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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1857
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[285]

No. 21. 1857.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.   Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Fern der Welt.
Von Bernd von Guseck.
Fortsetzung.

Graf Hallstein fühlte in diesem Augenblicke nur des Mannes redliche Gesinnung und sprach ihm seinen Beifall aus – Günther aber fragte nach dem angedeuteten Unglück des Fräuleins, von dem er noch nichts gehört hatte.

„Ja, das glaube ich wohl, Herr von Aßberg. Es weiß es auch Niemand, als ich, und ich mag nicht weiter davon reden, da er todt ist und es nun doch weiter nichts hilft. Setzen Sie sich nicht etwas zu uns in den Schatten, meine Herren? Sie können hier einen Rüdesheimer trinken, wie Sie ihn bei keinem Weinhändler finden.“

Hallstein wunderte sich, daß sein Freund die Einladung annahm, gewiß wollte er sich vollständig hier naturalisiren, und wenn er ihn etwa nach fünf Jahren wieder besuchte, fand er ihn gewiß als Stammgast, vielleicht gar als Eidam eines dieser würdigen Familienhäupter, welche das Patriciat der Stadt bildeten. Er konnte es zwar über sich gewinnen, die zuvorkommende Aufnahme, die er mit Günther in der kleinen Versammlung unter den Pappeln fand, nicht durch übel angebrachte vornehme Kälte zu erwidern, im Gegentheil war er so freundlich und gesprächig, als es in seinen Kräften stand, und bestätigte dadurch den Ruf, den ihm Herr Hassel schon bereitet hatte, aber innerlich widerstrebte doch seiner Natur die Formlosigkeit, die sich ihm selbst in jeder Beziehung hier fühlbar machte, zu sehr, und er dachte nun schon an seine Abreise. Was konnte ihn, da er nun wußte, wie Günther sein Leben gestaltet hatte, und daß er für ihn doch nicht mehr das alte offene Herz habe, was konnte ihn noch länger hier fesseln? Als er sich diese Frage stellte, war es ihm, als wecke er damit eine räthselhafte Unruhe, die mehr und mehr in ihm aufwallte – er spottete bitter darüber und das ironische Lächeln, das auf seine Lippen trat, galt nicht, wie Günther besorgt wähnte, den harmlosen Kleinstädtern um ihn her, sondern dem eigenen Selbst. Es mahnte aber den Freund zum Aufbruche.

„Charmant, ich begleite Sie, wenn Sie es erlauben,“ sagte Hassel. „Ich reite dann den Fußsteig nach Allweide, wo mich der Pastor erwartet. Den sollte sie heirathen, der nimmt sie gleich.“

Diese Aeußerung traf das aristokratische Gefühl des Grafen wie ein elektrischer Schlag, und nur die rasche Unterbrechung des Gesprächs durch Günther hinderte eine Entgegnung in diesem Sinne, welche ihn hier lächerlich gemacht haben würde: er dankte, zur Besinnung gekommen, dem Freunde später selbst dafür. Der Gerichtsverweser eilte, seinen Falben satteln zu lassen, Aßberg ging, seine übrigen Geschäfte zu besorgen, und Hallstein begleitete ihn, wobei er Gelegenheit hatte, sich das Bild der Physiognomie dieses vom großen Weltverkehr in fast märchenhafter Abgeschlossenheit liegenden Gemeinwesens zu vervollständigen. Leugnen konnte er trotz aller Vorurtheile nicht, daß er hier einen so gesunden und achtungswerthen Kern des Volkslebens fand, wie er ihn in der großen Strömung vor allen Krystallisationen, die sich um ihn angesetzt haben, nicht mehr zu erkennen vermochte.

Herr Hassel erschien jetzt hoch zu Roß und ritt hinter dem Wagen des Bergaers aus der Stadt, draußen, sobald der Weg breiter wurde, sprengte er aber an den Schlag. Auch heute war kein Kutscher mitgenommen worden, die Unterhaltung konnte also ganz ungestört geführt werden.

„Ich wünschte noch Ihre Meinung zu hören,“ sagte Günther, „ob meine Mutter vielleicht etwas für Fräulein von Nidau thun kann. Sie fürchtet, nur ihren Schmerz noch mehr aufzuregen, sonst würde sie, wenn auch unbekannt, schon selbst nach Allweide gefahren sein.“

„Na, dazu würde ich auch nicht rathen. Das würde die Lenchen nur in Verlegenheit setzen. Aber sonst darf sich die gnädige Frau nicht geniren. Brauchen kann sie Alles, denn ihr fehlt nicht mehr als Alles. Wenn Ihre Frau Mutter mir anvertrauen will, was sie zu spenden gedenkt, so werde ich es schon mit Manier anbringen, daß es nicht wie’n Almosen aussieht. Am Ende braucht sie gar nichts davon zu wissen, denn sie hat keine Ahnung, wie weit ihr Vater heruntergekommen ist, und kann es dann in Gottes Namen für das Ihrige, was etwa aus der Masse gerettet ist, halten. Ihrer Frau Mutter, wie ich sie kenne, wird es nicht darauf ankommen, für ihre Wohlthat einen großen Dank zu ernten – ich habe schon Beweise, was sie im Stillen für die Armen gethan hat, wie eine echte christliche Dame. Gestern, in der ersten Rathlosigkeit, was nun aus der Lenchen werden sollte, dachte ich schon daran, daß vielleicht Ihre Frau Mama sie als Gesellschafterin oder so etwas zu sich nähme, aber nachher fiel mir ein, daß Sie noch ledig sind, Herr von Aßberg, und ich nicht Ursache geben möchte, mir später Vorwürfe von der gnädigen Frau zuzuziehen.“

„Herr Gerichtsverweser!“ entgegnete Aßberg unwillig. Graf Hallstein sah den kleinen dicken Herrn, der bei dieser Naivetät ganz ruhig mit seinem Zügel spielte, eher belustigt an.

„Na, in allen Ehren natürlich!“ erwiderte Hassel. „Wenn Sie die Lenchen gesehen hätten, würden Sie es nicht so weit wegwerfen, und sie ist doch immer, wenn auch noch so arm, Ihnen ebenbürtig.“

[286] Ebenbürtig! Dies Wort der Anerkennung eines Rangunterschiedes, das der Graf in den Kreisen seiner Bekanntschaft noch nie aus dem Munde eines Unadeligen gehört hatte, war geeignet, ihn die vorige Aeußerung über den Pastor, der das Fraulein gleich nehmen würde, vergessen zu lassen.

„Sie ist also sehr liebenswürdig?“ fragte er mit Antheil.

„Eine sehr angenehme Person – unter Ihren Hofdamen haben Sie gewiß keine, die ihr das Wasser reicht, im Aussehen, meine ich. Bildung – Du lieber Gott, wo sollte sie die her kriegen? Was sie als Kind bei dem seligen Pastor gelernt hat, ist nicht viel gewesen, in Gesellschaften ist sie niemals gekommen.“

„Aber sie war doch verlobt, sagten Sie?“

„Ja, das wohl. Das war ein reiner Zufall, sehen Sie. Bei dem Herrn in Reinsdorf drüben war vor zwei Jahren einmal ein Vetter aus dem Thüringischen, ein reicher junger Herr, der muß die Lenchen wohl einmal in der Kirche oder auf dem Felde gesehen haben, wie es dann weiter gekommen ist, wissen wir nicht, aber es hieß bald in der Gegend, sie wären verlobt. Er reiste ab und ich gratulirte, das wurde auch angenommen, aber ich erfuhr von dem Alten weiter nichts und von der Lenchen erst recht nichts. Leider kam dann das Unglück und so ist Alles wieder vorbei.“

„Sie hat also doppelten Gram, das arme Mädchen,“ bemerkte der Graf, welcher jetzt für Aßberg die Forschung weiter fortsetzte.

„Na, das ist auch eine eigene Geschichte. Zuerst gab es freilich einen großen Schreck, aber wie ich nach einem Vierteljahre wieder herauskomme, finde ich die Lenchen munter und lustig, wie einen Vogel. Sie hat sonst ein sehr weiches und gefühlvolles Herz – also muß sie den Bräutigam wohl nur auf Befehl ihres Vaters und wegen des Geldes genommen haben.“

„Starb er so plötzlich?“

„Sehr plötzlich, Herr Graf, er wurde im Duell todtgeschossen.“

Hallstein fühlte bei diesem Worte, wie Günther neben ihm zusammenzuckte, ein Seitenblick ließ ihn bemerken, daß er jählings erblaßt war. Ein plötzliches Ahnen wunderbarer Fügung überkam ihn und ließ ihn für einen Moment verstummen.

„Die näheren Umstände hat mir der alte Nidau erzählt,“ fuhr Hassel fort, „aber ich mußte ihm versprechen, sie für mich zu behalten – hätte es auch aus Gründen von selbst gethan. In der Gegend wurde nur bekannt, daß er gestorben sei. Ihnen, meine Herren, da sie sich einmal für das gute Mädchen interessiren und die gnädige Frau etwas für sie thun will, auch Sie, Herr Graf, ihr vielleicht bei Ihren Connexionen zu einem Unterkommen, einer Stiftsstelle oder so etwas verhelfen können, habe ich nur allein davon erzählt. Ich recommandire mich nun, hier geht ein Fußsteig ab!“

Er zog die Mütze und lenkte seinen Falben von dem Wagen in einen Seitenpfad ein, in welchem er nun in einem stürmischen Galopp davonsprengte.

Die Freunde saßen eine lange Zeit stumm neben einander. Gebhard überließ es Aßberg, ob er eine Erklärung des ungewöhnlichen Eindrucks, welcher sich bei ihm bemerklich gemacht hatte, geben wolle.

„Er hat den Namen nicht genannt?“ begann Günther endlich mit unsicherer Stimme.

Gebhard verneinte es auch, äußerte aber, daß er wohl in der ganzen Gegend, welche um die Verlobung gewußt, bekannt sein werde. Als Günther wiederum eine geraume Weile schwieg, fragte ihn der Graf, den diese Zurückhaltung kränkte, in einem plötzlichen Uebergange zu alltäglichen Dingen: was er für die beiden Braunen gezahlt habe? Das traf denn endlich.

„Gebhard, Du hast ein Recht, mir auf diese Weise fühlbar zu machen, wie ich mich an unserer Freundschaft vergangen habe! Auch meine Mutter fand es unrecht, daß ich Dir mein volles Vertrauen vorenthielt – willst Du es noch von mir annehmen?“

Er war in mächtiger Bewegung, völlig der Haltung beraubt, welche ihm sonst eigen war, und Gebhard hielt es für unedel, von dieser Aufwallung, die den Freund vielleicht bei ruhigerem Blute wieder gereuen konnte, Vortheil zu ziehen. Er bat ihn daher, sich erst zu fassen und, was er ihm vertrauen wolle, auf eine gleichmütige Stimmung zu verschieben: er danke es ihm schon von Herzen, daß er ihm das Recht der Freundschaft zugestehe.

„Nein, Gebhard. Es tritt mir zu mahnend von Neuem in den Weg und ich sehe doch, daß ich mich getäuscht habe, als ich mich stark genug wähnte, Alles allein zu tragen. Ich habe eine Blutschuld auf meiner Seele.“

Hallstein wandte sich betroffen nach ihm um, aber er sagte, schnell verständigt:

„Im Zweikampfe, das ist ein Unglück, aber wer wollte das so nehmen oder nennen, wie Du sagst? Wir können die Gesetze der Ehre nicht ändern.“

Aßberg schüttelte düster den Kopf.

„Die Welt hat es einen Zweikampf genannt, aber die Umstände, unter denen es vorgefallen ist, haben ihn zum Mord gestempelt. Wenn ich Dir sage, daß mein Gegner ein Rittergutsbesitzer aus Thüringen, daß er, wie mir später gesagt wurde, glücklich verlobt war, daß er vor zwei Jahren von meiner Hand gefallen ist – begreifst Du, daß ich zittere vor Gottes gerechter Vergeltung, die mich hierher geführt hat, um ein Zeuge des Elendes zu sein, das ich verursacht habe?“

„Ich bitte Dich, Günther, gib Dich nicht dieser erschütternden Aufregung hin! Hat Dich wirklich der Zufall – oder Gottes wunderbare Fügung, wenn Du es annehmen willst – gerade in diese Gegend geführt, wo Du, ohne es zu ahnen, die hinterlassene Braut des Mannes, der im ehrlichen Zweikampfe gefallen ist, finden mußtest, so hast Du auch zu glauben, daß es zu einem anderen Zwecke ist, als nur Dich zu zerknirschen!“

„Was willst Du damit sagen?“ rief Günther, von dem Gedanken ergriffen, der in Hallsteins Worten zu liegen schien.

„Deine Meinung, wir haben oft darüber gestritten, gibt keinen Zufall in der Welt zu. Du hast immer behauptet, auch das geringfügigste Ereigniß sei entweder Schickung oder Folge der eignen Willensfreiheit – ich finde es viel natürlicher, auch einmal eine zwischen Beiden liegende Macht, den Zufall, den ich eine Zulassung nennen möchte, wirkend zu denken – gleichviel! Mag Deine Wahl, hier Dich anzukaufen, gekommen sein, wie sie wolle, ihre Folgen mußt Du wie ein Mann zu beherrschen wissen. Vor Allem aber, warte doch ab, was Dir die nächste Minute sagen wird: ob der Bräutigam des Fräuleins von Nidau und Dein Gegner eine Person gewesen sind? Daß letzterer ebenfalls ein Thüringer und verlobt war, beweist noch nichts. Willst Du mir Dein Rencontre erzählen? – Aber ich dränge Dich damit nicht.“

„Nein, nein, Du sollst Alles wissen – mehr, als selbst meine Mutter! Gebhard, Du hast die Deinigen auch geliebt, mich gestern hart angesehen, als ich gewisse Verhältnisse berührte – richte Du über mich. Es war in Ischl. Ein Herr von Walrode – Du kennst den Namen?“ unterbrach er sich überrascht.

„Vielleicht!“ sagte der Graf sich beherrschend. „Fahre fort. Ich werde es erst erfahren, ob ich diesen Walrode gekannt habe.“

„Er hatte sich bei den Herrschaften, welche zur Cur dort anwesend und sonst schwer zugänglich waren, vorstellen lassen, er spielte eine angesehene Rolle in der Gesellschaft. Ich war nicht meiner Gesundheit wegen dort, sondern nur, um die herrliche Alpennatur zu genießen, doch hatte ich mir, im Uebermuthe der mir zugefallenen großen Glücksgüter, allen äußern Luxus gestattet und fand dadurch – Du wirst mich nicht mißverstehen, wenn ich es selbst sage – einige Beachtung. Man zog mich in gewisse Kreise, zu geselligen Unterhaltungen, zu Ausflügen nach den schönsten Partien des Salzkammerguts, ich kann nicht läugnen, daß ich mich in dem fröhlichen, ungezwungenen Leben, wo nur die Etikette, nicht aber die feine Sitte der Salons verbannt war, sehr wohl fühlte. Nur Walrode benahm sich sonderbar kühl, fast abstoßend gegen mich – ich begriff nicht warum?“

„Neid!“ warf der Graf ein.

„Er offenbarte nur zu bald einen andern Grund. Anfangs kehrte ich mich nicht an ihn, ich war sonst wie Du weißt, nicht eben schmiegsam – Walrode existirte für mich gar nicht, auch wenn uns die Gesellschaft, in der er seine Rolle nicht aufgab, zusammen führte. Endlich benahm er sich aber so verletzend, ich kann sagen verächtlich, daß ich es nicht mehr dulden konnte. In der Gesellschaft natürlich stellte ich ihn nicht zur Rede, diese ahnte nichts – aber dann – erst schriftlich, dann unter vier Augen und“ – fuhr Günther immer kürzer und heftiger fort – „was er mir da in’s Gesicht gesagt, wie er die Ehre – meiner Mutter angegriffen – das forderte mein Blut oder seines! Sollte ich Zeugen dazu rufen? Den Secundanten meinen Grund zum Cartel sagen? Wir schossen uns allein – am Hallstädter See – ich hatte den ersten Schuß!“

[287] Er schwieg und Gebhard, tief bewegt, erfaßte des Freundes Hand: „Von einer Befürchtung kann ich Dich befreien, dieser Walrode ist nicht der Bräutigam Deiner Nachbarin gewesen, ich habe ihn gekannt und auch seine Braut, die sich schon getröstet und anderweitig verheirathet hat. Die zweite Last Deiner Seele begreife ich nicht, noch weniger, wie sie Dich zu dem Entschlusse treiben konnte, ganz mit der Welt zu brechen und Dich in diese Einöde zurückzuziehen. Allerdings ist der Zweikampf ohne Secundanten nicht in der Ordnung, aber in diesem besondern Falle ehre ich Deinen Beweggrund dazu vollkommen – wie kann Dich nun der Ausgang, auf welchen man bei dem ernsten Gange immer gefaßt sein muß, so niederbeugen?“

„Ohne Secundanten, Gebhard, ganz recht, das war zu entschuldigen – aber ohne Arzt? Siehst Du, das macht Dich auch bestürzt. Walrode wäre zu retten gewesen, wenn wir einen Arzt mitgenommen hätten!“

„Das glaubst Du hinterher und quälst Dich damit!“

„O nein, ich bin davon überzeugt. Der Arzt – der zu spät herbeigeschafft wurde – sagte es auch.“

„Wie sie es immer behaupten!“ rief Hallstein. „Entschlage Dich des entnervenden Gedankens, der zu nichts mehr führen kann. Was hatte es sonst für Folgen?“

„Verkenne mich nicht, Gebhard. Ich wollte mich dem beleidigten Gesetz stellen – nachdem ich, wie es rathsam, der ersten Verhaftung ausgewichen war. Aber ich schlug einen falschen Weg ein, den zu meiner Mutter nach Venedig – von ihr wollte ich Abschied nehmen, ihr mein Unglück verkünden, doch ohne ihr je den Anlaß dazu zu entdecken – das aber war der Weg, der mich noch tiefer verstrickte. Denn sie errang mein Versprechen, mich dem Gerichte des Auslandes nicht zu stellen, da Niemand aufgetreten war, mich anzuklagen; Niemand wußte, daß ich mit Walrode mich geschossen – wir waren ganz allein, auch ohne Diener, zu dem bestimmten Orte geritten, und hatten die Pferde angebunden, damit der Ueberlebende sich gleich retten könne. Ich war dann, Walrode’s Thier an der Hand, nach Hallstadt gejagt, um einen Arzt zu holen. Dem Verwundeten hatte ich mit meinem Tuche, so fest ich konnte, den Blutverlust zu hemmen gesucht. Es war, als habe uns vorher ein böser Geist die Sinne verblendet, daß wir uns die Möglichkeit, der Ehre genug zu thun, ohne daß Einer von uns todt auf dem Platze bliebe, durch Ausschließung des Arztes ganz abgeschnitten hatten. Ich fand einen solchen in Hallstadt, der mich auch gleich begleitete – zu spät!“

„Walrode’s Ende habe ich wohl gehört,“ sagte der Graf, nachdem Günther länger verstummt war und auch er Vieles bedacht hatte, was ihn bewegte. „Aber wie hätte ich ahnen können, daß Du –? Es wurde ein ganz anderer Name genannt –“

„Kein wirklicher – ich meine, kein echter, wahrer Name, den irgend ein Mann getragen!“ rief Günther hastig. „Wäre das der Fall gewesen, keine Macht, nicht die Bitten und Beschwörungen meiner Mutter würden mich abgehalten haben, mich als den Thäter anzugeben! Glaubst Du wirklich, ich sei fähig gewesen, meine Schuld zu verheimlichen und sie einem Andern, Unschuldigen aufbürden zu sehen?“

„Beruhige Dich, Günther,“ bat ihn der Graf, von dieser Aufregung eines empörten Gefühls mehr und mehr seiner gewöhnlichen Stimmung zurückzugeben. „Ich bin vielleicht besser über diesen Golem, Mannequin oder Strohmann, der für Dich als strafbarer Duellant angesehen wurde, unterrichtet, als Du selbst.“

„O, scherze nicht, Gebhard, wo mein Seelenfrieden verloren ist!“

„Dadurch?!“ rief Hallstein. „Doch erzähle mir erst, was Du weiter gethan hast, als Alles vorbei und nicht mehr zu ändern war. Dein plötzliches Verschwinden aus Ischl muß doch den Verdacht auf Dich gelenkt haben – ich begreife nicht, wie er auf diesen sogenannten Dorpat gefallen ist.“

„Walrode, wie ich, waren übereingekommen, am Tage vorher förmliche Abschiedsbesuche bei unsern Bekannten zu machen – ich hatte ganz bestimmt auch mein Reiseziel, Venedig, angegeben, mir dorthin von einem der leicht gewonnenen Freunde Nachrichten über den weiteren Verlauf der Saison und was mich interessiren könne, bestellt; durch ihn erfuhr ich denn auch, wie der Verdacht auf den Andern, der sich Dorpat genannt hatte, gefallen sei – und was sonst über diesen Menschen sich ermittelt hatte, gab eben meiner Mutter die Waffe, womit sie meinen anfänglichen Entschluß, meine That nicht zu leugnen, bekämpfte.“

„Im Grunde, was wäre daran gelegen gewesen!“ sagte Hallstein leicht. „Ein Jahr oder zwei nach Hohen-Salzburg – wunderschöne Aussicht, Untersberg, Staufen – oder gibt es dort keine Detinirten? Ich weiß nicht einmal. – verzeihe mir, Günther, ich kann diese allerdings unglückliche, aber doch oft vorfallende Begebenheit nicht so schwer nehmen. Dieser erbärmliche Walrode, der alle Ursache hatte, sich einen anständigen Ausgang aus der Welt zu wünschen, beleidigt Dich durch eine Nichtswürdigkeit, Ihr schießt Euch auf Barriere, Du überlebst ihn, und einem elenden Schwindler, der zufällig mit Walrode auf öffentlicher Promenade Streit gehabt und Ischl vielleicht aus Furcht vor den Folgen desselben bei Nacht und Nebel verlassen hat, widerfährt die Ehre, als ein Cavalier angesehen zu werden, von dessen Kugel Walrode im Duell ohne Zeugen gefallen sei. Es stellt sich dann bei einiger officieller Nachforschung heraus, daß dieser Dorpat weder so, noch Hinz, Kunz, Peter oder Steffen, wie er sich nach einander aus Nützlichkeitsrücksichten genannt hat, sondern eigentlich N. N. geheißen, ich weiß nicht mehr; ferner, daß er nicht aus Esth- oder Kurland, sondern aus der Kurmark, weder ein Freiherr, noch überhaupt ein Herr, sondern ein Diener war, der mit der Cassette seiner alten Dame durchgegangen – kurz, die Personification einer Anekdote – und daß er glücklich über Hamburg nach Amerika entwischt ist. Kannst Du Dir nur im Entferntesten ein Gewissen daraus machen, daß Du besagtem Baron von Dorpat, der als solcher nie existirt hat, die Ehre des bestandenen Zweikampfes – denn eine Schande ist es doch wahrhaftig nicht! – überlassen hast, aus der für ihn gar keine irdische Gefahr entstehen konnte? Wem hättest Du durch eine Selbstdenunciation einen Dienst erwiesen, als der Wahrheit, einer kalten, abstracten Idee?“

„Mir würde viel leichter sein! Ich bereue es, daß ich dem Andringen des Arztes, der mich nur entfernen und Alles, was nöthig, besorgen wollte, nachgegeben habe, ohne ihm meinen Namen zu nennen!“

„Um ein fait accompli muß man nachträglich nicht rechten. Aber ich kann Dir, nachdem ich Deine Geschichte erfahren habe, meine Verwunderung nicht verhehlen, wie sie Dich zu dem Entschlusse bringen konnte, Dich ganz aus der Welt zurückzuziehen, um hier, verzeih’ mir den Ausdruck, der Hypochondrie zu leben. Ist das wirklich ganz und gar Dein eigener Gedanke gewesen?“

„Du glaubst, meine Mutter habe mich dazu bewogen? Sie hat sich mir geopfert, Gebhard. Sie führte ein klares und lichtes Leben an einem schönen Orte, den sie sich gewählt, ein Leben, das sie sich nach Wunsch gestaltet hatte, wo sie in anmuthigem Wechsel von Geselligkeit und Stille, in höherm geistigen Verkehr, Kunstgenüssen und Freuden der Natur, so glücklich war – und das hat sie aufgegeben, als ich ihr meinen Entschluß verkündigte, um mir zu folgen, den sie nicht allein lassen wollte. Verstehe mich recht: sie kam hierher zu mir, als ich diesen Entschluß bereits ausgeführt hatte, und – es gab noch einen Kampf zwischen uns, da ich ihr Opfer nicht annehmen wollte. Sie aber blieb Siegerin, denn sie hatte sich überzeugt, daß ich hier wohl aufgehoben bin.“

„Du hast noch einen andern Grund, den Du mir verschweigst. Dies Duell allein konnte Dir die Welt nicht verleiden. Eine verfehlte Neigung vielleicht –?“

Günther machte eine ungeduldige Bewegung. „Ich habe keine Antwort darauf. Wenn Du ein paar flüchtige Tändeleien so nennst, so haben Sie mir wenigstens keinen Schmerz und keine Reue zurückgelassen.“

„Du hast noch etwas auf dem Herzen! Doch – dort sehe ich schon den Kirchthurm von Berga, wir wollen abbrechen. Ich sage Dir nochmals: wenn Du keinen andern Grund hast, fern der Welt in finstrer Ascetik zu leben, als den Du mir erzählt hast, so bist Du nicht bei gesunden Sinnen. Der Elende hat die Ehre Deiner Mutter verleumdet – was kann eine wehrlose Frau thun, sich gegen beliebig erlogene Nachrede zu schützen? Ein Gottesgericht hat ihn durch Deine Hand dafür bestraft, Du solltest eher darauf stolz sein! – Genug davon. Ich hoffe, Du wirst Dich bald zu meiner Ansicht bekehren. Sage mir nur noch Eins, worauf ich wahrhaft brenne – dafern Du es darfst, natürlich! Ich weiß wohl, Deine Mutter hat es Dir untersagt, aber Dich hoffentlich nicht durch ein Versprechen gebunden. Mir aber gibst Du eine wahre Herzenserleichterung, denn ich habe offenbar in gänzlicher Zerstreutheit [288] etwas gegen Deine Mutter gesagt, was mich nur beunruhigt, weil ich es nicht weiß. Wie ich jetzt wieder darauf komme? Mir ist bei unserm heutigen Gespräch plötzlich eine dunkle Erinnerung erwacht, als sei meine Antwort auf die Frage Deiner Mutter – aber Du darfst wohl nichts sagen?“

„Sie äußerte sich darüber, daß sie den Freund ihres Sohnes nicht früher kennen gelernt habe – und Du gabst zur Antwort: Wohl mir!“

„Günther!“ rief der Graf betroffen. „Und was ich dieser Ungezogenheit, so viel ich mich erinnere, folgen ließ! Wahrlich, hier weht eine verzauberte Luft, die auch mir alle Besinnung raubt! Das kann ich nicht unaufgeklärt lassen, ich muß mich in den Augen Deiner Mutter rechtfertigen.“

„Thue es lieber nicht,“ bat Günther. „Sie hat sich ja, wie sie mir gesagt, mit Dir ausgesprochen und verkennt Dich nicht. Laß uns nun die Vergangenheit, was auch geschehen sein möge, unberührt lassen – ich habe hier gefunden, was ich suchte, und Du kannst Dich überzeugen, daß ich ganz zufrieden bin. Ich mag daher auch von Dir nicht wissen, was Dir etwa sonst“ – hier holte er schwer Athem – „von Walrode’s Verhältnissen bekannt ist.“

„Nein!“ rief Hallstein lebhaft. „Das mußt Du gerade wissen, es ist Dir unumgänglich nöthig, denn es betrifft den Punkt, der es allein erklärlich macht, wie der Elende es wagen konnte, das Gift seiner Verleumdung gegen Dich zu verspritzen. Seine Familie hatte der unsern die Ehre einer Verschwägerung zugedacht; eine ältere Schwester Walrode’s war im Rathe derselben für meinen Bruder Waldemar bestimmt – begreifst Du nun die Feindschaft gegen Deinen Namen? Dieser erbärmliche Mensch war der Intrigant in der aufzuführenden Komödie; welche niedrigen Ränke er ersonnen und ausgeführt hat, um den Zweck zu erreichen, damit will ich Dich verschonen. An dem felsenfesten Glauben meines Bruders, der seiner Liebe Fundament war, wurden aber alle Verdächtigungen, die er schon damals, noch als blutjunger Mensch versuchte, zu Schanden; nun hat den Elenden endlich die gerechte Strafe ereilt, und Du kannst Deinen Blick heiter in das Leben wenden.“

Günthers Blick strahlte wieder, aber auf seinen Wangen glühete es, wie eine brennende Scham. Er hatte in den letzten Worten des Freundes einen tiefen Vorwurf gefunden. Der Glaube war das Fundament der Liebe genannt worden – felsenfest der Glaube des Unglücklichen, dem seine Liebe das Leben verzehrt hatte! Und er, der Sohn – wie war er darin befunden worden?




V.

Frau von Aßberg hatte während der Abwesenheit der beiden Männer ebenfalls über Helene Nidau Erkundigungen eingezogen. Der Pfarrer in Berga, ein alter, schlichter Mann, konnte am besten Auskunft über sie geben, wenigstens über ihre Kindheit. Mit dem jetzigen Amtsbruder in Allweide stand er nur in geringer Verbindung, weil dieser einer neuen Zeitrichtung angehörte, welche dem Greise verwerflich erschien, aber mit dem vorigen Pastor des Nachbardorfes, der sein Universitätsfreund gewesen, hatte er viel Umgang gepflogen, und durch ihn von den Verhältnissen im Nidau’schen Hause mancherlei erfahren. Er lobte Helenen als ein gutgeartetes und in strengster Zucht des Herzens aufgewachsenes Kind. So hätte sie die Verlassene mit Freuden in ihr Haus aufgenommen, wenn nicht auch ihr, obgleich aus andern Quellen entsprungen, mancherlei Bedenken dagegen erwacht wären. Was ihr Günther mit heimbrachte, gab ihr noch mehr Stoff zum Nachdenken. Es war ihrem Gefühl auch verletzend, sich das verwaiste Mädchen hier in der Gegend, wo ihre Familie doch immer angesehen und einst sehr begütert gewesen war, von der Barmherzigkeit fremder Menchen lebend zu denken. Gewiß war die Idee des Gerichtsverwesers, sie einstweilen in sein Haus zu nehmen, sehr vernünftig, da sie doch wahrscheinlich mit seiner Familie bekannt war. Aber nach der Ansicht der Frau von Aßberg kam es doch hauptsächlich darauf an, ob Hassels Gattin und Töchter so geartet seien, daß sich die Arme in ihrem Hause wohl fühlen könne. Sie wußte, daß Frau Hassel eine Bürgerstochter aus der Stadt war, kennen hatte sie dieselbe noch nicht gelernt; ihre Herkunft und wahrscheinlich geringe Bildung waren an sich zwar kein Hinderniß, da Helene, wie Frau von Aßberg durch den Pfarrer erfahren hatte, leider in ziemlicher Unwissenheit geblieben war, und in ihrer traurigen Lage wohl keinen Stolz kannte, aber sie sollte ein weiches und liebevolles Gemüth besitzen, und wenn sie im Hassel’schen Hause keine gütig gesinnten Herzen fand? Darüber mußte erst Aufschluß gewonnen werden und der Wunsch, Helenen kennen zu lernen, trat Frau von Aßberg immer näher.

Günther wurde mitten im Gespräch von seinem Verwalter abgerufen, und seine Mutter, lebhaft mit dem Grafen in eine Erwägung verwickelt, ob es nicht möglich sei, dem Fräulein von Nidau wirklich, wie Hassel angedeutet, eine Stiftsstelle auszuwirken, bemerkte erst nach einer geraumen Weile, daß sie mit Hallstein allein war. Wiederum stieg jenes mädchenhafte Erröthen in ihrem Antlitze auf, das sie so lieblich kleidete, und sie um die Hälfte ihrer Jahre jünger erscheinen ließ. Beider Augen begegneten sich einen Moment und der Graf – wir dürfen es nicht verschweigen – deutete die Purpurgluth falsch. Eine fremde Gewalt schien sich seines Innern zu bemächtigen und machte seine Pulse rascher schlagen, doch hielt er die äußere glatte Ruhe leidlich fest. Frau von Aßberg aber war befangen; sie fühlte wohl, daß sie erröthete, wie jede innere Bewegung sich jedesmal bei ihr kund gab, sie war unwillig über diese Schwäche bei ihren Jahren, aber dadurch machte sie es noch viel schlimmer. Ihre vielgeprüfte Vergangenheit war es, welche heut, als sie sich mit dem Grafen allein sah, jene dunklere Farbe auf ihre Wangen rief, denn sie wußte, daß Günther sich gegen den Freund ausgesprochen hatte, und wollte nun auch vertrauensvoll über ihren Sohn mit ihm reden, aber zugleich dachte sie doch daran, in welchem Verhältniß sie eigentlich zu Gebhard stehe.

In halber Verlegenheit, die sie jedoch mehr und mehr bezwäng, führte sie die Besprechung wegen der Stiftsstelle für Helene Nidau, die einen Moment gestockt hatte, zu Ende und fragte dann mit einem herzlichen Blicke, ob Günther ihm sein Unglück erzählt habe. Hallstein bejahte es und faßte nun seine Berechtigung, wie weit er darüber mit Frau von Aßberg sprechen könne, mit diplomatischer Schärfe auf: ihm war ja mehr bekannt, als ihr, er wußte den eigentlichen Kern der Sache, den Grund der Beleidigung Walrode’s, welchen Günther natürlich der Mutter verschwiegen hatte. Was hätte sie fühlen müssen, wenn sie gewußt hätte, daß ihretwegen ein Menschenleben vernichtet worden sei! Ob sie von den frühern heimtückischen Angriffen Walrode’s auf ihren guten Namen eine Ahnung habe, war Hallstein unbekannt, um so mehr mußte er auch auf seiner Hut sein, das, was ihm der Freund allein vertraut hatte, nicht unvorsichtig zu verrathen.

„Und haben Sie ihn getröstet?“ fragte Frau von Aßberg.

„Ich habe ihm vorgestellt, wie grundlos er sich über eine Ehrensache, die nun einmal nicht zu ändern war, trübe Gedanken macht. Hoffentlich werden meine Worte nicht fruchtlos gewesen sein.“

„Geben Sie mir Unrecht, daß ich seinen Vorsatz, sich dem Gerichte des fremden Landes zu stellen, bekämpfte?“ fragte sie zögernd. „Ich bin manchmal wieder zweifelhaft, ob mein Gefühl als Mutter nicht das bessere Bewußtsein übertäubt hat. Mir war es nur, als schade er dadurch Niemand, indem kein Anderer für ihn die Schuld tragen muß, und selbst der Name der Person, auf welche die Vermuthung gefallen ist – doch Sie wissen wohl Alles?“

„Ich weiß es, gnädige Frau, und bin ganz ihrer Ansicht. Es wäre Chimäre, wenn Günther dem Reiz, der ihn zuweilen noch zu befallen scheint, nachgeben wollte. Ich nenne es einen Reiz – Sie müssen ihn nicht aufkommen lassen.“

„Aber er sagt, ihm werde wohler sein, wenn er offen Alles bekannt und Alles nach dem Gesetze verbüßt habe. – Wäre ich fest davon überzeugt,“ setzte sie gedankenvoll hinzu, „so würde ich ihm sein Versprechen zurückgeben. Ich komme aber zuweilen zu der Idee, daß meinem armen Günther noch etwas Anderes auf dem Herzen liegt –“ hier richtete sie ihr schönes Auge forschend und bittend zugleich auf Gebhard, welcher vor diesem Blicke fast seine kältere Fassung wieder verloren hätte. Er wußte zwar mehr, als die Mutter, aber auch noch nicht Alles, davon war er fest überzeugt! Daß er ihr Beides nicht eingestehen durfte, war klar.

„Wenn er noch etwas auf dem Herzen hat,“ erwiderte er, „so sein Sie überzeugt, daß er es Ihnen in diesem trauten Stillleben, das Sie Beide hier verbindet, bald vertrauen wird.“

(Schluß folgt.)



 

[289]
Eröffnung des Kunstschatz-Tempels in Manchester.
(Von einem Augenzeugen.)

Für sieben Schillinge und sechs Pence, also für 21/2 Thaler, hin und zurück. Vierhundert englische Meilen Eisenbahn gefahren für zwei und einen halben Thaler! Das war mir doch, nach Allem, was ich gesehen, das Merkwürdigste, als ich mich zu Hause in London erholt und hingesetzt hatte, um niederzuschreiben, was mir aus der frischen Erinnerung an die mitgemachte „Eröffnungsfeierlichkeit der Kunstschatz-Ausstellung in Manchester“ eben als annehmbar in die Feder kommt. Damit aber diese Merkwürdigkeit kein Unglück in kleinen Geldbeuteln anrichte, füge ich sofort hinzu, daß die Fahrt das Wenigste war. Hätte ich nicht bei einem Freunde logirt und leibliche Nahrung zu mir genommen, wäre ich kaum mit Casse und Credit aus- und wieder nach Hause gekommen. Andere, die auf die Gastfreundschaft der Manchester Hotels angewiesen waren, erzählten mir dämonische Geschichten von Rechnungen für Dinge, die sie gar nicht gesehen, geschweige genossen hatten. Doch genug davon, ohne anzufangen. Die nächste Merkwürdigkeit, die mir in die Feder kommt, ist das Citat einer Dame in einem silbergrauen, rothbesetzten Mäntelchen und mit schweren, brauen, vollblut-englischen Locken. Es wurde natürlich unterwegs und mitten in der Ausstellung, wie überall, viel Maculatur gesprochen, unter Anderem auch über den pädagogischen und moralischen Einfluß der Kunst auf die Natur und Denkungsweise der Menschen. Ein Gentleman in Steifleinen leugnete diesen Einfluß ganz und gar. „Ganz im Gegentheil,“ rief die Dame zwischen ihren braunen Locken heraus; „ich finde in dieser Wirkung der Kunst deren einzige Macht. Bulwer Lytton sagt irgendwo, Niemand könne des großen Thiermalers Landseer Hirsche, Hunde und Pferde studiren, und hernach einen Hund mißhandeln.“

Das ist eine bekannte, schon oft ausgesprochene Wahrheit, aber sie gefiel mir in dieser Form aus einem schönen Munde als Trumpf gegen einen renommirenden Gottesleugner der Idealität und des Schönen ganz besonders. Nun zur Sache.

Ich war früh auf am berühmten fünften Maitag in Manchester, wo der Rauch nie etwas Maigrünes duldet. Aber ich liebte es heute. Dieser Rauch und diese Baumwolle hatten binnen drei Wochen ohne Anregung von Oben oder Unten, aus sich selbst, aus Privatmitteln 75,000 Pfund Sterling zur Errichtung des Kunsttempels gegeben, wie im benachbarten Liverpool ein einziger Kaufmann eine große Bibliothek u. s. w., frei für alles Volk baut. Das ist nobel, wenn noch irgend etwas von wirklichem Seelenadel ist. Ich sah in die sonst grauen, einförmigen Straßen hinaus, in welchen zunächst Barbiere und Haarkünstler, wie steckbrieflich verfolgt, umhereilten, um die vielen Bestellungen an struppigen Männerbärten und seidenen Damenlockenköpfen rechtzeitig auszuführen. Modisten und Schneider liefen mit wirrem Haar, übernächtlich aussehend, mit großen Bündeln unterm Arm, darunter gewiß mit manchem acht- und zehnfach gefalbelten Pluderkleid, welches heute schöne Gestalten häßlicher machen und häßliche in Muster von Abschreckungstheorie und Wolfsschluchtungeheuern verwandeln sollte.

Manchester ist Residenz einer neuen politischen Zukunft, sehr liberal, aber auch sehr loyal. Es liebt, wie ganz England, seine Königin, und hat eine Brücke, Hotels und Straßen nach ihr benannt. So wie Jemand vom Hofe in die Stadt kommen will, springt der Lord-Mayor heraus mit der Geschwindigkeit eines Chausseeeinnehmers. Heute, wo nun der Prinz Albert im Namen der durch Wochenbett abgehaltenen Königin den großen Kunsttempel eröffnen sollte, verrieth schon der nicht grauende, sondern in der Wolle graugefärbte Morgen freudig aufflatternde Zeichen dieser Loyalität. Während die Straßen noch leer und die meisten Rouleaux noch verschlossen waren, wurde es auf unzähligen Dächern lebendig. Menschen, nicht größer wie Katzen auf den ungeheuern Häusern und Magazinen, kletterten umher, um ungeheuere Stangen zu befestigen und schiffssegelgroße Fahnen und Flaggen zu entfalten: Union Jacks und königliche Standarten in allen Größen und Stoffen. In Moseley-Street, wo einige der größten Baumwollenlords wohnen, flatterte und wehrte es so dicht und mächtig von ganz Oben bis ganz Unten, daß Manchem der Hut abgeschlagen ward, während oben im vierten Stockwerk ein Windstoß in den farbigen Kattun blies. Um acht Uhr sah ganz Manchester aus, als hätten alle drei vereinigten Königreiche alle ihre Fahnen und Flaggen zum Waschen hierher gesandt, und die große Nationalwäsche sei eben aufgehangen zum Trocknen. Jede Karre, jeder Wagen, jeder Omnibus flaggte und fahnete; selbst Karren mit Eisenbahn-Packeten flatterten mit baumwollenen Taschentüchern; sogar ein schwerer, schwarzer Steinkohlenwagen donnerte wie ein Erdbeben von der Victoriabrücke her mit je zwei noch nicht zerschnittenen Taschentüchern auf jeder Ecke. Um neun Uhr wurden wir von unserm Thee mit Eiern, Speck, Wasserkresse, Shrimps u. s. w. aufgeblasen. Ein kleines Regiment mit ungeheuern breiten grünen Schärpen, der alte Orden der Wäldler, Waldkundigen („Foresters“) wackelte hinter nationaler Musik her durch die Straßen. Ihnen folgte die nicht minder seltsame Procession einer alten lustigen Gilde, die sich selbst „wunderliche Kerle“ (Odd fellows) nennen, mit grünen Bannern und goldenen Sprüchen darin. Bei dieser Gelegenheit füllten sich auch Fenster, Dächer, Droschkendächer, Omnibusfirsten, alle mögliche natürliche und extemporirt künstliche Erhebungen mit Menschen, besonders kletterelastischen, übermüthigen Jungen, und die Straßen wurden ein Rollen und Knattern von allerhand bewimpeltem Fuhrwerk, von schweren Staats-Equipagen bis zu leicht fliegenden „Broughams“ u. s. w. Droschken und Omnibus raseten so polizei- und lebenswidrig, wie ich es noch nie gesehen. Jeder dachte bei der ersten Fahrt an die zweite und dritte und an das Geld, das heute herauszuschlagen war. Die Gasthöfe und Vermietherinnen möblirter Zimmer erhoben heute ihre doppelten Preise auf’s Dreifache. Bierläden und Hotels erschienen mit neuen, mächtigen Aushängeschildern, welche „Kunst-Schatz-Bier“ drei Pence pr. Pot ankündigten. Eine Restauration nannte sich Kunstschatz-Eßhaus. Gewöhnliche Bretter auf Pfosten, welche die Höhe der Menschen um die eines Tisches vergrößerten, hießen „Kunstschatz-Schauplätze“, einen Penny per „Stand.“

Ach und das Gedränge und Gegapse und Gelaufe, als wir uns endlich der Ausstellung näherten! Manche schwitzten schon triefend und fluchten, als sie sich mit dem bereits gestohlenen Taschentuche den Schweiß abtrocknen wollten. Weiber mit Körben und Männer mit Kindern auf jedem Arm und noch andern an den Rockflügeln (in England trägt immer der Mann die jüngere Nachkommenschaft) wurden auseinander gerissen und schrieen oder klammerten sich fest an einander, entschlossen, nur über ihre Leichen Jemanden durchzulassen. In Stretford Road, der großen Hauptstraße zum Kunsttempel, hatten sich drei- und vierfache Wagenreihen festgefahren. Die Fußgänger wurden von Bier- (Nessel-Bier-) und Samenkuchenbuden und Baukünstlern mit Brettern und Stühlen (die noch „Schauplätze“, 1 Penny per Stand, bauen wollten) verbarrikadirt. Das ist überall die Folge zu großer Eile. Es ging schrecklich langsam. Ich studirte dabei in mehrere Equipagen hinein: Damenhüte und die Gesichter weit davor. Die Hüte hängen nicht mehr am Hinterkopfe, sondern sind blos Dachtraufe ganz unten am Nacken geworden. In Old Trafford, der Ausstellung ziemlich nahe, waren die Häuserfronts und Dächer mit Köpfen bepflastert. Selbst leere Häuser mit Zetteln: „zu vermiethen“ zählten mehr Einwohner, als Platz fanden. Endlich hieß es: Nun sind wir gleich da, da ist er! Wer? Der Kunsttempel! Wo? Die Wagen waren alle größer, als der Kunsttempel, der so niedrig breit und lang gestreckt da lag, wie ein auf die Nase gefallener Thurm, wie ein langer, breiter Eisenbahn- oder Güterschuppen. Es war die auf die Erde, unter die Massen des Volks niedergesenkte Erhabenheit der alten, zum Himmel emporstrebenden gothischen Dome. –

Mein Freund, ehemals von Profession verdorbener Assessor ohne Gehalt in Berlin, jetzt Orakel und Lehrer der Baumwollen-Lords-Jugend in Manchester, hatte nicht nur Freibillets, sondern auch privilegirte Freibillets, welche uns Zutritt in das für Prinz Albert feenhaft decorirte Zimmer am Eingange verschafften: rothseidene Damaststühle mit luftballonartigen, weichen Schwellungen selbst an den Lehnen, goldener Tisch, Sammetgardinen, goldenes Schreibzeug mit einem Malachitschnitzwerk u. s. w., daneben ein Ankleidezimmer (falls der Prinz im Negligée gekommen sein könnte) mit einem marmornen Cupido, der ein Waschbecken hält, Haarbürsten, Kämmen, Nagelscheeren, Nagelbürsten, Nagelfeilen, 5 bis 6 [290] Seifenkugeln, Pomade und ein Dutzend geschliffenen, „wohlriechenden Fläschchen.“ Die Gelehrten sind noch nicht darüber einig, ob auch ein Stiefelknecht drin war.

Der erste Eintritt in das Innere des Kunsttempels macht den überraschendsten Eindruck angenehmer Täuschung. Von Außen liegt der Kunsttempel lang, niedrig und breit. Inwendig wölbt und dehnt er sich in blaudämmernd verschwindende Ferne mit reichen Lichtern und Farben und architektonischen Linien und Formen. Er hat’s in sich. Durch die Mitte der Dachwölbung oben läuft ein langer Streifen von Himmelslicht durch’s Glas. Die übrigen Theile der Wölbungscurve sind architektonisch gefeldert und bläulich-grau gefärbt mit rothen Einfassungslinien. Dagegen heben sich die Eisenbalken und Säulen in grünlicher Bronze mit Goldkanten ab. Die bläulich-graue Farbe des großen Dachbogens gibt Leichtigkeit, Höhe und Erhabenheit.

Die Räume füllten sich sehr rasch, besonders die Reihen rother Stühle auf Teppichen mit kostbar gekleideten Damen, welche lachten, daß die schelmischen, großen Augen sich wie Knopflöcher zusammenschlitzten, als die seltsam kostbar costümirten officiellen Personen hereinschritten, steife Herren in großen, rothen Uniformen, besetzt mit Silber-Flecken und geschmackloser Arabeskenstickerei, mit aufgekrempelten martialischen Hüten und Brillen darunter, in weiten Purpurmänteln, mit weiten schwarzen Sammetröcken mit großen schwarzseidenen Säcken auf dem Rücken hinunterbaumelnd, eine Menge Lord-Mayors mit hellziegelrothen, Augen schmerzend stechenden Schlafröcken und dreieckigen Hüten, wie Diplomatenkutscher auf den Böcken, Herren mit weißtaffetnen Kniehosen und ungeheuer langen, gestickten Westen und rothen Strümpfen u. s. w. Neben diesen Civiluniformen noch wunderlichere militärische mit Säbeln, aufgekrempelten Hüten, Federbüschen und Orden quer über die Brust, so dicht wie Uhren in dem Schaufenster eines Uhrmachers, die noch seltsameren der verschiedenen Gesandten und Diplomaten, in denen auch zum Theil merkwürdige Persönlichkeiten eingeknöpft waren, z. B. Dallas, Gesandter der vereinigten Staaten mit dem bedeutendsten Kopfe unter Allen, durch volles, schneeweißes Haar auszeichnet, neben welchem sich der schwarze, gigantische Vertreter des Kaisers von Hayti, Baron Damier, sehr effectvoll und „historisch“ vielleicht hervorhob. Als sich der schwarze Gigant mit den lachenden weißen Zähnen der Gruppe näherte, aus welcher das weiße Haar des Herrn Dallas hervorstrahlte, kehrte Letzterer dem Schwarzen den Rücken und stellte sich später immer mit dem Rücken gegen ihn, blos manchmal vorwurfsvolle Seitenblicke auf den schwarzen Riesen werfend. Ja, er ist ein riesiger Vorwurf eurer ekelhaften Sclavenpolitik in den weißen Republiken. Witterte das weiße Haupt die Nemesis derselben in dem gigantischen Neger mit den furchtbar weißen, vollen Zähnen und den athletischen Muskeln? Das Benehmen des alten Dallas fiel offenbar auf: es war eben so knotig als kindisch. Nur Baron Van der Weyer, der Herr mit dem überaus klugen Gesichte und etwas aufgestülpter Nase, Vertreter des kleinen, gefürchteten Belgiens, sprach unbefangen und lange mit dem seltsamen Schwarzen, dem größten Manne unter allen Diplomaten, was besonders neben dem untersetzten, kurzen Belgier auffiel.

Die Zeit zu weiteren Beobachtungen der Herren, denen man oft nachsagt, daß sie ihren respectiven Ländern durch gegenseitiges Ueberlisten dienten, war vorbei. Ein Mann stürzte sich athemlos auf dem langen rothen Teppich, der sich durch’s Schiff zieht, heran und rief der großen Armee des Orchesters zu, anzufangen, wenn sie eine „rothe Fahne“ (die Polizei blieb ganz ruhig dabei) am Ende des Schiffes schwingen sähen. Dann eilte er eben so schnell zurück und Alles stand auf und machte lange Hälse über einander weg. Einige Damen kreischten im höchsten Discant auf über die Kanonen, die irgendwo in der Nähe abgeprotzt wurden. Die Kanonen wirkten Wunder. Weiße Rosen und weiße Hüte und unendliche Massen säuselnder Seide, Bänder, Schleifen, Millionen von Blumen und Blümchen an feinen umwickelten Drahtfädchen, goldene, flachsige, braune und schwarze Locken rauschten und wogten wie eine üppige Wiese voller Blumen im windigen Junimorgen kurz vor dem Mähen. Gläser in allen Größen blitzten tausendweise nach dem Ende des Schiffes, wo am äußersten Ende in dämmernder Ferne die „rothe Fahne“ wehte, aber nicht „über ganz Europa“, wie früher einmal die „Neue Preußische“ prophezeihete, sondern klein wie ein Mohnblatt. Die Policemen glänzten mit ihren lackirten Hüten eifrig Spalier drängend. Ueber sechshundert Blaseinstrumente und Geigen, Pauken und Cymbeln schmetterten God save the Queen durch die gloriosen Räume und Menschenohren hindurch. Die Sprachorgane schrieen jauchzend: Hurreh! Hurreh! Hurreh! und alle männliche Bevölkerung nahm die sonst festsitzenden Hüte ab. Die feierlichen Herrschaften in rothen Mänteln, in Sammet-Roben und seidenen Kniehosen und rothen Strümpfen stellten sich um die Stufen des Thronhimmels in der Mitte des Central-Schiffes. In der Ferne gingen brandrothe Uniformen auf, in deren Mitte der große, schöngewachsene Prinz Albert freundlich hervorschritt und auf den Thronhimmel geführt ward. Nach der Musik trat ein alter, stattlicher Herr mit rothscheinender Glatze auf und las dem Prinzen etwas von einem großen Papierbogen vor. Es war Lord Overstone, Präsident des Ausstellungs-Rathes, einer der wenigen Lords, die officiell zugegen waren. Die übrige Aristokratie hatte ihre Kunstschätze geschickt, war aber selbst weggeblieben, wie überall, wo Prinz Albert als Vertreter der Königin auftritt. Die regierenden Classen der Aristokratie sind eifersüchtig auf den Prinzen: sie meinen, er lasse den Thron nicht Null genug sein ihren, nicht den Interessen des Landes gegenüber. Außerdem ist er wirklicher präsidirender Genius der Bildung, Cultur, Kunst und Schönheit des Lebens, was man in England der demoralisirenden auswärtigen, England niederbrechenden Einbrecher- und Räuberpolitik gegenüber sehr gut brauchen kann. Er hat Dutzende von goldenen Maurerkellen, womit er Bildungs- und Culturinstituten den Grundstein befestigte. Das ist denn allerdings den Interessen der „privilegirten“, gegen Volk und Thron feindseligen regierenden Classen zuwider. So mögen sie überall wegbleiben, wo Culturinteressen gefeiert werden und endlich ganz und gar verschwinden, wenn England auf den Wegen, wo sie den Prinzen Albert und die Königin ohne Parlament finden, wirklich vorwärts kommt.

Der Prinz erwiderte auf die ihm vorgelesene Adresse mit einigen Worten, aber nicht laut genug, als daß ich etwas davon hätte verstehen können. Es wurde noch einige Male vorgelesen und darauf erwidert, was denen, die nichts davon hörten, sehr langweilig war, wie ich vernehme, noch mehr denen, die’s mit anhörten. Bei solchen Gelegenheiten wird officiell selten ein neuer, schöner Gedanke oder überhaupt etwas Substantielles gesprochen. Die Convenienz ist hier ein Censor, der strenger ist, als irgend einer in redeunfreien Ländern.

Das Gerede schloß mit einem Gebete des Bischofs von Manchester in ungeheueren weiten weißen, crinolirten Aermeln, wobei ein Herr in einer violetten Robe so weit aufgähnte, daß man mit einer Droschke in seinem Munde hätte umlenken können. Der Lord-Mayor von Dublin hob während der Zeit mühsam den rechten Handschuh auf (der vom Schicksale doch dazu bestimmt ist, immer allein verloren zu gehen) und bildete dabei eine Figur, wie sie die Jungen machen, wenn sie über einander „Hopp-Frosch“ wegspringen.

Nach dem Gerede kam brillante, gloriose Musik mit den berühmtesten Sängern und Sängerinnen. Die Dame im schwarzen Kleide mit einfachen Maiblümchen im Haar sang einen ganzen Engelshimmel voll Töne, welche den schönen, irdischen Gesichtern junger Damen einen reizend frommen, seligen Ausdruck aufhauchten. Es war Madame Clara Novello, gegen welche sich der Prinz nach Vollendung ihres Gesanges mit einem leichten, anerkennenden Lächeln kaum merklich, aber als unverkennbares Zeichen herzlicher Anerkennung verbeugte, so daß die Sängerin roth ward bis in die Stirn hinauf. Sie konnte wohl stolz auf ein solches Beifallszeichen sein, nicht weil es vom Prinzen kam, sondern von einer anerkannten Autorität in solchen Dingen und so nobel, so leicht und herzlich, gegenüber der in allen englischen Concerten und Theatern überschwenglichen, rohen Händehauerei und Füßetrommelei als Beifallszeichen.

Während der Procession des Prinzen und alles officiellen Personals durch die weiten Räume des Kunsttempels wurden die Damen rebellisch und machten Revolution gegen die Polizei, welche den Thronhimmel schützen wollte. Eine gottlose Schönheit mit stolzen, großen Augen und blaugestreiftem, achtfalbeligem Kleide drängte Bresche sechs Ellen weit, da der Policeman zu artig war, den künstlichen Umfang ihres kostbaren Crinoline’s zu knittern. Andere folgten: der Thron war in höchster Gefahr; nur ein Gewaltstreich konnte ihn retten. So griffen mehrere Policemen die Thronhimmeltreppe hinauf und faßten derb zu, einige Damen blos bei den Säumen, andere aber gerade zu bei den zarten Beinen. Das zog.

Mit einem Wehen des Federbuschhutes erklärte der Prinz nach Rückkehr von der Procession den Kunsttempel für geöffnet. Jetzt drängten 6000 Personen nach einer polizeibesetzten, halbgeöffneten [291] Thür, welche zu den „Erfrischungen“ führte. Die umfangreichsten Crinolin’s knackten und rissen und brachen zusammen. Bänder und Schleifen und einzelne Handschuhe bedeckten den Boden, als man ihn wieder sehen konnte. Wie glücklich sahen die „unabhängigen“ Leute darein, welche ihr Butterbrot, und ihr Büllchen aus der Tasche zogen! Als sich die Massen zerstreut und vertheilt hatten, verwendeten wir unsere letzten Kräfte, um rasch und flüchtig die einzelnen Abtheilungen des Baues und die, seit die Welt steht, zum ersten Male zu diesem großen Congresse aller Culturen, Zeiten und Schönheits-Phasen vereinigten Kunstschätze zu überblicken. Man denke sich über 30 Original-Raphael’s, jedes eine Reise von hundert Meilen werth, über eintausend Originale von alten Meistern ersten Ranges, viele tausend Meisterwerke von anderen Malern, Tausende von Modellen für schöne Industrie und Kunstproduction zur Veredelung, Läuterung und Erheiterung unserer Umgebungen in Haus und Heimath, zur Erleichterung unserer Siege über die Natur und Eroberung ihrer Schätze – und man wird eine Ahnung bekommen, daß die Eröffnung dieses Cultur- und Schönheitstempels nobler, segensreicher und wichtiger sein mag, als die Eröffnung China’s mit Bomben auf Grund feiger Vorwände und frecher Lügen. Wohl mag die Aristokratie Englands Grund haben, den Prinzen Albert mit der Maurerkelle und auf dem Throne freiwilliger Culturtempel ohne Säbel und Waffen zu fürchten, denn alle ihre Kriegsschiffe und Bomben sind am Ende nicht so mächtig, als der Prinz Albert mit seinen die Grundsteine für Friedens- und Culturtempel weihenden goldenen, ihm geschenkten Maurerkellen.




Auf der Elephantenjagd.

Es war im April, als ich mich von Dulana aus mit meinem Bruder zur Elephantenjagd aufmachte. Wir nahmen mehrere erfahrene Treiber, Moorleute aus der Gegend mit, welche von Arabern stammend, die Cingalesen weit an Verstand übertreffen.

Nicht weit von dem Dorfe stießen wir auf einen See von drei Meilen Umfang, und in diesem erblickten wir alsbald 13 alte Elephanten. Die meisten standen allein, die beiden größten bildeten jedoch ein Paar und die Moorleute sagten uns, sie wären immer zusammen und der Schrecken der Umgegend. Sie erzählten uns auch eine Menge Geschichten von ihrer Wildheit, auf die wir aber nicht hörten.

Auf einem Boot fuhren wir über das Wasser nach dem entgegengesetzten Ufer, wo wir eine Menge ganz frischer Elephantenspuren fanden. Wir folgten einigen, nicht lange darauf verrieth uns jedoch das Knattern der Zweige, und sobald die Elephanten uns witterten, flohen sie davon. Ich feuerte nach einem, ihn zu isoliren, dies gelang mir jedoch nicht. Die Flucht ging fort und unsere Treiber hinter drein, lärmend und unsere Gewehre abfeuernd. Auf jeden Schuß ertönten laute Rufe, und zwischen ihnen das Trompeten eines Elephanten. Rasch eilten wir zur Stelle und sahen in einer offenen Waldstelle unsere Treiber in bestem Kampfe mit einem alten Spitzbuben von Elephanten. Er griff sie mit voller Wuth an, aber kaum hatte er sich gegen den Einen gewandt, als ein anderer der beweglichen Burschen von hinten auf ihn feuerte und ihn anschrie. Wenn er sich dann umwandte, wurde er wieder von der andern Seite angegriffen. Als wir ankamen, wandte er sich gegen meinen Bruder, der gerade vor ihm stand und ihn sofort niederstreckte.

Das Feuern hatte eine Heerde aus dem Walde aufgestört, welche darauf über einen nahen Fluß schwamm, der so angeschwollen war, daß wir nicht hinüber konnten. Wir wandten uns deßhalb wieder dem See zu, in welchem die vorher von uns gesehenen beiden Elephanten noch standen, und wir beschlossen uns an sie zu machen. Sie standen bis an den Bauch im Wasser und badeten sich, eine viertel Meile vom Ufer. Wie sollten wir dahin gelangen? Mir fiel ein, daß man sie zum Rückzüge auf demselben Wege nöthigen müsse, den die übrigen Elephanten genommen hatten, und daß man ihnen dann am Eingang des Waldes entgegentreten könne. Ich schickte deßhalb einen Moormann mit einer Büchse nach einer schmalen Landzunge, die sich in den See erstreckte, und von dort aus hörten wir ihn nicht lange darauf ein paar Mal auf die Elephanten feuern. Sie wurden stutzig, spitzten die Ohren, warfen die Rüssel in die Luft und machten sich, nachdem sie ihres Feindes inne geworden, durch das Wasser nach dem Ufer auf den Weg.

Wir sahen dies mit Befriedigung, die Treiber aber jauchzten vor Vergnügen. Augenblicklich rannten sie das Ufer entlang, von Wurzel zu Wurzel springend und über den Morast setzend, der einen Fuß tief war. Sie konnten dies wohl, mir aber, der ich zu meinen zwölf Steinen Gewicht noch die 16pfündige Büchse trug, wurde dies ungleich schwerer und ich blieb häufig im Koth stecken. Vergebens rief ich ihnen zu, sie sollten langsam vorgehen, sie waren so aufgeregt, daß sie nicht hörten, und mit allen Gewehren, bis auf die vier Unzen-Büchse, davon liefen, deren Gewicht den Träger zwang, zurückzubleiben. Noch mehr als dies Davonlaufen mit den Gewehren ärgerte mich die Aussicht, daß die Burschen durch ihre Vorschnelligkeit die Jagd verderben würden.

Wir gingen so gut vorwärts, als es anging, und kamen endlich an eine kleine Wiesenfläche mit dichtem Gebüsch. Der offene Platz war 20 bis 30 Fuß groß, ringsumher war dichtes undurchdringliches Dorngebüsch. Von den Treibern war nichts zu sehen. „Sie müssen auf falscher Fährte sein,“ rief ich aus, „ich bin überzeugt, die Elephanten müssen hier in der Nähe hineingegangen sein.“

Kaum hatte ich das gesagt, so hörte ich ein paar Fuß von mir ein Rascheln, das Gebüsch beugte sich aus einander und ich sah den wüthenden Kopf eines Elephanten, der auf mich loskam.

Ich hatte nur noch Zeit den Hahn zu spannen und zu feuern, obwohl ich wußte, daß es vergebens war, weil er den Rüssel erhoben hatte. Auch meines Bruders Schuß hatte keine Wirkung. Ich sprang zur Seite, um zu fliehen, aber meine Füße verwickelten sich in das hohe Gras und ich stürzte nieder, einen Fuß vor dem Elephanten. In dieser furchtbaren Spannung erwartete ich jeden Augenblick das Krachen meiner Knochen zu hören, wenn er seinen colossalen Fuß auf mich setzte. Es war ein Atom von Zeit, da hörte ich das Krachen einer Büchse, mein Bruder hatte seine letzte Kugel entsendet, ich fühlte eine schwammige Masse an meinen Fersen, rollte mich einige Schritte vorwärts und kam wieder auf meine Füße. Der letzte Schuß hatte ihn getroffen, als er gerade auf mich losging, und das Ende seines Rüssels war auf meine Fersen gefallen. Er war aber noch nicht todt, sondern schlug nach mir mit dem Rüssel, als ich an ihm vorbeiging, ihm mit der vier Unzen-Büchse den Rest zu geben.

Eben wollte ich losdrücken, als ich hinten ein Geräusch und gleich darauf den wilden Schrei eines Elephanten hörte. Das furchtbare Thier bahnte sich den Weg zu mir und im nächsten Augenblick stand sein Fuß dicht neben dem meinen. Er ging aber an mir vorbei und wollte meinen Bruder angreifen, der keinen Schuß mehr hatte. So blieb mir nichts übrig, als den Inhalt meiner Büchse in seinen Rachen zu leeren. Ich mußte fürchten, daß er auf mich fallen und mich zerdrücken würde, es mußte jedoch gewagt werden.

Nachdem ich abgeschossen, sprang ich rasch zur Seite – der Elephant stürzte nicht, war aber tödtlich verwundet, die Kugel hatte seine Kiefer verletzt und es floß viel Blut aus der Wunde. Er stutzte, raffte aber darauf seine ganze Kraft zu einem neuen Angriff zusammen. Mein Bruder entwich ihm und er folgte ihm durch das Moor. Wir luden die Büchsen und hörten gleich darauf die Schüsse unserer Treiber. Sie hatten den verwundeten Elephanten durchbrechen sehen und ihm eine Ladung nachgesandt, als er sich dem Flusse zuwandte. Sie hielten ihn für verloren und glaubten, er sei am andern Ufer in’s Gebüsch gelaufen. Dort fanden wir ihn in der That nach einigen Tagen, als der Fluß gesunken war und uns gestattete, dahin zu dringen.

So war uns die Jagd dreier großer Elephanten geglückt, aber unter viel zu großen Gefahren. Später verfuhr ich sorgsamer und sicherer. Mit nur zwei Büchsenträgern lauerte ich am Ende des Morastes zur Aesungszeit auf die Elephanten, wenn sie aus dem Walde heraustraten. Dann konnte ich mich unentdeckt ihnen nahen und sie erlegen.

Einem Elephanten auf offenem Felde zu entrinnen, ist äußerst schwierig. So kam vor einigen Jahren der Major Haddock [292] in Ceylon zu Tode. Er hatte einen alten „Spitzbuben“ angegriffen und nicht zum Stehen gebracht, obwohl er zwei Kugeln auf ihn abgeschossen hatte. Rasch entfloh er und trat hinter einen Baum, in der Hoffnung, der Elephant würde an ihm vorbeilaufen. Unglücklicher Weise sah er jedoch nicht hinter sich, ehe er umwandte, und der Elephant ging nur um den Baum herum, griff ihn dort an und stampfte ihn zu Todte. Aehnliche Opfer gab es mehrere.

Einmal gerieth auch ich in sehr dringende Lebensgefahr und verdankte meine Rettung nur dem Zufall. Wir waren in der Umgegend auf eine Heerde Elephanten gestoßen, und hatten einen nach dem andern erlegt. Ein Junges, das erst 3½ Fuß hoch war, packte ich mit den Händen und ließ es in Sicherheit bringen, ohne daß die Alte es gewagt hätte, auf dessen Klagen herbeizukommen. Erst ganz spät gegen Abend kam sie plötzlich mit hoch geschwungenem Rüssel zurück und gerade auf mich zu. Flucht war bei dem hohen Grase unmöglich. Ich hatte nur eine Büchse geladen und konnte die Elephantin nicht von vorn fassen, weil der Rüssel ihre Stirn deckte. Ich fühlte mich verwirrt und hatte nur den einen Gedanken, zu warten, bis sie ganz nahe sei und den Rüssel senkte.

Sie kam wie ein Pferd in Carriere daher gerannt, und in wenigen Augenblicken war sie dicht bei mir, den Rüssel immer noch hoch erhoben. So wie sie den Rüssel drei Fuß von mir entfernt senkte, feuerte ich, aber in demselben Augenblicke flog ich auch wie ein Ball durch die Luft. Nach dem Feuern war ich links fortgesprungen, ihr Rüssel hatte mich aber gepackt und zehn Schritte weit fortgeschleudert. Dann stand sie still und fing an, nach mir im Gras zu suchen. Ich hörte sie näher und näher kommen und wußte, daß meine einzige Rettung darin bestand, verborgen zu bleiben. Ich blieb deßhalb ganz ruhig liegen und hielt den Athem an. Mein Glück war, daß bei dem nahen Feuern der Schuß das Thier halb geblendet hatte, so daß es den scharfen Gebrauch seiner Sinne nicht mehr besaß. Ich hörte das Gras rings um mich herum aufwühlen, mich selbst fand sie aber nicht, und zuletzt verschwand sie ganz und gar.

Ich glaubte zuerst, mir wären sämmtliche Knochen zerbrochen, so heftig war der Schlag gewesen. Ich kroch auf Händen und Füßen vor, fand jedoch alsbald zu meiner Freude, daß kein Knochen gebrochen war, denn ich konnte sogar aufrecht stehen, aber mit Mühe schleppte ich mich nach dem Wasser, wo ich meinen Schenkel badete, der alsbald dick aufschwoll.

Meine Büchse wurde nicht weit von der Stelle gefunden, wo ich gelegen hatte. Die Elephantin hatte darauf getreten und sie trägt noch jetzt die Spuren dieses Trittes. Nach wenig Minuten konnte ich mich nicht mehr bewegen, und mußte nach den Pferden und meinem Zelte schicken. Das Blut gerann an der Stelle, an welcher der Schlag getroffen hatte, und ich hatte noch mehrere Tage lang Umschläge zu machen und zu heilen, bis ich mich ohne Schmerzen wieder zu Pferde bewegen und meine Jagd fortsetzen konnte.

Das Fleisch der Elephanten wird in Ceylon nicht gegessen und man überläßt die Leiber der getödteten der natürlichen Zerstörung, welche merkwürdig schnell vor sich geht. In wenig Tagen ist der Cadaver voll Würmer und Fliegen, welche an ihm zehren, und nach drei Wochen findet man gewöhnlich nur noch das trockne Knochengerippe. –




Das chemische Etablissement des Herrn Fikentscher in Zwickau.
Von Dr. Hirzel.

Zwickau in Sachsen nimmt unter den deutschen Fabrikstädten einen immer bedeutenderen Rang ein, was allerdings nicht überraschen kann, wenn man bedenkt, daß es außer dem durch die Eisenbahnverbindung möglichen raschen Verkehr auf unerschöpflichen Kohlenlagern ruht, und „Kohlen“ sind ja das unentbehrlichste Nahrungsmittel für die Fabriken. Unter den vielen, in und bei Zwickau liegenden Etablissements fällt uns besonders eine große Häusergruppe mit 8 bis 10 hohen Essen aus; dieselbe führt den bescheidenen Namen „Glashütte“ und ist das Etablissement des Herrn Fikentscher, dem wir heute einen kurzen Besuch abstatten wollen. Etwas schüchtern, wenn wir keine besondere Empfehlung haben, nähern wir uns dem Eingang, betreten den großen Hof, der links von den Wohnungen der Glasmacher und mehreren Fabrikgebäuden, rechts von den Wohnhäusern der Familie eingefaßt ist. Dem Eingang zunächst gegenüber liegt die eigentliche Glashütte, deren rothglühender Ofen uns besonders in die Augen fällt. Wir erkundigen uns bei einem Arbeiter nach dem Herrn, werden freundlich zu der richtigen Thüre geführt, mit seltener Freundlichkeit aufgenommen und in dem ganzen Etablissement herumgeführt.

Hier herrscht der freie Genius der Intelligenz, und man bemerkt nichts von jener albernen Geheimnißthuerei und ängstlichen Zurückhaltung, mit welcher man in vielen Etablissements bedient wird. Wir zweifeln nicht daran, daß Herr Fikentscher auch seine Fabrikgeheimnisse besitzt, wie jeder Andere, allein man sieht und hört nichts davon. Ich hebe diesen Umstand deshalb ganz besonders hervor, weil die Art und Weise, mit welcher der Besucher in manchen Etablissements empfangen wird, oft einen sehr ungünstigen Eindruck macht. Es ist wahr, die vielen Besuche, denen namentlich die bedeutenden Etablissements ausgesetzt sind, müssen mitunter recht lästig werden; allein auf der andern Seite entspringt doch auch wieder mancher Vortheil und manche Genugthuung hieraus. Derjenige, welcher aber oft in den Fall kömmt, ohne gewichtige Empfehlungen verschiedene Etablissements zu besuchen, ist mancherlei kleinen Leiden ausgesetzt. Oft wird man auf wirklich ungebührlich barsche Weise abgewiesen; oder man wird freundlich aufgenommen, bekömmt aber anstatt der Werkstätten nur das Waarenlager zu sehen und wird sodann mit vieler Artigkeit verabschiedet; oder man erhält einen Führer, der die Rolle eines Taubstummen spielt; oder man wird durch die Werkstätten gejagt, damit man keine Zeit finde, etwas abzusehen; oder man erhält einen Begleiter, dessen Erklärungen selbst für ein Kind zu kindisch sind. So erging es mir z. B. beim Besuche eines anderen Etablissements zu Zwickau, zu dessen Besichtigung mir ein Begleiter gegeben wurde, der mich zunächst zu einem großen Steinhaufen führte mit der Bemerkung: „das sind Steine.“ Auf meine Frage, woher diese Steine bezogen werden, erhielt ich zur Antwort: „aus dem Gebirge.“ Dann führte er mich zu dem Pochwerke, dessen Thätigkeit sich schon durch das bedeutende Geräusch ankündigte, mit den Worten: „Hier wird gepocht.“ Er führte mich in einen Arbeitssaal, in welchem viele Arbeiter beschäftigt waren, mit der Erklärung: „Hier sind die Leute“ u. s. w. In Sch… ging es mir nicht viel besser, als ich dort eine Farbenfabrik besichtigte. Der Besitzer führte mich selbst herum, zeigte mir mit großem Ernste eine Schale mit einem gelben Pulver: „Hier sehen Sie eine gelbe Farbe,“ eine Schale mit einem blauen Pulver: „Hier ist eine blaue Farbe“ einen Porzellanmörser: „hier wird gemischt!“ u. s. w. Doch wir kehren nach dieser Abschweifung wieder zu dem schönen Besitzthum des Herrn Fikentscher zurück, um dasselbe etwas näher zu besichtigen.

Der Vater des Herrn Fikentscher war gelernter Apotheker, gründete aber zu Redwitz bei Wunsiedel im Fichtelgebirge zunächst nur eine kleine Fabrik, die sich unter seiner Leitung rasch erweiterte und sichtlich emporblühte. Zugleich betheiligte er sich dort bei einer Glashütte. Der jetzige Herr Fikentscher übernahm schon als siebenzehnjähriger Jüngling die selbstständige Leitung jener Glashütte, wo er zuerst das Glasschmelzen mit Glaubersalz (schwefelsaurem Natron) anstatt der damals zur Glasfabrikation üblichen Soda (kohlensaures Natron) einführte. Später führte er, gemeinschaftlich mit seinem Bruder, zugleich auch die Geschäfte der chemischen Fabrik seines Vaters, nachdem er vorher in derselben zuerst die Schwefelsäurefabrikation eingerichtet hatte. Allein so bedeutend auch die väterliche Fabrik war, so entging es dem Scharfsinne des Herrn Fikentscher doch nicht, daß sie wegen ihrer Abgelegenheit zu wenig Zukunft hatte, und nach schwerem Abschiede von dem schönen Fichtelgebirge siedelte daher Fikentscher im Jahre 1845 nach Zwickau über, wo er zunächst nur eine Glashütte errichtete, über die wir unten einige nähere Mittheilungen geben wollen.

In der Glashütte braucht man zum Glasschmelzen thönerne Häfen, zum Bau der Glasöfen feuerfeste Thonziegel etc. Daher [293] wurde mit der Glashütte die innig damit zusammenhängende Fabrikation von feuerfesten Steinen verbunden, von denen namentlich in Zwickau auch viele zum Bau der Coaksöfen verbraucht werden. In den letzteren Jahren hat sich nun die Thonwaarenfabrik des Herrn Fikentscher bedeutend erweitert. Wir sehen da wirklich gigantische Thonkessel, Thonbottiche und Thoncylinder, die mit einem schmelzbaren Pechsteine so dauerhaft und gut glasirt werden, daß sie nicht nur wasserdicht sind, sondern selbst dem Einflusse der kräftigsten Säuren Widerstand leisten. Die Bereitung so großer Thongefäße, sowie die Fabrikation von feuerfesten Thonsteinen ist durchaus keine so leichte Arbeit, als man gewöhnlich glaubt. Es gehören hierzu die umfassendsten Kenntnisse der mannichfachen Eigenschaften und Verschiedenheiten der zahllosen, natürlich vorkommenden Thonsorten. Der Werth eines Thones läßt sich nicht allein aus dessen chemischer Zusammensetzung, dessen größerer oder geringerer Schmelzbarkeit beurtheilen.

Die Fikentscher’sche Glashütte in Zwickau

Selbst seine Schwere, d. h. der mehr oder weniger dichte oder poröse natürliche Zustand, sind nebst ähnlichen Verhältnissen für das zu erlangende Resultat von großer Bedeutung. Im Allgemeinen eignet sich ein dichterer Thon besser zur Bereitung feuerfester Gegenstände, als ein mehr poröser von gleicher chemischer Zusammensetzung. Die Wahl der zu den herzustellenden Gegenständen geeigneten Thonart oder Mischung von Thonarten ist jedoch nicht die einzige Schwierigkeit. Der Thon hat bekanntlich die Eigenschaft, sich beim Brennen zusammenzuziehen und zwar ungefähr um den siebenten Theil seiner Länge, was oft sehr störend wirkt. Herr Fikentscher hat aber gefunden, daß sich der aus Quarzkörnchen bestehende Sandstein beim Brennen sehr stark ausdehnt, und indem er die Thone mit einer bestimmten Menge solchen Sandsteins auf das Innigste vermengt, bereitet er Mischungen, welche beim Brennen keine Formveränderung mehr erleiden. Auch der Hitzegrad, welchem man die Gegenstände beim Brennen aussetzt, ist sehr wichtig; denn dieselben Thonsteine erscheinen im schwach gebrannten Zustande blaß rosenroth, leisten aber den zerstörenden Einflüssen der Witterung nur geringen Widerstand; bei stärkerem Brennen nehmen sie eine gelbe und in der höchsten Glühhitze eine schmutzig violette Farbe an, und sind dann sehr fest und dauerhaft. Endlich hängt von dem Bau und der Construktion der Oefen, in welchen die Thonwaaren gebrannt werden, sehr viel ab. Die Oefen des Herrn Fikentscher sind so eingerichtet, daß die Hitze hauptsächlich von oben zugeleitet werden kann, wodurch es möglich wird, große Gegenstände ganz gleichmäßig zu brennen.

Wie wir schon erwähnten, nimmt Herr Fikentscher zur Bereitung der Glasmasse keine Soda, sondern Glaubersalz (die Verbindung von Natron mit Schwefelsäure). Um dieses selbst fabriciren zu können, errichtete er im Jahre 1848 seine chemische Fabrik, welche sich fortwährend erweitert. Zur Glaubersalzfabrikation ist vor Allem Schwefelsäure (Vitriolöl) nothwendig, also wurde zuerst die Schwefelsäurefabrikation eingerichtet, welche Herr Fikentscher in der neuesten Zeit bedeutend verbessert und vereinfacht hat. Früher bereitete man die Schwefelsäure auf die Weise, daß man die Dämpfe des brennenden Schwefels in den Bleikammern (Räume, deren Wände aus Bleiplatten bestehen) mit Wasser und Salpetersäuredämpfen zusammenbrachte. Anstatt reinen Schwefels verwendete dann Herr Fikentscher den in der Natur äußerst häufigen Schwefelkies (eine Verbindung von Eisen mit Schwefel), den er von Johanngeorgenstadt bezog, und jetzt nimmt er Zinkblende (eine Verbindung von Zink mit Schwefel), um dann das nach dem Verbrennen (Rösten) der Zinkblende zurückbleibende Zinkoxyd zur Bereitung von Chlorzink benutzen zu können, einer werthvollen Substanz, mit welcher man jetzt die Eisenbahnschwellen tränkt, um [294] sie vor der Fäulniß zu schützen. Auch die Bleikammern, deren Unterhaltung sehr viel kostet, da die Dämpfe der Salpetersäure das Blei ziemlich rasch zerstören und mürbe machen, ersetzt er jetzt durch Thoncylinder. Die selbstbereitete Schwefelsäure wird nun größtentheils in der Fabrik selbst wieder verbraucht. Zunächst wird ein Theil derselben, um Glaubersalz darzustellen, in besonderen Räumen mit Kochsalz (einer Verbindung von Natrium und Chlor) erhitzt. Das Glaubersalz bleibt als weiße Salzmasse zurück, während zugleich Salzsäure (eine Verbindung von Chlor mit Wasserstoff) entweicht und in einer ganzen Reihe großer Thonflaschen aufgesammelt wird. Um diese Salzsäure zweckmäßig zu verwenden, wurde sodann die Chlorkalk-(Bleichkalk-)fabrikation eingerichtet. Braunstein (eine Verbindung von Mangan mit Sauerstoff) wird nämlich in großen Thonretorten mit der Salzsäure erwärmt, und das sich hierbei entwickelnde Chlorgas zu frisch gelöschtem, gebranntem Kalke geleitet, der auf einem breiten, gemauerten, überdeckten Raume ausgebreitet ist, das Chlorgas begierig aufnimmt, und sich in Chlorkalk verwandelt. Ein anderer Theil der selbstbereiteten Schwefelsäure wird zur Fabrikation von Salpetersäure (Scheidewasser) benutzt, welche selbst wieder zur Schwefelsäuregewinnung nothwendig ist. Zu diesem Behufe wird Chilisalpeter mit Schwefelsäure erhitzt und die Salpetersäure, welche entweicht, aufgefangen, während

Die Saline von Fikentscher in Zwickau.

zugleich schwefelsaures Natron zurückbleibt. Ein großer Theil der Schwefelsäure wird ferner zur Fabrikation von Alaun aus Thon und zur Abscheidung der Weinsäure oder Weinsteinsäure aus rohem oder gereinigtem Weinstein benutzt; auch zur Bereitung einiger Quecksilberpräparate wird Schwefelsäure verwendet. Besonders berühmt ist Fikentscher’s chemische Fabrik durch den prachtvollen Zinnober (eine Verbindung von Schwefel mit Quecksilber), welchen sie liefert. Ferner läßt Herr Fikentscher ein ganz vorzügliches Wasserglas (kieselsaures Kali oder kieselsaures Natron) darstellen, und im Jahre 1855 eröffnete er seine höchst merkwürdige und interessante Saline, über welche wir unten noch einige ausführlichere Mittheilungen geben wollen.

Nachdem wir nun in gedrängter Uebersicht erfahren haben, was für Substanzen und chemische Verbindungen besonders in diesem ausgezeichneten Etablissement dargestellt werden, wollen wir nur zwei Fabrikationszweige des Etablissements noch etwas näher betrachten, nämlich die Glashütte und die Saline.


Die Glashütte

liefert zur Zeit nur Fensterglas. Von den andern Gegenständen werden nur die Retorten und Glasgefäße fabricirt, welche die chemische Fabrik gebraucht. Der geräumige Glasofen, in welchem das Glas geschmolzen und sogleich verarbeitet wird, wie unser Bild zeigt, wird mit Gas geheizt; welches in einem besonderen Schachtofen aus Ruskohle bereitet wird. Die Vortheile der Gasfeuerung vor der früher allein gebräuchlichen directen Feuerung mit Holz sind sehr bedeutend und beruhen besonders darauf, daß man, je nachdem mitttelst einer Klappe das Zuströmen

Glashafen.

des Gases regulirt wird, jeden beliebigen Hitzegrad hervorbringen und längere Zeit gleichmäßig erhalten kann. Auch wird das Glas nicht durch Flugasche, die bei directer Holzfeuerung nicht abzuhalten ist, verunreinigt. In jedem Glasofen stehen acht Glashäfen, welche mit großer Sorgfalt aus dem besten feuerfesten Thon mit der Hand geformt, und so lange täglich geschlagen werden, bis sie keinen Eindruck mehr annehmen. Hierauf läßt man sie an der Luft gut austrocknen, brennt sie in starker Hitze und schafft sie aus dem Thonbrennofen sogleich glühend in den Glasofen. Trotz aller Sorgfalt halten sie aber dennoch gewöhnlich nur sechs Wochen, oft nicht einmal so lange. Jeder Hafen hat seinen Arbeiter oder Glasmacher und jeder Glasmacher hat seinen Gehülfen, der ganz unter ihm steht. Die Arbeit der Glasmacher ist blos Accordarbeit; dennoch kann ein Glasmacher jährlich 600–700 Thaler, in Belgien sogar bis 1500 Thaler verdienen. Ein Ofen wird gewöhnlich so lange continuirlich geheizt, bis er nicht mehr geht, was ungefähr 1–1½ Jahr dauert; dann muß ein neuer Ofen gebaut werden.

Die hauptsächlichsten Operationen bei der Fensterglasfabrikation sind nun folgende: Zuerst das Mengen, welches in einem besonderen Raume, der sogenannten Gemengkammer geschieht. Die einzelnen Stoffe, welche zu Glas verschmolzen werden sollen, werden zuerst äußerst fein gemahlen und dann auf das Innigste mit einander gemengt. Fikentscher läßt sein Glas aus Sand (Kieselsäure), Glaubersalz, gelöschtem und gesiebtem Kalk und Holzkohle bereiten. (Ein günstiges Verhältniß hierzu ist eine Mischung von 100 Gewichtstheilen Sand, 50 Glaubersalz, 4 Kohle und 25 Kalk). Dann folgt das Schmelzen. Die bereitete Mischung wird zu diesem Behufe portionenweise (gewöhnlich zu drei Malen) in die Glashäfen eingetragen, und ist nach heftigem Erhitzen die Masse ziemlich ausgeschmolzen, so füllt man mit Glasscherben (aufgekauftem Glas) oder sogenanntem fein gemahlenem Heerdglas auf, um den Hafen ganz voll Glasmasse zu erhalten; damit das Glas farbloser werde, setzt man zugleich etwas arsenige Säure (weißen Arsenik) zu. [295] Ist die Masse ganz gleichmäßig geschmolzen, was 36–40 Stunden dauert, so sperrt man das Feuer mehrere Stunden lang ganz ab, damit die Masse, welche sich während dieser Zeit etwas abkühlt, die gehörige Consistenz erlangt und sich klärt; dann wird die auf der Glasmasse schwimmende sogenannte Glasgalle (das ist überschüssig angewendetes Glaubersalz) abgeschöpft, das Feuer wieder zugeleitet und nun können die Glasmacher ihre Arbeit beginnen. Die Schmelzarbeit steht unter der Leitung eines besonderen Schmelzers, der auch seinen Gehülfen hat. Die Entstehung der Glasmasse beim Schmelzen beruht auf folgenden chemischen Einwirkungen: In der Gluthhitze wirkt zunächst die vorhandene Kohle auf das Glaubersalz (schwefelsaure Natron) und verwandelt dieses, indem sie ihm etwas Sauerstoff entzieht, in schwefligsaures Natron; aus letzterem treibt sodann ein Theil der Kieselsäure (Sand) die schweflige Säure aus, welche entweicht, und bildet kieselsaures Natron. Der andere Theil der Kieselsäure vereinigt sich mit dem Kalk zu kieselsaurem Kalk und indem sich endlich das kieselsaure Natron mit dem kieselsauren Kalk vermengt und verbindet, entsteht die Substanz, die wir Glas und zwar in diesem Falle Natronglas nennen.

Nach beendigtem Schmelzen beginnen die Glasmacher mit dem Blasen. Jeder Glasmacher stellt sich auf ein um den Ofen angebrachtes Gerüst zu seinem, mit glühend-flüssiger Glasmasse gefüllten Glashafen, den er nach 12–15stündiger anhaltender Arbeit aufarbeitet. Jeder Hafen hält ungefähr 3 Centner Glasmasse und liefert 30 Bunt Glastafeln. Das Hauptinstrument des Glasmachers, welches derselbe mit wahrer Virtuosität zu benutzen versteht, ist die Pfeife, ein fünf Fuß langes, ein Zoll dickes, schmiedeisernes

Die Pfeife

Blasrohr, das an beiden Enden mit Knöpfen versehen ist, von denen der eine bei a als Mundstück dient, der andere bei b dagegen das zu blasende Glas annimmt. In der Nähe des Mundstücks ist die Pfeife mit einem hölzernen Handgriffe h versehen.

Der Marbel

Außerdem ist auf dem Gerüst ein viereckiges Stück Holz, der sogenannte Marbel befestigt, welcher vorn mit mehreren runden Vertiefungen versehen ist, zum Abrunden des an der Pfeife sitzenden Glasballens dient und (um ihn vor dem Anbrennen zu schützen) stets naß gehalten wird. Durch eine im Ofen befindliche Oeffnung, das sogenannte Arbeitsloch, führt der Glasmacher das untere Ende der Pfeife so in den Glashafen ein, daß eine genügende Menge Glasmasse daran hängen bleibt; dann bringt er den anhängenden weichen Glasklumpen durch Rollen auf dem Marbel ganz an das Ende der Pfeife, erzeugt erst durch starkes Hineinblasen eine kleine Höhlung in demselben, die er durch fortwährendes Blasen erweitert, wobei er zugleich den hohlen Glaskörper, damit derselbe den gehörigen Grad der Weichheit behalte, von Zeit zu Zeit in dem Arbeitsloche von Neuem anwärmt. Durch fortdauerndes Blasen, gleichzeitiges Drehen und pendelartiges Hin- und Herschwingen der Pfeife weiß der Glasmacher mit überraschender Geschicklichkeit und Sicherheit den erst birnförmig-runden Glastörper immer mehr aufzublasen, zu erweitern und zu verlängern, bis derselbe endlich die Form eines an beiden Enden kugelförmig abgerundeten Cylinders (siehe die punktirten Linien an der oben abgebildeten Pfeife) hat. Um nun die untere Seite dieses Cylinders zu öffnen, übergiebt der Glasmacher die Pfeife seinem Gehülfen, befestigt mittelst eines in das geschmolzene Glas eingetauchten eisernen Stabes ein Klümpchen Glas auf der Mitte der unteren Wölbung des Cylinders; der Gehülfe verdichtet hieraus durch kräftiges Einblasen die Luft in demselben, verschließt das Mundstück der Pfeife mit dem Finger und hält den Cylinder dem Arbeitsloche entgegen. Durch die aus diesem ausströmende Gluth dehnt sich die Luft im Cylinder aus und durchbricht ihn an der Stelle, wo das Glasklümpchen sitzt, mit einem schwachen Knall. Die so entstandene Oeffnung wird mit einer Glasscheere unter beständigem Drehen des Cylinders so vollständig erweitert, daß eine unten offene cylindrische Glasglocke entsteht. Diese wird durch Anhalten eines kalten Eisens von dem Kopfe der Pfeife abgesprengt und endlich durch Absprengung der oberen Rundung in einen gleichmäßigen, auf beiden Seiten offenen Cylinder verwandelt. Alle diese Operationen zeigt das Hauptbild im Zusammenhange, wie dieselben auf einander folgen.

Dem Blasen folgt das Strecken, wobei der Cylinder, den man der Länge nach erst aussprengt, zur Glastafel ausgebreitet wird. Man legt nämlich den Glascylinder mit dem Sprung

Gesprengter Glascylinder

nach oben, auf

Ausbreitung zu Tafeln (Streckung)

eine flache Unterlage und erhitzt ihn auf dieser in einem besonderen Ofen - dem Streckofen — so stark, daß das Glas wieder weich wird. Die cylindrischen Glasflächen sinken nun, vermöge ihres Gewichtes, allmählich wieder und werden mit Hülfe einer glatten hölzernen Stange oder einer im Ofen selbst angebrachten mechanischen Vorrichtung, ganz flach auf ihre ebene Unterlage ausgebreitet. Mit dem Streckofen steht der Kühlofen in unmittelbarer Verbindung. Die fertigen Glastafeln werden aus dem Streckofen sogleich in den Kühlofen geschoben, erkalten in diesem sehr langsam und gleichmäßig, werden nachdem sie sich vollständig abgekühlt haben, herausgenommen, in kleinere rechtwinklige Tafeln zerschnitten und diese endlich zu Bunten gepackt und in das Magazin abgeliefert. In Fikentschers Glashütte streckt, kühlt, schneidet und packt jeder Glasmacher das Glas, welches er bläst, selbst.


Die Saline

oder Salzfabrik liegt 8-10 Minuten von der chemischen Fabrik und Glashütte entfernt und steht in Bezug auf ihre Einrichtung einzig in ihrer Art da. Das gewöhnliche Salz (Kochsalz, Küchensalz, Chlornatrium) ist bekanntlich eine unentbehrliche Würze zu unseren Speisen, hat aber zugleich auch in der chemischen Technik vielfache bedeutende Anwendung gesunden. Auf unserer Erde ist das Salz sehr verbreitet. An manchen Orten finden wir dasselbe im festen Zustande in den Schichten des Erdkörpers als sogenanntes Steinsalz und zwar oft so rein, daß es bergmännisch zu Tage gefördert wird und zu vielen Zwecken ohne vorherige Reinigung in Verwendung kommen kann. An anderen Orten brechen salzhaltige Quellen, sogenannte Salzsoolen hervor oder werden künstlich aus der Tiefe aus die Erdoberfläche gehoben. Je nachdem diese mehr oder weniger Salz in Lösung enthalten, werden sie verschieden behandelt. Ganz schwache Salzsoolen, die unter 3 Procent Salz führen, hält man meistens einer Benutzung zum Behufe der Salzgewinnung nicht werth. Finden sich dagegen in der Soole 4-16 Procente Salz, so läßt man die Soole erst über hohe Dornenwände (Gradirwerke) fließen, um sie concentrirter zu erhalten (während des Herabfließens vertheilt sich die Soole auf den Dornen aus eine große Oberfläche und ein Theil des in ihr enthaltenen Wassers verdunstet hierbei), und versiedet sie dann, bis sich das Salz ausscheidet. Sehr starke Soolen mit 16-25 Procent Salz können sogleich versotten werden. Auch das Meerwasser ist eine ungeheure Salzsoole mit 2½ bis 4 Procent Salz und in den warmen Ländern benutzt man es häufig zur Gewinnung des sogenannten Seesalzes. Man läßt nämlich Meerwasser in eine Reihe flacher Bassins, die zusammen einen Salzgarten bilden, eintreten, so daß der Boden des Bassins nur 2-3 Zoll hoch von dem Wasser bedeckt wird. Das warme Klima gestattet eine rasche Verdunstung des Wassers und das Salz scheidet sich in Krusten aus.

Die Soole, welche auf der Saline des Herrn Fikentscher zur Abdampfung kommt, ist nur das „Grubenwasser“ aus dem Bürgerschacht bei Zwickau, in welchem 1¼ Procent Kochsalz, ungefähr [296] ebensoviel Chlorcalcium, etwas Chlormagnesium und Spuren von Brom vorkommen. Dieses Wasser gelangt unmittelbar aus den Gruben in einen unterirdischen, überwölbten, mit feuerfesten Ziegeln ausgemauerten, 150 Fuß langen Kanal, in welchen die glühenden Gase mehrerer Koaksbrennöfen eingeleitet werden können. Bis dahin hat man diese Gase, die sich beim Brennen der Koaks aus Steinkohlen in großer Menge entwickeln, frei und unbenutzt in die Luft entweichen lassen. Dabei hat man nicht allein einen großen Verlust an brauchbarer Hitze, sondern zugleich wird auch die Atmosphäre mit schädlichen Gasen erfüllt und förmlich verpestet. Anstatt nun die nützliche Hitze und die schädlichen Gase nach oben entweichen zu lassen, hat Herr Fikentscher seine Koaksöfen so eingerichtet, daß die frei werdenden Gase nach unten in den gemauerten Siedecanal ausströmen müssen und dann erst aus einer hohen Esse entweichen können. In diesem Canale dampft bei so heftiger Gluth das dünne Grubenwasser mit solcher Schnelligkeit ein, daß täglich wenigstens 1000 Centner Wasser in Dampf übergehen, welcher mit den Gasen durch die Esse entfernt wird. In kurzer Zeit ist dann das Wasser concentrirt genug, um in einen Bottich gehoben werden zu können, in welchem man es mit etwas frisch gelöschtem Kalke versetzt. Die aus den Koaksöfen entweichenden glühenden Gase enthalten nämlich stets etwas schweflige Säure und Schwefelsäure, welche von der Salzlauge aufgenommen, aber durch Zusatz von Kalk wieder vollständig entfernt werden. Hat sich die Salzlauge im Bottich geklärt, so läßt man sie klar in eine nahe stehende eiserne Siedepfanne abfließen, welche ebenfalls durch die heißen Gase aus einem Koaksbrennofen geheizt wird. Hier scheidet sich das reine Kochsalz aus, wird herausgeschaufelt und nachdem die Mutterlauge, in welcher das im Grubenwasser vorhandene Chlorcalcium noch gelöst ist, davon abgeflossen, wird es aus den warmen, über dem Abdampfcanal befindlichen Boden zum Trocknen ausgebreitet. Herr Fikentscher gewinnt täglich 10 Centner reines, blendend weißes Kochsalz, welches er ausschließlich wieder in seiner chemischen Fabrik, besonders zur Glaubersalzfabrikation verarbeitet, da es ihm nicht einmal gestattet ist, dasselbe auch zu seinem häuslichen Gebrauche zu verwenden. Die Mutterlauge, welche, wie schon erwähnt, Chlorcalcium enthält, wird ebenfalls noch eingedampft, da das Chlorcalcium auch wieder zu verschiedenen Zwecken benutzt werden kann.




Blätter und Blüthen.


Duell mit einem Vollblut-Bulldogg. Der Vollblut-Bulldogg ist das brutalste und stupideste Thier unter allen Vierfüßlern. Seine zusammengepreßte Stirn, die schweren, herabhängenden Unterkiefern, die blutunterlaufenen Augen, die allein stark ausgebildeten Freß- und Beißwerkzeuge, das alles vereinigt sich zum Ausdruck wüthender, grausamer Brutalität, deren sich die Spanier gegen die Eingebornen Amerika’s bedienten, welche die Negereinfänger in den republikanischen Staaten Amerika’s noch allein cultiviren und nach Stunden, Tagen und Zahl der Thiere dem Sclavenbesitzer, der ihre Dienste miethet, berechnen. Der Vollblut-Bulldogg ist im Uebrigen selten geworden. Sein Hauptgeschäft beschränkt sich sehr auf Dienste „zur Aufrechterhaltung der Republik“ in Amerika, dessen ganzer Süden — d. h. der herrschende Theil — in Zeitungen, Broschüren und von den Kanzeln das neue Evangelium predigt, daß die Republiken nur durch Aufrechterhaltung der Sclaverei und Ausdehnung derselben auf arme Weiße zu halten seien. Der echte Bulldogg ist auch gezähmt keines Menschen Freund und selbst der gütige Herr kann sich nicht auf seine Unterwürfigkeit verlassen. Die grausame Wuth des Bulldoggs ist so blödsinnig und rücksichtslos, daß er zuweilen Alles angreift und zerreißt, was ihm in den Weg kommt. Nur einige Sonderlinge und Kraftmenschen in Amerika halten sich diese Bestie noch echt, aber dann blos an den stärksten Ketten.

So brachte auch unlängst ein englischer Capitain ein echtes Exemplar mit in den Hafen einer amerikanischen Stadt auf der Californienseite drüben, ein so grausames Ungeheuer, daß er Stunden lang von dessen Heldenthaten erzählen konnte, während die Gäste auf seinem Schiffe in ehrerbietiger Entfernung auf den Rasenden starrten, der sich stets beinahe den ganzen Tag in höchster Wuth an seiner riesigen Kette zu ersticken suchte, um loszukommen und sich auf Jeden zu stürzen, der ihm in die Augen fiel. Unter den Neu- und Schauergierigen war auch ein Indianer, seines Gewerbes ein Kunstschütze, der davon lebte, daß er mit Pfeil und Bogen ein hundert Schritt weit ausgestecktes Stück kleinster Kupfermünze abschoß und dafür größere Kupfermünzen einbettelte. Sobald der Bulldog den Indianer in die Augen bekam, raste und wüthete er, wie noch nie, so daß mehrere Zuschauer erblassend zurückwichen. Die Bestie bäumte sich hoch in die Luft und spannte oft die schwere Kette wie eine geradlinige Eisenstange. Dabei hustete und leuchte er erstickend; die blutrothen Augen füllten sich mit dunklerer Wuth und quollen zum Kopfe heraus. Weißer Schaum stürzte aus dem Rachen und ward von den kratzenden und springenden Pfoten umhergespritzt. Der braune, magere Indianer hatte große Freude daran und reizte ihn mit gefletschten Zähnen und verdrehten Augen nach Kräften, so daß selbst der Herr des Hundes, dem diese Scene erst Spaß machte, Besorgniß fühlte, die Bestie möchte sich in ihrer Wuth verzehren oder ersticken. An ein Loskommen war nicht zu denken, da Kette und Halsband mit zwei Pferden probirt worden waren. Der Capitain sagte also dem Indianer, er möge gehen. Dieser gab seinen Spaß ungern auf und erklärte in seinem gebrochenen Englisch, daß er den Hund mit bloßen Händen und Zähnen zur Vernunft bringen wolle, falls er an der Kette bleibe. Das war etwas für den Capitain und Kraftmenschen seiner Art.

„Für fünf Dollars,“ setzte nun der Indianer hinzu.

„Gut, sollst die fünf Dollars haben.“

Das Duell ward sofort arrangirt. Der Hund wurde auf’s Land gebracht und an einen starken Pfosten gebunden. Unzählige Zuschauermassen bildeten einen Kreis, auf welche der Hund ringsum fortwährend zuwüthete. Als aber der Indianer hervorkroch, machte er einen Satz, daß er über sich selbst hinwegstürzte und lange husten mußte, ehe er wieder zu Luft und aus die Beine kam. Der Indianer kroch auf allen Vieren um ihn herum und trieb ihn so im Kreise umher. Manchmal bellte und japste er mit ihm um die Wette und hielt seinen Kopf so dicht an die schäumende Schnauze des Hundes, daß sich beide bis auf ein Haar berührten. Dann hielt er ihm seine nackten Arme hin, daß er sie mit der Zunge erreichen konnte u. s. w. Nachdem die entsetzliche Pantomime so eine Zeit lang gespielt hatte, kauerte sich der Indianer wieder dicht mit dem Kopfe vor die Zähne des wutherschöpften Thieres und faßte dann plötzlich des Hundes Unterlippe mit seinen Zähnen, riß ihn mit sich in die Höhe, schüttelte ihn wie die Katze eine Maus, ließ ihn dann fallen und ging auf ihn zu bis auf den Mittelpunkt. Der Hund heulte fürchterlich, und mit dem Schwanze zwischen den Beinen kauerte er sich zitternd an die äußerste, ihm erreichbare Grenze. Der Indianer faßte ihn an, streichelte ihn, reizte ihn, ohne daß der bestialische Held die geringste Miene machte, den Kampf wieder aufzunehmen. Er zitterte und heulte fort unter der Berührung des Siegers und gab so den dramatischsten Beleg für die Feigheit und Unbeholfenheit des bloßen physischen, thierischen Muthes gegenüber moralischer Kraft und der Strategie der Intelligenz in simpelster, indianischer Form.




Folter in Neapel. Unter diesem Titel brachte auch die Gartenlaube in Nr. 15. einen Bericht und eine Abbildung der „Mütze des Schweigens“ nach einem englischen Blatte. Die englische Presse ist in westlicher Civilisation ganz besonders entrüstet über diese Tortur, welche die Engländer in Indien noch viel grausamer anzuwenden wissen (Vergl. Gartenl. 1855. Nr. 48.). Das Schlimmste aber ist, daß diese „cuffia di silenzio“ eine englische, noch jetzt in englischen Gefängnissen angewendete Erfindung und viel vollkommener ist, als die italienische. Der Oberinspector französischer Gefängnisse, Moreau Christophe, beschreibt diese englische Mütze des Schweigens aus eigener Anschauung in dem Gefänqnisse New Bailey of Salford (Manchester) in seinem 1839 erschienenen Werke über die englischen Gefängnisse u. s. w., und der berühmte französische Gefängniß-Humanitätsreisende Appert beschreibt dieselbe englische Mütze des Schweigens, wie er sie in Old Bailey zu London fand. Die englische Mütze des Schweigens ist vollkommener, grausamer, als die sizilianische. Letztere ist der englischen ganz ähnlich, aber der neapolitanische „Erfinder“ war menschlischer, als die englischen Gesängnißdirectoren, welche diese Mütze mit einem Gebiß anwenden. Dieses Gebiß besteht in einem Stück Eisen, welches in den Mund hinein gestoßen wird und bis zum Gaumen reicht, so daß die Zunge ganz festgedrückt und kein Laut möglich ist. Die Sache ist wohl der Mühe werth, sie in den Werken Moreau Christophes und Appert’s selbst aufzusuchen und die betreffenden Schilderungen zu veröffentlichen. Wer die Grausamkeiten und barbarischen Quälereien in den englischen Gefängnissen recht im Einzelnen ausführlich kennen lernen will, muß das Werk von Mayhew: „Die große Welt Londons“ („The Great World of London“) studiren. Einige Gefängnisse sind wahre Paradiese in Einrichtung, aber andere martern noch heute ihre Opfer thatsächlich zu Tode.




Für Gartenfreunde. Beim Beginn der schönen Jahreszeit, die in großen und kleinen Gärten eine lebhafte Thätigkeit hervorruft und Alt und jung zum Genusse der Gartenfreuden auffordert, glauben wir, die Leser der Gartenlaube auf ein in Lieferungen erscheinendes Werk aufmerksam machen zu müssen, das gleich lehrreich für den schaffenden Gartenkünstler ist, wie für Jeden, der mit Geschmack entweder einen neuen Garten anlegen oder den schon vorhandenen nach den Grundsätzen der Landschaftsgärtnerei sich zu einem genußreichen Aufenthalte in seinen freien Stunden umschaffen will. Es sind dies die bei Friedrich Voigt in Leipzig erschienenen: „Ideen zu kleinen Garten-Anlagen,“ nebst praktischer Anleitung über die Verwendung der Blumen zur Ausschmückung der Gärten, mit Angabe der Höhe, Farbe, Form, Blüthezeit und Cultur derselben. Mit colorirten Garten-Plänen und den nöthigen Erklärungen dazu von R. Siebeck: das Werk empfiehlt sich bei seiner eleganten Ausstattung noch durch den billigen Subscriptionspreis von 20 Ngr. für jede Lieferung von 2 colorirten Plänen und Text.