Die Gartenlaube (1855)/Heft 3
[29]
No. 3. | 1855. |
Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.
(Fortsetzung)
Franz ließ den Kopf auf die Brust herabsinken und starrte auf einen Ring, den er am Goldfinger seiner linken Hand trug. Julius beobachtete ihn mit großer Aufmerksamkeit. Plötzlich, als ob er einen Entschluß gefaßt, zog er seine Uhr und sagte.
„Die Zeit vergeht, und jede Minute ist kostbar. Franz, Du wirst mich zu Deinem Vertheidiger wählen. Noch gebe ich die Hoffnung nicht auf, Dich zu retten. Seit der Einführung der Geschworenen-Gerichte ist unsere Gerechtigkeitspflege in ein neues Stadium getreten, man kann nicht mehr mit einem Federzuge vernichten oder schaffen. Dem Kriegsgerichte fällst Du nicht anheim, da Du nicht mehr Offizier warst, als Du Dich der Sache des Volks annahmst. Ich kenne Dein Leben bis zu der Flucht, und wenn man Dir nichts weiter zur Last legen kann –“
„Nichts, nichts weiter!“ flüsterte Franz.
„Verzage nicht, und nun lebe wohl! Von jetzt an komme ich nur als Dein Vertheidiger, wir dürfen uns ferner nicht mehr mit dem Herzen, sondern nur mit dem Verstande unterhalten. Also, Franz, hast Du dem Freunde noch etwas anzuvertrauen, so rede jetzt!“
Beide erhoben sich von dem Bette.
„Julius,“ sagte der Gefangene ernst und fast feierlich, „es gab eine Zeit, wo Du Dich um die Liebe meiner Helene bewarbst, denn Du wußtest nicht, daß der Freund schon das Glück ihrer innigen Zuneigung genoß. Du tratest zurück, Deinen Schmerz bekämpfend, aber Du bliebst mein Freund, und bewahrtest Helenen die Hochachtung, die sie Dir aufgelegt. Wie mußte ich Dich lieben und achten, Julius, als ich Deinen Kampf mit dem Geschicke sah –“
„Und ich bin aus diesem Kampfe siegreich hervorgegangen!“ rief mit strahlenden Blicken der junge Advokat. „Wie Du mir ein Freund, so ist jetzt mir Helene eine Freundin, deren Glück zu befördern, ich für Pflicht erachte, und ich weiß, daß sie in Deinem Besitze all ihr Glück findet. Ich sah im Voraus den Verlauf der politischen Dinge, deshalb trat ich damals zurück, als der Feuereifer zu den Waffen griff und blindlings eine gefährliche Bahn verfolgte. Aber ich habe meine Gesinnung deshalb nicht geändert, ich wirkte nach meiner Weise im Interesse der guten Sache. Es mußte eine Zeit kommen, wo man redlicher Advokaten bedurfte, Männer, denen es nicht an Muth und Geschicklichkeit fehlte, sich der Unterdrückten und Besiegten anzunehmen – für diese Zeit, Franz, habe ich mich vorbereitet, und jetzt ist sie da, aber auch ich stehe an meinem Platze, jetzt kämpfe ich für die, die mich damals mit scheelen, argwöhnischen Augen betrachteten. Nicht nur aus Ueberzeugung trete ich vor die Schranken des Gerichts, sondern auch weil es meine Ehre erfordert.“
„Der Himmel segne Dein Bemühen, wackerer Mann! Doch jetzt höre den letzten Wunsch des Freundes. Du kennst das Band, das mich an das Leben fesselt, prüfe es statt meiner, Julius, und findest Du, daß es zu schwach ist, mein Glück zu machen, so laß mich als ein Opfer meiner Gesinnung, unserer Freiheit fallen!“
„Ich verstehe Dich, armer, armer Freund! Doch hoffe, und sei guten Muthes, Helene kann Dir nicht untreu werden, denn sie besitzt ein muthiges Herz, das allen Gefahren trotzt.“
Die beiden Freunde konnten nicht weiter reden, sie mußten die aufsteigenden Gefühle in ihrer Brust verschließen. Ein Aufwärter trat mit dem Abendessen des Gefangenen ein. Schweigend reichte Julius dem bleichen Franz die Hand, und verließ rasch den Kerker.
„Ich esse nicht!“ sagte der Gefangene. „Aber wollen Sie mir eine Gefälligkeit erzeigen, so lassen Sie mir das Licht zurück,“
„Mit Freude würde ich Ihren Wunsch erfüllen, wenn es mir gestattet wäre!“ war die Antwort.
Franz winkte, und auch der Wärter entfernte sich. Rasselnd schloß sich die Thür - der Gefangene sank auf sein Lager.
Zwischen Mutter und Sohn war seit jenem heftigen Auftritte ein eigenthümliches Verhältniß eingetreten. Die Commerzienräthin beobachtete eine erzwungene Freundlichkeit, sie war selbst zuvorkommender als sonst, und behandelte Helenen mit einer Art Leutseligkeit, als ob sie Mitleiden mit der gedrückten Gemüthsstimmung derselben fühle. Robert hingegen hatte seine Lebhaftigkeit verloren, und er vergaß zwar nie die Achtung gegen seine Mutter, aber er verfolgte jede ihrer Handlungen und Anordnungen mit einem Argwohne, den er kaum geheim zu halten im Stande war. Er konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß seine Mutter, deren Ehrgeiz durch den Aufenthalt in der Residenz angestachelt war, aus Liebe zu ihm einen Plan aufgeben würde, der sie mit der höchsten Sphäre in eine so nahe Verbindung brachte; sie fügte sich, seiner Ansicht nach, entweder aus Furcht vor der ausgesprochenen Drohung, oder aus Klugheit. In beiden Fällen war er entschlossen, Alles aufzubieten, denn mit den Schwierigkeiten, sie sich seiner Ansicht entgegenstellten, erschien ihm Helene nicht nur reizender, auch seine Leidenschaft verlor völlig die Sinnlichkeit, von der sie bis dahin nicht frei gewesen war.
[30] Helene versah die kleinen Obliegenheiten, die man ihr als Gesellschafterin der Commerzienräthin zugetheilt, mit erhöhter Pünktlichkeit, es schien selbst, als ob sie mit Schmerz das eingetretene Mißverhältniß erkannt hätte, und nun ihre Wohlthäterin durch vermehrte Sorgfalt dafür entschädigen wolle. Der argwöhnische Robert war auf seine Mutter eifersüchtig, er glaubte ihrer Verschlagenheit zutrauen zu dürfen, daß sie in Helenen selbst sich ein Mittel erschuf, seine Verbindung mit ihr zu verhindern. Der glühende Liebhaber war in den nächsten vierzehn Tagen nur mit seiner Herzensangelegenheit beschäftigt, er gedachte kaum des gefangenen Franz noch, der ihm in jeder Beziehung ungefährlich erschien. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf Helene gerichtet, und wenn er mit ihr sich festgestellt, so glaubte er alle Hindernisse beseitigt zu haben.
Madame Simoni hatte ihren Besuch bei dem Präsidenten wiederholt. Dieser Umstand bewog ihn, die Verständigung mit Helenen zu beschleunigen. Eines Morgens traf er sie allein in dem Zimmer seiner Mutter. Verwirrt legte sie das Zeitungsblatt aus der Hand, in dem sie gelesen hatte. Robert grüßte mit bewegter Stimme und küßte ihr die Hand. Sie erröthete bei dieser Grußbezeugung und ihre Blicke senkten sich zu Boden.
„Wo ist meine Mutter?“ fragte er.
„Sie wird erst um zehn Uhr ihr Schlafzimmer verlassen. Wenn Sie die Frau Commerzienräthin sprechen wollen –"
„Nein, Helene, ich preise vielmehr den Zufall, der mir gestattet, Sie ohne Zeugen zu sehen.“
„Mich, mein Herr?“ fragte sie in einer Verwirrung, die ihr ungemein reizend stand, und die Robert in seinem Interesse für ein gutes Zeichen hielt.
Sie stand vor ihm in einer Verfassung, die ihre Schönheit im vollen Lichte zeigte. Das große blaue Auge verklärte ein ruhiger Glanz, die in ihren Umrissen so edeln und reinen Gesichtszüge waren der Wiederschein eines weiblichen Gemüths, das alle Schätze von Tugend und Liebe barg. Wie in ihrem ganzen Wesen, so schien Helene auch in ihrer einfachen Toilette die Künste der Koketterie zu verschmähen, und wenn jener Glanz, der der Seele entströmt, selbst häßlichen Frauen Reize verleiht, wie wunderbar mußte er Helenen schmücken, die von der Natur mit Grazie begabt, schön gewachsen und im Besitze eines himmlischen Augenpaares war.
„Helene, Sie dürfen mir eine Unterredung nicht verweigern, von der meine Ruhe, mein ganzes Lebensglück abhängt. O lassen Sie sich durch keine Rücksicht abhalten, offen, ganz offen zu mir zu reden!“ rief er flehentlich und indem ihm die Thränen in die Augen traten.
„Was wollen Sie wissen, Herr Simoni?" flüsterte sie kaum hörbar.
„Ich fordere nicht die Enthüllung des Geheimnisses, von dem Sie neulich sprachen, daß es auf Ihrer Seele haftet; aber geben Sie mir Gewißheit, ob ich, zu welcher Zeit es auch sei, von Ihrem Herzen eine günstige Entscheidung erwarten darf.“
„Ihre Mutter, mein Herr!“ stammelte Helene, erschreckt über den Ungestüm des jungen Mannes,
„Meine Mutter wird es Ihnen danken, wenn Sie ihren Sohn zu dem glücklichsten der Menschen machen, und er wird es sein, Helene, wenn Sie sich entschließen können, seine Hand anzunehmen. Entreißen Sie mich den furchtbaren Zweifeln, die mein Herz zernagen, sagen Sie mir nur mit einem einzigen Worte, ob ich hoffen darf, daß jenes Geheimniß Ihnen keine Fesseln anlegt, daß es Ihnen noch frei steht, ohne Zwang den künftigen Lebensgefährten zu wählen.“
„Ich habe Sie gebeten, mein Herr, mir Zeit zu gönnen!“ stammelte sie. „Und auch Sie selbst bedürfen der Zeit, um die kennen zu lernen, die Sie in Ihre Familie aufnehmen wollen. Vergessen Sie nicht, daß es sich um Ihre ganze Zukunft handelt.“
„O mein Gott, diese ewigen Bedenken!“ rief Robert hingerissen. „Ich fürchte nicht, daß meine Liebe sich ändert, denn Sie, Helene, bleiben so dieselbe, auch wenn Sie nie den Schleier von Ihrer Vergangenheit nehmen.“
„Sie setzen ein großes Vertrauen in mich, das ich vielleicht nicht verdiene.“
„Mein Mißtrauen erstreckt sich nur auf die Freiheit Ihres Herzens.“
„Ich würde es Ihnen längst gesagt haben, Herr Simomi, wenn ich in dieser Beziehung gefesselt wäre. Die Pflicht der Dankbarkeit erfordert ein unumwundenes Geständniß.“
„Helene, Sie können noch eine Wahl treffen?“
„Ich kann es!“ flüsterte sie, verwirrt die Augen zu Boden senkend.
Robert stürzte zu ihren Füßen nieder, hastig ergriff er ihre beiden kleinen Hände und bedeckte sie mit glühenden Küssen.
„Dann, Helene,“ rief er aus, „werde ich nicht ermüden, mich um Ihre Gegenliebe zu bewerben. Aber verkennen auch Sie Ihre Stellung nicht in unserm Hause –“
„Stehen Sie auf, mein Herr!" rief die junge Dame in einer martervollen Angst, und indem sie starren Blicks aus den Knieenden herabsah.
Sie zog ihn empor und entwand sich sanft seinen Händen. In diesem Augenblicke ließ sich die Glocke der Commerzienräthin vernehmen. Helene verneigte sich und verschwand durch eine Thür.
„Dieser Engel wird mein Weib,“ flüsterte der entzückte Robert, „und wenn sich die Welt mir entgegenstellte! Sie kann nicht anders handeln, denn sie ist ein zartfühlendes, taktvolles Mädchen. Ach, ich möchte alle Menschen umarmen, möchte sie alle so glücklich machen, wie ich jetzt durch das Geständniß Helenen’s geworden bin. Sie liebt mich, sie liebt mich! Es unterliegt keinem Zweifel!“
Eine Stunde später ließ sich der Advokat Petri anmelden. Robert selbst führte den Rechtsanwalt in das Zimmer seiner Mutter, die ihn mit großer Neugierde empfing.
„Madame,“ begann der Advokat, „man hat mich zum Vertheidiger eines gewissen Franz Osbeck berufen, der wegen politischen Verbrechens in Ihrem Hause verhaftet wurde.“
„Leider!“ rief entrüstet die Wittwe. „Uebrigens, mein Herr, ersuche ich Sie, mich in diese traurige Angelegenheit nicht weiter zu verwickeln, denn ich kenne Franz Osbeck nicht, will ihn nicht kennen, obgleich er unglücklicherweise mein Neffe ist. Es bedarf wohl weiter keines Nachweises, daß die Commerzienräthin Simoni mit einem vagirenden Demokraten nicht in Verbindung steht. Ich habe mich schon von ihm losgesagt, noch ehe er sich gegen den Staat vergangen.“
„Auch kann man nicht sagen,“ fügte Robert hinzu, „daß wir ihm seine Flucht erleichtert haben, er forderte eine Geldunterstützung – wir haben sie ihm verweigert, um uns durchaus in keine Beziehung zu ihm zu setzen.“
„Verzeihung,“ sagte ruhig der Advokat, „es ist nicht meine Absicht, irgend einen Mitgenossen des Angeklagten aufsuchen zu wollen, um vielleicht dadurch seine Schuld zu verringern, die, leider muß ich es sagen, eklatant am Tage liegt; aber die Pflicht gebietet mir, zu forschen, wieweit ich seinen Angaben Glauben schenken kann.“
„Sollte Herr Osbeck seinen eigenen Vertheidiger belügen?“ warf Robert höhnend ein.
„Wenn auch nicht mit Vorsatz, mein Herr, aber das Unglück scheint seinen Geist so geschwächt zu haben, daß ich nur mit großer Vorsicht seine Aussagen aufnehmen darf. So behauptet der Gefangene beharrlich, Ansprüche auf die Hälfte Ihres Vermögens zu haben –“
Der Advokat unterbrach sich, und sah mit einem feinen Lächeln die Wittwe an. Madame Simoni, die darauf vorbereitet war, blieb ruhig,
„Und Sie, mein Herr, wollen diese Ansprüche geltend machen?“
„Nein, Madame, dazu bin ich nicht berufen. Ich müßte ein schlechter Advokat sein, wenn ich einen Criminalprozeß mit einer Erbschaftsangelegenheit vermischen wollte.“
„Was ist in diesem Falle der Zweck Ihres Besuchs?“ fragte Robert.
„Kein anderer, als mich über den Geisteszustand des Gefangenen zu informiren. Es kommt Alles darauf an, von welchem Gesichtspunkte ich bei meiner Vertheidigung ausgehe, die unstreitig eine der schwierigsten Aufgaben für einen Rechtsgelehrten ist. Thatsachen, die nicht nur ihre Wirkung ausgeübt, sondern auch durch Zeugen bewiesen sind, kann selbst der scharfsinnigste Jurist nicht hinwegdisputiren, und es würde ein arger Fehlgriff sein, wollte ich in diesem Sinne meinen Clienten zu vertheidigen suchen. Franz Osbeck ist nach meiner Ansicht für das Leben verloren, man wird ihn sicher zum Tode verurtheilen, wenn es mir nicht gelingt, ihm eine Stelle in der Irrenanstalt zu verschaffen. Meine Aufgabe ist, ihn so weit als möglich von der drohenden Strafe zu befreien, [31] und wird er den Händen der Aerzte überliefert, so ist dies keine Strafe sondern ein Loos, das ihn auch dann betroffen haben würde, wenn er sich des Vergehens nicht schuldig gemacht hätte.“
Mutter und Sohn sahen sich mit bedeutsamen Blicken an, die dem aufmerksame Advokaten nicht entgingen, obgleich er seine Uhr hervorgezogen und das Zifferblatt derselben betrachtet hatte.
„Mein Herr,“ begann Robert, „Sie bestätigen eine Ansicht, die ich längst über Franz Osbeck gelegt habe. Seine Angriffe auf das Vermögen und die Ehre meines seligen Vaters sind zu extravagant, als daß sie ein gesunder Verstand erfunden und unternommen haben könnte. Wir haben bis jetzt unterlassen, eine öffentliche Erklärung über ihn abzugeben, da wir Rücksicht auf den Verwandten nahmen, jetzt aber ist es unsere Pflicht, und wir verbinden uns gern mit Ihnen, um seinen Geisteszustand zu constatiren.“
„Dann ist Alles erfüllt, was ich von Ihnen erwartete,“ sagte Julius Petri. „Sie üben eine traurige Pflicht, aber Sie retten dadurch einem Menschen das Leben, der unter den obwaltenden Verhältnissen unser innigstes Mitleiden verdient. Der Jurist muß es ihm freilich versagen, da er mit kaltem Verstande zu prüfen und darzuthun hat, was seine Straflosigkeit herbeiführen kann. Gelingt es mir, zu beweisen, Franz Osbeck hat schon früher Spuren von Geistesverwirrung gezeigt, so wird man auch nothgedrungen zugeben müssen, daß er seine politischen Vergehen in demselben Zustande verübt hat, zumal da sie das Gepräge eines tollen Uebermuthes tragen. Wir beweisen so nur die Wahrheit, Madame,“ wandte er sich zu der Wittwe, „und die Wahrheit darf man vor aller Welt bekennen. So betrachte ich Sie denn als die Zeugen dessen, was ich vor Gericht behaupten werde, und Sie, mein Herr, werden die Güte haben, der Vorladung des Gerichts Folge zu leisten.“
Robert verneigte sich, als Zeichen, daß er bereit sei.
„Die Geisteskrankheit Ihres Neffen,“ fuhr Julius fort, „ist von so eigenthümlicher Art, daß es eines scharfen Blicks bedarf, um sie zu erkennen. Er spricht gut und zusammenhängend, und seine Behauptungen gleichen denen eines Verständigen, die sich auf Ueberzeugung stützen. Aus meinen Unterredungen mit ihm ist mir klar geworden, daß er mir mit Eifer widersprechen würde, wollte ich seine Geisteskrankheit in seiner Gegenwart zur Grundlage meiner Vertheidigung machen. Demnach wird mir die Beweisführung unendlich erschwert, und ich bin gezwungen, den scharfen und jähen Wechsel seiner Empfindungen, an denen ich seinen Zustand erkannt habe, durch äußere, zufällige Einflüsse zu veranlassen, damit er den Richtern klar werde. Mein Client selbst muß seine Unzurechnungsfähigkeit beweisen, ohne daß er meine Absicht erräth.“
„Herr Advokat,“ sagte die Wittwe, „ich bewundere Ihren Scharfsinn. Retten Sie meinen Neffen vom Tode und überliefern Sie ihn einer sichern Obhut in dem Irrenhause, so zählen Sie auf meine Dankbarkeit. Der Gedanke ist mir schrecklich, daß ein Glied meiner Familie den Tod eines Verbrechers stirbt. Retten Sie ihn, retten Sie ihn um jeden Preis!“
„Meine Ehre als Jurist erfordert es,“ antwortete Julius.
„Und ist es wirklich Ihre Ansicht, daß der Angeklagte aus Irrsinn gehandelt hat?“
„Ja, Madame,“ war die feste Antwort. „Gewisse Dinge werden bei ihm zur Monomanie, und dahin gehört die unglückliche Erbschaftsgeschichte, von der er sich nicht losreißen kann, sobald er sie einmal berührt hat.“
Robert hatte während der Zeit über die Vortheile nachgedacht, die ihm daraus erwachsen mußten, wenn der Advokat, der nach seiner Ansicht von Ehrgeiz geleitet wurde, seinen Zweck erreichte. Er schilderte nun das Benehmen des unglücklichen Franz vor der Verhaftung, und verschwieg selbst die plötzliche Veränderung desselben nicht, die das Erscheinen Helenen’s in ihm hervorgebracht.
„Das spricht für meine Behauptung!“ sagte Julius. „Wer ist das junge Mädchen?“ fragte er in einem gleichgiltigen Tone. Die Wittwe gab ihm Auskunft.
„Sie war mehre Jahre Gouvernante bei einer englischen Familie, die vorigen Herbst in ihr Vaterland zurückgereist ist,“ schloß sie ihren Bericht. „Auf die Empfehlung meines Arztes nahm ich sie als Gesellschafterin zu mir, und ich muß bekennen, daß sie der ihr vorangegangenen Empfehlung vollkommen entsprochen hat. Sie ist schön, gebildet und gut!“ fügte sie mit einer leisen Beziehung hinzu.
Der Advokat hatte einige Augenblicke nachgedacht.
„Es läßt sich wohl nicht annehmen,“ fragte er plötzlich, „daß Franz die junge Dame schon früher gesehen hat'.“'
„Gewiß nicht!“ rief Robert eifrig. „Sie hatte für den Fremden, der sich wie ein Wahnsinniger geberdete, weder einen Gruß noch einen Blick. Ruhig verließ sie mit meiner Mutter das Zimmer. Wenn sie auf Franz einen Eindruck ausübte, so ist dies erklärlich, denn Helene ist eine reizende Erscheinung.“
Der Advokat verabschiedete sich von der Commerzienräthin. Robert begleitete ihn bis in das Vorzimmer.
„Mein Herr,“ sagte er, „Sie leisten uns einen großen Dienst, wenn Sie den Gefangenen der Verurtheilung entziehen. Die Familie Simoni ist erbötig, nicht nur die Unterhaltungskosten im Irrenhause zu tragen, sie wird auch dem wahren Vertheidiger jede Summe zahlen. – –“
„Ich erlaube mir später aus diesen Punkt zurückzukommen,“ unterbrach ihn Julius. „Sobald die Arbeit gethan, stelle ich meine Rechnung aus.“
„Betrachten Sie mich als Ihren Clienten!“ rief Robert dem Scheidenden nach. Dann ging er mit heiterm Antlitze in das Zimmer zurück. „Mutter.“ sagte er, „auf eine bessere Art hätten wir uns mit dem gefährlichen Franz nicht abfinden können. Von einem Menschen, der für das Tollhaus reif ist, lassen sich derartige Geldansprüche, wie sie der Vetter erhebt, erwarten, den Verurtheilten aber würde man beklagen und uns beargwöhnen und verdammen. Daß ich vor Gericht erscheine, um die Geistesverwirrung Franzen’s zu beweisen, wird man für eine rettende That, und nicht für eine Handlung der Eigennützigkeit halten. An der Seite seines Vertheidigers stehe ich für ihn und nicht gegen ihn!“
„Ich wünsche dem Advokaten Glück!“ sagte lächelnd die Wittwe.
Robert führte seine Mutter in den Speisesaal, wo Helene ihrer wartete. Unter heitern Gesprächen, an denen auch mehr als sonst die reizendere Gesellschafterin Theil nahm, saßen die drei Personen eine Stunde bei Tische. Denselben Abend theilte die Wittwe ihrem Sohne mit, daß sich Helene entschlossen habe, für immer in ihrer Familie zu bleiben.
„Mutter,“ sagte Robert mit glühenden Blicken, „Sie geben mir Helenen, und ich gebe Ihnen dafür – das verhängnißvolle Geheimniß meines Vaters zurück.“
„Gut, Robert, ich halte Dich beim Worte!“
„Wann soll meine Verlobung öffentlich gefeiert werden?“
„An demselben Tage, der den gefährlichen Erben in das Irrenhaus bringt!“
Beide reichte sich die Hand, um den Bund zu bekräftigen, den Habsucht und Liebe geschlossen hatten.
Einen Monat später, Morgens gegen 9 Uhr, hielt eine glänzende Equipage vor dem Hause der Wittwe. Drei Personen stiegen ein: es waren der Advokat Julius Petri, Helene und Robert Simoni. Der alte Georg schloß den Schlag des Wagens, dann ging er die Stufen der Treppe wieder hinauf, indem er murmelte:
„Wenn die Nichtswürdigkeit dieser Menschen gelingt, giebt es weder im Himmel noch auf der Erde eine Gerechtigkeit! Es wäre dem armen Franz besser, daß er auf dem kürzesten Wege zu seinem Vater gelangte. Ich will so lange warten, bis das Loos des Unglücklichen entschieden ist – dann aber werde ich dem habgierigen Weibe meine Meinung sagen und das Haus des Verbrechens verlassen. Großer Gott, was für Unglück hat der leidige Mammon schon angerichtet!“
Gesenkten Blicks ging der Greis über die weite Hausflur. Da sah er einen kleinen, glänzenden Gegenstand am Boden liegen, er hob ihn auf.
„Die weiße Rose, die Helene stets zu tragen pflegt!“ murmelte er. „Ich werde sie aufbewahren, und sie der Braut des Herrn Robert zurückgeben, die sie wahrscheinlich ungern verloren hat. Wenn ich nur erst weiß, was diese Person für eine Rolle spielt. Während sie am Tage die Züchtigkeit und Bescheidenheit selbst ist, verläßt sie Abends heimlich das Haus, und kommt erst z’ rück, wenn der Nachtwächter auf seinem Horne bläst. Ich kann den Verräther [32] nicht spielen, aber es wird doch noch Alles an das Tageslicht kommen.“
Der greise Diener betrat sein Stübchen.
Vor einem großen prächtigen Gebäude hielt der Wagen an, der rasch auf die mit Schnee bedeckten Straßen gefahren war. Der Advokat führte seine Begleiter eine breite Steintreppe hinan; dann über einen Corridor in ein erwärmtes Zimmer, wo sie von einem Gerichtsdiener empfangen wurden. Helene, vor Angst am ganzen Körper zitternd, sank auf einen Stuhl.
„Fassen Sie sich,“ ermahnte der Advokat; „Sie stehen im Begriffe, ein gutes, gottgefälliges Werk zu vollbringen. Ich fordere nichts von Ihnen, als daß Sie die Schilderung bewahrheiten, die ich von dem Zustande des Angeklagten entwerfen werde, der seiner Verhaftung voranging. Bedenken Sie, es handelt sich um Leben und Tod.“
Helene hatte mit großer Anstrengung ihre Fassung wieder erlangt.
„Verzeihung,“ wandte sie sich schmerzlich lächelnd zu Robert, „mir ist so ängstlich zu Muthe, als ob ich selbst die Angeklagte sei, und mein Urtheil zu erwarten hätte.“
Robert tröstete, und versprach, nicht einen Augenblick von ihrer Seite zu weichen.
„Glauben Sie mir, Helene,“ flüsterte er, „Sie leisten meiner Mutter einen großen Dienst!“
Und zitternd zog er ihre Hand an seine Lippen.
„Herr Simoni,“ flüsterte sie zurück. „ich nehme keinen Anstand, mich an Ihrer Seite zu zeigen, denn man spricht ja bereits von der Neigung, die Sie zu der Gesellschafterin Ihrer Mutter gefaßt haben.“
„Wäre es möglich gewesen, theure Helene, so sollte Franz Osbeck der Gattin seines beleidigten Vetters die Freiheit und das Leben verdanken.“
Ein Gerichtsdiener erschien und sprach leise mit dem Advokaten. Julius wandte sich darauf zu den beiden jungen Leuten.
„Ich bitte,“ sagte er, „hier so lange zu warten, bis dieser Mann Sie zum Eintreten auffordern wird.“
Dann verschwand er in dem Sessionssaale des Geschwornen-Gerichts. Eine halbe Stunde war verflossen, als der Diener eintrat, und die Zeugen zum Erscheinen aufforderte. Robert zitterte, als er Helenen den Mantel abnahm. Das junge Mädchen war ungewöhnlich bleich, es schien, als ob alles Blut aus Wangen und Lippen gewichen wäre; aber sie zitterte nicht, und in ihrem ganzen Wesen sprach sich die Festigkeit aus, die den Frauen in den kritischsten Momenten des Lebens eigen zu sein pflegt. Sie stand in dem einfachen schwarzen Kleide vor ihm, einen tiefen, forschenden Blick auf ihn werfend.
„Ihren Arm, Helene!“ flüsterte er.
„Hier ist er!“ sagte sie rasch und fest.
In dem Augenblicke, als sie die Schwelle des Sessionssaales überschritten, zuckte Helene heftig zusammen; sie bemerkte jetzt erst, daß sie ihren Schmuck, die weiße Rose, verloren hatte. Sie sah noch einmal in das Vorzimmer zurück – als sich das Verlorne nicht zeigte, ging sie festen Schritts zu der Bank der Zeugen, die sich neben dem Platze des Vertheidigers befand. Unter den Zuhörern auf den Gallerien erhob sich ein Flüstern der Bewunderung bei dem Erscheinen des reizend schönen, bleichen Mädchens. Robert konnte sich bei diesem Geräusche, das er vollkommen begriff, eines Gefühls des Stolzes und der Freude nicht erwehren – er drückte den Arm seiner Geliebten fester an sich. Da fühlte er, daß sie sich auf ihn stützte.
Nachdem der Präsident erklärt, daß ihm beide Zeugen von Person bekannt seien, ermahnte er sie, gewissenhaft auf die Fragen zu antworten, die man ihnen vorlegen würde. Der Advokat bat nun den Präsidenten, den Angeklagten vorführen zu lassen. Der Befehl dazu ward mit lauter Stimme ertheilt. Gleich darauf ward eine Thür geöffnet, und Franz Osbeck, von zwei Gensd’armen geführt, trat ein. Sein bleiches, kummervolles Aussehen, das die Kerkerhaft noch erhöht hatte, erregte um so mehr die allgemeine Theilnahme der Versammlung, als Julius Petri in einer ergreifenden Rede den traurigen Geisteszustand des Angeklagten geschildert hatte. Und in der That, Franz glich in diesem Augenblicke jenen armen Geschöpfen, denen Gott den vollen Gebrauch ihres Verstandes versagt hat. Bart und Haupthaar umflossen wirr das bleiche, feine Gesicht, in dem die Augen düster und unheimlich glühten. Man sah ihm deutlich an, daß er sich Mühe gab, den kranken Körper aufrecht zu tragen, und daß ihn ein gewaltiges Leid zu Boden drückte. Wie ein Kind ließ er sich zu der Bank der Angeklagten führen. Stehend, ohne die geringste Bewegung, hörte er die Klage an, die nun mit lauter Stimme noch einmal verlesen wurde. Man beschuldigte ihn des offenen Aufruhrs, des thatsächlichen Kampfes mit dem Schwerte in der Hand gegen königliche Truppen, und des beabsichtigten und zum Theil gelungenen Umsturzes der bestehenden Landesregierung, sowie endlich der Theilnahme an einem Complotte, das sich zur Vertreibung des Landesherrn verschworen habe.
„Sind Sie der Ihnen zur Last gelegten Verbrechen geständig?“ fragte der Präsident nach der hergebrachten Form.
Jetzt erhob Franz sein Haupt, mit ruhigen, stolzen Blicken sah er zu den Richtern empor. Dann antwortete er fest und würdevoll:.
„Die Lüge ist mir von jeher fremd gewesen, und ein Mann von Ehre darf sich ihrer nicht bedienen, selbst wenn er sein Leben dadurch retten könnte. Meine Ansichten, die mich damals in den Kampf trieben, sind noch heute dieselben, und ich bekenne offen und frei, daß ich muthig für die heilige Sache der Freiheit das Schwert gezogen, und daß ich eine neue, freisinnige, der Gegenwart entsprechende Regierung einsetzen wollte. „Ja,“ rief er, „Volk und Richter mögen es hören: ich habe die Thaten begangen, die man zu Verbrechen stempelt! Das ist Alles, was ich denen zu entgegnen habe, die Muth und Beruf in sich führen, über die Ansichten aufgeklärter Menschen zu richten!“
Dann ließ er sich auf der Bank nieder, kreuzte die Arme und starrte düstern Blicks zu Boden.
Eine tiefe Pause sollte den Worten des Angeklagten, der zu verschmähen schien, eine Vertheidigung zu unternehmen. Das Bild, das Franz in diesem verhängnißvollen Augenblicke bot, war völlig geeignet, den Vertheidigungsgrund des Rechtsanwalts kräftig zu unterstützen. Wer greift nicht in der höchsten Noth zu dem letzten Rettungsmittel, und wenn es noch so schwach ist? An eine Erhebung der Seele bis zu der äußersten Selbstverleugnung glaubte man in jener Zeit nicht mehr, und die Begriffe von Ehre und Muth, wie sie Franz definirte, erschienen im Angesichte des Todes durch den Henker so seltsam, daß man den armen Mann offenbar für verrückt halten mußte. Richter und Zuhörer waren von der Geisteszerrüttung des Angeklagten moralisch überzeugt, aber noch fehlten die juristischen Beweise voll apodiktischer Klarheit, und diese zu liefern, war die Aufgabe des Vertheidigers.
Unter der gespannten Aufmerksamkeit der Versammlung erhob sich Julius.
„Franz Osbeck,“ sagte er ruhig und fest, „in dem Augenblicke Ihrer Verhaftung hingen Sie mit warmer Liebe an dem Leben, das Sie jetzt durch ein unbedingtes Eingehen auf Ihre Schuld zu verschmähen scheinen. Mich, Ihren Vertheidiger, würde der Vorwurf treffen, die Schwermuth außer Acht gelassen zu haben, die sich in dem Kerker Ihrer bemächtigt hat, wollte ich Sie nicht zur Aufrechterhaltung Ihres Lebensmuthes mahnen. Sie stehen zwar allein in der Welt, in der Ihre Lieblingspläne vereitelt sind; aber es muß der in der allgemeinen Meinung für feig gelten, der unter dem Scheine eines Märtyrers zum Selbstmörder wird.“
Der Angeklagte sah mit glühenden Blicken empor. Sein bleiches Gesicht prägte den jähen Uebergang von stolzer Entrüstung zu einer schmerzlichen Innigkeit aus.
„Es ist wahr,“ sagte er mit bebender Stimme, „ich stehe allein, ganz allein in der Welt! Fast muß es scheinen, also wollte ich durch die Hand des Richters ein Joch abschütteln, das mir verhasst ist. Aber ich versichere bei Allem, was mir heilig ist – –“
„Versichern Sie nichts, mein Herr!“ unterbrach ihn der Advokat. „Es giebt Leute, die bezeugen, daß Ihnen bei Ihrer Verhaftung noch das Leben lieb war. Sie forderten Geld zur Flucht von Ihrem Vetter. Herr Simoni wird nicht anstehen, es zu bekennen, wenn Sie beharren sollten – –“
Der Schwerting, Sachsenherzog, der saß bei Festesmal,
Da schäumten Weine perlend in eisernem Pokal,
Da rauchten Speisen köstlich in eisernem Geschirr,
Da war von Eisenpanzern ein wild und rauh Geklirr.
Der Dänenkönig Frotho genüber Schwerting saß,
Mit staunender Geberde die Eisenketten maß,
So diesem niederhingen von Hals und Brust und Hand
Und dann die Eisenspangen am schwarzen Trau’rgewand.
„Sagt an, was soll das deuten? Herr Bruder gebt mir kund,
Warum Ihr mich geladen zu solcher Tafelrund’?
Als ich herabgezogen aus meinem Dänenland,
Da hofft’ ich Euch zu finden im güldenen Gewand.“
„Herr König, Gold dem Freien, und Eisen für den Knecht:
Das ist der Sachsen Sitte, und so allein ist’s recht!
Ihr habt in Eisenbande der Sachsen Arm gezwängt;
Wär’ Eure Kette gülden, sie wäre längst zersprengt.
Doch mein’ ich, giebt’s noch Mittel, zu lösen solches Erz:
Ein biedrer Sinn und Glaube, ein hoch und muthig Herz,
Das muß den Arm befreien, gefesselt hundertfach,
Das muß den Eidschwur lösen, und tilgen nieder Schmach!“
Als so der Fürst gesprochen, da traten in den Saal
Zwölf schwarze Sachsenritter, mit Fackeln allzumal,
Die harrten stumm und ruhig auf Schwertings leises Wort,
Und sprangen dann in Eile, die Brände schwingend, fort.
Nicht lang’, da scholl von unten zu Herrn und Gastes Ohr
Ein Knistern und ein Prasseln von Feuerswuth empor,
Nicht lang’, da ward’s im Saale gar schwül und sonnenheiß
Und: „’s ist die Stund’ gekommen!“ sprach dumpf der ganze Kreis.
Der König will entfliehen, der Herzog hält ihn stark:
„Halt! Steh und laß erproben Dein ritterliches Mark!
Hält es dem rauhen Krieger, der unten prasselt, Stand!
Dein sei die Sachsenkrone, Dein sei das Sachsenland!“
Und heißer, immer heißer wird’s in der weiten Hall’,
Und lauter, immer lauter erdröhnt der Balken Fall,
Und heller, immer heller wird rings der rothe Schein,
Die Thüre sinkt in Trümmer, die Lohe schießt herein.
Da knieen betend nieder die wackern Rittersleut’:
„Herr sei der Seele gnädig, die selber sich befreit!“
Der Herzog doch sieht ruhig der Flamme Windeslauf,
Der König sinkt zu Boden; er reißt ihn wüthend auf.
„Schau hin, Du stolzer Sieger! Erzittre, feiges Herz!
So schmilzt man Eisenbande, so schmilzt Dein mächtig Erz!“
Er ruft’s und ihn erfasset der Flammen wild Gesaus
Und nieder stürzen Alle, und nieder stürzt das Haus.
Der jetzige Kriegsschauplatz zwischen Inkerman, Balaklava und dem Chersones bildet in seiner geologischen Oberfläche eine entsetzlich entsprechende Grundlage für die winterlichen Kriegs- und Lagerscenen. Der Boden sieht hier wirklich so aus, wie ihn sich die Geologen lange vor den ersten Menschen dachten als Tummelplatz amphibischer Ungeheuer und Schlamm-Monstrositäten, Ichthiosaurier, Plesiosaurier und sonstiger Vorfahren von Krokodilen und Alligatoren. Ein baum- und vegetationsloser öder, zäher, schwarzbrauner Schlamm mit Deichen und Pfützen, aus denen in liederlicher Unordnung öde Steinmassen und Höhen hervorragen. Von Anhaltpunkten für das an Civilisation gewöhnte Auge, von Wegen, Feldern, winkenden Dörfern und Städten, von Bäumen und Vegetationsbildern anderer Art ist keine Spur mehr zu entdecken. Die Wildniß, wie sie Jahrtausende vor dem ersten Buch Mosis auf der Erde herrschte, ist wiedergekehrt, und durch die Wildniß watet schmutzig und zerlumpt, hungrig und verstümmelt, ungewaschen und unrasirt der Krieg westlicher Civilisation gegen östliche Barbarei. Aber er watet nicht durch den bloßen „Urbrei,“ aus dem die jetzige geologische Erdrinde sich bildete, der Urbrei ist reichlich durchknetet mit abgerissenen Gliedern von Pferden und Menschen, halbverwes’ten und halbtodten Gefallenen, Rädern, Kugeln, Stangen, Stroh, Kleiderfetzen, Blut, Bruchstücken von Waffen, tiefgeschnittenen Wagengleisen, tausenden kleinen Pfützen, welche die Hufe der Pferde traten, deren Stapfen in dem zähen Breie ausgedrückt blieben und sich mit Wasser und Blut und Schnee füllten. Unter diesem entsetzlichen Gemisch von Vorwelt und Gegenwart sitzt traurig und mürrisch der knurrende, wilde Hund auf angefressenen Cadavern, an Verdauungsbeschwerden leidend und gleichwohl futterneidisch mit emporschielenden Augen die Geier und Adler verfolgend, welche in unabsehbaren Schaaren über ihm schweben und kreisen. Der Himmel spannt sich trostlos über den Leichen- und Raubvögeln und regnet, schneit und stürmt erbarmungslos auf Todte, Sterbende, Erkrankende und Gesunde. Hier und da schimmern Waffen, blitzen Kanonen auf und knattern Salven bald näher, bald ferner. Dort sinkt ein abgemagertes, um und um schmutzbedecktes Pferd unter dem Reiter oder vor dem Lastwagen in den Schmutz und stirbt lautlos und ergeben. Hier ist es ein leichenfarbiger, zerrissener, wildbärtiger Krieger, der zusammenbricht, sich noch mühsam bis an einen Stein hinschleppt, um seinen Kopf wenigstens auf einen trockenen Pfühl zu legen und so zu sterben. Andere Soldaten winden sich an ihm vorbei, werfen ihm einen mitleidigen Blick zu und lassen ihn liegen, da sie selbst sich kaum noch fortschleppen können.
Zwischen dem Lager und Balaklava – einer Entfernung von etwa einer deutschen Meile, welche durch Sümpfe und Pfützen, Hügel und breiige Thäler zu zehn Meilen wird, winden sich auf die jämmerlichste Weise Wagen mit Lebensmitteln und einzelne Offiziere, die aus Privatmitteln eingekauft haben. Der unermeßlich reiche Sohn des Lords, zu Hause kein Paar Handschuhe zweimal anziehend, alle Tage zweimal rasirt und und dreimal die Kleider wechselnd, tritt hier in denselben Kleidern, mit denen er am 27. September an’s Land stieg und die seitdem niemals von seinem Leibe kamen, so weit sie nicht abrissen und abfielen, hinter einem Schmutzhügel hervor, bekränzt um die Schultern mit einer Reihe Zwiebeln, mehrere Würste über dem Arme, eine Ente in der einen und einen holländischen Käse in der andern Hand. Der tornisterblonde Bart umwaldet sein sonst stets musterhaft glattes Kinn, besternt mit Schmutz von Unten bis Oben über die Mütze. Für die Ente bezahlt er 6 Thaler, für den Käse 3, für die Zwiebeln das Sechsfache der Londoner Apfelsinenpreise. Und dabei wird er von Allen beneidet, die Geld, aber nicht Kraft genug hatten, bei den Gaunern von Balaklava einzukaufen. Die Dienerschaften aus Griechenland, Konstantinopel, Armenien u. s. w., die anfangs in Masse herbeiströmten, um den Offizieren zu dienen, verließen nach der Schlacht bei Inkerman fast gleichzeitig wie auf Verabredung das Lager, wie Ratten ein untergehendes Schiff, so daß, wer große Geldmassen hat, wie die meisten höheren englischen Offiziere, selbst durch den meilenweiten Schmutz waten muß, um in Balaklava mit Gold als Leckerbissen zu kaufen, was zu Hause der letzte Proletarier nur im Nothfalle für einen halben Penny an sich bringt, um die äußersten Grade des Hungers zu stillen. Von England aus und auf dem Papiere ging Alles in reichlicher Fülle, aber es kam nicht an, oder an unrechte Orte und in Schiffen, die aus dem Labyrinthe im und vor dem Hafen nicht herauszufinden sind, so daß man täglich Pferde und Menschen todt peinigen muß, um nur halbe Portionen von Balaklava nach dem Lager zu bringen. Ueber die beispiellose Nachlässigkeit, Liederlichkeit und Anarchie der englischen Verwaltung zu Wasser und zu Lande haben sich alle englischen Correspondenten von Ort und Stelle und unzählige Privatbriefe hinlänglich ausgesprochen, so daß man, so unglaublich auch manche Einzelnheiten klingen, nichts mehr bezweifeln kann So groß die Tapferkeit der gemeinen Soldaten, so himmelschreiend ist die Unordnung und Kopflosigkeit in Führung, Leitung und Versorgung derselben von Seiten der Aristokratie, die alle höhern Militär-Posten an sich gekauft hatte und als ein Privilegium gegen bürgerlichen Zudrang zu schützen wußte, worüber bekanntlich durch den Prozeß gegen den bürgerlichen Lieutenant Perry schauderhafte Lichter aufgingen. Die England regierende Aristokratie, welche 5600 Millionen Thaler Kriegsschulden machte und vierzig Friedensjahre dirigirte, stets in Freundschaft und zu Gunsten eines Staatenprinzips, als dessen Ideal Rußland verehrt wird, verliert jetzt im Volke durch den Krieg gegen Rußland mehr, als sie durch ihre russenfreundlichen Kriege und Friedens-Diplomatien für ihre Interessen und Privilegien zu Hause gewann, so daß für Den, welcher den Krieg nicht blos aus Zeitungsbruchstücken zusammensetzt (ein Wald, vor dem man die Baume nicht sieht), schon jetzt eine aus dem Pulverdampfe hervortretende und über Leichen schwebende Nemesis deutlich wird.
„Sieht man doch gleich am Hause, weß Geistes darinnen der Herr sei.“ Während man über die Ordnung, Reinlichkeit und Fülle im französischen Lager nicht Lobes genug erheben kann, ist das englische Lager ein Chaos unzureichender, zerrissener Zelte, die auch, wenn sie ganz sind, dem Regen und Schnee nur als Sieb dienen, durch welches es nur um so dichter und sicherer regnet und schneit. Die meisten Zelte hatte der Sturm weggeblasen, während der Franzose, der sein Zelt, wie die Schnecke sein Haus, mit sich herumträgt, jeden Abend sicher und warm schläft. Diese Zelte, deren immer je drei Mann eins auf dem Gepäck tragen, erweisen sich jetzt als ein unermeßlicher Segen. Die je drei Mann schlagen ihre Schlafstelle in drei Minuten auf und brechen sie eben so schnell wieder ab, nachdem sie geschützt und warm darunter geschlafen. Den allerunbeholfensten wilden Umsturz der Menschheit versinnlichen die englischen Offiziere beim Kaffeekochen. Man zermalmt die ungebrannte Bohne zwischen sandigen Steinen, so daß sich unter diesem Prozesse der Kaffee bedeutend um Sand und Müll vermehrt, und kocht ihn in Barbierbecken oder Waschgefäßen, um den bittern Kelch ohne Zucker und Milch zu leeren. Die ungebrannte Bohne! Ja, es fehlt an Holz, das vergebens tausende klafterweise die Felsen von Balaklava und die noch ganz gebliebenen Schiffe zerstieß. Niemand dachte daran, diese noch kostbaren Trümmer sturmzerschmetterter Schiffe herauszufischen, um sie zum Kaffeebrennen und als Universalmittel gegen den häufigen Tod des Erfrierens anzuwenden.
Im französischen Lager bewegt sich Alles wie ein wissenschaftliches Uhrwerk, selbst Todtschießen, Todtgeschossen- und Begrabenwerden. Ziemlich regelmäßig attackirt man russische Posten jede Nacht zweimal, Abends 9 Uhr und dann gegen Morgen, wobei in der Regel 40–50 Mann fallen. Muster soldatischer Disciplin und Tapferkeit sind besonders die Tirailleurs oder Scharfschützen mit ihrem System von Laufgräben und Erdwällen, die sie den russischen Batterien, wie Kaninchen unter der Erde hinwühlen, immer näher zu rücken wissen. Immer je 12 Stunden liegen sie hier in Reih und Glied auf dem Bauche, unter ihren emporstehenden Mützenschirmen scharf über das Feld vor ihnen auslugend, [35] um stets jedem Russen, der sich eine Blöße giebt, pünktlich und sicher das Lebenslicht auszublasen. Das französische Laufgräben- und Erdwallsystem ist eine angewandte Belagerungs-Mathematik, deren Figuren von einem besondern Bureau aus gezogen werden mit dem doppelten Zwecke, das Lager zu schützen und den Batterien des Feindes immer näher zu kommen. Der wissenschaftliche und dirigirende Mittelpunkt dieser Tirailleur-Taktik befindet sich in der Mitte der Laufgräben auf einer Anhöhe, wo ein sonderbares Haus mit einem Glockenthurme, genannt das „Belfry-Haus,“ als Bureau und zugleich als Apotheke und ärztliches Centrum für die Tirailleurs dient. Jeder Verwundete kann von hier aus stets schnell und sicher ärztlichen Beistand und Medicin erhalten, während im englischen Lager die Aerzte athemlos überall umherirren und gewöhnlich da fehlen, wo nur schnelle Hülfe vor Verblutung und Tod retten könnte.
In diesem Belfry-Hause ließ sich auch unlängst ein französischer Offizier mit einem griechischen Mädchen von außerordentlicher Schönheit trauen. Er hatte den Schatz in einem griechischen Dorfe unweit Balaklava entdeckt und die schöne Festung sofort mit dem Feuer und den Flammen seines Herzens bestürmt (denn Worte und Ueberredung erwiesen sich als effectlos, da er kein Wort Griechisch, sie kein Wort französisch verstand), daß er drei Tage nach Sicht siegte und einen Popen halb zwang, den Bund in einer ihm ganz unverständlichen Sprache einzusegnen. Der Pope ließ sich hinreißen, bereuete aber hernach feinen Segen aus Furcht vor der russischen Kirche, unter der er trotz seines besondern Glaubens stand, und als ihn der glückliche Ehemann noch besonders belohnen wollte, stellte sich heraus, daß er flüchtig geworden. Der Vorgesetzte hat den erotischen Eroberer mit seiner jungen Schönen nach Constantinopel geschickt, damit er dort seiner Flitterwochen froh werde und sich mit der Frau unterhalten lerne. Ein hübscher, drastischer Stoff für den Novellisten, eine Schäferidylle mit Kugelregen, Aechzen der Sterbenden und Gekreisch der Verwundeten, ein Beweis, daß Liebe unter den ungünstigsten Verhältnissen und nationalen, sprachlichen, confessionellen, ökonomischen und mit giftischen Hindernissen noch ihre siegende Allgewalt geltend zu machen weiß. Die schöne Braut hatte nur einen einzigen, und zwar nicht sehr anziehenden Anzug mit verwitterten Borden und Kanten am abgeschabten Sammet-Mieder, aber desto anziehender erwieß sie sich selbst für den kleinen Tirailleur-Lieutenant, indem sie ihren Geliebten liebt und ihren Beschützer verehrt, nachdem ihr Dörfchen mit allen ihren Jugendfreundinnen verschwunden war. Die meisten Bewohner ihres Dorfes hatten sich unter Weinen und Wehklagen auf einem englischen Schiffe nach Yalta bringen lassen, die Liebe hielt sie in einem andern Dorfe, Karani, unweit des St. George-Klosters, zurück, bis sie getraut, eine neue Heimath hinter den – französischen Laufgräben fand.
Jetzt eine kurze Wanderung durch Balaklava. Worte sind nicht im Stande, eine Vorstellung von deren Schmutze, deren Schrecken, Hospitälern, Begräbnissen, Todten und Sterbenden, ihren engen, von Gestank, Kanonen, schmutzigen Mischungen von Türken und Engländern überfüllten Gäßchen, ihren lärmenden Schuppen, Läden und ruinirten Häusern, ihren bestialischen Umgebungen und Massengräbern zu geben. Die Dichter der Pestilenzen, von den ägyptischen an bis zu Boccaccio, de Foe und Moltke bleiben in ihren fürchterlichsten Schilderungen Stümper gegen die Scenen, welche sich während der ersten halben Stunde in Balaklava aufdrängen. Die Türken haben aus jedem Gäßchen eine Kloake knietiefen Schmutzes gemacht, gemischt mit Lumpen, Abfällen von Kleidern, Speisen, Menschen- und Thierleibern. – Welch ein Aechzen, Stöhnen, Schnauben, Beten, Jammern und Schreien hinter diesem zerfetzten Segel, das statt eines Thores den Eingang zu einem alten Schuppen schützt? Es ist ein türkisches Hospital. Hast Du Muth, den Vorhang zu lüften? Einen Blick hinein und Du siehst mit einem Male, wie die Türkei gerettet wird. Da liegen sie haufenweise, dicht in einander geschichtet, Todte und Lebendige durch einander. Die verwesungs- und prophetengebetschwere Luft findet nur spärliche Auswege durch die zugigen Ritzen und Spalten des Gebäudes und drückt den nicht „Gewöhnten“ mit dem ersten Athemzuge erstickend zusammen. Da stöhnen und beten und winden sich noch Unzählige zwischen den Todten, aber sie ersticken und zerdrücken sich alle – alle – alle. Keiner kommt lebendig heraus aus dieser lebendigen Massengruft, denn kein Arzt, keine Medicin, kein Trost, kein Atom gesunder Luft kommt hinein. Sie werden dann alle offen auf rohen Bahren hinausgetragen. Die geschwollenen, blutigen, entstellten, zum Theil halb verwes’ten Gesichter der langen Reihen von Todten auf den Schultern, skelettartiger, bleicher, schwarzbärtiger Lebendigen starren entsetzlich zum Himmel, das duftigste Gebet für den großen Allah und seinen Propheten und die Aristokratie von England, welche so für ihn Krieg zu führen weiß. Draußen vor der Stadt wird den Leichen das aus Nase und Mund geronnene Blut abgewaschen, etwas Oel eingeflößt, ein Gebet gesprochen und drei Zoll hoch Erde aufgeladen. So wurden Tausende begraben. Unter der dünnen Schicht hervor erhob sich die Pestilenz, so daß endlich das englische Ober-Commando strenge Befehle gab, die Todten tief zu begraben. Cholera und Lazarethfieber würgen unsichtbar und dauernd seit der Zeit von Varna mehr Tausende nieder, als jemals die Russen mit ihren hunderttausend Läufen und Kanonenschlünden niederzuschmettern im Stande waren. Seit dem 28. November werden jeden Morgen große Haufen Choleraverewigter aus dem Schmutze des englischen Lagers hervorgezogen. Und was thut man dagegen? Nichts. Was wird man dagegen thun? Nichts.
Und für die, welche in unsern Skizzen etwa Uebertreibung finden wollen, diene zuletzt zur Nachricht, daß kein Wort hier steht, das nicht von Ort und Stelle, von Augenzeugen gekommen und durch den einstimmigen Schrei der ganzen noch lebenden Armee, welche England mit Briefen und Schilderungen überschwemmt, die alle Tage in den Zeitungen massenweise veröffentlicht werden oder privatim circuliren, bekräftigt und noch durch Thatsachen übertrieben würde. Und für dieselben noch ein Paar Worte in Uebersetzung aus der Times, welche bisher diese englische Regierung unterstützte: „Die große Armee drängt sich mit ihren verklagenden Briefen zur Presse rücksichtslos gegen die Folgen von Seiten der Obern, da es nur noch gilt, Rettungsversuche für das nackte Leben zu machen. Einstimmig bekunden diese Briefe die totale Desorganisation unserer Armee, die schreckliche Gefahr für ihre bloße nackte Existenz, in welche sie nicht durch die Russen, sondern durch die regierende, befehligende englische Aristokratie gestürzt ward. Napoleon’s und Wellington’s Augen und Worte und Personen und Befehle und Ermuthigungen waren überall, Lord Raglan hat sich seit der Schlacht bei Inkerman noch nicht ein einziges Mal sehen lassen. Die Armee ist auf halbe Rationen gesetzt, einige Regimenter hatten seit zwei Tagen gar keine Nahrung erhalten. Gegen Regen, Kälte, Hunger, Wunden und Krankheit giebt es keinen Schutz. Die Zahl der so umgekommenen braven Krieger geht in’s Schreckliche. Sie liegen zum Theil in Schmutz selbst begraben mit 4000 gefallenen Pferden, über welche die Skelette der noch Lebenden mit Schaudern schreiten. (Heu und Hafer schwamm unlängst tausendcentnerweise am Gestade oder vermoderte im Regen.) In der französischen Armee, der zweifachen Anzahl, sieht Alles gesund und musterhaft aus. Man hatte hier sogar auch Ueberfluß an musterhaften Transportwagen für Verwundete, so daß man einige davon den Engländern lieh,“
„Und was soll nun geschehen? Nichts, sagen die Conservativen und Privilegirten auch jetzt noch. Eher kann die ganze Armee verenden, als man das System des Verkaufs von Offizierstellen an die Aristokratie, die Patronage, das Avancement nach Geburt, Rang und Alter, die Illusion der militärischen Ordnung von vierzig Friedensjahren aufgiebt, wenn nur Lord Raglan mit seinem Stabe, der jetzt unsichtbaren Elite der Aristokratie, belorbeert, befördert, betitelt, monumentirt und reich pensionirt zurückkehrt.“ – Diese Sprache in dem mächtigsten, conservativen Organe der Presse bedeutet und wirkt etwas: den Prozeß der Zerstörung von Illusionen und Einrichtungen und Gesetzen, auf welche die Privilegirten seit Jahrhunderten ihre Macht, ihr Ansehen, ihre Popularität zu gründen und auszubauen verstanden.
[36]Wie? – höre ich meine Leser beim Anblicke dieses Titels ausrufen. – Die Pflanzen sollen Lungen besitzen? – Allerdings, meine Freunde, besitzen dieselben Glieder oder Organe, welche zwar eine ganz andere Gestaltung und Bauart als die Lungen der Thiere, aber die gleiche Bedeutung und Bestimmung haben, und diese Organe sind – die Blätter. Erlauben Sie mir, Sie einen Blick in die innere Bauart der Blätter und in das Leben der Pflanze überhaupt thun zu lassen, und Sie werden sich überzeugen, daß ich vollkommen Recht habe, wenn ich die Blätter, diese unter so mannigfachen, so zum Theil wunderbaren Formen erscheinenden Organe, auf deren Vorhandensein einer der hauptsächlichsten Reize aller schönen Landschaften, das vielfach nuancirte den Augen so wohlthuende Grün beruht, die Lungen der Pflanzen nenne.
Viele Leute glauben, daß die Blätter der Pflanzen blos zum Schmucke dienen oder daß sie denselben deshalb gegeben seien, weil sie die Nahrung vieler Thiere bilden und auch von Menschen zu mannigfachen Zwecken angewendet werden können, indem sich so ein großer Theil der Menschen einbildet, daß ihres lieben Ichs halber das ganze Thier- und Pflanzenreich und überhaupt die ganze Welt geschaffen worden sei. Diese und ähnliche Ansichten über die Bestimmung der Blätter sind gänzlich verkehrt. Die Blätter sind den Pflanzen ihrer selbst wegen gegeben, weil die Pflanzen ohne Blätter nicht leben können, aus keinem anderen Grunde. Die Benutzung der Blätter von Seiten der Thiere und Menschen ist Nebensache. Uebrigens besteht der Hauptnutzen, den die Blätter der animalischen Schöpfung gewähren, keineswegs darin, daß sie Nahrung spenden und zu technischen Zwecken benutzt werden können, sondern in ihrer eigenthümlichen Lebensthätigkeit, durch welche sie, wie meine Leser bald erkennen werden, für die Reinigung der Luft und für die Erzeugung von Wasser im hohen Grade sorgen.
Wenn Sie, meine Leser, das Blatt eines Kirschbaumes oder einer Buche betrachten wollen, so werden Sie bemerken, daß der Blattstiel sich in Form einer auf der untern (dem Boden zugekehrten) Seite der Blattscheibe hervortretenden Rippe durch die Blattsubstanz hindurch bis in die Spitze des Blattes fortsetzt, und daß von dieser Rippe, die man, weil sie die Blattscheibe in zwei Hälften scheidet, in der beschreibenden Botanik die Mittelrippe, wohl auch den Mittelnerv zu nennen pflegt, auf beiden Seiten kürzere und schwächere Rippen ausgehen, welche bei jenen Blättern einander gegenüberstehen und sich parallel von der Mittelrippe nach dem Rande des Blattes erstrecken. Halten Sie[WS 1] ein solches Blatt gegen das Licht, so werden Sie eine Menge hell erscheinender dicker und dünner Linien unterscheiden können, welche sich auf das Vielfältigste verästelnd und mit einander verbindend, ein förmliches aus zahllosen kleinen, eckigen Maschen bestehendes Netz bilden, und es wird Ihnen nicht schwer fallen, zu erkennen, daß die stärkeren dieser hellen Linien von den Nebenrippen, auch wohl unmittelbar von der Hauptrippe des Blattes ausgeben. Das Innere der Maschen ist von der dunkeln Blattsubstanz erfüllt, welcher dem bloßen Auge als eine gleichförmige structurlose Masse erscheint. Ganz dieselbe Erscheinung würden Sie bei jedem andern Blatte, welches dünn genug ist, um das Licht durchscheinen zu lassen, wahrnehmen, nur mit dem Unterschiede, daß die Blattscheibe nicht immer von einer Mittelrippe durchzogen ist, welche Seitenrippen in der angegebenen Weise entsendet, sondern daß, wo an der Stelle, wo der Stiel in das Blatt eintritt, oder, wenn ein solcher ganz fehlt, wo das Blatt festsitzt, mehrere Rippen gleichzeitig entspringen und entweder parallel oder wie die Finger einer ausgebreiteten Hand durch die Blattfläche verlaufen; daß ferner die aus den Hauptrippen entspringenden Nebenrippen einander nicht immer gegenüberstehen, sondern diejenigen der einen Seite mit denen der andern abwechseln; daß dieselben sich in sehr verschiedener Weise verästeln und verzweigen, mit einem Worte, daß in der Anordnung der Rippen und der von ihnen ausgehenden hellen Linien, welche man in der beschreibenden Botanik Adern zu nennen pflegt, die verschiedenartigsten und mannigfachsten Verhältnisse obwalten. Wovon rühren nun diese Rippen und Adern her und wozu besitzt sie das Blatt? Ueber die erste Frage giebt uns die Betrachtung einiger in verticaler und horizontaler Richtung durch die Blattscheibe gemachten Schnitte unter dem Mikroskop Aufschluß, die zweite beantwortet uns die Physiologie oder derjenige Theil der botanischen Wissenschaft, welcher sich mit der Erforschung des Lebens der belebten Geschöpfe und den Verrichtungen von deren einzelnen Organen beschäftigt.
Durchschneidet man eine Blattrippe ihrer Länge nach und betrachtet man einen feinen in derselben Richtung davon abgeschnittenen Schiefer unter dem Mikroskop, so wird man in der Regel bemerken, daß die Blattrippe aus mehrern sogenannten Gefäßbündeln besteht, welche nicht selten von Bastbündeln begleitet sind. Gefäßbündel nennt man fadenförmige Vereinigungen parallel nebeneinander liegender Reihen von zartrandigen langgestreckten Zellen, so wie von engeren oder weiteren, nicht selten gegliederten Röhren, deren zarte Wendung bald von hellen runden Punkten oder Strichen wie durchlöchert oder zerspalten erscheint, bald inwendig mit einer oder mehrern spiralförmig aufgerollten Fasern, deren Windungen entweder eng neben einander liegen oder aus einander gezogen sind, und gekleidet ist, bald eine netzförmig-fasige Bauart erkennen läßt, wohl auch aussieht, als wäre sie über einzelne quer gestellte Ringe gespannt. Diese Röhren nennt man Gefäße, und unterscheidet nach der so eben angedeuteten Verschiedenheit in der Structur ihrer Haut punktirte oder poröse, netzförmige, Spiral- und Ringgefäße. Was man Zellen nennt, darf ich bei den Lesern dieses Blattes wohl als bekannt voraussetzen, weshalb ich hier blos hinzufüge, daß auch die sogenannten Gefäße weiter nichts als Zellen oder vielmehr Zellenreihen sind, indem sie aus gestreckten vertical über einander gestellten Zellen durch Zerstörung und Aufsaugung der Berührungsflächen entstehen, und daß die oben erwähnten Bastbündel, von denen die Gefäßbündel im Stiele und in den Rippen der Blätter häufig begleitet zu sein pflegen, aus Bastzellen, d. h. aus langgestreckten, fadenartigen, an beiden Enden zugespitzten, sehr dickwandigen und biegsamen Zellen zusammen gesetzt sind. (Der nebenstehende Holzschnitt A zeigt ein Gefäßbündel aus dem Stiele des gemeinen Tupfelfarrnkraut am Längs- und Querschnitt, wo sich in der Mitte, bei a quergestrichelte oder sogenannte Treppengefäße, nach außen zu, bei b gestreckte dünnwandige Zellen, sogenannte Cambiumzellen befinden. Das ganze Bündel ist von kurzgestreckten, eckigen Zellen umgeben, von denen die innerste Reihe bei c einseitig verdickte und poröse Zellen besitzt.) Das Gefäßbündelsystem, welches den Blattstiel durchzieht, zertheilt sich zuletzt in die Blattrippen, und aus diesen zweigen sich wieder einzelne Gefäßbündel ab, stärkere und schwächere, welche das durchsichtige Adernetz bilden. Die zwischen den Maschen des Adernetzes befindliche, dem bloßen Auge als dunkle gleichförmige Masse erscheinende Blattsubstanz zeigt sich unter dem Mikroskop aus Zellen von verschiedener Form zusammen gesetzt. Bei denjenigen Blättern, welche eine flächenförmige und dünne membranöse Blattscheibe haben, wie die Blätter aller unserer Bäume und überhaupt die Mehrzahl der bei uns wachsenden Pflanzen, lassen sich in der Regel vier Schichten verschiedener Zellen in dem Gewebe des Blattes, wenn man die Blattscheibe senkrecht auf ihrer Fläche durchschneidet, unterscheiden, nämlich: 1) die Oberhaut der obern, dem Himmel zugekehrten Fläche, welche aus abgeplatteten, dicht an einander schließenden Zellen besteht; 2) die obere Schicht des innern Gewebes, aus kurzen gestreckten, prismatischen, diese an einander schließenden, senkrecht auf die Blattfläche gestellten Zellen gebildet; 3) die untere Schicht des innern Gewebes, welche aus kuglichen oder unregelmäßigen, nur locker sich berührenden und daher ein schwammiges, von vielen Höhlungen und Gängen erfülltes Gewebe bildenden Zellen zusammen gesetzt ist und in welcher stets die Gefäßbündel verlaufen; endlich 4) die Oberhaut der untern Fläche. Letztere besteht der Hauptsache nach aus ähnlich gestalteten Zellen, wie die Oberhaut der obern Fläche; allein ihre Zellen schließen nicht überall dicht an einander, sondern es befindet sich an manchen Stellen zwischen je zwei oder mehr Zellen eine Lücke, ein sogenannter Intercellular- oder Zwischenzellgang, welcher nach innen zu mit den hohlen Räumen des schwammigen Zellgewebes in Verbindung steht, nach außen hin dagegen durch zwei halbmondförmig gestaltete Zellen geschlossen ist. Diese beiden „Schließzellen“ sind einander mit ihren concaven Rändern zugekehrt und besitzen die merkwürdige Eigenschaft, daß sie sich beliebig ausdehnen und zusammen ziehen können. Dehnen sie sich aus, so schließen [37] sie den Zwischenzellgang vollständig, indem die Concavitäten sich ausgleichen, und dann die einander zugekehrten Seiten der beiden Zellen sich an einander schmiegen; ziehen sie sich dagegen zusammen, so entsteht zwischen ihnen eine linsenförmige Spalte, mittelst deren der Zwischenzellgang nach außen hin geöffnet wird. Diesen ganzen seltsamen Apparat nennt man die Speltöffnung.
Der Holzschnitt B, welcher ein Stück eines Lilienblattes senkrecht durchschnitten darstellt, zeigt nicht allein die vier oben beschriebenen Zellenschichten sehr deutlich (a ist die obere, b die untere Oberhaut, c die obere, d die untere Schicht des innern Gewebes, e sind die hohlen Räume in der letztern Schicht), sondern bei f auch zwei vertical durchschnittene Speltöffnungen. Der Holzschnitt C stellt ein Stückchen der untern Oberhaut desselben Blattes von der Fläche gesehen dar, mit drei Speltöffnungen. Der Holzschnitt D bei a die beiden Schließzellen im ausgedehnten Zustande und die Speltöffnung folglich geschlossen, bei b dieselben Zellen im zusammengezogenen Zustande und die Speltöffnung geöffnet.
Sie sehen also, meine Freunde, daß die Blätter der Pflanzen einen viel complicirteren Bau besitzen, als sie auf den ersten Blick zu haben scheinen. Wozu aber sind die Blätter so seltsam, so wunderbar gebildet? – Wegen ihrer Bestimmung, ihrer Thätigkeit. Tausende von Beobachtungen und Versuchen haben nämlich als ausgemachte Gewißheit ergeben, daß alle jüngeren und grüngefärbten Pflanzentheile, deren Oberhaut stets mit Speltöffnungen versehen zu sein pflegt, und ganz besonders die Blätter, die in der atmosphärischen Luft enthaltenen Gasarten, nämlich Sauerstoffgas, Stickstoffgas und Kohlensäuregas, besonders das erste und letzte, aus der Luft aufsaugen, zugleich aber auch dieselben Gasarten aus ihrem Innern an die Atmosphäre wieder abgeben. Sowohl die Aufnahme als die Aushauchung dieser Gasarten geschieht durch die Speltöffnungen; erstere nennt man den Einathmungs-, letztere den Ausathmungsprozeß, und beide Vorgänge zusammen den Athmungsprozeß oder die Respiration der Pflanzen. Wie bei den Thieren, so geht auch bei den Pflanzen das Ein- und Ausathmen Hand in Hand; allein der Athmungsprozeß der Pflanzen ist nicht immer derselbe wie bei den Thieren, sondern je nach der Tageszeit verschieden. Bei Tage, und besonders im Sonnenlicht, athmen nämlich die Pflanzen durch ihre Speltöffnungen[WS 2] Kohlensäure ein und Sauerstoffgas aus, bei Nacht dagegen und überhaupt im Dunkeln hauchen sie Kohlensäure aus und saugen Sauerstoff aus der Luft auf. Die durch die Speltöffnungen aufgenommenen Gase gelangen zunächst in die sogenannte Athmungshöhle, einen größern unterhalb der Speltöffnung und der Oberhaut gelegenen Hohlraum im schwammigen Zellgewebe des Blattes, in welchen stets eine Anzahl von Zwischenzellengängen desselben Gewebes einmünden, durch welche die Athmungshöhle mit den übrigen Räumen, Lücken und Gängen des schwammigen Gewebes in Verbindung gesetzt wird. Es liegt also auf der Hand, daß die durch die Speltöffnungen hereingedrungenen atmosphärischen Gase sich durch das ganze schwammige Zellgewebe verbreiten können und verbreiten müssen und folglich auch in unmittelbare Berührung mit den Gefäßbündeln kommen werden, da diese ja an der schwammigen Zellenschicht verlaufen. Ja, da die Membran der Pflanzenzelle für Gase eben so durchdringbar ist, wie für Flüssigkeiten, so werden jene Gasarten nicht allein mit den Gefäßbündeln in allseitige Berührung kommen, sondern sogar in das Innere der einzelnen Zellen eindringen, aus denen die Gefäßbündel bestehen. Was hefindet sich in diesen Zellen? – Antwort: Der rohe oder noch wenig veränderte Nahrungssaft.
Die Nahrung der Pflanzen besteht aus unorganischen Stoffen, welche, da die Pflanze keine Mundöffnung besitzt, sondern Alles was sie bedarf, nur vermittelst ihrer Zellen aufsaugt, im Wasser aufgelöst sein müssen. Das hauptsächlichste Nahrungsmittel ist ein Kohlensäure und Ammoniak haltiges Wasser. Solches Wasser findet sich überall, wo Pflanzen wachsen, im Boden, indem durch die Verwesung der Pflanzen- und Thierkörper fortwährend eine bedeutende Menge Kohlensäure und Ammoniak erzeugt wird, welche sich mit dem sogenannten Humus der Acker- oder Dammerde vermengt. Das zur Auflösung dieser Stoffe nöthige Wasser wird dem Boden durch den Regen, Schnee und andere atmosphärische Niederschläge, durch Quellen, Bäche und Flüsse fortwährend zugeführt. Die im Boden befindliche flüssige Nahrung der Pflanzen (bei den im oder auf dem Wasser schwimmenden Pflanzen bildet das Wasser selbst die Nahrung) wird nun von diesen vermittelst der Wurzelspitzen aufgesaugt und steigt nun im Stamme oder Stengel empor, gelangt aus diesem in die Aeste und durch diese in die Blätter. Die über das Emporsteigen des Saftes angestellten Versuche haben nun ergeben, daß das Aufsteigen, wenigstens bei der Mehrzahl der uns umgebenden Gewächse und namentlich bei den Bäumen, in dem unmittelbar unter der Rinde befindlichen jungen Holze oder dem Splinte geschieht, denn schneidet man diesen jungen Theil des Holzkörpers bei irgend einem unserer Bäume ringsum durch, so stirbt das oberhalb der Wunde befindliche Stück des Baumes sogleich ab, indem diesem kein Nahrungssaft mehr zugeführt werden kann. Der Splint besteht aber aus den jüngsten Theilen des Gefäßbündelsystems, welches den Stamm durchzieht und welches fast den gesammten Holzkörper unserer Bäume bildet. Dieser mächtige Gefäßbündelkörper des Stammes entsendet sowohl Zweige nach unten hin durch alle Wurzeln bis in die äußersten Spitzen der jüngsten Würzelchen, als auch in der entgegengesetzten Richtung in alle Aeste und Zweige. Die Gefäßbündelkörper der Zweige entsenden wieder dünnere Gefäßbündelkörper, welche entweder unmittelbar oder durch den Blattstiel in die Scheiben der Blätter eindringen und sich hier in der bereits geschilderten, so überaus verschiedenartigsten Weise verästeln, wodurch jenes merkwürdige und höchst zierliche Gefäßbündelgeflecht oder Adernetz entsteht. Sämmtliche Gefäßbündel einer Pflanze bilden folglich ein zusammenhängendes höchst complicirtes System, welches den ganzen Pflanzenkörper von den äußersten Wurzelspitzen bis in die Blätter (desgleichen bis in die Blüthen- und Fruchttheile) durchzieht und sich in den Blättern auf das Unendlichste verästelt. Da nun der Nahrungssaft in den Gefäßbündeln emporsteigt, so bezeichnet der Verlauf und die Verzweigung der letzteren die Richtung [38] und Vertheilung des aufsteigenden Saftstammes innerhalb der Pflanzen und folglich muß sich auch der Saftstrom in den Blättern in zahllose kleine Strömchen zertheilen, welche netzförmig unter einander verbunden sind. Das Emporsteigen des Saftes geschieht übrigens weder in dem gesammten Gefäßbündelsystem, noch in allen Theilen der einzelnen Gefäßbündel. Schon oben habe ich bemerkt, daß in unsern Bäumen blos der Splint, das junge weiche Holz den Saft fortführt, während das untere Holz sich dabei garnicht betheiligt. Aus dem Splint der Aeste entspringen nun freilich auch alle zu den lebensthätigen Blättern gehenden Gefäßbündel. In dem Gefäßbündel selbst scheinen vorzugsweise die gestreckten zartwandigen Zellen (die Cambiumzellen, s. Fig. A b) den Saftstrom zu leiten, weniger die eigentlichen Gefäße, welche man früherhin als die saftleitenden Röhren betrachtete und ihnen deshalb den Namen „Gefäße“ gab, sie für ähnliche Organe haltend, wie die Blutadern der Thiere. Die Gefäße betheiligen sich nämlich den neuesten Untersuchungen zufolge nur in ihrer Jugend und in unserm Klima im ersten Frühling, wenn, wie man zu sagen pflegt, „der Saft in die Bäume tritt,“ an der Fortführung des aufsteigenden Saftes, denn später erscheinen sie niemals mit Saft, sondern mit Luft oder Gasarten erfüllt.
Der aufsteigende Saft wird auch roher Nahrungssaft genannt, weil er noch nicht fähig ist, die Pflanze wirklich zu ernähren, d. h. ihre Zellen mit denjenigen Stoffen zu versehen, aus denen neuer Zellstoff gebildet werden kann. Um diese Fähigkeit zu erlangen, muß er „assimilirt“ werden, d. h. er muß eine chemische Umwandlung erleiden, durch welche die in ihm enthaltenen noch wenig oder gar nicht veränderten unorganischen Stoffe, als Kohlensäure, Ammoniak, Wasser, Kalk- und Natronsalze u. s. w. in pflanzliche Stoffe, wie Zucker, Stärkemehl, Zellstoff u. s. w. übergeführt werden. Diese chemische Umwandlung oder die „Assimilation“ des rohen Nahrungssaftes geschieht in den Blättern oder wird wenigstens daselbst eingeleitet, in Folge der Berührung des rohen Nahrungssaftes mit den durch die Speltöffnungen aufgenommenen Gase der atmosphärischen Luft. In Folge dieser Zusammenkunft werden nämlich sowohl die unorganischen Stoffe des rohen Nahrungssaftes als die aus der Luft aufgenommene Kohlensäure in ihre einzelnen Bestandtheile zerlegt und gehen unter einander neue Verbindungen ein. Bei diesem Prozesse werden große Mengen von Sauerstoff- und Kohlensäuregas entbunden, welche wieder durch die Speltöffnungen in die Atmosphäre entweichen. Der rohe Nahrungssaft der Pflanzen erleidet folglich in den Blättern durch die Berührung mit den Gasen der Atmosphäre eine ganz ähnliche Umwandlung, wie das venöse, d. h. das kohlenstoffreiche, zur Ernährung des Thierkörpers untaugliche Blut in den Lungen, wo dasselbe, ebenfalls in Folge der Einwirkung der Gase der eingeathmeten Luft in arterielles, d. h. sauerstoffreiches, nahrhaftes Blut verwandelt wird, und deshalb kann man die Blätter mit vollstem Rechte die Lungen der Pflanzen nennen. Der assimilirte oder eigentliche Nahrungssaft kehrt nunmehr aus den Blättern wieder in die Aeste, in den Stamm, ja bis zu den Wurzeln zurück und wird unterwegs nach allen denjenigen Theilen des Pflanzenkörpers hingeleitet, welche ernährt werden sollen. Dieses Abwärtsströmen geht vorzüglich in der jungen Rinde, und wie es scheint, auch im Marke vor sich, indem auch die Zellen des Markes assimilirte Stoffe in großer Menge enthalten. Daß die junge Rinde, wenigstens bei unsern Bäumen vorzugsweise das den abwärtssteigenden Nahrungssaft leitende Gewebe ist, geht daraus hervor, daß, wenn man die Rinde eines Baumes am Stamme ringsherum durchschneidet und ein Stück derselben herausschneidet, einen sogenannten „Ringelschnitt“ macht wie die Gärtner sagen, daß dann das unterhalb des Schnittes befindliche Stück des Baumes nicht weiter oder nur unvollkommen ernährt wird, sondern blos noch die oberhalb des Schnittes befindlichen Theile. Deshalb schwillt ein solcher „geringelter“ Baumstamm oberhalb des Ringelschnittes stark an, während das untere Stück seine bis dahin erreichte Stärke beibehält oder sich nur unbedeutend verdickt. Da durch den Ringelschnitt eine stärkere Blüthenentwickelung so wie ein gesteigertes Wachsthum und eine größere Saftigkeit der Früchte hervorgebracht zu werden pflegt, so wird diese Operation von den Gärtnern sehr häufig bei den Obstbäumen in Anwendung gebracht, ohne daß viele derselben wissen, worauf eigentlich jene Erscheinung beruht.
Aus den vorstehenden Schilderungen ergiebt sich zur Genüge die eigentliche Bedeutung und Bestimmung der Blätter. Es resultiren aber aus dieser Bedeutung der Blätter zugleich höchst wichtige Winke für das praktische Leben. Da die Blätter die Athmungsorgane der Pflanzen sind, so liegt es auf der Hand, daß das Leben einer Pflanze im hohen Grade beeinträchtigt werden muß, wenn man sie ihrer Blätter beraubt. Hieraus folgt, daß jene Pflanzen, deren Blätter man theils zur Fütterung, theils zu andern Zwecken benutzt, z. B. die Maulbeerbäume, die Sauernkirschbäume u. a. nicht aller und überhaupt nicht zu vieler Blätter beraubt werden dürfen, sollen sie kräftig fortvegetiren. Besonders müssen die jungen Blätter geschont werden, da in diesen der Athmungs- und Assimilationsprozeß am Lebhaftesten und Wirksamsten geschieht. Da ferner die Aushauchung von Sauerstoff und die Einathmung von Kohlensäure, welche vorzugsweise die Assimilation zu unterhalten scheint, nur unter dem Einflusse des Lichtes vor sich gehen kann, so müssen alle Culturgewächse, welche im wilden Zustande in einem hellen Lichte zu wachsen pflegen, auch unter dem Einflusse eines solchen cultivirt werden. Das giebt einen wichtigen Wink für die Zimmer- und Gewächshausgärtnerei. Nicht selten hat man die Verwunderung darüber ausgesprochen, daß Zimmerpflanzen trotz der sorgsamsten Abwartung die Blätter verlieren und eingehen. Es ist dies eine ganz natürliche Erscheinung, die in den meisten Fällen ihre Ursache im Mangel des Lichtes haben wird. Sie kann aber auch im Staube der Zimmer begründet sein. Durch den Staub können nämlich die Speltöffnungen sehr leicht verstopft werden. Deshalb müssen die Blätter der Zimmerpflanzen von Zeit zu Zeit abgewaschen werden. Da sich endlich durch sogenannten „Mehlthau,“ d. h. durch schmarotzende mikroskopisch kleine Pilze, welche sich im Innern der Blätter entwickeln und deren Zellgewebe zerstören, durch die kleberigen Ausscheidungen der Blattläuse, welche die Unterseite der Blätter überziehen und deren Speltöffnungen verstopfen (den sogenannten „Honigthau“), endlich durch die Schildläuse, welche mit ihrem in das Gewebe der Blätter eingebohrten Saugerüssel den Nahrungssaft herausziehen, die Thätigkeit der Blätter und in Folge davon der gesammte Ernährungsprozeß der Pflanze im hohen Grade beeinträchtigt und endlich deren Tod herbeigeführt werden müsse, versteht sich von selbst.
Zum Schlusse will ich noch einige Bemerkungen über den eigentlichen und wahren bereits zu Anfange dieses Aufsatzes angedeuteten Nutzen hinzufügen, den die Blätter dem Menschen und der gesammten animalischen Schöpfung bringen: Durch den Athmungsprozeß der Thiere und Menschen wird der Atmosphäre fortwährend ein sehr bedeutender Theil ihres Sauerstoffgehalts entzogen, indem jene Geschöpfe den Sauerstoff der eingeathmeten Luft in ihrem Körper größtentheils zurückbehalten, und blos eine sehr kohlenstoffreiche Luft wieder ausathmen. Dieser bedeutende Sauerstoffverlust, den die Luft durch den Athmungsprozeß der Thiere erleidet, wird durch denjenigen der Pflanzen wieder ersetzt. Zugleich wird der Ueberschuß von Kohlensäure, der durch die Respiration der Thiere und Pflanzen in die Luft kommt, durch den Einathmungsprozeß der Pflanzen wieder entfernt. Denn die Absorption von Kohlensäure und der Luft durch die Blätter ist weit bedeutender als die Aushauchung von Kohlensäure in die Luft. Wir sehen also, daß ohne die Pflanzen, und noch specieller gefaßt, ohne die Blätter die Luft, diese wichtigste Bedingung des animalischen Lebens, für Thiere und Menschen am Ende irrespirabel, d. h. zum Athmungsprozeß untauglich werden, daß Thiere und Menschen ersticken würden. Aber die Blätter erhalten nicht allein das Gleichgewicht der die atmosphärische Luft zusammensetzenden Gasarten, sie sind auch eine nie versiegende Quelle für das zweite zum Leben der animalischen und der vegetativen Schöpfung unentbehrliche Bedürfniß, für das Wasser. Außer dem Respirationsprozesse erfolgt nämlich durch die Blätter auch eine bedeutende Aushauchung von Wasserdampf. Theils dadurch, daß die Pflanzen sowohl aus dem Boden tropfbar flüssiges, als aus der Luft dampfförmiges Wasser durch die Wurzeln und durch die jüngern Theile ihres in die der Luft befindlichen Körpers im Uebermaß aufnehmen theils dadurch, daß in Folge des Assimilationsprozesses fortwährend auch Wasser gebildet wird, entsteht im Innern des Pflanzenkörpers ein Ueberfluß von Wasser, welcher in Dampfform an die Oberfläche der jüngern und grünen Pflanzentheile, besondersaber durch die Blätter wieder ausgeschieden wird. Hierdurch wird also die Luft fortwährend durch die Pflanzen, und besonders durch die Blätter [39] mit Wasserdampfe versorgt. Je üppiger, je blattreicher die Vegetation einer Gegend ist, desto mehr Wasserdampf wird deren Atmosphäre enthalten, desto häufigerer atmosphärischer Niederschläge, namentlich Thau und Regen wird sich dieselbe erfreuen und desto mehr Quellen und folglich auch Bäche und Flüsse wird sie besitzen. Da nun ein Baum viel mehr Blätter besitzt als ein krautartiges Gewächs, so versteht es sich von selbst, daß Waldungen eine Hauptquelle der Wasserbildung sein werden. Hieraus ergiebt sich die nie genug einzuschärfende Wichtigkeit der Erhaltung der Wälder. In allen Gegenden, welche keine hohen die Schneegrenze überschreitenden Gebirge besitzen, unterhalten sie allein die Quellen und Flüsse. Dies gilt ganz besondere von denjenigen Gegenden des Erdballes, wo es, wie im Süden von Europa im Sommer wenig, oft gar nicht regnet, aus Ursachen, deren Erörterung nicht hierher gehört, und wo daher die Pflanzenwelt wie die Quellen auf den Niederschlag des in der Luft befindlichen Wasserdampfes, d. h. auf den Thau angewiesen sind. Durch Vernichtung der Wälder können solche Gegenden, auch wenn sie den fruchtbarsten Boden besitzen, für ewige Zeiten in dürre, unwirthbare Steppen umgewandelt werden, indem die Quellen versiegen. Hunderte von weiten Landstrichen, die in den Umgebungen des mittelländischen Meeres gelegenen Länder, besonders Kleinasiens, Griechenlands und Spaniens, wo theils in Folge der Bedürfnisse einer mehrtausendjahrigen Kultur, theils durch den Unverstand der Bewohner die ursprünglich vorhandenen Waldungen vernichtet worden sind, legen das sprechendste Zeugniß für die Wichtigkeit der Wälder ab, denn während jene Gegenden nach historischen Documenten ehedem, als sie noch Wälder besaßen in üppigster Fruchtbarkeit prangten, sind sie jetzt grauenvolle, nackte, sonnenverbrannte Einöden.
– – Drei Tage waren wir bereits in dem endlosen pfadlosen Walde gegangen, zwei Nächte hatten wir in seinem Schatten geschlafen, und noch immer zeigte sich keine menschliche Wohnung, kein Ende des Baumlabyrinthes. Mein Freund war noch weit erschöpfter als ich; in den letzten zwei Stunden hatte ich ihn oft stolpern sehen, und als wir plötzlich an einem tiefen schleichenden Wasser standen, das uns das Weitergehen in der angenommenen Richtung versperrte, setzte er sich nieder und sagte, er könne nicht weiter gehen und wolle lieber da sterben.
Was war zu thun? Ich sprach dem Freunde Muth zu und forderte ihn auf, sich auf mich zu stützen; er schüttelte statt aller Antwort mit dem Kopfe. Sollte ich ihn verlassen oder bei ihm bleiben und mit ihm untergehen? Nach ernster Ueberlegung entschied ich mich für das Erstere, denn es blieb doch eine Möglichkeit, daß ich aus dem Walde hinaus käme und einen Menschen fände, mit dessen Hülfe ich den Verlassenen holen könnte.
So theilte ich mit ihm den geringen Vorrath von Lebensmitteln, ließ ihm Schwefelhölzchen zurück, damit er Feuer anmachen könnte, nahm ihm das Versprechen ab, von dem stillen Flusse sich nicht weit zu entfernen, damit man ihn leichter finde und wanderte mit schwerem Herzen weiter.
Es war ein heißer Sommertag und kein Blatt regte sich. Meine Kräfte schwanden ebenfalls mehr und mehr. Der Weg durch einen Urwald ist unbeschreiblich beschwerlich; buchstäblich bei jedem Schritte finden sich Hindernisse: ein Baumstumpf, ein stacheliger herabgestürzter Fichtenwipfel, ein undurchdringliches stechendes Dickicht, ein Morast mit schwarzem, glänzendem, weichem Boden, ein Gewirr von kriechenden Gewächsen, aufgeschichtete Felsen und – Durst! Durst! Das Wasser in dem stillen Flusse, an dem ich mich immer hielt, war lau und erregte heftigen Ekel nach dem Genusse.
Ich taumelte mehr weiter als ich ging; mehrmals hatte ich mit Gewalt die Sehnsucht niederzukämpfen, wie der verlassene Freund das Weiterwandern aufzugeben, mich hinzulegen und den Tod zu erwarten. Zum Glück gelang es mir immer mich wieder aufzuraffen. So kam allmälig der Abend heran, freilich ohne daß sich ein Ende des Waldes zeigte. Nur die Beschaffenheit des Bodens änderte sich allmälig; es ging etwas aufwärts, das Wasser in dem Flusse strömte rascher und wurde klarer und endlich kam ich an eine Stelle, die zu einem Nachtlager sich vortrefflich zu eignen schien. An dem Flusse lag ein grünes Plätzchen, das nach dem Walde zu drei Baumriesen schlossen, zwischen denen ein dichter Buschvorhang eine Art Wand bildete.
Hier zündete ich mir ein Feuer an, fing mir ein paar Fische, kochte sie mit Speck in der Pfanne, die ich natürlich bei mir getragen hatte, aß und – beschmierte mir Gesicht und Hände, wie es der Wanderer im Walde thun muß, mit dem warmen Schweinefett.
„Pfui!“ denken wahrscheinlich die Leser. „Warum dies?“
In den Wäldern Amerika’s giebt es drei unerträgliche Plagen – Muskitos, Mücken und Sandfliegen. Diese verfolgen den Menschen mit unermüdlichem Eifer und zapfen ihm das Blut ab.
Die Muskitos kann er todtschlagen – wenn er sie bekommt. Die Mücken sind so klein, daß man sie kaum sieht, und folglich schwer zu fangen und zu tödten. Die Sandfliegen endlich schwärmen in so dichten Schaaren umher, daß ein Fangen und Erschlagen derselben ein völlig hoffnungsloses Unternehmen bleibt. Ein tüchtiger Fettüberzug auf Gesicht und Händen ist der beste Schutz gegen die kleinen Feinde. Die Mücken wagen es nicht, sich darauf zu setzen, weil sie kleben bleiben; die Sandfliegen und Muskitos scheinen schon vor dem Geruche des Fettes eine Abneigung zu haben. Ich saß oft Stunden lang da, ohne ein einziges Mal gestochen zu werden, obwohl die Sandfliegen in so dichten Wolken mich umschwärmten, daß ich den Mund nicht aufthun konnte, ohne einige hinein zu bekommen, und sie mir in die Nase und die Augen krochen. Sich so von Millionen kleiner Teufel umsummt zu hören, die ihre Bosheit nicht ausüben können, ist die schönste Serenade, die man sich denken kann.
Nach dem Einreiben mit Fett war das Nächste, mein Bett zurecht zu machen. Ich schnitt eine junge Fichte mit weichen Nadeln ab und streute die Zweige auf einen Platz sechs Fuß lang und zwei Fuß breit, suchte mir dann weiteres Brennholz, um das Feuer zu unterhalten und legte mich nieder um zu schlafen. Auf dem weichen, duftigen Lager, nach der heftigen Anstrengung, schlummerte ich bald ein. In der Nacht wurde ich indeß durch ein Gefühl unangenehmer Wärme bald geweckt. Kein Wunder; da ich mein Feuer auf Grasboden angemacht hatte, das aus hunderten von Schichten abgestorbener Pflanzen bestand, so fraß es unter und um sich, und als ich erwachte, war es mir bereits so nahe gekommen, daß ich in unruhigem Schlafe mich selbst hinein gerollt haben würde.
Ich sprang auf, räumte mein Lager mehre Schritte weit hinweg an eine Stelle, nach welcher das Feuer sich nicht zu wenden schien und legte mich wieder nieder. Wie es aber zu gehen pflegt, wenn der Schlaf im Anfange plötzlich unterbrochen wird, die Fortsetzung desselben ist dann meist unruhig und von Träumen gestört.
Auch ich träumte und träumte seltsam. Mir war es, als sei ich der Erde entrückt, und aus großer Tiefe unter mir dringe ein schauerliches Gemisch zahlloser Menschenstimmen zu mir herauf. Es klang wie ununterbrochene Klagelaute, leise murmelnd wie das ferne Rauschen des Meeres. Aber das Menschliche in den Tönen und das Klagende derselben erkannte ich genau. Dazwischen vernahm ich Töne, die wie Hohn klangen, als sei ich von unsichtbaren Feinden umgeben, und ich empfand eine unbeschreibliche Angst, sie würden mich fassen und mich hinunterschleudern in die bodenlose Tiefe unter mir.
Das dauerte lange und ich mag wohl sehr schwer geathmet haben. Allmälig schien das Klaggeschrei unten lauter und vernehmlicher zu werden, als ob die jammernde Menge zu mir heraufsteige oder ich zu ihr hinunter sinke. Aus dem allgemeinen Gemurmel traten mitunter einzelne Stimmen hervor und näher und immer näher kamen sie mir. Endlich schienen die Stimmen wie ein wildes Heer an mir vorüber zu sausen; sie berührten mich fast; ich fühlte mich mitten unter ihnen; das Entsetzen schnürte mir die [40] Kehle zu; ich wollte schreien, ich wollte fliehen; vergebens, denn ich brachte keinen Laut über meine Lippen, ich konnte kein Glied rühren.
Endlich erstickte ich fast vor Angst, ich nahm alle meine Kräfte zusammen und – sprang auf.
Es war die höchste Zeit. Der Rauch erstickte mich; das Feuer hatte weiter und weiter um sich gefressen; es hatte selbst mein Lager schon ergriffen, es knisterte, es zischte, es murmelte unter den dürren Blättern und Gräsern; es lief an den Büschen und Bäumen hinan. Was ich im Traume gehört hatte, waren die Stimmen der Flammen, die mir näher und näher gekommen und größer und gewaltiger geworden waren. Eine große Fichte brannte bereits oben am Gipfel und stand wie eine riesige Fackel in der finstern Nacht.
Es blieb mir nichts übrig, als einen Kampf mit dem Elemente zu beginnen. Wenn ich nicht kräftige Maßregeln ergriff, konnte der ungeheuerste Waldbrand entstehen, denn es war mehrere Wochen lang sehr dürr gewesen, und dann war ich nebst dem verlassenen Freunde und Allem verloren, was der Wald in seinem Schooße barg. Ich nahm mein Beil und hieb an der äußersten Grenze des Feuers die brennenden Zweige und Büsche nieder, warf sie in den großen Feuerherd in der Mitte oder versuchte sie auszutreten. An der Flußseite half ich mir mit Wasser, das ich mittelst der Bratpfanne in die Glut spritzte.
Nach einer Arbeit von einer halben Stunde etwa glaubte ich gesiegt und das Feuer gebannt zu haben. Ich legte mich nochmals hin, aber ich schlummerte nur eine ganz kurze Zeit. Das Feuer erwachte von Neuem und ich mit ihm. Ich sprang wieder auf. Dichte Wolken am Himmel bargen Mond- und Sternenlicht und um den kleinen Feuerkreis vor mir lag die schwärzeste Nacht wie eine Mauer. Eine gewaltige Wurzelmasse, die vor Jahren irgend einen längst verfaulten Baumriesen genährt und getragen, hatte Feuer gefangen. Wie ein großer Feueraltar stand sie vor mir. Aber da hinter ihm – was ist das? Eine Gestalt! Ist es ein Indianer, der einen weißen Feind vor sich sieht und nur auf eine bequeme Gelegenheit wartet, ihn zu erschlagen und zu berauben? Eine einzige Kugel, und Niemand wußte, wo ich geblieben. Sollte ich ruhig stehen bleiben als Zielpunkt für den rothen Mann? Nein! Rasch trat ich in das Dunkel des Waldes hinein und versuchte hinter den brennenden Wurzelstumpf zu schleichen, um mir den Gegner genauer anzusehen.
Ein grauer kahler Baumstamm war es, der mich geängstigt hatte.
Ich kehrte beruhigt an meine Lagerstätte zurück, und da das Feuer nicht weiter um sich greifen zu können schien, wollte ich mich nochmals niederlegen. Aber es war fast Morgen und ich zu wach, als daß ich weiter hätte schlafen können, zumal mein Bett verbrannt war und die Hände mir schmerzten von Brand- und Kratzwunden. So gab ich jeden weitern Versuch auf, kochte mir ein Frühstück, ganz gleich dem Abendessen und verzehrte es mit dem eigenthümlichen Appetite, den man fühlt, wenn man unruhig, kalt und in den Kleidern geschlafen hat.
Der Morgen dämmerte; Gras und Blätter wurden naß vom Thau; hier und da stiegen Morgennebelflocken auf; einzelne Vögel begannen sich zu regen und zu zwitschern; das Dunkel im Walde wurde schwächer und schwächer und an einzelnen hohen Baumwipfeln zeigte sich der rosige Schein der Morgenröthe.
Wie war es aber dem ermatteten Freunde ergangen, den ich verlassen? Was sollte ich thun?
Es war nutzlos den Weg zurück zu machen und den Wandergefährten aufzusuchen, also, – weiter, weiter wandern!
Ich brach auf mit dem Muthe der Verzweiflung und bahnte mir mit unsäglichen Beschwerden einen Weg an dem Flusse hin. Es mochten etwa zwei Stunden vergangen sein, als ich plötzlich über dem Flusse drüben an einem Hügel einen Platz bemerkte, wo keine Bäume, aber viele Baumstümpfe standen und – da ein Stück Feld! Es mußte also ein Mensch, es mußten Menschen in der Nähe sein. Wie stärkte dieser Anblick meine Glieder! Der Fluß schien nicht sehr tief mehr zu sein; mit raschem Entschluß trat ich also hinein und watete hindurch. Eilig schritt ich dem Felde, dem Hügel zu. An der andern Seite desselben stand ein Haus; weiter hin lichtete sich der Wald mehr und mehr; da spannte sich eine Brücke über einen Bach, der sich in den Fluß ergoß und dort, ja dort ragten noch mehrere Häuser zwischen Bäumen hervor.
Ich stürzte in das erste Haus hinein, und mein Aussehen muß seltsam genug gewesen sein, denn die Leute erschraken offenbar. Sie waren aber freundlich und gutmüthig und hörten die Bitte theilnehmend an, die ich ihnen vor allem vortrug, die Bitte, meinen verlassenen Freund zu suchen, zu holen, am besten in einem Boote.
Der Farmer besaß ein Boot, und war sogleich bereit, Einen seiner Leute fortzuschicken. Aber würde dieser allein die nöthige Ausdauer gehabt haben? Ich selbst wollte mitfahren und ließ mich von dem Unternehmen nicht abbringen.
Wir setzten uns in das kleine Boot und fuhren den Fluß hinunter. Wir blickten dabei rechts und links in das Ufergebüsch; wir riefen sehr oft, aber weit waren wir in den Wald hinein gekommen und hatten keine Spur von einem Menschen gefunden, keine Antwort auf unser Rufen vernommen als das schwache Echo des Waldes. Endlich raschelte es in dem Gebüsch am Ufer, eine Stimme antwortete, und der Freund erschien. Aber kaum erkannte ich ihn. Von seinem Anzuge waren nur noch einzelne Fetzen übrig geblieben, die ihm um die Glieder hingen. Sein Gesicht war voll Blut und roth aufgeschwollen von zahllosen Insektenstichen und Bissen. Die Hände hatten kaum noch die Gestalt von menschlichen Händen. Er sank erschöpft in unser Boot und rührte sich da so wenig als er ein Wort sprach.
Erst später erzählte er, wie es ihm ergangen.
Er hatte eine Zeit lang gesessen und dann gegen sein Versprechen sich vorgenommen, weiter zu gehen, mir nach. Dabei hatte er über einen kleinen Arm des Flusses zu springen versucht, war aber hineingefallen, hatte sich vom Kopfe bis zu den Füßen durchnäßt, seine wenigen Lebensmittel verdorben und die Schwefelhölzer verloren. So konnte er, als die Nacht anbrach, kein Feuer anmachen und mußte sich hungrig in nassen Kleidern auf den kahlen Boden legen. Und wie sich gegen die Muskitos und die andern Feinde schützen? Er trug so viel Laub und dürre Zweige als möglich zusammen, kroch in diesen Haufen hinein, bedeckte sein Gesicht mit einem Tuche und hoffte so den Blutsaugern entgehen zu können. Aber sie fanden ihn und behandelten ihn, daß sein Gesicht bald aussah, wie ein roth aufgehender Vollmond. Beim ersten Grauen des Morgens brach er auf und setzte die mühselige Wanderung fort, bis wir ihn fanden.
Wir blieben zwei Tage bei dem Farmer, der uns so freundlich aufgenommen, hatten Gelegenheit da unsere Garderobe wieder etwas in Stand zu bringen, und setzten dann unverdrossen unsere Wanderung fort.
Was Alles in Deutschland früher getrunken wurde. Das Bier war von jeher ein Lieblingsgetränk der Deutschen, und es gehört in früherer Zeit sogar zum nicht geringen Stolze und Ruhme einer Stadt, ein gutes und kräftiges Bier zu brauen. Der Breyhan, welcher am meisten gebraut wurde, etwa so wie heutigen Tages das Lagerbier, verdankte seinen Namen einem gewissen Conrad Breyhan, der denselben 1526 in Stöcken, einem unweit Hannover gelegenen Dorfe, zuerst braute. Später findet man des Breyhans aller Orten erwähnt, woraus hervor geht, daß er allseitigen Beifall bei unsern Vorfahren gefunden haben muß. Unter den verschiedenen Namen, mit welchen die Biere damals getauft waren, stößt man auf so sonderbare, daß eine kurze Zusammenstellung nicht uninteressant erscheinen mag. In Goslar wurde Gose gebraut; in Dassel der Hund; zu Wettin der Reuterling; zu Königslutter der Duckstein; in Eckernförde gab es Quackelteis; in Wismar Kniesenack; zu Ratzeburg Rummeltheis; in Teschen trank man Marzerz; in Oppau Merz; Leipzig braute Rastrum; Zadeck (in Böhmen) Samecke; Gardeleben Garleg; zu Tecklenburg in Westphalen wurde Griesing verzapft; zu Osnabrück Buße; zu Münster Kolth; in Braunschweig Mume (giebt es bekanntlich jetzt noch): zu Breslau verkaufte man Schöps; München hatte seinen Bock, der gegenwärtig noch getrunken wird; am Gefährlichsten war es in einem Dorfe bei Jena, wo ein Bier gebraut wurde, welches den Namen Mord- und Todschlag führte.