter und ihren Reichthum ein.
Fast hundert Jahre hindurch behauptete Portugal sein Handelsreich in den indischen Gewässern. England, Frankreich und Holland, in continentale Kriege verwickelt, konnten während des sechzehnten Jahrhunderts ihre Aufmerksamkeit überseeischen Angelegenheiten nicht widmen. Doch mit Anfang des siebzehnten Jahrhunderts traten die nordwestlichen Staaten mit in die Reihe der Seemächte.
Zuerst wagten die Holländer einen Kampf um die Schätze Indiens und China’s mit den Portugiesen und es gelang ihrer Tapferkeit, sich auf dem gesegneten Boden festzusetzen. Kurz darauf erschienen die Engländer und die Franzosen, um an der reichen Beute Theil zu nehmen. Indeß verloren die Letzteren nach vielfältigen Wechselfällen bis auf einen geringen Rest alles Erworbene an ihre zur See übermächtigen Rivalen. Während sich nun auch die Holländer auf die Inselwelt beschränkten, dehnte seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts der britische Dreizack seine Gewalt nach und nach auf den ganzen indischen Continent aus, erstreckte seinen Einfluß auf Hinterindien, China, in die Gewässer Persiens und Arabiens, bemächtigte sich des Vorgebirges der guten Hoffnung, ergriff Besitz von dem neuentdeckten fünften Welttheil und zog mit Hülfe ungeheuerer Vorräthe an Handels- und Kriegsschiffen und Dank seinem mercantilen und Colonisirungs-Genie den östlichen Verkehr mit Europa fast ganz an sich. Indien ward zum Hauptquell des Reichthums und der Macht Großbritanniens.
Dies konnte dem scharfen Blicke Bonaparte’s nicht entgehen. Von englischem Vorurtheil und englischem Gold bekriegt, faßte der große Heerführer der französischen Republik den Entschluß, den Todfeind seines Vaterlandes an der verwundbarsten Stelle anzugreifen. Die Siege des Obergenerals in Egypten, so wie der Verlust dieses Schlüssels zu Indien wegen der Unfähigkeit seiner Stellvertreter und der Superiorität der englischen Marine, sind allgemein bekannt. Weniger verbreitet sind die Bemühungen Bonaparte’s für die Wiedereröffnung des alten Verkehrsweges zwischen dem rothen und dem mittelländischen Meere. Von Gelehrten, der sogenannten egyptischen Akademie, begleitet, ordnete der geniale Mann Forschungen an über die Möglichkeit einer Wasserverbindung durch die Landenge von Suez. In kriegerischer Eile und mit unvollkommenen Werkzeugen vollbracht, fiel die Untersuchung leider unbefriedigend aus. Die französischen Ingenieurs bestätigten den seit Aristoteles verbreiteten Irrthum, daß der Spiegel des arabischen Busens höher gelegen sei, als das Niveau des Mittelmeeres, und daß somit das Graben eines Canals die Ueberschwemmung Egyptens nach sich ziehen müßte.
Indeß, ob zu Wasser oder zu Land, der Weg über Egypten blieb immer der kürzeste. Ein Blick auf die Karte drang einem Jeden die Ueberzeugung und mit ihr den Wunsch auf, mit Umgehung der langen und gefahrvollen Fahrt um das Cap, eine Handelsstraße über die Ostecke Afrika’s herzustellen. Die steigende politische und commercielle Bedeutung Indiens, die ungeheueren Interessen, welche die Krone Großbritanniens nicht minder als die ostindische Compagnie an ihre Besitzungen knüpften, wiesen darauf immer nachdrücklicher hin. Dennoch, ob aus Rancune oder Eifersucht auf die am Mittelmeere gelegenen Häfen, thaten weder Regierung noch Handelsgesellschaft[WS 1] Schritte zur Erreichung des gedachten Zweckes. Privatmänner, von patriotischem Eifer beseelt, waren es, welche die Aufmerksamkeit ihrer Landsleute auf den großartigen Plan lenkten.
Nach unsäglichen Kämpfen und den härtesten Geldopfern gelang es um das Jahr 1830 dem Capitain Waghorn, die sogenannte Ueberlandpost zwischen Indien und Europa herzustellen. Eine Dampfschifffahrtsgesellschaft, unter dem Namen „Orientalische und Peninsular-Dampfschifffahrts-Compagnie“, führte die lebenskräftige Idee Waghorn’s aus. Die Anlage einer Eisenbahn von Alexandria nach Cairo, welche, weiter geführt, in Kurzem bis Suez vollendet sein soll, vervollständigt das Unternehmen. So namhaft jedoch auch die Vortheile dieser abgekürzten Verbindung für Brief- und Personenverkehr, so wie für Versendung kostbarer Waaren sein mögen, – man empfängt auf diesem Wege binnen 27 bis 30 Tagen Berichte aus Bombay in London, während die Fahrt um’s Cap drei Monate fordert, – so ist klar, daß sie den Nutzen einer [147] ununterbrochenen Seefahrt für die große Masse der Handelsgegenstände nicht aufwiegen. Das zweimalige Umladen, in Suez nämlich und in Alexandria, sowie die Beförderung auf der Eisenbahn, selbst wenn diese bis Suez fertig sein wird, bieten Hindernisse dar, welche die auf möglichst wohlfeile und sichere Fracht bedachte Rhederei zu umgehen bemüht ist. Nur wenn die Fahrzeuge aus den indischen Gewässern, ohne umzuladen, in’s Mittelmeer einlaufen dürften, würde für den Großhandel Vortheil erwachsen. Dann aber würde dieser auch ein offenbarer, ein ungeheurer werden.
Einmal angeregt, glomm die lichte und zukunftreiche Idee bald heller, bald dunkler, doch unausgesetzt fort.
Nachdem schon sieben Jahre früher der in indisch-europäischen Sachen wohl erfahrene General Chesney die Ueberzeugung ausgesprochen hatte, die Spiegel der beiden Meere wären einer Canalisirung des Isthmus nicht entgegen, unternahmen im Jahre 1841 britische Officiere auf eigene Faust die Nivellirung der Landenge, und bestätigten ihrerseits die Ansicht Chesney’s. Um dieselbe Zeit trat Linant-Bey, Ingenieur des Vicekönigs von Egypten und durch seine Bauten am Nil rühmlichst bekannt, mit Anderson, dem jetzigen Director der Orientalischen und Peninsular-Compagnie, nebst zwei anderen Briten in einen Verein zusammen, um den Durchstich des schmalen Landstreifens vorzubereiten. Indeß blieb dieses Beginnen ohne weiteren Erfolg, obschon Linant die Ausführbarkeit des Canals hinlänglich darthat. Zwei Jahre später kam eine neue Gesellschaft zu Stande, an der unter anderen außer dem Engländer Stephenson, der Oesterreicher Negrelli und der Franzose Talabot sich betheiligten. Die unter Leitung Bourdalour’s ausgeführten genauen Vermessungen wichen von den bisherigen günstigen Erhebungen nicht wesentlich ab. Indeß sagte sich Talabot, der in Egypten nicht persönlich gewesen war, von seinen Verbündeten insofern los, daß er einen Nilcanal vorschlug, welcher durch das Delta nach Alexandria laufen sollte, während die Uebrigen auf einer Durchstechung der Landenge von Suez bis Pelusium beharrten. Ein neues Nivellement im Jahre 1853, veranlaßt durch die Bedenken der französischen Akademie zu Ehren ihrer einstigen Mitglieder, lieferte ein den neueren Erfahrungen entsprechendes Resultat.
So standen die Dinge, als beim Ausbruch des Kriegs wider Rußland die Westmächte ihre Augen den orientalischen Verhältnissen näher zuwenden mußten. Die Wahrung der Integrität des türkischen Ländercomplexes, so wie die Kräftigung aller seiner Theile lagen im Interesse des gebildeten Theiles von Europa. Den der Auflösung nahen Organismus zu neuem Leben rufen, die aufstrebenden Theile zu rascherer Thätigkeit fördern, war eine Eingebung gesunder Staatsklugheit. Ein Canal zwischen dem rothen und dem mittelländischen Meere bot sich von diesem Gesichtspunkt als eines der wirksamsten Mittel dar. Er war überdies zur Nothwendigkeit für die nach frischen Absatzörtern ringenden Staaten am Mittelmeer geworden, und verhieß zugleich die größten Vortheile England so wie dem ganzen nördlichen Europa.
Herrn Ferdinand v. Lesseps blieb es vorbehalten, die zeitgemäße Idee wieder aufzunehmen und, Dank seinem unermüdlichen Eifer, dem Gelingen entgegenzuführen. Im October 1854, während eines Besuches bei seinem Freunde, dem regierenden Vicekönig von Egypten, kam zwischen den beiden Männern der Plan eines Canals zur Sprache. Von den Vortheilen, die hieraus für sein eigenes Land, so wie für die Menschheit überhaupt erwachsen müssen, auf’s Lebhafteste durchdrungen, gab Said Pascha seinem Gaste den Auftrag, Voranstalten zur Realisirung des großartigen Gedankens zu treffen. Die seit langen Jahren in egyptischen Diensten stehenden tüchtigen Ingenieure Linant-Bey und Mougel-Bey sollten Herrn v. Lesseps zur Verfügung stehen.
In Folge dieses Auftrags kam nach neuen allseitigen und genauen Forschungen ein Vorentwurf zu Stande. Derselbe enthielt den detaillirten Vorschlag eines directen maritimen Canals von Suez nach Pelusium, mit einem großen Hafen im Timsah-See und einem seinerseits zwei kleinere Arme aussendenden Irrigationscanal zwischen dem Nil und letztgenannten Becken, entlang des Wadi-Tumilat-Thales. Hierauf erschien ein Firman des Vicekönigs, welcher, unter Vorbehalt der oberherrlichen Genehmigung von Seiten des Sultans, Herrn v. Lesseps ermächtigte, eine Gesellschaft, aus Capitalisten aller Nationen bestehend, zur Ausführung und Ausbeutung der fraglichen Wasserroute zu bilden.
Die wesentlichen Bestimmungen dieses Actenstückes sind folgende: Gleichheit aller Flaggen. Neutralität des Canals. Dauer der Concession 99 Jahre vom Tag der Eröffnung gerechnet. Unentgeltliche Cession an die Compagnie alles dem Staate gehörigen Terrains, sowie Benutzung der Steingruben ohne Entgelt. Zollfreie Einfuhr von Maschinen und Utensilien. Schadloshaltung für das Inventar beim Erlöschen des Privilegiums. Die Ländereien, welche die Gesellschaft anbaut, sind die ersten zehn Jahre abgabefrei, und bleiben auch nach Verfall des Privilegiums ihr Eigenthum. Das Passagegeld ist auf 10 Francs per Tonne (Schiffscapacität) als Maximum festgesetzt, für die facultative Benutzung des Timsah-Hafens auf einen Franc. Die Gesellschaft hat das Recht, auf dem Nilcanal Passagegeld zu erheben, so wie ein Entgelt für die Bewässerung des anliegenden Bodens von den Privaten zu fordern. Vom Reinertrag der Unternehmung gebühren dem egyptischen Staatsschatz 15 pCt., den ersten Gründern 10, dem Verwaltungsrath 3, der Hülfscasse der Bediensteten 2 und den Actionären die übrigen 70 pCt. Ihren Sitz soll die Gesellschaft zu Alexandria, ihr Verwaltungsdomicil und ihr Forum zu Paris haben.
Ebenso behutsam als thatkräftig hielt Lesseps dafür, daß es gerathen sei, den Plan einer größeren, von unparteiischen und allgemein anerkannten Fachmännern zusammengesetzten Commission zu unterbreiten, ehe man zur Bildung einer Compagnie schreite und Hand an’s Werk lege. Die ersten Techniker Europa’s wurden zu Mitgliedern dieses Areopags erkoren. Sie hießen Rendel, Mac. Clean und Ch. Manby aus England; Negrelli, Rath im Handelsministerium zu Wien und General-Inspector der österreichischen Eisenbahnen; Paleocapa, Ingenieur und Minister der öffentlichen Bauten in Sardinien; Conrad, Ingenieur und Chef des niederländischen Water-staats; Lentze, Ministerialrath und Oberingenieur der hydraulischen Bauten in Preußen; Don Cypriano Segundo Montessino, General-Director der öffentlichen Arbeiten zu Madrid; Renaud, französischer General-Inspector der Brücken und Chausseen, und Liessou, Ingenieur-Hydrograph der französischen Marine.
Diese „internationale Commission“ versammelte sich Ende October 1855 zu Paris, und schiffte sich zu Marseille nach Egypten ein.
Nach möglichst genauen und gewissenhaften Untersuchungen an Ort und Stelle, – darunter neunzehn Bohrungen und eine langwierige Beobachtung im Pelusischen Meerbusen durch den Schiffscapitain Jaurès, – gab die Commission dem Vicekönig die Erklärung ab:
Junge Greise und alte Jungen, sie existiren; aber leider von jenen viel zu viel, von diesen viel zu wenig. Und das ist sehr natürlich; denn obschon sich auch die Meisten vor dem Alter mit seinen Schwächen und Mängeln (s. Gartenl. 1858. Nr. 5.) entsetzlich fürchten, thun sie doch nichts, um ihr Altern so weit als möglich hinauszuschieben. Im Gegentheil strebt man gewöhnlich danach, und zwar schon von Jugend auf, vorzeitig in ein Alter vorzurücken, wohin man noch gar nicht gehört.
Kleine dumme Mädchen, aufgeputzt wie Modedämchen, schwänzeln auf Kinderbällen als naseweise Zierpüppchen umher. – Kaum aus der Schule gekrochene Backfische (ein Mittelding zwischen Schulmädchen und Jungfrau), manchmal noch gar nicht im Alter des Reifens, am allerwenigsten aber in das der Reife getreten, stolziren wie Pfauen aufgeblasen schon am Arme eines Bräutigams einher, der in der Regel weniger in das Gänschen, was er führt, als in deren Moneten verliebt ist. – Jungfrauen, in Folge der [148] durchlebten Kaffee- und Theeklatsche mit nichtsnutziger Frauensuperklugheit begabt und durch Gesellschaften, Bälle, Romane, Liebeleien, Vergnügungssucht abgelebt, verblüht und verwimmert, lassen bei ihrer Bleichsucht, Magerkeit und Schlaffheit nur wenig als spätere Gattinnen und Mütter von sich hoffen. – Frauen in ihren besten Jahren und trotz der Schonung ihrer Kräfte (mit Hülfe von Amme, Kinder- und Stubenmädchen, Köchin und Bedienten) wackeln doch schon nach wenig überstandenen Wochenbetten mit runzligem, zahnlosem Gesichte und, wahrlich nicht zur Freude des Mannes, ungeschnürt und ungenirt im Hause herum.
Beim männlichen Geschlechte sieht es aber auch nicht viel besser als beim weiblichen aus, nur daß hier wenigstens die erste Jugendzeit etwas vernünftiger verlebt wird. Aber kaum ist der Schulbube in das Jünglingsalter getreten, wo er nun bei jahrelanger passender körperlicher (besonders geschlechtlicher) und geistiger Diät gehörig reifen soll, so betrachtet er sich schon als reif, und spielt den jungen Mann nach allen Richtungen hin. Dem dadurch im Reifen gestörten Körper, wenn er alsdann in das wirkliche Mannesalter tritt, wo er doch reif und kräftig sein sollte, fehlt jetzt die männliche Kraft und bald fängt er vorzeitig an zu welken; der junge Greis ist fertig. Wo man heutzutage hinsieht, z. B. auf Bällen, Turnplätzen, Kegelbahnen, Schwimmanstalten und Eisbahnen, bei Aushebungen zum Militair und Communal- oder Nationalgardendienst, was sieht man da nicht für eine Menge jämmerlicher, blasirter Jünglinge und Männer ohne Saft und Kraft, knickbeiniger Kahlköpfe und entnervter Unmänner!
Unsere unzweckmäßige körperliche und geistige Erziehung, welche gewöhnlich schon mit der Geburt des Weltbürgers beginnt und nicht schnell genug bleichsüchtige und scrophulose Wunderkinder und Genies fertig bringen kann, trägt vorzugsweise die Schuld an dem vorzeitigen Altern, so wie auch an dem allzufrühen Sterben der jetzigen Menschheit. Mit unseren Sitten, unseren Selbstqualen sterben wir nicht, sondern tödten wir uns, sagt Flourens ganz recht. Und warum ist unsere Erziehung so unzweckmäßig eingerichtet? Weil die Mädchen zu ihrem Berufe als Gattinnen und Mütter nicht gehörig vorgebildet werden; sie lernen eine Menge unnützes Zeug für die kurze Zeit des Brautstandes, aber nichts Reelles für die lange Zeit des Ehestandes. Weil ferner die Erzieher und Lehrer, obschon sie tüchtige Menschen bilden sollen und wollen, doch die bei der körperlichen wie geistigen Ausbildung eines Menschen innerhalb und außerhalb des menschlichen Körpers wirkenden Gesetze ignoriren und deshalb auch ihren Zöglingen von allen göttlichen Gesetzen gerade die verschweigen, durch deren Befolgung der Mensch ein gesundes und langes Leben leben kann. – Diese Gesetze lassen sich nun aber nicht mit wenigen Worten angeben und auswendig lernen, sondern sie müssen durch die Gewinnung einer ordentlichen Einsicht in die Natur und in die Einrichtung des menschlichen Körpers vorerst gehörig begriffen werden. Denn um Vernunft- und naturgemäß zu leben, was ja eben das Leben gesund erhält und verlängert, dazu gehört ein eigens gebildeter Verstand, der nicht von selbst in uns hineinfährt. Und wenn sich auch ganz im Allgemeinen Regeln für Alle, um ihre Gesundheit zu bewahren und ein hohes Alter zu erreichen, aufstellen lassen, so reichen diese doch durchaus nicht hin, da ja nicht Alle nach einem Schema ihre Lebensweise einrichten können und Jeder nach seiner Körperconstitution und nach den übrigen Umständen leben muß. Was dem Einen zuträglich, kann möglicher Weise einem Andern höchst nachtheilig sein; was in dem einen Klima nützt, schadet nicht selten in dem andern u. s. f.
Von allen im Allgemeinen aufzustellenden Regeln lautet nun aber diejenige, welche die Grundlage zur Erreichung eines hohen und gesunden Alters bietet, so: „beobachte eine vernünftige Mäßigkeit in allen Dingen, vorzugsweise aber im Essen und Trinken, und lebe so regelmäßig als möglich.“ Es heißt übrigens „sei mäßig in allen Dingen“, weil nicht etwa blos im Körperlichen, sondern auch im Geistigen gesündigt werden kann, wie die unserer Jugend auferlegten geistigen Anstrengungen deutlich beweisen. Die meisten lebensverkürzenden Krankheiten[WS 2] verdanken der Unmäßigkeit in dieser oder jener Beziehung ihr Entstehen. – Wer nun die Lebens- und Gesundheits-Regeln genauer kennen lernen will, findet sie in Kürze in der Gartenl. 1855. Nr. 6. und in meinem Buche „vom gesunden und kranken Menschen“ aufgezeichnet.
Forschen wir nach den hauptsächlichsten Ursachen des vorzeitigen Alterns, so ergeben sich als solche vorzugsweise: eine dem Lebensalter vorgreifende, also nicht entsprechende Lebensweise und zwar ebenso in körperlicher und geistiger, wie geschlechtlicher und gemüthlicher Hinsicht; ferner eine ausschweifende, überreizende Lebensweise (zumal Excesse in geschlechtlicher Hinsicht, Heirathen in zu frühem und zu hohem Alter); allzudürftige, eingeschränkte, körperlich und geistig mühselige und niederdrückende Umstände, Kummer, Sorgen, ungewohnte Strapazen, Kaltwasserfanatismus, erschütternde Ereignisse, häufige und schnell auf einander folgende Wochenbetten und erschöpfende Krankheiten. Auch scheint das nahe Zusammenleben junger Personen mit Alten den ersteren frühzeitig etwas Greisenhaftes zu verleihen. Am meisten trägt aber der rasche Verbrauch der Lebenskräfte (namentlich der Zeugungskraft) zum frühzeitigen Altern bei, weshalb auch dauernd übertriebene körperliche und geistige Anstrengungen, häufiges Nachtarbeiten, Entbehrung der nöthigen Restaurationen des Körpers durch Ruhe, Schlaf und passende Nahrung, sowie der unmäßige Genuß von Spirituosen das Altern sehr befördern.
Bei der Behandlung des Greisenalters ist die Hauptsache: jede gewaltsame Aenderung der gewohnten Lebensweise zu vermeiden; besonders ist das Streben nach Abhärtung und Stärkung (Verjüngung), sowie die Entziehung gewohnter Reize sehr gefährlich. Der Greis sei mit dem Grade von Lebenskraft und Gesundheit zufrieden, den er aus seinem spätem Mannes- (Frauen-) Alter mitgebracht hat; er sei nicht auf Vermehrung, sondern auf Erhaltung und ökonomische Benutzung desselben bedacht. Nur die sanfte Anregung des Lebensprocesses durch Spirituosa, mäßig und mit der gehörigen Menge passender Nahrungsmittel genossen, ist anzurathen, weshalb auch ein ganz altes Sprüchwort den Wein als die Milch des Alters bezeichnet (vinum lac senum), sowie die Milch als den Wein der Jugend (lac vinum infantum). Uebrigens sind unnöthige Muskelanstrengungen, anstrengende geistige Arbeiten, heftige oder unangenehme Gemüthsbewegungen, sinnliche Erregungen soviel als möglich entfernt zu halten. Der Greis erheitere sein Gemüth durch jugendliche, freundliche Umgebung, durch Unterhaltung und Zerstreuung.
Was die Nahrung betrifft, so muß diese zwar nahrhaft, aber einfach und leicht verdaulich, weich und feucht, etwas gewürzt sein. Sie bestehe aus Bouillons und Kraftbrühen von Fleisch, rohen oder weichgesottenen Eiern, Kraftgelées, Austern, feingearbeiteten Würsten, Fleischhachées, weichen Braten (besonders Wild und Geflügel); aus leichten, durchgeschlagenen und feingewiegten Gemüsen und mehligen Dingen; aus Warmbier, Chocolade, Milch, Kaffee mit guter Sahne oder Eigelb. Alles Feste werde sehr klein geschnitten, und so gut als es der schlechten Zähne wegen noch möglich, gekaut; weißes Roggen- oder Weizenbrod ist schwarzem und kleienhaltigem vorzuziehen. Greise bekommen von einigermaßen reichlichen Mahlzeiten oder festern Speisen leicht Beschwerden; sie mögen deshalb immer wenig auf einmal und lieber öfters essen, und Hartes, Zähes, Faseriges vermeiden. Ueberhaupt darf die Blutneubildung durch Nahrungsstoffe nicht zu bedeutend sein, weil das Blut im Greisenkörper der schlechtem Beschaffenheit aller Organe wegen nicht ordentlich im Körper herumgetrieben und verarbeitet werden kann. Es sterben eine Menge Greise weit früher als es nöthig wäre, blos weil sie zu viel essen. Kurz vor Schlafengehen des Abends viel oder überhaupt zu essen, ist nachtheilig. Dagegen ist ein Schläfchen nach dem Mittagessen von Vortheil (s. Gartenl. 1854. Nr. 6.). Die Kleidung alter Leute sei wärmer als die jüngerer Personen, da ihr Körper weniger Wärme als früher entwickelt und das Alter ebenso wie die Kindheit am besten bei Wärme gedeiht. Deshalb sind hier Flanellunterjäckchen, wollene Unterkleider, warme Deckbetten, ausgewärmte Betten, gut geheizte Wohn- und Schlafzimmer, trockene und sonnige Wohnung sehr zu empfehlen. In kalter Jahreszeit und bei kaltem Verhalten sterben weit mehr Greise als in der Wärme. – Warme Bäder, überhaupt Reinigung der Haut durch warme Waschungen und Abreibungen, sind wegen der herabgesetzten Hautthätigkeit im Alter von äußerster Wichtigkeit. Greise sollten mindestens wöchentlich ein Mal ein warmes Bad nehmen, hierbei die Haut erst mit Seife und dann mit einer fettigen Substanz (Mandelöl) abreiben. – Bei der ohnedies geringen Schlafneigung der Greise ist für möglichst ruhigen Schlaf (im geräumigen, gut gelüfteten und mäßig erwärmten Zimmer und mit hochliegendem Kopfe) Sorge zu tragen. – Vorzüglich [149] sind nun aber alte Leute vor Allem zu warnen, was Schlagfluß (s. Gartenl. 1855. Nr. 19.) veranlassen könnte.
Krankheiten, die meistens gefährlicher als in den früheren Lebensaltern sind, ziehen sich Alte vorzüglich durch Erkältungen der Haut, Einathmen kalter, unreiner Luft, Verstöße im Essen und Trinken, sowie durch zu starke körperliche und geistige Anstrengungen zu. – Arzneimittel sind hierbei möglichst selten anzuwenden; dringt aber ein Greis aus Altersdummheit auf Arzneien, dann nehme er homöopathische, denn diese sind ja = 0, d.h. gleich Nichts und für Dumme. Vorzüglich mögen sich alte Leute vor Abführmitteln, überhaupt vor Entziehungscuren, hüten; Greise befinden sich bei träger (aber nicht harter) Leibesöffnung am besten; sie ist durch Klystiere zu reguliren. – Schließlich will ich alten Leuten noch rathen, sich hübsch mit Ruhe und Verstand in die Beschwerden zu fügen, welche das Alter naturgemäß mit sich bringt. Leider haben aber Alte selten noch soviel Verstand, und anstatt sich zu fügen, wollen sie vom Arzte mit Gewalt jung curirt sein, und das läuft in der Regel schlecht ab.
In seiner Wohnstube saß der alte Geheimrath Heim, der berühmteste und genialste Arzt zur damaligen Zeit. Man konnte sich keine ehrwürdigere und mehr Vertrauen einflößende Gestalt denken. Weiße Locken umgaben seine intelligente Stirn, die scharfen blauen Augen verriethen einen hohen Grad von Beobachtungsgabe, vereint mit einer herzgewinnenden Gutmüthigkeit. Trotz des vorgerückten Alters hatte er sich eine jugendliche Frische des Geistes und des Körpers bewahrt. Während er sprach, schwebte ein freundliches Lächeln um seine Lippen und seine Worte trugen den Stempel eines gesunden Humors, einer Heiterkeit, die aus einem zufriedenen Gemüthe und einem ruhigen Gewissen ununterbrochen wie ein reiner Quell hervorsprudelten. – Er war mit einem dunkeln Schlafrock bekleidet, den er jedoch bald wieder ablegte, um sich für seine Visiten umzukleiden. Während er sich anzog, standen mehrere junge Mediciner und seine Assistenzärzte um ihn, mit denen er sich unterhielt, ihnen seine Erfahrungen aus einer großen Praxis mittheilend oder ihre Berichte mit Aufmerksamkeit entgegennehmend. Er sprach mit ihnen wie ein älterer Freund mit seinen jüngeren Collegen. Da war nichts von Ueberhebung, Stolz oder Anmaßung in seinen Reden zu bemerken. Sie dagegen behandelten ihn wie treue Söhne einen Vater; sie leisteten ihm willig allerlei kleine Dienste; der Eine half ihm beim Anlegen der Weste und des Halstuches, der Andere brachte den blauen Rock herbei und unterstützte ihn beim Anziehen desselben. – Unterdeß hatte der treue Diener den bekannten Schimmel aus dem Stalle geführt, denn der alte Herr besuchte seine Patienten meist zu Pferde; das war eine Eigenthümlichkeit des originellen Mannes, die er bis in das späteste Alter beibehielt.
Eben schickte er sich an, seine täglichen Krankenbesuche abzustatten, als sein hochgestellter College, der Staatsrath Hufeland, in das Zimmer trat, um ihn zu einer Consultation bei einem vornehmen Patienten abzuholen. Beide Aerzte sprachen zuerst von dem vorliegenden Falle, worauf sie auf andere medicinische Gegenstände von Interesse übergingen. Wie es meist bei Aerzten zu geschehen pflegt, waren ihre Meinungen in vielen Punkten abweichend, und besonders konnte sich Hufeland nicht über eine neue Behandlung des Wechselfiebers zufrieden geben, welche Heim in der letzten Zeit eingeschlagen hatte. Man befand sich damals zur Zeit der bekannten, von Napoleon verhängten Continentalsperre. Durch diese Maßregel, welche den Handel mit England gänzlich lähmte, war der Preis aller ausländischen Producte und besonders einiger Arzneistoffe, wie der beim Wechselfieber bisher gebrauchten Chinarinde, um das Zehn- und Zwanzigfache gestiegen, so daß ihre Anwendung bei armen Leuten fast unmöglich wurde, weil sie den theueren Preis nicht erschwingen konnten. In dieser Noth hatte sich Heim um ein anderes Mittel umgesehen und dasselbe im Arsenik gefunden, den er natürlich in sehr kleinen Dosen fast in allen Fällen verabreichte. Hufeland scheute sich vor dem Gebrauche des Giftes und machte seinem Freunde und Collegen die eindringlichsten Vorstellungen.
„Wie kannst Du,“ fragte er ihn in dem ihm eigenen salbungsvollen Tone, „bei Dem dort oben es verantworten, daß Du Deine Kranken mit einem so gefährlichen Gifte behandelst?“
Heim’s Mund verzog sich bei dieser Frage zu einem leisen, sarkastischen Lächeln.
„Wenn Der mich fragen wird,“ antwortete er schmunzelnd, „so werde ich ihm sagen: Alter, das verstehst Du nicht!“
Dabei klopfte der lose Spötter gutmüthig seinem Collegen auf die Schulter, so daß dieser nicht zweifeln konnte, daß er selber eigentlich mit dem „Alten“ gemeint sei. Ein wenig empfindlich, aber doch nicht böse, entfernte sich Hufeland mit seinem Freunde, um den vornehmen Patienten zu besuchen. Sie fanden den Kranken in einem höchst gefährlichen Zustande und Beide hatten keine Hoffnung, ihn zu retten. Sie waren vollkommen darüber einverstanden und verschrieben mehr zur Beruhigung der Angehörigen eine Medicin, ohne sich die geringste Wirkung zu versprechen. Da Hufeland sehr beschäftigt war, so versprach Heim, nach einigen Stunden nachzusehen, obgleich er selbst nicht glaubte, den schwer Leidenden noch am Leben zu treffen.
Sein nächster Besuch galt einem eingefleischten Hypochonder, der ihm mit einem ganzen Heere von eingebildeten Klagen entgegenkam. Heim verordnete ihm eine an sich ganz gleichgültige Medicin mit dem Zusätze, nach jedem Löffel desselben mindestens eine halbe Stunde im anhaltenden Schritte zu gehen.
„Wenn Sie,“ fügte er mit ernstem Gesichte hinzu, „diese Verordnung nicht ganz pünktlich befolgen, so kann ich für nichts stehen, da das Mittel sonst Ihnen nicht allein nichts nützen, sondern geradezu sehr schaden kann.“
Der furchtsame Patient gelobte den strengsten Gehorsam, und Heim verließ ihn auch in dieser festen Ueberzeugung. Er hatte seine Absicht erreicht, und was ihm durch gütliches Zureden bisher nicht gelungen war, setzte er durch diese kleine List durch. Der Kranke, dem es einzig und allein an Bewegung fehlte, wurde auf diese Weise von seinen Leiden befreit.
Heim gehörte nicht zu den Aerzten, die mit dem „Verschreiben“ Alles abgethan glauben; er besaß einen hohen Grad von Lebensklugheit und Menschenkenntniß, woran es jüngeren Aerzten häufig fehlt. Das Wissen thut es nicht allein, sondern weit mehr noch der angeborene Scharfblick und der praktische Verstand.
Nachdem Heim noch eine Menge von Patienten besucht, kehrte er zu dem Kranken zurück, den er mit Hufeland am Morgen gesehen. Der Zustand hatte sich so bedeutend verschlimmert, daß keine Rettung möglich schien. Nach dem Glauben der Umgebung lag der Leidende bereits in den letzten Zügen, aber der schärfer sehende Arzt erkannte unter der Larve dieser drohenden Symptome ein gewaltsames Ringen der Natur, eine wohlthätige Krisis, welche er unterstützen zu müssen glaubte. Schnell entschlossen, verordnete Heim ein Brechmittel. Die Angehörigen waren nicht wenig betroffen, aber sie wagten nichts dagegen zu reden. Trotz ihres Vertrauens in den berühmten Arzt schickten sie aber heimlich nach dem Staatsrath Hufeland. Heim erklärte, die Wirkung seiner Verordnung abwarten und, bis diese eingetreten sei, dableiben zu wollen. Er selbst reichte dem Patienten das Brechmittel, sobald dasselbe aus der Apotheke kam. Wider Erwarten trat nach dem Einnehmen der Medicin eine auffällige Besserung ein, so daß der von allen Seiten aufgegebene Patient sich sichtlich erholte.
Unterdeß war der Staatsrath Hufeland in größter Eile angelangt, überzeugt, eine Leiche anzutreffen. Ohne sich nur den Kranken anzusehen, nahm er Heim bei Seite und überhäufte seinen Collegen mit Vorwürfen.
„Mein Gott,“ rief er erschrocken aus, „wie konntest Du es wagen, einem Sterbenden ein Brechmittel zu geben? Welche Gründe hattest Du für eine so unverantwortliche Handlungsweise?“
„Das kann ich Dir nicht sagen,“ antwortete der bescheidene Heim mit einer fast kindlichen Einfalt. „Wissenschaftliche Gründe weiß ich Dir auch eigentlich nicht anzugeben, aber der Mensch sah mir so aus, als ob er brechen müsse.“
[150] Sein Genie hatte auch hier wieder das Richtige getroffen, ohne viel nach den Vorschriften und alltäglichen Regeln zu fragen. Allerdings würden wir nicht jedem jungen Doctor den Rath ertheilen, es wie der alte Heim zu machen. Dazu muß man eben, wie er, ein geborner Arzt sein und denselben feinen und sichern Instinct besitzen, der nur wenigen Menschen gegeben ist.
Hufeland war auch mit dieser Antwort vollkommen zufrieden, da er den günstigen Erfolg eines so kühnen Verfahrens mit eigenen Augen sah; aber er schüttelte doch bedenklich mit dem Kopfe bei einem Wagstücke, das seiner eigenen Natur so fremd und zuwider war.
Es war bei dem kurzen Herbsttage schon dunkel geworden, als Heim, ermüdet von allen Anstrengungen und Mühen eines Arztes, nach seiner Wohnung zurückkehren wollte. Sein Weg führte ihn durch ein meist nur von armen Leuten bewohntes Stadtviertel. Wie er so durch die enge, schmutzige Straße ritt, fiel ein Weib seinem Pferde in die Zügel.
„Bester Herr Geheimrath!“ schrie die Frau. „Erbarmen Sie sich einer armen, unglücklichen Familie. Mein Mann liegt schon seit einem Vierteljahre an der Wassersucht krank, und wenn Sie ihm nicht helfen, so ist er und ich mit meinen Kindern verloren.“
Es bedurfte nicht erst einer so kläglichen Aufforderung, daß Heim sogleich der Frau Folge leistete und mit ihr ging. Eine verfallene Treppe führte ihn in eine jener elenden Kellerwohnungen, wie man sie in den Armenvierteln der größeren Städte zu finden pflegt. Bei dem schwachen Lichte einer kleinen Oellampe sah er die kahlen, weißen Wände, welche von Feuchtigkeit und Nässe trieften. Der ganze Hausrath bestand aus einem rohen Tische und einigen Stühlen. Im Hintergrunde lag auf einem grauen Strohsack eine Jammergestalt, ein Mann, dessen Beine gleich Kannen angeschwollen waren, dessen Augen aus dem gedunsenen, erdfahlen Gesicht kaum hervorschauten und mit ängstlich flehendem Ausdrucke sich nach dem eintretenden Arzte wandten.
Heim erkundigte sich theilnehmend nicht nur nach dem Befinden, sondern auch nach den näheren Umständen des Kranken. Er erfuhr aus dem Munde der geschwätzigen Hausfrau, daß ihr Mann von Profession Glaser und ohne sein Verschulden nach und nach verarmt sei. Seitdem er den Keller in einem erst neugebauten Hause bezogen, war er erkrankt und nach und nach wassersüchtig geworden. Die ganze Familie lebte in der bittersten Noth und dem Kranken fehlte es an allem Nöthigen, besonders an gesunder Kost und Medicin.
Heim hatte keinen Grund, diese Angaben, von denen er sich durch den Augenschein überzeugen konnte, zu bezweifeln. Obgleich an den täglichen Anblick von Unglück und Elend gewöhnt, war sein Herz noch nicht abgestumpft und voll Mitgefühl.
Der Zustand des armen Glasers schien ihm noch keineswegs so weit vorgerückt, um jede Hoffnung aufzugeben; aber die Möglichkeit einer vollständigen Heilung scheiterte hier, wie so häufig in der Armenpraxis, an der Mittellosigkeit und Dürftigkeit des Leidenden. Auch da war mit dem bloßen Verordnen eines Mittels gegen die Wassersucht nichts gethan; das sah der alte, gute Heim wohl ein. Ohne sich lange zu besinnen, zog er seine Börse aus der Tasche und gab diese der bekümmerten Frau.
„Das nehme Sie, Mutter,“ fügte er im populären Tone hinzu, „und miethe Sie sich und Ihrem Manne eine bessere Wohnung; in dem Kellerloch darf er keinen Tag mehr bleiben; dann hole Sie sich aus meiner Küche täglich das Essen für den Kranken. Ich hoffe, Ihren Mann mit Gottes Hülfe wieder herzustellen, und werde ihn so lange besuchen, als er mich braucht.“
Das Weib dankte mit heißen Thränen und wollte Heim die Hand küssen, was dieser aber nicht litt. Was der Brave versprochen, hielt er auch getreulich. Er sorgte für eine gesündere Wohnung, für eine nahrhafte Kost, für zweckmäßige Medicamente und all’ die Mittel, womit er dem armen Glaser auch in verhältnißmäßig kurzer Zeit seine Gesundheit wiederschenkte. Damit begnügte sich jedoch der edle Wohlthäter nicht, indem er darauf bedacht war, dem gewesenen Handwerker auch eine angemessene und einträgliche Beschäftigung zu verschaffen.
Zu diesem Zwecke wendete er sich an die Prinzessin Ferdinand, deren Leibarzt Heim war. Die selber höchst originelle Prinzessin stand mit dem originellen Doctor auf einem eigenthümlichen freundschaftlichen Fuße und ließ sich manche Absonderlichkeit von ihm gefallen. Sie stammte aus einer älteren Zeit und war gewöhnt, alle Leute mit „Er“ anzureden. Als sie damit umging, dem alten Heim ihre Gesundheit anzuvertrauen, machte er ihr einige Bedingungen, worüber die verwöhnte Dame nicht wenig erstaunte, da sie gewöhnt war, sehr von oben herab die Menschen anzusehen, und Wunder glaubte, welche Ehre sie Heim erzeigte. Sie hatte ihn damals rufen lassen, um ihm die ihm zugedachte Ehre anzuzeigen.
„Er soll mein Leibarzt werden,“ sagte die Prinzessin. „Ist Er es zufrieden?“
„Gewiß, königliche Hoheit; aber nur unter drei Bedingungen,“ antwortete Heim mit würdiger Ruhe.
„Und die wären?“ fragte die Prinzessin gespannt.
„Für’s Erste,“ fuhr er im ernsten Tone fort, „müssen mir Ihre königliche Hoheit versprechen, mich nicht per „Er“ zu tituliren; denn das bin ich nicht gewohnt, auch paßt es nicht für meinen Stand.“
„Das will ich Ihm, ich wollte sagen, Ihnen bewilligen.“
„Für’s Zweite kann ich nicht im Frack und Escarpins antichambriren und in Ihrem Vorzimmer warten. Meine Zeit ist edel und außer Ihrer königlichen Hoheit gibt es noch viele hundert Menschen, die meine Hülfe brauchen.“
„Das nenne ich offen gesprochen, aber Sie haben wohl Recht.“
„Zum dritten erwarte ich, daß Sie mich auch königlich bezahlen, da Sie eine königliche Hoheit sind.“
Diese letzte Bedingung galt dem bekannten Geize der Prinzessin, die jedoch keineswegs dem altem Heim seine dreiste Sprache übelnahm, sondern auf alle seine Bedingungen einging und seitdem seine beste Freundin und Gönnerin war.
Um dem armen Glaser zu helfen, wandte er sich wieder an die Prinzessin, bei der er von jener Zeit her unangemeldet Zutritt hatte.
„Was bringen Sie mir, lieber Heim?“ fragte sie ihn freundlich, als er eintrat.
„Haben Sie keine zerbrochenen Fensterscheiben, königliche Hoheit?“
„Was hat das wieder zu bedeuten?“
„Ich möchte gern einem armen fleißigen Glaser Arbeit verschaffen und bin entschlossen, wenn ich keine finde, selber die Fenster bei allen meinen Patienten einzuwerfen.“
„Das sollen Sie hübsch bleiben lassen; denn am Ende wird Ihnen die Polizei das Handwerk legen und sperrt Sie ein. Was soll aber Berlin ohne den alten, närrischen Heim anfangen? Lieber will ich dem Manne so viel Arbeit geben, als ich zu vergeben habe.“
„Schön! Aber königliche Hoheit müssen ihn dann auch zum Hofglasermeister machen.“
„Auch das, wenn Ihnen damit ein Gefallen geschieht.“
Die Prinzessin hielt in der That auch Wort und Heim’s Schützling hatte bald alle Hände voll zu thun und verdiente so viel und auch mehr, als er zum Leben nöthig hatte. – Einige Monate waren seitdem vergangen, ohne daß Heim den Glaser sah noch hörte. Er hatte nicht auf Dank gerechnet und seine eigene Erfahrung bestätigte das bekannte Sprüchwort: Der Arzt ist ein Engel, wenn man ihn braucht, ein Teufel, wenn man ihn bezahlen soll.
Nach seiner Gewohnheit ritt der alte Heim wieder eines Tages durch die Straßen Berlins. Vor einem Hause, über dessen Thür ein stattliches Glaserschild aus bunten Scheiben mit dem königlichen Wappen hing, sah er sich von einer Frau angehalten, deren Züge ihm dunkel bekannt erschienen.
„Herrjes!“ schrie das Weib. „Herr Geheimrath! Sie kennen mir wohl nicht mehr?“
„In der That, ich erinnere mich nicht, aber ich muß Sie schon irgendwo gesehen haben.“
„Natürlich! Ich bin ja die Frau von dem Hofglasermeister, den Sie curirt haben.“
„Das freut mich, aber Ihr Mann ist doch nicht wieder krank geworden?“
„I Gott behüte! Im Gegentheil, er ist jetzt gesund, wie ein Fisch im Wasser.“
„Und es geht ihm gut, wie ich hoffe?“
„Wir sind ganz zufrieden. Gott Lob! an Arbeit fehlt es nicht; wir haben alle Hände voll zu thun.“
[151] „Was wünschen Sie aber von mir, womit kann ich Ihnen dienen?“’
„Eigentlich mit gar nichts. Ich wollte blos einmal fragen, was wir für Ihre Mühe schuldig sind? Wir wollen gern bezahlen. Sie thaten mir einen rechten Gefallen, wenn Sie mir gleich auf der Stelle sagen wollen, was die ganze Rechnung macht. Uebertheuern werden Sie uns nicht, das weiß ich.“
Diese Forderung der Frau machte dem Arzte wegen ihrer Originalität Vergnügen und er wollte sich mit ihr einen kleinen Scherz erlauben. Er kannte den Charakter des Berliner Volkes, das bei jeder Rechnung gewohnt ist, noch eine Kleinigkeit abzuhandeln; deshalb beschloß er, eine möglichst niedrige Summe zu nennen, die er natürlich nicht genommen hätte. Nach einigem Besinnen, wobei er that, als rechnete er zusammen, wandte er sich wieder an das Weib, das mit großer Spannung seinen Ausspruch zu erwarten schien.
„Na, sagen Sie nur immer dreist, wie viel wollen Sie, Herr Geheimrath?“ fragte sie.
„Zwei Thaler, Mutterchen, wird wohl nicht zu viel sein?“ erwiderte Heim, durch die ganze Scene belustigt.
„Ein Thaler und zwanzig Silbergroschen werden wohl auch genug sind,“ lautete die Antwort der guten Frau.
Lachend steckte Heim das Geld ein, das sie ihm überreichte. Er pflegte später jungen Aerzten gern diese Geschichte zu erzählen, die er selbst erlebt, um sie auf die zu erwartende Dankbarkeit der Patienten vorzubereiten.
Trotzdem blieb der alte Heim bis an sein Lebensende der Wohlthäter der leidenden Menschen, der treueste Freund der Armen, das Muster eines teilnehmenden und gefühlvollen Arztes, der seinen Lohn in seinem Berufe und im Innern seines edlen Herzens fand.
Wohl selten hat ein Schloß ein so wechselvolles Geschick gehabt, als Hubertusburg. Welche Gegensätze! – Das glänzende, prunkvoll ausgeschmückte Lustschloß August des Starken und seines Nachfolgers und – das geplünderte, zerstörte Hubertusburg im siebenjährigen Kriege. Einstmals Schauplatz der üppigsten Hof- und Jagdfeste und dann – Sterbestätte von vielen tausend verwundeten Kriegern. Vorher bewohnt von den Herren der Erde und jetzt – eine Wohnstätte körperlich und geistig elender Menschen. – Ich beschloß, dieses geschichtlich merkwürdige und durch seine Straf- und Versorgungsanstalten so berühmte Gebäude genauer kennen zu lernen. Die Leipzig-Dresdner Eisenbahn brachte mich bald nach Luppe-Dahlen, dem Hubertusburg am nächsten liegenden Bahnhofe. Es war ein schöner Morgen – ich wartete deshalb die Post nicht ab, sondern pilgerte zu Fuß dem Schlosse zu. Der einsame, fast zwei Stunden lange, zum Theil durch Wald und an Teichen vorbeiführende Weg gab mir genug Muße, die Geschichte der Hubertusburg an meiner Seele vorbeiziehen zu lassen.
Auf Befehl August des Starken, der in der mutzschner Haide oft Parforcejagden abhielt, wurde 1721 der Grundstein zum Jagdschloß Hubertusburg gelegt und schon im Jahre 1724 bezog der Kurprinz Friedrich August das in großartigem Style und mit ungeheueren Kosten erbaute Schloß. In vollendeter Pracht, von den Zeitgenossen unvergleichlich genannt, stand es erst 1742 da, nachdem der Graf Brühl die Oberleitung des Baues übernommen. Besonders zeichneten sich durch Glanz und Herrlichkeit die katholische Capelle, der große und kleine Hubertussaal aus. Prachtvolle, mit orientalischem Luxus abgehaltene Hof- und Jagdfeste, schimmernde Aufzüge bilden die Hauptgeschichte des Schlosses während seiner kurzen Glanzperiode und machten es zum Versailles des sächsischen Hofes.
An einem dieser Feste stiftete Friedrich August II., bei Gelegenheit seines Geburtstages und um seine tapfern Officiere, durch deren Hülfe er König von Polen geworden war, zu ehren, den Militair-St. Heinrichsorden. Der benachbarte Horstsee gab genug Veranlassung zu Wasserfahrten und Fischerfesten, allein um hierin ebenso Bewundernswerthes, wie in Moritzburg, veranstalten zu können, fehlte es an der erforderlichen Anzahl prachtvoller Gondeln und an einer Verbindung des See’s mit dem Schloßgarten. Auch dem sollte abgeholfen werden. Der Horstsee, dessen Umfang eine Stunde Wegs beträgt, sollte mit seiner nächsten Umgebung durch eine Mauer eingeschlossen, mit einer Flotille besetzt und mit dem Schloßgarten verbunden werden. Die nachfolgende Kriegszeit machte diese Verschönerungsidee und bald auch die ganze Herrlichkeit zu Nichte.
Siebzehn Jahre hatte das Schloß in seiner Vollendung, seinem Glanze gestanden, da durchtobten Preußische Kriegshaufen die Hubertusburg, der heitern Pracht ein klägliches Ende machend. Preußens großer König nahm Rache für sein von Russen und Sachsen zerstörtes Lustschloß Charlottenburg. Und was der rohe Soldatenhaufe übriggelassen, das durchwühlten schmutzige Berliner Juden, die damaligen Münzpächter Ephraim und Itzig, an die es von dem Hauptmann Quintus Icibius, der mit der Plünderung beauftragt und dafür zum Major befördert wurde, für 72,000 Thlr. verkauft worden war. Das Kupferdach wurde abgerissen, der Thurm seiner großen Glocken und seiner kunstreichen Uhr beraubt. Aus dem gewonnenen[WS 3] Metalle, der Thurm hatte allein 90 3/4 Ctr. Kupfer dazu geliefert, wurde in den Trotzergewölben der Pleißenburg in Leipzig schlechtes Geld, die sogenannten Ephraimiten, geprägt. Alles, was nur einigermaßen werthvoll war, wurde fortgeschleppt. Die starkvergoldeten Schlösser und Bänder, Riegel und Beschläge der Thüren und Fenster wurden abgerissen, die schweren Vergoldungen an Thüren und Wänden abgekratzt und dann chemisch zersetzt. Aus diesen Vergoldungen allein sollen die Juden gegen 12,000 Thlr. gewonnen haben.
Reiche Beute versprach ihnen die prachtvolle katholische Capelle. Schon wollten sie Hand an’s Heiligthum legen, da kam, auf inständiges Bitten des damaligen Hofcaplans, der Befehl Friedrichs, die Plünderung aufzuheben, und die schmutzigen Juden waren geprellt.
Einige Jahre später – und in den Räumen der Hubertusburg versammelten sich die Bevollmächtigten der kriegführenden Mächte, um im Hubertusburger Frieden dem geplagten Deutschland die ersehnte Ruhe zu geben. Als die bevollmächtigten Minister im Schlosse ankamen, fand sich im ganzen großen Hauptgebäude kein Zimmer, das sie hätte aufnehmen können. Nach langem Suchen fand man in der Mitte des dem Hauptpalais gegenüberliegenden ersten Rundflügels einen Saal, in dem die Verhandlungen stattfinden konnten.
Hier kam den 15. Februar 1763 der Friede zu Stande und am 1. März wurden die Ratificationsurkunden in diesem Friedenssaale ausgewechselt. So wurde ein Krieg beendet, von dem Friedrich der Große selbst sagt, daß er ihm etwa 240,000, seinen Feinden aber weit über eine halbe Million Menschen gekostet habe. Längere Zeit stand nun die Burg öde und leer.
Ihre Dächer sind zerfallen,
Und der Wind streicht durch die Hallen,
Wolken ziehen drüber hin. –
Nach und nach wurde das Schloß nothdürftig restaurirt und einzelnen verarmten adeligen Familien als Gnadenwohnung überlassen. Da kam die Napoleonische Zeit, die weitläufigen Räume des Schlosses wurden zum Lazareth benutzt und da, wo früher glänzende Freudenfeste abgehalten wurden, da rangen verwundete Krieger mit dem Tode. Auch diese Zeit rauschte vorüber. Die Todesseufzer verstummten. – Im benachbarten Walde grub man ungeheure Gräber und scharrte die Opfer des großen Kaisers hinein. Von etwa 9000 Soldaten, die in dieses Lazareth gebracht wurden, sind kaum 1000 zurückgekehrt, die übrigen harren des großen Appells. Jetzt kennt man diese Begräbnißstätten nur daran, daß dort das Getreide üppiger wächst, und ein speculativer Sohn der Neuzeit dachte sogar daran, die Gräber zu öffnen, um – Knochenmehl daraus gewinnen zu können.
[152] Wieder wechselte die Scenerie in Hubertusburg. Die ungeheueren Räume benutzte man zum Getreidemagazin. Im ehemaligen glänzenden Hubertussaale, der an Pracht seines Gleichen gesucht, wurde Malter an Malter aufgehäuft. Einstens tanzten da feine Damen mit Reifröcken und schmucke Cavaliere mit gepuderten Zöpfen – jetzt machen sich dort Kornmäuse lustig. Die praktische Neuzeit bahnte sich allmählich an. Eine Steingutfabrik entstand und verschwand wieder. Die Gnadenbewohner mußten das Schloß räumen und die vereinigten sächsischen Straf- und Versorganstalten wurden hineinverlegt. Nun dürfte man schwerlich einen zweiten Ort finden, der, wie Hubertusburg, soviel körperliches und geistiges Elend umfaßt. Die vorhandenen Räume langten bald nicht mehr aus, neue Gebäude entstanden. Eine evangelische Kirche wurde gebaut, da der Versuch, die katholische Kapelle in eine Simultankirche zu verwandeln, scheiterte. In den Räumen, die einst von hohen Herren und lustigen Edelleuten bewohnt wurden, büßen jetzt weibliche Verbrecher ihre Strafzeit ab. Und in dem Räume, in dem einst der Friede geschlossen wurde, haben unglückliche Blödsinnige ein friedliches Asyl gefunden! – So ist’s noch jetzt. – Wer weiß, wie es in fünfzig Jahren dort aussieht! Wer weiß, ob nicht einmal, wenigstens zum Theil, die alte Pracht wiederkehrt? – Hubertusburg steht etwas über hundert Jahr und welche inhaltsreiche Geschichte hat es!
So sinnend war ich durch den Wald geschritten, durch denselben, in dem die berühmten Jagden abgehalten wurden. Freilich ist viel gelichtet worden seit damals, die Bäume, die jetzt dastehen, haben jene Zeit nicht gesehen und anstatt des Ebers und des Hirsches hegt der Walde nur Hasen und Rehe.
Jetzt bog ich aus dem Wald hinaus und die Hubertusburg lag vor meinen Blicken. Auf ihre Zinnen schien die Morgensonne, sie glänzten aber nicht, wie ehedem, das glänzende Dach war ja abgerissen und in schlechtes Geld verwandelt worden.
Bald war Wermsdorf, ein großes, dicht bei Hubertusburg liegendes Dorf, erreicht; eine schöne, breite Allee führt von da bis zu dem Thore des Schlosses, dessen sämmtliche Gebäude und Grundstücke von einer ziemlich hohen Mauer umgeben werden. Jetzt stand ich vor’m Thore, es öffnete sich, ich trat ein und – sah vor mir ein zweites verschlossenes Thor. Deutliche Zeichen, daß ich mich auf dem Boden einer Strafanstalt befand, die ihre Ausgänge mit möglichster Sorgfalt verwahrt; las ich doch auch durch das Thorgitter am gegenüberstehenden Hause die Aufschrift: „Arbeitshaus.“ Ein uniformirter Aufseher fragte mich das übliche: „Wer? – Zu Wem?“ und nachdem meine Antwort befriedigend ausgefallen und ich der Direktion gemeldet worden war, wurde ich über den riesigen Schloßplatz hinweg in die Räume der Anstalt geführt. Ich besuchte mit meinem Begleiter zunächst die katholische Kirche, die mit ihrer Pracht aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineinragt, während alle anderen Herrlichkeiten verschwunden sind. Sie befindet sich im Hauptpalais und nimmt daselbst die ganze linke Hälfte des vorderen Hauptflügels ein. Die Wände sind mit marmorartig geglättetem Gyps bekleidet, der Fußboden ist von getäfeltem Marmor. Der Hochaltar und die Kanzel sind mit Balthasar Permosers meisterhaft ausgeführten Gypsstatuen geschmückt. Neben dem Hochaltare stehen noch zwei Seitenaltäre, die durch Gemälde von Ludwig Sylvester verziert sind.
Außerdem befinden sich in der Kirche noch vier Gemälde von Torelli und zwei von unbekannten Meistern, aber von hohem Werthe; sie stellen Ignatius von Loyola und Franciscus Xaverius dar, und sind ein Geschenk des Papstes an die Kirche. Die Decke ist durch ein riesiges Frescogemälde geschmückt, für das der Maler Gruno 60,000 Thaler erhalten haben soll. Man sieht den heiligen Hubertus, den Schutzpatron des Schlosses, in Ehrfurcht niedersinken vor dem Bilde des Gekreuzigten, das ein auf hohem Felsen ihm erschienener Hirsch in seinem Geweihe trägt. Der Kunstwerth des ganzen Gemäldes ist nicht bedeutend, da der Hirsch ganz unnatürlich ist, und Hubertus eine Stellung einnimmt, in der er sich in der Wirklichkeit kaum erhalten könnte. Zu den Kostbarkeiten der Kirche gehört noch der aus cararischem Marmor gehauene Taufstein, welcher 6000 Thaler gekostet haben soll.
Die übrigen Räume des Hauptgebäudes werden nur für das Magazin benutzt. Ich durchging nun flüchtig die verschiedenen Anstalten Hubertusburgs. Zunächst besuchte ich die Strafanstalten. Wir traten zuerst in das Landesgefängniß, welches für solche Verbrechen bestimmt ist, die eine längere, als dreimonatliche Gefängnißhaft nach sich ziehen, in der Regel aber nach der öffentlichen Meinung nicht entehrend sind. Es findet hier Einzelhaft statt. Der Detinirte darf sich, wenn er Mittel hat, nach Belieben beschäftigen und beköstigen, so weit es die Hausordnung gestattet, und wird seiner bürgerlichen Stellung entsprechend behandelt.
Wir gingen nun in das Arbeithaus für weibliche Verbrecher. Es besteht, wie das Landesgefängniß, seit 1838. Natürlich ist hier die Disciplin schärfer und die Arbeit anstrengender. Ein Theil der durch seine graue Kleidung leicht kenntlichen Sträflinge war mit Haus- und Gartenarbeit beschäftigt, die andern arbeiten in großen Sälen. Beim Durchgehen dieser Räume sah ich Einzelne mit Nähen, Andere mit Cigarrenmachen, wieder Andere mit Strohflechten beschäftigt. Die meisten dieser Damen waren wegen Eigenthumsvergehen in das Arbeitshaus gebracht worden.
Außer diesen beiden Strafanstalten befindet sich in Hubertusburg ein Pensionair-Corrections-Institut. Es ist zur Besserung meist junger, den gebildeten Ständen angehöriger Personen, die dem Trunke oder einem ausschweifenden Leben ergeben sind, eingerichtet. Die Pensionaire werden nur auf Wunsch der Eltern, Vormünder oder Verwandten eingeführt, und unter steter Aufsicht gehalten.
Unter den Versorgungsanstalten ist am ältesten das Landeshospital. Es ist eine Ruhestätte für arme, alte, gebrechliche Personen; die Hospitäler zu St. Jacob in Dresden und St. Georg in Döbeln sind damit vereinigt worden. Die Leutchen spazierten in ihrem Garten herum, und sahen recht wohl und vergnügt aus. In neuerer Zeit wurde diesem Hospital eine zweite Abtheilung hinzugefügt, ein sogenanntes Pfleghaus, welches insbesondere für solche Personen bestimmt ist, die an einem habituellen Gebrechen leiden, welches eine Heilung nicht erwarten läßt. Der jährliche Pflegebeitrag beträgt in der ersten Abtheilung 50, in der zweiten 24 Thaler.
Das Landeskrankenhaus ist als ein Muster für derartige Anstalten hinzustellen. Tüchtige ärztliche Oberleitung, hinreichende und vortrefflich eingerichtete Räumlichkeiten, gesunde Luft sind die Hauptvorzüge dieser Anstalt, der mancher schwere Kranke Gesundheit und Leben verdankt. Der Verpflegungsbeitrag ist wöchentlich 1 Thaler; verlangt der Patient ein besonderes Zimmer, müssen 2 Thaler gezahlt werden. Personen, deren Uebel ansteckend und unheilbar ist, werden in ein von allen übrigen Gebäuden isolirtes Haus gebracht, in das sogenannte Siechhaus. Nachdem mein Begleiter mir die einfache, aber sehr freundliche evangelische Kirche gezeigt, führte er mich in das Versorgungshaus für unheilbare oder doch minder besserungsfähige Geisteskranke weiblichen Geschlechts. Ein Institut, das in seiner Einrichtung kaum von einer zweiten derartigen Anstalt übertroffen werden dürfte.
Es bildet einen Häusercomplex, der von den übrigen Anstaltsgebäuden ziemlich abgesondert liegt. Ein großer, schön eingerichteter Garten, in dessen Mitte sich ein Hügel erhebt, von dem aus der Besucher eine idyllische Aussicht über den nahen Horstsee und seine Umgebung genießt, grenzt dicht an die Anstaltsgebäude. Gegen 500 Geisteskranke haben hier ein Asyl gefunden.
Der Anblick so vieler Unglücklichen ist tief ergreifend. Ein Theil hatte sich auf die grünen Rasenplätze gelagert, Andere gingen im Garten spazieren, noch Andere hatten sich isolirt und ergingen, sich in ihren irrsinnigen Gedanken. Fast Allen sah man die Geistesstörung an, die unstät rollenden Augen zeigten deutlich, daß das Licht der Vernunft erloschen war.
Aus einem der naheliegenden Gebäude erscholl ein entsetzliches Geschrei. Unser Weg führte da vorüber. Am vergitterten Fenster stand ein vom Dämon der Tobsucht befallenes Weib, sie streckte ihre Arme nach mir und stieß thierähnliche Laute aus. Unwillkührlich fielen mir die Worte von Ernst von Feuchtersleben ein: „Tief versteckt ruht in der Brust eines Jeden der Funke des Wahnsinns, – Hüte Dich, daß Du ihn nicht weckest.“ – Mir war’s, als streckte jetzt das Gespenst des Wahnsinns seine Arme drohend mir entgegen – ich ging entsetzt vorüber.
Mein Begleiter erzählte mir, daß in dieser, wie in den übrigen Krankenanstalten Hubertusburgs auch der Aermste Aufnahme findet. Kann er den sehr geringen Beitrag nicht zahlen, so tritt die Heimathgemeinde für ihn ein.
Wir kamen an der großen Anstaltsküche vorbei, aus der täglich mehr denn tausend Menschen gespeist werden. Reinliche, sich
[153][154] durch gute Aufführung auszeichnende Sträflinge werden mit als Küchengehülfinnen benutzt.
Sämmtliche Anstalten hatte ich jetzt gesehen; nur die mich am meisten interessirende, das Erziehungsinstitut für Schwach- und Blödsinnige, blieb mir noch zu besuchen übrig. Sachsen hat den schönen Ruhm, in der Errichtung solcher Institute, deren hohe Aufgabe die Linderung menschlichen Elends ist, mit leuchtendem Beispiele andern deutschen Ländern vorangeschritten zu sein. In Sachsen wurde das erste Taubstummen-Institut, zu Leipzig 1778 gegründet; Sachsen besaß in Deutschland das erste Irrenhaus, Waldheim 1787 – und wiederum war es Sachsen, wo im Jahre 1846 auf Antrag des Landtags die erste Anstalt zur Erziehung und Bildung blödsinniger Kinder auf Staatskosten in’s Leben gerufen wurde, während sich alle übrigen, zum Theil schon früher gegründeten derartigen Anstalten in den Händen von Privatpersonen befinden. In dieses Institut trat ich jetzt ein. Doch – über diesen Besuch werde ich in der nächsten Nummer dieses Blattes genauer Bericht erstatten.
Für jetzt noch ein Wort über die Gesammtbevölkerung Hubertusburgs. Gegenwärtig befinden sich in den verschiedenen Anstalten dieses Schlosses etwa 1020 Individuen. Direktor sämmtlicher Anstalten ist der Hauptmann von Bünau, ein Mann, in dessen Charakter sich Ernst und Humanität auf’s Schönste vereinen. Außerdem befinden sich in Hubertusburg zwei evangelische und ein katholischer Geistlicher, drei Aerzte, drei Lehrer, ein Hausverwalter, ein Wirthschaftsinspector, vier Expedienten, 27 Aufseher und Aufseherinnen und etwa 50 Wärter und Wärterinnen. Hierzu kommen noch einige Professionisten. Diese Andeutungen und die beigegebene, ganz genaue Abbildung von Hubertusburg mögen genügen, um einen Begriff von der Großartigkeit dieser Anstalten zu geben.
Das Regiments-Exerciren war zu Ende. Die Leute hatten sich meist – der Plackerei an dem heißen Septembertage überdrüssig – in’s duftende Herbstgras gelagert oder um die Marketenderinnen geschaart, und die Officiere ließen sich von ihren Burschen das Frühstück auspacken. Die Bataillons-Adjutanten schrieben den Tagesbefehl für den nächsten Morgen nach, den ihnen der Stabsofficier du jour in die Schreibtafel dictirte.
„Es ist wieder der Teufel los, morgen zum Sonntag, passen Sie mal auf!“ sagte der Hauptmann v. K., sich ärgerlich hinter den Ohren kratzend. „Ich sehe es unserm Adjutanten gleich an der Nase an; ich wollte wetten, der alte M. hat wieder einmal eine Revue gerade auf den Sonntag befohlen,“
Mein Hauptmann hatte eine ziemlich gute Nase in solchen Dingen, und ich verspürte keine Lust, die Wette einzugehen. Unser Adjutant kam auch wirklich sehr bald – im gestreckten Schritt zwar – aber mit äußerst wichtiger Miene herangeritten.
„Die Feldwebel!“ rief er, etwa hundert Schritte vom Bataillon sein Pferd anhaltend, und den Gerufenen auf diese Weise noch Gelegenheit zu einem nachträglichen gymnastischen Exercitium ihrer Gliedmaßen verschaffend. „Rascher, im Trabe, muß ich bitten!“
Ich stand zu weit ab, um vernehmen zu können, was unser Feldwebel, ein ziemlich beleibter Mann mit einem dicken und wohlhäbigen Gesicht und offenbar kein Freund von derartigen Leibesübungen, in den braunen Schurrbart hineinbrummte, aber ich konnte es mir ungefähr auch so denken.
Die Befehlsausgabe dauerte ungewöhnlich lange. Die Ahnungen meines Hauptmanns sollten, wie es schien, in Erfüllung gehen.
„Nun, was bringen Sie, Feldwebel?“ fragte er den endlich mit der inhaltsschweren Brieftasche auf ihn zuschreitenden Mann mit dem wohlhäbigen Gesicht, das im Grunde recht gemüthlich aussah.
„Nur sachte, nur sachte, Freund! immer gemach!“ fuhr er fort, als dieser sich schon wieder in Trab setzen zu müssen glaubte. „Sie stehen nicht bei der Cavallerie, überlassen Sie das Traben und Galoppiren den Berittenen; Ihr Hauptmann ist mit Ordinairschritt zufrieden, Ihre Hiobspost höre ich immerhin noch zeitig genug.“
Der Adjutant, der mittlerweile abgesessen und mit zu uns herangetreten war, biß sich auf die Lippen; der dicke Feldwebel schmunzelte sichtlich vergnügt.
„Nun, was ist der langen Rede kurzer Sinn?“ frug der Hauptmann weiter.
„Morgen Vormittag Revue in Compagnieen vor dem Herrn Brigadier, mit vollständigem Gepäck auf dem Brigadeexercirplatze, zu Befehl des Herrn Hauptmanns,“ referirte der Feldwebel, die Schreibtafel aufblätternd und sich anschickend, den ganzen Befehl seinem Wortlaut nach abzulesen.
„Schon gut, schon gut, hat Zeit bis nachher!“ meinte der Hauptmann. „Sehen Sie,“ sagte er, sich zu mir wendend. „Sagte ich’s Ihnen nicht? Und gerade morgen zum Sonntag, mein Unglückstag, ’s ist um des Teufels zu werden. Passen Sie mal auf, es gibt eine Schweinerei.“
Mein Hauptmann war zwar bekannt wegen seiner Zerstreutheit und seines schlechten Gedächtnisses, das unter uns Officieren fast zum Sprüchwort geworden war, aber was sein Ahnungsvermögen anlangte, so hatte ich allen Respect vor ihm.
„Die Herren Officiere!“ rief jetzt der Bataillonscommandant, wieder zu Pferd steigend, und uns mit der Hand heranwinkend. „Etwas rascher, meine Herren, muß ich bitten!“
Wir hatten bald einen Kreis um ihn geschlossen, und hörten andächtig seiner langen Rede zu. Der Herr Brigadier würden morgen sehr in’s Detail gehen, jede Compagnie einzeln vornehmen; er hoffe, daß die Leute ordentlich geputzt haben, gehörig instruirt seien, die Herren Compagniechefs ihre Schuldigkeit thun würden. Die Compagnieen seien überdies mit ihrem jetzigen Präsent-Etat nun schon über drei Wochen im Cantonnement und er dürfe also erwarten, daß die Herren Capitains sich gehörig mit ihren Leuten bekannt gemacht hätten, da der Herr General dies ausdrücklich verlange? er wolle nicht hoffen, daß ihm irgend Jemand Anlaß zur Unzufriedenheit gäbe. – „Sie haben mich doch verstanden, Herr Hauptmann v. K.?“
Dieser fuhr wie aus einem Traume auf. „Zu Befehl, Herr Major!“ war die Antwort.
„’s ist gut, meine Herren, rücken Sie ein!“ befahl der Major, die Hand an den Czako legend. „Stabssignalist, Achtung blasen!“
„Was hat er gesagt?“ fragte mich mein Hauptmann, als wir zusammen der Compagnie zuschritten, die eilig hinter den Gewehren antrat.
Ich wiederholte ihm den Kern der mitgetheilten Rede des Bataillonschefs mitsammt der arglosen Frage am Schlusse derselben. Beim Anhören der letzteren, die ihn an der ganzen Philippika allein zu interessiren schien, war er sichtlich nachdenklich geworden.
„Compagnieen formirt, marsch!“ commandirte der Major, den nur eben gezogenen Degen wieder einsteckend.
Die Compagnieen schwenkten einzeln aus, ihre Tambours und Signalisten setzten sich an die Tête, und eine jede rückte in ihr Cantonnements-Quartier ein, sich für den kommenden Revuetag in möglichst brillante Verfassung zu setzen.
Mein Hauptmann, der in der Regel nur beim Ausmarsch schweigsam, dessen Humor aber beim Heimmarsch gewöhnlich unerschöpflich war, wollte dieses Mal durchaus nicht aufthauen. Der Schluß der Rede unseres Majors schien ihm noch im Kopfe herumzugehen. – Der arme Mann! Er hatte das merkwürdigste Gedächtniß, was mir noch je vorgekommen ist. Sobald es galt, einen Classiker zu citiren, war er unfehlbar und wie der Blitz bei der Hand; den Wallenstein, den Faust kannte er buchstäblich auswendig. Nur in Dienstsachen versagte sein Erinnerungsvermögen häufig gänzlich und Namen, vollends die 200 Namen seiner Compagnie, die konnte er sich nun gleich gar nicht merken, und wenn es das Leben gegolten hätte. Ich bin nie so recht eigentlich dahinter [155] gekommen, ob er den Namen des Feldwebels und Fouriers wußte, daß er aber von seinen übrigen Unterofficieren auch nicht einen einzigen kannte, daß wußte ich ganz gewiß. Und nun gar die 200 Soldaten! – Sonderbare Zumuthung.
„Denn nur die Fahnen zählt der schnelle Blick
Des Feldherrn; er bemerkt kein einzeln Haupt!“ …
Mit dem General v. M., vor dem wir morgen Revue haben sollten, verhielt es sich nun aber gerade umgekehrt. Der Mann war durchaus kein Classiker und wußte wenig oder nichts, weder von Schiller, noch Goethe. Er hatte aber ein erstaunliches Namensgedächtniß; es hieß von ihm, daß er einen Mann nur einmal zu sehen und dessen Namen zu hören brauche, um ihn – à la Reventlow – zeitlebens nicht wieder zu vergessen. Ich glaube wirklich, er kannte das halbe Armeecorps beim Namen; wenigstens wurde ganz bestimmt behauptet, daß er von den 5000 Mann seiner Brigade, obgleich er diese im Jahre nur höchstens sechs Wochen lang zusammen hatte, jeden einzelnen Mann zu nennen wisse. Er schloß nun mit einiger Logik, daß, wenn er, als Brigadier, sich 5000 Gesichter und Namen merken könne, es nicht zu viel verlangt sei, wenn jeder Hauptmann doch zum mindesten seine 200 persönlich kenne, und er sah das Gegentheil – und wohl nicht ganz mit Unrecht – als einen Beweis dafür an, daß die Herren sich nicht um ihre Compagnieen bekümmerten, ein Umstand, den er schon in manchem fulminanten Tagesbefehl zur groben Dienst- und Pflichtvernachlässigung gestempelt hatte.
Dieser letztere Umstand war es nun wohl, der meinen Hauptmann so schweigsam machte, als wir – tambour battant – dem Cantonnementsquartiere zumarschirten.
Auf einer Wiese, einige hundert Schritt vom Dorfe, ließ Hauptmann v. K. plötzlich und ganz gegen seine Gewohnheit die Compagnie halten.
„Kreis formirt, marsch!“ commandirte er.
Ich war nicht wenig gespannt, was er uns zum Besten geben würde. Er war, Gott sei es gedankt, durchaus kein Freund von langen Reden und die üblichen Ermahnungen vor einer Revue, die in der Regel nur das Gegentheil von dem bewirken, was sie beabsichtigen, waren ihm vollends ein Gräuel. Aber diesmal hub er doch an, in aller Form die Compagnie zu haranguiren.
„Ihr habt gehört,“ sagte er, „daß der Herr General morgen Revue hält. Daß Ihr ordentlich putzen und packen werdet, das weiß ich, und daß ich Euch nach der Revue, wenn diese gut gegangen ist, Nachmittags hier im Dorfe ein Bier gebe, das wißt ihr, darüber brauche ich also nichts weiter zu sagen. Wenn aber der Herr General mich morgen etwa fragen sollte, wie dieser oder jener von Euch heißt, und ich sollte ihm dann antworten: der heißt Schmidt, so heißt der auch Schmidt! Ich kann mir nicht gleich jeden Esel beim Namen merken. Habt Ihr mich Alle verstanden?“
„Zu Befehl, Herr Hauptmann!“ brüllte die ganze Compagnie wie aus einer Kehle.
„Gut. Abgetreten!“
Die Leute gingen lachend nach Hause. Sie hatten den sonderbaren Kautz fast Alle gern, der, Tilly’s Grundsatz: „leben und leben lassen“ befolgend, sie nie unnöthig plagte und quälte und dessen ganzem Wesen Pedanterie etwas eben so Heterogenes war, wie etwa Namensverzeichnisse seinem Gedächtnisse, Daß von den Leuten ihn morgen kommenden Falls auch nicht Einer im Stich lassen würde, wußte ich, und ich sah deshalb der gefürchteten Revue mit aller Ruhe entgegen.
Wir trafen gegen acht Uhr am andern Morgen auf dem Brigadeexercirplatze ein, als die Specialrevue schon ihren Anfang genommen und von den 25 Compagnien, die der General v. M. persönlich einzeln inspicirte, bereits vier oder fünf die Staupe überstanden hatten. Die Glücklichen! Wie wurden sie von uns beneidet, denen das Fegefeuer erst noch bevorstand! – Wir mußten – wie bei solchen Fallen üblich – wohl noch zwei Stunden warten, ehe die Reihe an uns kam, und hatten unterdessen die gebräuchliche Vormusterung Seitens unseres Bataillonscommandanten auszustehen, der, prüfenden Blickes, manchmal nur bedenklich mit dem Haupte schüttelnd, manchmal laut tadelnd und scheltend nach dem betreffenden Inspectionsunterofficier rufend, unsere geöffneten Glieder durchschritt. Trotz seines Schüttelns, Tadelns und Schimpfens mußte ich aber doch sagen, daß die Leute noch niemals so gut geputzt hatten, wie gerade heute. Es war geradezu auffällig. Die ganze Compagnie sah aus, wie frisch aus dem Ei geschält; – das versprochene Bier hatte seine Wirkung gethan.
Endlich räumte die letzte Compagnie vor uns das Feld, unsere Front allmählich frei machend. – Die längere hagere Gestalt des Generals wurde sichtbar.
„Aber, mein Gott, so rücken Sie doch nun endlich vor, Herr Hauptmann v. K.! auf was warten Sie denn noch?“ mahnte die Stimme unseres Majors.
„In Parade!“ commandirte der Hauptmann.
„Abwarten, bis Front ganz frei ist!“ brüllte der General, dessen tiefe, sonore Baßstimme gar wunderlich mit dem etwas belegten Tenor unseres Bataillonschefs contrastirte.
„Marsch!“ hieß es endlich. Die Tambours schlugen ein; wir rückten wie am Lineale vor, auch keine Nase kam aus der Richtung.
„Halt!“
Wir standen wie eine Mauer; kein Czako wackelte, kein Finger zuckte, kein Gewehrriemen flatterte. Man hätte können eine Fliege summen hören, so viel Ruhe war in den Gliedern.
General v. M. lobte nie, aber er tadelte auch nur, wenn er wirklich Grund dazu hatte. Unser Vormarsch schien ihm gefallen zu haben.
„Beim Fuß nehmen lassen, Cap’tain!“ befahl er. Unsere Gewehre klirrten zu Boden.
Seine grauen Falkenaugen streiften einige Mal prüfend über die ganze Compagnie. Dann ging er langsam dem rechten Flügel zu und begann, sich die Leute einzeln zu betrachten. Der Hauptmann folgte ihm auf dem Fuße. Er war schon ziemlich bis an die Hälfte des ersten Zuges gekommen, – Leute, Gewehre, Taschen, Tornister, Alles zugleich und doch dabei Alles im Einzelnen musternd, – als er sich plötzlich wieder umwandte und einige Augenblicke lang seinen stechenden Blick auf dem Flügelmann im Tambourzuge haften ließ. Es war dies ein schöner, hochgewachsener Mann. Mir ist, als ob ich ihn noch vor mir sähe. Der schwarze Schnurrbart hing ihm ausnahmweise ungewichst und etwas wild im Gesicht herab, die Lippen völlig bedeckend, gerade so, wie er wußte, daß es der General gern hatte.
„Herr Hauptmann v. K.,“ sagte dieser, ohne den Gefragten dabei anzusehen, „wie heißt der Tambour da?“
Der Hauptmann gab sich keine überflüssige Mühe, die Personen des Trommelschlägers – es standen deren vier nebeneinander – zu identificiren und:
„Schmidt, Herr General,“ war die fast augenblickliche Antwort.
„Den da, auf dem rechten Flügel, meine ich,“ fuhr der General fort, mit der Hand auf den fraglichen Mann deutend.
„Schmidt, Herr General!“
Der General verzog keine Miene, sondern fuhr mit impassiblem Gesicht genau an dem nämlichen Flecke mit der Besichtigung fort, an dem er sich so eben selbst unterbrochen hatte. Von Zeit zu Zeit ergriff er ein Gewehr, prüfte dessen Schloß, zog den Ladestock oder schob die Bundringe vom Laufe, um nachzusehen, ob sich an diesen, versteckteren Oertlichkeiten nicht etwa ein Rostfleckchen vorfinde. Hier und da öffnete er eine Patrontasche und visitirte die Munition. Ein paar Leuten ließ er die Tornister auspacken. Kurz, es war in der That, und nicht blos dem Namen nach, eine Specialrevue, eine Revue comme il faut, und ich fing an, mir die Langeweile damit zu vertreiben, daß ich auszurechnen begann, wie lange er etwa Zeit brauchen würde, um mit den noch übrigen zehn oder zwölf Compagnien fertig zu werden, wenn er auf jede derselben so viel Zeit, wie auf die unsrige, verwenden sollte. Ich glaube, er wäre etwa in einer halben Woche damit zu Stande gekommen. Aber, er mochte noch so sehr „in’s Detail“ gehen und seine gewaltigen grauen Augen mochten noch so scharf nach dem kleinsten Makel spähen: er fand auf dem ganzen langen Wege bis zum andern Flügelmann der Compagnie auch nicht das Mindeste auszusetzen. Kein Wort des Tadels war ihm noch entschlüpft. – Mein Hauptmann athmete leichter, als er endlich bei letzterem angelangt war. Aber, o weh! wir waren noch nicht fertig! Der General ging jetzt an der Kehrseite der Compagnie fast eben so langsam wieder herauf und begann sich die Leute auch von hinten zu betrachten. – Dasselbe Resultat! [156] kein schiefer Tornister, kein schlecht gerollter Mantel, kein blinder oder reifer Uniformsknopf; – alles knapp, vorschriftsmäßig, spiegelblank. Endlich hatte er den zurückgelegten Raum auch zum zweiten Male durchschritten und war wieder beim rechten Flügel der Compagnie, beim Tambourzuge, angelangt. Vor dem Flügelmanne desselben, vor dem nämlichen schlankgewachsenen Trommler mit dem buschigen Barte, blieb er jetzt plötzlich und wie zufällig stehen und den Tambour förmlich mit den Augen durchbohrend, fragte er:
„Wie heißt Du, mein Sohn?“
Der Tambour sah dem General fest und unbeweglich in’s Auge, dessen durchdringenden Blick mit vollständigster Ruhe aushaltend.
„Heinrich Schmidt, Herr General!“
„Gott verd – –, auf Ehre,“ sagte der General, erst den Hauptmann und dann den Tambour ansehend, während um die Mundwinkel seines außerdem völlig unbeweglichen Gesichts, schnell wie ein Blitz ein kaum merkliches Lächeln zuckte.
Der lange Tambour, von dem es nicht nöthig sein wird,
zu sagen, daß er eben so wenig Schmidt hieß, wie ich oder wohl
auch Du, lieber Leser, wurde bei der nächsten Vacanz und zwar
auf ausdrücklichen Wunsch des Generals zum Regimentstambour
erhoben, was mich gar nicht wunderte, als ich es vernahm.
Der Hauptmann v. K. erhielt von unserem Major, ob des eben
erzählten Vorfalles an seinem Unglückstage, einen ernsthaften
Verweis, was mich auch nicht wunderte, als mir der Hauptmann
davon erzählte, und unser Compagnie-Bier war am selbigen
Nachmittag und bis zum Zapfenstreiche äußerst heiter, was mich
erst recht nicht wunderte.
Industrielle Unternehmungen in Brüssel. Zu den bedeutendsten industriellen Etablissements in Belgien gehört unstreitig die vor dem Brüsseler Thore Ninove in der Vorstadt gleichen Namens gelegene Pauwel’sche Fabrik für Anfertigung aller wesentlich Eisenbahnen betreffenden Materialien aus Holz und Eisen, als Wagen, Schienen, Brücken u. s. w., doch sind im Ganzen keinerlei Werke, die aus jenen beiden Stoffen gefertigt werden, ausgeschlossen, so daß eine Aufzählung aller Producte, die aus dieser großen Werkstätte des Gewerbfleißes hervorgehen, beinahe eben so unmöglich als überflüssig sein würde. Wie vielfach aber ihre Thätigkeit und weitverbreitet ihr Name ist, erschließt sich schon daraus, daß in dieser Fabrik vollständige Blockhäuser aus Eisen für Californien zumeist und andere Länder Amerika’s gearbeitet werden, daß hier vor kurzer Zeit für den Herzog von Aremberg ein eisernes Gewächshaus vollendet ward und der Kaiser von Rußland, so wie der junge König von Portugal ihre eigenen Staatswagen, wie sie auf Eisenbahnen dienen sollen, hier fertigen ließen. Diese Fabrik mit ihren weiten Hofräumen, ausgedehnten Werkstätten und sonstigen Gebäulichkeiten nimmt aber auch einen Flächenraum ein, der mindestens zwei Mal so groß ist, als der des großen Brüsseler Marktes; 1000 Arbeiter sind hier täglich beschäftigt, mit Hülfe von 75 Maschinen aller Art Werke auszuführen, die das stets sich steigernde Bedürfniß ihnen aufträgt, während die Zahl der außerhalb der Fabrik für dieselbe thätigen Arbeiter auf 4000 wenigstens anzuschlagen ist.
Doch beschauen wir jetzt die Einzelnheiten selbst. Im Innern des Hofraumes finden wir zuerst einen höchst geräumigen Schuppen für feine und geschnittene Hölzer, dann den Gasapparat, der der Fabrik selbst eigen ist und dessen Gasometer die für das Ganze nöthigen 1000 Flammen liefert. Von hier aus wenden wir uns links nach der Holzwerkstätte in dem ersten Hauptgebäude der Fabrik; hier finden wir zuerst 150–200 Arbeiter, eingetheilt in 3 verschiedene Classen: Modellmacher, Stellmacher und Möbelschreiner, die der Natur ihrer Beschäftigungen nach ein zusammengehöriges Ganze bilden und bei ihren Arbeiten von 7 Scheibensägen, 1 sechsblätterigen Säge, 1 Stechmaschine, 1 Bohrmaschine, 2 Hobelmaschinen und 1 Garnirbank bedient werden; alle diese Maschinen setzt eine horizontale Dampfmaschine von 20 Pferdekräften in Bewegung. An diese Werkstatt grenzt die der Wagenlackirer, deren Zahl ungefähr 50 beträgt, während die der Wagentapezirer, die im obern Geschoß arbeiten, nur auf 20 anzusetzen ist. – Die rechte Seite desselben Gebäudes bildet eine Eisendrechslerwerkstatt, wie sie wohl vollständiger kaum mehr anzutreffen sein möchte; eine Pyramidalmaschine von 25 Pferdekräften treibt an mehr als 40 Bänke, zur verschiedenartigsten Bearbeitung des Eisens bestimmt, wie 20 Eisendrehbänke, unterschieden in Cylinderdrehbänke, Räderdrehbänke und Filtrirbänke; hierauf 4 Hobelbänke, 1 Mortesemaschine, 15 Bohrmaschinen verschiedener Systeme, 10 Schraubschneidemaschinen, endlich, als das Sehenswürdigste, die neue Bascülpresse (presse à bascule), welche die Räder an die Achse setzt und eine Kraft von 40,000 Kilos ausübt. Zum eigensten Behufe der hier auszuführenden Arbeiten besteht noch im obern Geschoß eine Holzdrechslerwerkstatt, worin aus Holz, Elfenbein und Horn die für Wagen nöthigen Materialien geliefert werden. Aus dem Eisenatelier gelangen wir zu verschiedenen Schmieden, unterhalten von 6 Ventilateurs, die durch eine horizontale Dampfmaschine von 20 Pferdekräften in Bewegung gesetzt werden; es sind hier im Ganzen 40 Essen und daran durchschnittlich 100 Mann beschäftigt. Sehr zu bemerken sind hier die vier sogenannten Dampfhämmer, die durch ihren eigenen Dampf getrieben werden und von denen zwei 1000 Pfund schwer sind; im Räume zwischen den 2 Reihen bildenden Schmieden beachten wir 6 große Oefen, zur Bearbeitung von Eisenrädern bestimmt. – Endlich haben wir noch die neben diesem ersten Hauptgebäude der Fabrik liegende Eisengießerei zu beachten, in der schon kolossale Stücke von 20,000 Pfund gegossen worden sind und zu welcher die schweren Kessel auf einer besonders erbauten Eisenbahn geführt werden.
Im zweiten Hauptgebäude der Fabrik werden im linken Flügel die Wagen zusammengesetzt und in Ordnung aufgestellt, im rechten geschieht dasselbe mit den für Zuckersiedereien oder anderen Beruf bestimmten Kesseln und großen Baustücken, wie eisernen Gebäuden u. s. w. Auf diese Räume folgt wiederum eine Schmiede, die ebenfalls von einer eigenen Maschine bedient wird, und in der mit Hülfe großer Oefen die Wagenfedern gehärtet und gebogen werden. Zu diesem Ende wendet man verschiedene Pressen, einige Bohrmaschinen und Planirhämmer an. Treten wir jetzt aus diesem zweiten Gebäude heraus, so haben wir einen zweiten großen Holzplatz vor uns, auf dem von durchschnittlich 24 Arbeitern die Bäume aus dem Groben gesägt werden; links bemerken wir einen gewaltigen Wagenschuppen, in dem Hunderte von Wagen zum Abholen bereit stehen, und endlich finden wir jenseits des Holzplatzes noch eine Gelbgießerei und Feilenhauerei, in welcher letzterer durchschnittlich 10 Mann beschäftigt sind. – So viel wird hinreichen, um nach diesen allgemeinen Angaben sich eine Vorstellung von der Ausdehnung dieser Pauwel’schen Fabrik machen zu können. Noch mögen einige weitere Bemerkungen hinzugefügt werden. Von den Arbeitern arbeiten höchstens 100 auf Tagelohn, alle andern auf Stück; die Löhne werden monatlich ausgezahlt; von je einem Franken wird ein Cent abgezogen zur Unterhaltung der Krankencasse, wodurch gesorgt wird, daß dem Arbeiter in Krankheitsfällen ärztliche Behandlung und Medicin unentgeltlich geboten werden, und er noch außerdem etwas mehr, als die Hälfte seines Tagelohns, beziehen kann. Der Betrag der Löhne ist natürlich nach den Arbeitern sehr verschieden: Schmiede verdienen von 3–10 Franken, Drechsler von 2–7, Bankarbeiter von 2–6, Gelbgießer von 2–7, Kupfergießer dasselbe, Wappenzeichner bis über 10 Franken, Tapezirer von 2–5, Modellmacher, Schreiner und alle Maschinenarbeiter bis 4 Franken. Die Verwaltung der Geschäfte ist in den Händen von ungefähr 20 Büreaubeamten, welche zunächst mit den Ober- und Unterwerkmeistern zu verkehren haben. An der Spitze der Verwaltung befindet sich Herr Franz Pauwel, doch ist derselbe seit einigen Jahren nicht mehr Haupteigenthümer der Fabrik, die vor 20 Jahren durch ihn erst im kleinsten Maßstäbe begründet ward, aber in kurzer Zeit durch seine Thätigkeit, Gewandtheit und talentvolle Leitung zu hoher Bedeutung sich erhob, sondern nur noch eingesetzter Beamter der Actiengesellschaft, an welche die Fabrik übergegangen ist, und zu deren hauptsächlichsten Mitgliedern er durch Beschießung eines großen Theils seines Vermögens mit Recht zählt. Der Associationsfonds dieses großen Unternehmens beträgt 10 Millionen Franken.
Pröhle hat so eben seinen in Berlin gehaltenen Vortrag über die
Fremdherrschaft zur Zeit des ehemaligen Königreichs Westphalen bei G. Mayer
im Druck erscheinen lassen. Das kleine Schriftchen enthält viele
interessante Mittheilungen, namentlich frappirt auf unangenehme Weise der
Nachweis, daß der vielgerühmte deutsche Patriotismus vollständig in Kriecherei
und Bedientenhaftigkeit für die Fremdherrschaft untergegangen war.
Dem Könige von Preußen verweigerten auf seiner Flucht sogar die eigenen
Unterthanen die nöthigen Pferde, und in Magdeburg war der Empfang
ein so übler, daß der König auf der Straße weinte.
Louis Napoleon sagt sehr schön in seinen, in den dreißiger Jahren
erschienenen „Politischen Träumereien“, damals, als er selbst noch
Verbannter war: „O ihr, welche das Glück selbstsüchtig gemacht hat, die
ihr niemals die Qualen der Verbannung gefühlt habt, ihr haltet es für
ein Geringes, einen Menschen aus seinem Vaterlande zu verbannen, und
solltet doch wissen, daß Verbannung eine beständige Marter, ein Tod ist
– nicht der ruhmvolle Tod Derer, welche für ihr Vaterland sterben, nicht
der noch süßere Tod Derer, welche ihren Geist in den Armen der Lieben
aufgeben, sondern der allmählich auflösende Tod, der in langsamer, aber
qualvoller Weise Stunde für Stunde an Dir nagt, bis er Dich hinunter
in’s dunkle, einsame Grab gebracht hat.“ – Wir wissen nicht, ob den
Verbannten in den Sümpfen Cayenne’s die Lecture der Napoleonischen
Schriften erlaubt ist, jedenfalls aber muß es für sie ein Trost sein,
daß ihr Kaiser mit ihnen die Qualen der Verbannung fühlt oder gefühlt hat.