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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1854
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 4. 1854.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.

Wöchentlich 1 bis 1 1/2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 10 Ngr. zu beziehen.


Vergiftet und erschossen.

Eine englische Mordgeschichte ohne Blutvergießen.


„Und der Hochzeitstag ist also wirklich festgesetzt?“

„Festgesetzt auf Lebenszeit in Eisen! Ohne Aussicht auf Gnade und endliche Befreiung!“

„Glücklicher Cranston! So eine ausgesuchte Schönheit! So ein capitaler Schatz!“

„Was sind fünfzehnhundert Pfund jährlich für meinen Tod, meinen Tod, Frank? Begraben ist ein unangenehmer Zufall, der Jedem im Leben passiren kann; aber heirathen. d. h. sich mit Absichtlichkeit selbst lebendig begraben, ist schlimmer, als sich aus Unvorsichtigkeit hängen.“

„Nun Du kommst wenigstens in kein einsames Grab. Dein Grab wird während der Parlamentssitzungen in ihrem Schlosse am Belgrave-Square, dem vornehmsten unter den Londoner Parks, im Herbst und Winter aber in Lincolnshire oder zwischen den Akazien, Statuen und Fontainen der Alameda von Malaga sein.“

„Also drei Särge! Doch was thut der zweite Sohn einen englischen Lords, dito Lieutenant von Ihrer Majestät schweren Dragonern nicht, um sich endlich mit einem Wesen von Rosenduft und junger Sahne in goldener Schüssel zu vereinigen, um gemeinsam mit ihr sauer zu werden, nachdem sie allein seine Schulden bezahlt hat. Ich hatte keine Wahl mehr; die Liebe siegte, denn nur meine Verlobungskarte bewog den Wüthendsten meiner geldhungrigen Shylocks, mir das bestimmte Logis in Queensbeech[1] nicht gewaltsam aufzudrängen.“

„Du bist sehr witzig, Cranston, aber ich denke, Du hast zu viel Witz, als daß Du nicht bessere Stoffe finden solltest, als Deine Braut.“

„Ich räche mich mit den Pfeilen des „Punch“ und „Diogenes“[2] gegen die Amors, womit sie mich verwundet.“

„Ungleiche Waffen! Ein Lordssohn und Vertheidiger des Thrones Ihrer Majestät“ –

„Reize mich nicht, Frank! Bin ich nicht schon lächerlich genug als kaingestempelter Ehemann? Und Du erinnerst an meine Vaterlandsvertheidigung unter lauter Elihu Burrit’schen Friedenstauben und baumwollen gestopften Puppenbälgen von Menschen! Was hatten wir bewaffnet in der Besikabai als unsere Augen? Was sind wir? Opernguker! Farbloses Frauenglas in rothgesottener Krebsfarbe mit russischer[3] fauler Bärenhaut auf dem Kopfe, unsere russenfreundliche, in den Haaren lebendige Gesinnung vor Schnupfen zu schützen!“

„Hast Du keine scharfe Haarbürste, Cranston?“

„Ha! ha! ha! Sehr gut, Frank! Aber was hilft uns die Reinlichkeit auswendig, wenn aus den großen Raupen, die wir im Kopfe hatten, solche sibirische Schmetterlinge ohne Flügel herauskriechen?“

„Das mache mit Aberdeen und Cobdenoffsky ab. Ich wollte Dir nur rathen, Dich in Bezug auf Deine Braut mehr wie ein Gentleman auszudrücken. Miß Sandford ist unsere beiderseitige Verwandte. Was Dir Dein Herz nicht sagt, laß Dir von Deinem Vetter und Freunde rathen.“

„Ah mein Mentor! Meine bessere Hälfte auch von einer andern Seite. Die leibhaftige Kunst, sich in guter Gesellschaft beliebt zu machen.“

„Im Ernste, Karl, Du willst sie wirklich blos Deiner Schulden wegen heirathen?“

„Im Ernste, lieber Cousin, denkst Du wirklich, daß ich mit meinen achtundzwanzig Jahren, meinem Schnurrbarte, meinem Witze und Leichtsinn, der Löwe von ein Dutzend Saisons, expreß so schön aufgewachsen, um die Schönsten vor mir niederfallen zu sehen (denn die Häßlichen bring ich auf, damit sie nicht fallen), daß ich mich mit Miß Sandford gegen alle diese Casus verschließen –“

„Nimm mir’s nicht übel, aber wenn ich bedenke, daß ein Mensch von Deinem Talent und Deiner ehemaligen ehrenhaften Gesinnung, der eine Zierde der guten Gesellschaft hätte werden können, ich meine in moralischer Beziehung –“

O ich merke! Mal still! Laß uns doch sehen, was Sr. Ehrwürden, mein Bischof von London mit 100,000 Pfund jährlich sein könnender Cousin Alles aus mir hätte fabriziren können! Ah! Sonntagsschulen, Versammlungen zur Unterstützung von Missionären im Innern Afrika’s und allgemeine Verdienste um die Menschheit mit jährlich zehn Schillingen für die Lumpenschulen. Nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft in hochkirchlichem Glanze mit weißem Halstuche und baumwollenem Regenschirm. Und was für irdische Freuden neben diesen himmlischen? O, ich weiß! Auserwählte und gebildete, makellose Gesellschaft, ehrwürdige Männer mit einer Reihe von Knöpfen[4], und Damen – oh! – all’ Eure anbetungswürdigen Miß und Missus in blaustrümpfiger [36] Heiligkeit. – Still, laß mich ausreden – Heiligkeit in Gesellschaft ehrwürdiger Matronen und Candidatinnen Hymens zwischen 40 und 60, jede mit 4 bis 5 Hunden und 6 bis 10 Katzen – jede mit einer besondern Biographie und Krankengeschichte – reizende Reunions, frühes Nachhausegehen, nützliche Unterhaltung, schwacher Thee. Berliner Stickmuster, gebutterte Toaste und allgemeines Wohlwollen zweimal die Woche. Ja, ja, Frank, ich wollte, Du hättest aus mir gottlosen Dragoner einen frommen Küster gemacht, wenn ich Dir gefolgt wäre.“

„Mit solchen Gesinnungen darfst Du Miß Sandford nicht heirathen. oder Du bist ein –“

„Bewohner von Queensbeech.“

„Nein, ein – Schuft.“

Frank war roth vor Zorn aufgesprungen und ging. Cranston folgte ihm mit geballter Faust. Frank wendete sich um, sah ihn fest an und schien auf das Aergste gefaßt zu sein. Cranston konnte den Blick nicht aushalten, kehrte um und warf sich verächtlich in einen großen Federstuhl. Mit den Worten: „ein Schuft“, noch einmal in zischender Wuth durch die Zähne gepreßt, schloß Frank die Thür, durch welche er gegangen war.

Cranston blieb eine Weile blaß und zitternd in seinem prächtigen Sammetstuhle halb liegend sitzen und drehte eifrig den Schnurrbart. Endlich sprang er auf. zündete sich eine andere Cigarre an, besah sich im Spiegel und verglich sich dann mit seinem Portrait, das in lebensgroßer, männlicher, blühender Schönheit auf ihn herabsah. Dann fing er an zu lesen, warf aber das Buch bald wieder auf den Tisch, pfiff Reminiscenzen einer neuen Polka and zog dabei ein zierliches Briefchen aus dem Taschenbuche, um es pfeifend noch einmal zu überlesen. Dies veranlaßte ihn, plötzlich zu klingeln und dem Diener zu befehlen, daß man seine „Fliege“[5] vorfahre.

Die Offiziere der Pferde-Garde[6] gaben ja heute Abend den ersten Künstlern und Künstlerinnen des kleinen St. James-Theaters ein Soupé, ein splendides Nachtmahl, und er war eingeladen, und die schönste Prinzessin der Idealwelt von St. James hatte ihn in dem erwähnten Billetchen inständigst gebeten, doch ja zu kommen, damit sie sehe, ob er aus seiner neuen Bräutigamsrolle nicht durchfallen werde.

Und täuschte sich Miß Sandford denn wirklich so sehr in den wahren Gesinnungen und Sitten ihres Verlobten? Sie gehörte der strengsten, guten Gesellschaft Englands an, wo der kleinste sittliche Makel, sobald er bekannt geworden, die Thüren verschließt. Und Cranston’s Ruf war in ihren Kreisen kein Geheimniß mehr. Auch hatten es Tanten und namentlich jungfräuliche Blaustrümpfe in der ersten Blüthe ihrer Vierziger durchaus nicht an herzergreifenden tugendhaften Warnungen und Hinweisen auf schmachtend lauernde bessere Partieen fehlen lassen. Man könnte sagen: sie liebte ihn einmal und er trug eine Offiziersuniform; aber erstens stehen die Uniformen in England grade in dem Rufe, daß, sobald ein Mädchen aus der höhern Gesellschaft sich mit einem Offizier gefunden hat, letzterer vor allen Dingen seine Uniform auszieht und seinen Abschied nimmt, zweitens liebte sie wirklich und zwar mit der reinsten Flamme, die nichts auslöschen kann, als die Entweihung des Mannes, die Entweihung seiner Liebe und Ehre. Sie liebte ihn um so inniger, weil sie in ihrer Liebe die Verpflichtung und Macht erkannte, ihn, den schönen, ursprünglich edeln Mann von dem Abgrunde zurückzuziehen, in den er ohne sie stürzen würde. Seine Liebe zu ihr, an die sie fest glaubte, war gerade das einzige Band, mit dem er mit seinem frühern bessern Selbst (und sie hatten sich von Kindheit an gekannt) wieder in Verbindung trat. So wies sie alle Warnungen und Verläumdungen ab und hatte nach Veröffentlichung ihrer Verlobung sich alle dergleichen Zuträgereien so ernst verbeten, daß sie jedesmal das Zimmer verließ, wenn wohlmeinende Freundinnen „von reiferer Erfahrung“ sich auf diese Weise nützlich machen wollten. Cranston stellte sich alle Tage zweimal ein und scherzte in der liebenswürdigsten Weise mit ihr über seine Unwürdigkeit vor den Augen gewisser hochkirchlichen Tugend-Tanten, die Miß Sandford auch nicht liebte, da ihre Tugend und Reinheit ächt war, so daß sie in der Verachtung der kirchlichen Heuchelei, welche wie ein Gift durch die gute Gesellschaft Englands schleicht, wirklich mit ihrem Verlobten übereinstimmte. Cranston’s Besuche blieben regelmäßig, bis er eines Morgens von einem Diener abgewiesen ward: Miß Sandford sei so ernstlich erkrankt, daß sie Niemanden sehen dürfe. Sofort verdoppelte er seine doppelten Besuche jeden Tag und ließ es auch nicht an Briefen fehlen, die aber alle unbeantwortet blieben. Das war sehr beunruhigend für einen Bräutigam, der zwischen dem Himmel der Ehe und der Hölle des Schuldgefängnisses keine Wahl mehr hatte, besonders beunruhigend aber, als er bestimmt erfuhr, daß Cousin Frank, der ihr früher sehr stark aufgewartet hatte, und mehrere andere nähere Freunde bei Miß Sandford Zutritt gefunden hatten. Jetzt schrieb er mit den Qualen verschmähter Liebe, mit bengalischen Flammen, und bat bei Allem, was ihr heilig sei, um Erklärung. Auch dieser Brief blieb ohne Beachtung. Nur noch eine Woche blieb übrig bis zu dem beiderseitig verabredeten Hochzeitstage, und zugleich stellten sich Freunde und Feinde, Juden und Heiden und Christen mit Rechnungen von verschiedener Länge und lauter sehr hohen Graden von Zudringlichkeit ein mit dem Bemerken, daß sie gehört hätten, der beabsichtigte heilige Bund mit 1500 Pfund jährlicher, sicherer Rente solle nicht geschlossen werden. So ein paar Tage später beinahe zum Wahnsinn getrieben, ergriff er wieder die Feder und bat, beschwor, raste und forderte bestimmt und trotzig eine schleunige Antwort. Diese erhielt er denn auch sehr schnell und sehr kurz.

               – „Square – – 1853.

Sie bewarben sich um mich und erhielten mein Wort. Das will ich getreu halten – fürchten Sie nichts. Ich will Sie an dem bestimmten Tage zur bestimmten Stunde in der Kirche sehen, aber nicht eher. Beschwichtigen Sie Ihre Ungeduld und zärtliche Bekümmerniß bis zu dieser Stunde, in welcher Sie jede Auskunft erhalten werden von           Alice Sandford.“

Es wäre vergebens, das Erstaunen, die Furcht, die Zweifel, die Hoffnungen, die Legionen von versuchten Auflösungen des Räthsels, kurz den Seelenzustand Cranston’s nach dieser Epistel zu malen. Der Hochzeitstag kam und auch die Stunde und die Equipagen mit den Hochzeitsgästen und Zeugen, alle aus der hohen Gesellschaft, in doppelter und dreifacher Anzahl, abgesehen von Tausenden Neugieriger, die Zufall und Hoffnung auf effektvollen Scandal herbeigetrieben hatte.

Miß Sandford war pünktlich. Sie trug sich durchaus weiß, aber im auffallendsten Grade einfach, ohne eine Spur von Schmuck. Sie trug sich nicht wie eine Braut und sah auch nicht so aus. Außerdem begleitete sie Niemand, als ihr ehemaliger Vormund, der sie vor den Altar hinstellte wie eine Bildsäule. Cranston wollte sich ihr nähern, der Vormund winkte ihn aber zu sich, indem er zugleich dem Prediger ein Zeichen gab, vor den Altar zu treten. Sobald dieser dastand, schob er den Bräutigam vor und die Traurede begann. Die ganze Kirche voll Zuschauer und Zeugen besonders weiblichen Geschlechts schien gleichsam auf den Zehen zu stehen und athemlos zu horchen und lange Hälse über einander weg zu machen, worin besonders einige ungläubige Gläubiger ein so schreckliches Talent entwickelten, daß sie ihrer natürlichen Lunge eine volle Elle zuzusetzen schienen und die Vatermörder, im natürlichen Zustande bis an die Nase reichend, leer in die Luft starrten, da der unterste Theil des Gesichts hoch über ihren höchsten Spitzen erst allmälig anfing.

Aber die Trauungsfeierlichkeit ging ohne alle äußerliche Störung vor sich. Wenigstens bemerkten nur die Näherstehenden, daß sich die Braut zu Ende der Feierlichkeit an ihren – Mann mit vollem Gesichte umwandte, ihm ein niedliches Portefeuille einhändigte und ihm etwas in’s Ohr flüsterte.

Nachdem der Geistliche das letzte Wort gesprochen und Cranston ihr den Arm bot, wandte sie sich rasch an ihren Vormnnd, der sie so schnell zur Kirche hinausführte, als das Gedränge irgend erlauben wollte. Jetzt drängte die Menge zugleich so fanatisch hinter ihr her, daß es Cranston unmöglich war, sofort zu folgen. Als er sich endlich mit steigender Wuth und Verzweiflung durchgearbeitet hatte, konnte er sie nur eben im vollen Fluge der Pferde davoneilen sehen. Er rief ihr nach, doch natürlich vergebens. So sprang er in seinen Wagen und befahl nachzufahren. Ihre Equipage hatte einen so bedeutenden Vorsprung, daß er ihr schwerlich nachgekommen wäre, wenn nicht in einer Hauptstraße ein unendliches Gewirr von Omnibussen, Lastwagen, Droschken und hunderterlei verschiedenartiger Karren alles Räderwerk des Verkehrs gehemmt [37] hätte. Er holte sie ein, sprang heraus und trat mitten in dem Wagengewühl an ihre Equipage heran, die aber in englischer Manier keine Seitenfenster hatte, so daß er sie weder zu sehen noch zu sprechen vermochte. Inzwischen entwirrte sich das Wagenlabyrinth und der Kutscher vorn trieb die Pferde wieder an. Cranston sprang vor und griff ihnen in die Zügel. Der Kutscher winkte einem Policeman, von denen Keiner in London in Bezug auf die Hemmung des Verkehrs Spaß verstehen darf. So riß er ihn unsanft zurück auf’s Trottoir und er sah seine junge Gemahlin wieder davoneilen. Während er ihr in seinem Wagen wieder nachsetzte, sah er bald, daß sie ihre Richtung nach einem Eisenbahnhofe inne hielt. Dieser war bald erreicht. Er versuchte ihr beim Einsteigen in den Weg zu treten, wurde aber hier von Frank, der ihr entgegeneilte, erst mit Worten, dann entschieden körperlich aufgehalten, sich ihr zu nähern. Er wollte mit Wuth und Verzweiflung ihn von sich schleudern, aber Frank hielt fest und wiederholte: „ich schütze sie nöthigenfalls mit meinem Leben vor Dir, wie ich versprochen.“ Die Menge, welche sich sofort um diese Scene drängte, veranlaßte Beide, sich in die Grenzen des äußeren Anstandes zurückzuziehen. Cranston nahm sogar eine sehr herrische Haltung an und schien Frank keines Blickes zu würdigen. Er behielt nur den Ausgang aus den Passagierzimmern erster Klasse im Auge und schien im Uebrigen so gleichgültig auszusehen, wie alle vornehmen Engländer.

Als schon die Thüren der Waggons geschlossen wurden, stürzte sich die sonderbarste aller eben getrauten jungen Frauen heraus und verschwand in einem der Coupees. Cranston riß sich jetzt von den Armen Frank’s mit Riesengewalt los und war im Nu in dasselbe Coupee gesprungen. In demselben Augenblicke flog aber auch Miß Sandford, wie wir sie noch nennen müssen, heraus und da der Zug sich schon in Bewegung gesetzt hatte, schloß ein Einsenbahnbeamter, entrüstet die paar möglichen Schritte noch neben her laufen zu müssen, das Coupee, indem er Cranston unwillig zurückstieß. Der Neuvermählte war so im davonrasenden Zuge gefangen und Miß Sandford fuhr mit ihrem ehemaligen Vormunde und Frank in ihrem Wagen schleunigst davon. –

Nach einigen Stunden war Cranston natürlich zurück und tobte im Hause seiner „Frau“ wie ein ächter Ehe-Tyrann herum, maltraitirte männliche Diener, schickte weibliche Dienstboten aus dem Dienste, da Keiner sagen wollte oder konnte, wo seine „Frau“ geblieben sei und schien im Ganzen beinahe kein menschliches Wesen mehr, geschweige ein liebender Gatte. Alles um ihn herum verlor den Kopf und folgte zitternd dem seinigen. Der ehemalige Vormund, der sich am hartnäckigsten zeigte, ward als ein „ungebetener Hochzeitsgast“ mit Polizei aus dem Hause gewiesen und überhaupt Alles hinausgeworfen, was die geringste Widersetzlichkeit kund gab. Mit einigen Dienern, die sich gefügt hatten, traf er neue Arrangements nach seinem Geschmack im Hause und begab sich dann in seine alte Junggesellenwohnung. Hier erwarteten ihn verzweifelte Gläubiger, die er aber alle glücklich machte, indem er das Portefeuille zog, welches ihm bei der Trauung in die Tasche geglitten war. Bei dieser Operation entdeckte er erst zwei Briefe von weiblicher Hand, den einen von ihr, den andern von der Schauspielerin, der ihm also vom Zimmer gestohlen worden war. Sie schrieb ihm, daß in dem Portefeuille Alles enthalten sei, was ihm an ihr liebenswürdig und des Besitzes werth erschienen; für’s Uebrige wollten und müßten sie in seinem Interesse für ewig geschieden sein. Er ward blaß, stellte seine Zahlungen ein und blieb wohl eine Stunde allein. Draußen entstand Heulen und Zähneklappern, denn es hieß, die Quelle des neuen Lebens sei erschöpft, der Mann habe allen Werth verloren. Als er aus dem Hause kam, traten ihm die noch übrigen Geschäftsfreunde in den verschiedensten Positionen in den Weg, wohl wissend, daß sie auf der Straße kein Recht hatten, sich auf eindringliche Weise bemerkbar zu machen. Er aber kehrte stolz und leicht mit ihnen um und ließ die Banknoten fliegen, wie einer der Tausende die Zettel, worin Aerzte, Schuster und Hutmacher ihre billigsten und besten Waaren im Königreiche empfehlen, auf den Straßen beinahe gewaltsam dem Publikum aufdringt.

Später sahen ihn die Leute fortfahren, und schon am folgenden Morgen hieß es in der guten Gesellschaft, Miß Sandford habe sich vergiftet, Cranston aber erschossen. Man anklagte ihre Seelen, die nun in ihren Sünden und mit einer Todsünde hinübergefahren seien, und lief und fuhr umher, um zu erfahren, ob sich Miß Sandford wirklich mit Lorbeergeist oder blos mit gewöhnlicher Blausäure vergiftet habe.

Mit Hülfe einiger Sovereign’s, denen in England Niemand so leicht widersteht, hatte Cranston indeß den Aufenthalt seiner Frau bald erfahren. Entschlossen, sich ihr gegenüber als Mann geltend zu machen und den Gründen auf die Spur zu kommen, aus denen so romantische Verwüstung hervorgegangen, suchte er sie auf und folgte dem Diener auf dem Fuße, ohne auf irgend eine Förmlichkeit Rücksicht zu nehmen. Rasch trat er ein und dicht vor Alice hin, die ihn ohne Ueberraschung kalt ansah und dann die Thür suchte. Er ergriff fest ihre Hand und sagte vorwurfsvoll: „Alice, Du hast als schwaches Weib gehandelt, ich als starker Mann und so will ich auch ferner. Du darfst Dich nicht entfernen, ohne Deine Schuld an mich abzutragen.“

„Alles, was Ihnen zukommt, war in dem Portefeuille enthalten.“

„Alice, denke Deiner würdiger. Kannst Du einem Manne Herz und Hand gegeben haben, der so niedrig steht? Du hast mich geliebt, Du liebst mich, sonst ständest Du niedriger, als ich jetzt in Deinen Augen. Deshalb, Alice, mußt Du zunächst selbst anerkennen, daß Du Dich in Deinem Herzen verpflichtet fühlst, vor allen Dingen das Aergerniß, das Du Dir und mir öffentlich gegeben, zu erklären.“

„Gut denn. Sie wollten durch die Kirche und meine Kasse dem Schuldgefängniß entgehen. Ich habe Sie so sehr geliebt, daß ich mich entschloß, Ihnen diesen Wunsch zu erfüllen. Sie bekamen durch den Trauungsakt ein Recht auf mein Vermögen. Dieses erhielten Sie. Auf meine Person haben Sie keine Ansprüche.“

„Doch Alice! Doch!“

„Ich werde jeden Anspruch zurückweisen und mich in dem Augenblicke tödten, wo ein Mensch, den ich verachte, der auf der niedrigsten Stufe anlangte, sich – sich –“

„Jetzt sag’ mir deutlich und schlicht, warum Du mich verachtest.“

„Ich will es. Ich will auch diese Erniedrigung noch ertragen. Ihnen in’s Gesicht zu sagen, was ein moralisch nicht ganz verworfener Mann einem Weibe von Ehrgefühl erspart haben würde. Sie haben auf dem Wege zum Altare mit mir einer Schauspielerin öffentlich und in Gesellschaft ewige Treue geschworen und auf Ehre – auf Ihre Ehre geschworen, sie bei mir einzuführen. Und jetzt entfernen Sie sich!“

Mit diesen Worten wandte sie sich um, um in ein Nebenzimmer zu gehen.

„Noch nicht, Alice! Das Verhör ist noch nicht zu Ende. Du hast mir noch mehr Sünden zu beichten. Alice! Bleib! Ich sage Dir, bleib! Heraus mit der Sprache! Ich versichere Dich von vorn herein einer vollständigen, herzlichen Amnestie!“

Er hielt sie gewaltsam zurück. Sie riß sich los und zog in höchster Angst und Erbitterung an der Klingel. Ein Diener kam herein. Cranston befahl, er solle sich sogleich entfernen. Alice befahl, er solle bleiben. Er zögerte. Cranston sagte: „Mein Freund, ich hoffe. Sie haben so viel Lebensart, zu verstehen, was Sie bei diesem Doppelbefehl von Mann und Frau thun müssen. Ich wünsche jetzt mit meiner Frau allein zu sein.“ Der Diener entfernte sich, wie eine wandelnde Wachsfigur, ohne auf den Befehl und das folgende Angstgeschrei Alice’s Rücksicht zu nehmen.

„Jetzt höre, Alice! Du weißt ganz genau, wie ich war und bin. Ich habe Dir keine meiner jugendlichen Fehler verschwiegen, auch als Du noch nicht das süßeste Recht auf mein volles Vertrauen hattest. Du weißt, ich war, so zu sagen, ein lockerer Bursche. Ich habe es Dir mehrmals geklagt, aus tiefstem Herzen ehrlich und bitter, daß mich, meine äußerliche materielle Lage nöthigte, unsere noch nicht ganz aufgeblühte Liebe in die Ehe hinein zu treiben, die Ehe, deren Eingangsformalitäten, deren jetzige Form in der „guten Gesellschaft“ mir so ungeheuer nüchtern vorkömmt, daß ich mich mit Witz und Ironie und Spott mit Kräften dagegen sträubte. Sie kam mir vor wie eine Entweihung unserer Liebe, da sie sich noch nicht naturgemäß bis zu der Innigkeit und materiellen Reife entwickelt hatte, wo solch ein Bund der Welt wegen der holden Braut namentlich nicht mehr zu früh erscheint. Das weißt Du Alles. Von der geistreichsten, liebenswürdigsten Dame, die ich nach Dir kenne und die des Gegensatzes wegen die passendste Freundin für Dich sein wird, habe ich oft zu Dir gesprochen und mehrmals den Wunsch geäußert, sie mit Dir bekannt zu

[38]

Album der Poesieen.

Nr. 4.
Die Fürstin von Isenburg.

O könntest du, mein Lied, doch Sonnenglanz
Und Farbenpracht des Irisbogens finden.
Du solltest einen prächtgen Strahlenkranz
Um ein verehrtes Bildniß daraus winden!
O Genius, der Schillern Farben lieh,
O Genius der deutschen Poesie,
Gieb mir nur heute deine schönsten Tinten!

Denn eine Heilige ist es, der es gilt,
Wenn in den Kanon auch nicht aufgenommen;
Es ist ein hehres deutsches Frauenbild,
In der der Liebe reinste Glut entglommen.
Mehr als dem Papst, des Himmels stolzem Knecht.
Gebührt dem Dichter das erhab’ne Recht,
Zu Heiligen zu sprechen seine Frommen

Gepriesen sei die Fürstin Frau Sophie
Von Isenburg im glänzenden Gedichte,
An der ihr Priesteramt die Poesie
Nach ihrem gottentstammten Recht verrichte!
Die Fürstin trete mit dem Heil’genschein.
Gewebt aus Liederstrahlen hehr und rein,
Aus dem Gedicht hinaus in die Geschichte!

Ein Frühlingsabend führt die hohe Frau,
Von ihrer Dienerin allein begleitet,
Mit ihrem Säugling in die grüne Au,
Die sie mit seligem Gefühl durchschreitet.
Der Liebe Gottesflamme, die sie hegt,
Mit der sie auch den ärmsten Bruder pflegt
Sieht sie als Segen um sich ausgebreitet.

Im Körbchen trägt die Zofe Brot und Wein.
Zur Tafel wandeln oft die Abendstunden
Der edeln Frau den moosgeschwellten Rain,
Da läßt sie froh sich Lottes Gabe munden.
Auch hat zuweilen schon ein armer Gast
An diesem Fürstentische süße Rast,
Erquickung und ein freundlich Wort gefunden.

Sieh nach der Mutterbrust lebend’gem Quell
Verlangt in ihrem Arm der holde Knabe!
Sie setzt auf einen Stein am Weg sich schnell
Und reicht dem Liebling die ersehnte Labe.
Denn ihre höchste, heil’ge Mutterpflicht
Entzieht dem Sohn die treue Fürstin nicht;
Nicht fremder Brust dankt er die Liebesgabe.

[39]

Wie so das Kind den Born des Lebens trinkt,
Wankt eine Frau daher, die matten Glieder
In dürft’ge Lumpen eingehüllt, und sinkt
Ohnfern der hohen Dame kraftlos nieder.
Ein Säugling schreit in ihrem Achselbund;
Nach Nahrung stöhnt des armen Weibes Mund,
Dann schließt in Ohnmacht sie die Augenlider.

Rasch eilet auf der edlen Frau Gebot
Die Magd mit Wein die Arme zu erquicken,
Die schlägt die Augen auf und nimmt das Brot
Und deutet nach dem Kind auf ihrem Rücken.
„Weh’ mir! das arme Würmlein unterliegt!
Die Quelle meiner Brust ist heut’ versiegt.“
So stammelt sie mit thränenschweren Blicken.

Die Fürstin reicht den Sohn der Zofe hin
Und leget schnell mit seligem Genügen
An ihre Brust das Kind der Bettlerin,
Das trinkt den süßen Born mit gier’gen Zügen.
O göttliches Gefühl, der Liebe Lohn,
Die ihre Brust entzieht dem eignen Sohn
Und läßt das Kind der Armuth daran liegen!

Viel große Thaten nennt das Weltgericht,
Doch eine schön’re hab’ ich nicht gefunden,
Und eine würd’gere für mein Gedicht.
Das Herz, das solcher Liebe Kraft empfunden,
Ist mehr als eine Fürstenkrone werth,
Das sei mit einem Sternenkranz geehrt,
Den ihm der Dichter ehrfurchtsvoll gewunden!

Ludwig Storch. 


Anmerkung. Sophie Charlotte, regierende Fürstin von Isenburg, eine der edelsten und trefflichsten deutschen Frauen, starb im Jahre 1784 in ihrem 38. Lebensjahre.




machen. Ich habe ihr öffentlich und herzlich ewige Treue geschworen, d. h. Treue meiner Bewunderung, meiner Heiterkeit gegen sie, Treue zu mir selbst in dem Sinne, daß ich mich mit Händen und Füßen gegen den gewöhnlichen Ehemannscharakter wehren würde, der am Kaminfeuer sitzt und der Frau und den Grazien und der Kunst den Rücken zukehrt. Treue geschworen in Gegenwart ihres vortrefflichen Bräutigams, des Majors –“

„Mein Gott, mein Gott, wie thöricht! Wie unsinnig!“

„Alice! Hast Du mir nicht versprochen, Alles, was Du von mir Nachteiliges hörst und Dich beunruhigt, mir ohne Ausnahme bis auf das letzte Jota mitzutheilen, damit keiner der vielen Eheteufel, die jedes Paar zum Altare umschwärmen – “

„Es waren die besten Freundinnen, die es so furchtbar, so wahr darzustellen wußten –“

„Wie alt sind diese holden Damen?“

„O mein Gott, wie verblendet –“

„In der Blüthe der Vierziger, Oberste der Teufel!“

„Und Alles so mütterlich, heimlich, beweisend“

„Niemals verheirathet, scharfe Mundwinkel, spitzige Nasen, geschliffene Zungen, ungeschliffene Tugend, rother Zorn, gelber Neid, blaue Strümpfe, grüne Galle, schwarze Hysterie, weiße Jungfräulichkeit, Gold im Munde, damit die Zähne nicht ausfallen, Silber unter der falschen Tour, englische, hochkirchliche Tugend in Kupfer gestochen, gußeiserne Säulen des Himmels –“

Alice schluchzte jetzt so laut, daß Cranston sich plötzlich unterbrach und die so plötzlich von ihren Leiden Befreite in seine Arme schloß. Da sie jetzt nicht davonlief und auch nicht klingelte, haben auch wir keinen Grund, sie aus diesen Armen herauszureißen und überhaupt keinen anständigen Grund, diesen Dialogen der Arme und Lippen weiter Gehör zu geben.




Dieses tragische Doppel-Ereigniß hielt indessen Freunde und Freundinnen der angeblich Ermordeten nicht ab, schon den folgenden Abend einer Einladung der Offiziere der königlichen Garde zu Pferde zu einer außerordentlichen Privatvorstellung von Dilettanten im Saale des St. James-Theaters zu folgen, um so mehr, da man bei dieser Gelegenheit Näheres über den außerordentlichen Doppelselbstmord zu erfahren hoffte. Die Equipagen rollten zu und ab und dienstbare Geister mit künstlichen Waden unter ihren weißseidenen Strümpfen, unförmlichen Blumensträußen vor der Brust, weißen Halstüchern und puderstarren weißem Haar sprangen herab, öffneten die Thüren, spannten Regenschirme auf und schützten die herausspringenden Schönheiten mit weit vorgehaltenem Arm vor dem Naß von Oben, während kostbare Teppiche sich jedesmal, wie durch einen Zauber von der Thür des Theaters bis an den Wagenschlag rollten, sobald eine andere Schönheit vorfuhr, damit sie mit ihrem überirdischen Fuße nicht den gemeinen Bürgersteig zu betreten brauche.

Oben sah es gar nicht aus, als sollte Theater gespielt werden. Der Saal war ganz gemüthlich zum Essen und Trinken eingerichtet. Man wunderte sich und sprach von ungewöhnlichen Ueberraschungen, die sich denn auch bald in dem Erschossenen und der Vergifteten nebst der erwähnten Schauspielerin vorstellten. Cranston führte beide Damen am Arme, gab Zeichen, daß er sprechen wolle, so daß sich sehr schnell Alles so arrangirte, daß er mit den beiden Damen der ganzen Gesellschaft gegenüberstand.

Not so bad, as we seem[7]“, fing er an, „dies ist das Stück, welches Sie heute in einer sehr abgekürzten freien Travestie anzuhören gebeten werden. Personen: Cranston, ehemals Schuldner und Junggeselle von angenehmem Aeußern und noch angenehmerem Herzen, der Zeit verheirathet. Moralischer Werth: 1500 Pfd. jährlich. Mrs. Cranston. geb. Miß Sandford, vergiftet durch Briefpapier und durch die Zungen einiger tugendhaften Klapperschlangen, vollständig hergestellt durch einen Wunder- und Wundenbalsam, den wir beide gemeinschaftlich erfunden und gehörig rührten, nicht wahr, Alice? Miß R…, erste Liebbaberin am St. James-Theater (mehrere tugendhafte Seufzer in der Gesellschaft) und erste Freundin von Mrs. Cranston (tugendempörtes Schluchzen). Später noch eine andere Person als Bräutigam.“

„Sie erlauben uns wohl die einzelnen Akte nicht vorzuspielen. Es kommt viel Dummes, viel Lächerliches, aber auch viel Trauriges darin vor. Cranston erschießt, Mrs. Cranston vergiftet sich und trotzdem bleibt das Ganze ein Lustspiel, obwohl giftige Zungen und alte Weiber bestens für eine Umwandlung zu einem Trauerspiel gesorgt hatten. In den Zwischenakten aber, hinter den Coulissen ging der rothe Faden der Intrigue verloren, aus dem Trauerspiel formte die Liebe ein Lustspiel. Nur den vierten Act dieses Lustspiels lassen Sie uns vollständig auflösen. Dieser beginnt so eben. Mein Koch soll sehr gut sein und ich bitte die verehrten Herren und Damen, den braven Mann auch als untergeordneten Mitbruder zu ehren und die Früchte seiner erhabenen Kunst mit Appetit und Heiterkeit ihrer Bestimmung entgegen zu führen.“

Cranston drückte dabei sein junges seliglächelndes Weib an sich und führte sie zu Tische. Alles jubelte und lachte und selbst die giftigen Zungen zogen ihre Gesichter in freundliche Falten.


  1. Schuldgefängniß.
  2. Die beiden englischen Witzblätter.
  3. Rothe Uniform und große Pelzmützen.
  4. Quäker.
  5. Eine Art leichter Equipage (Fly).
  6. Das eleganteste Militär in England.
  7. „Nicht so schlecht als wir scheinen“, ein beliebtes Stück von Bulwer, das namentlich oft zum Besten des neuen Unterstützungsfond (mit Dickens in der Hauptrolle) für Schriftsteller privatim aufgeführt ward.




[40]

Die Geschichte von der Heilkünstelei,

von den Heilkünstlern und Heilmitteln.


Im grauen Alterthume, als der menschliche Verstand noch in den Windeln lag und nicht Wissen, nur kindliches und kindisches Glauben herrschte, auch da gab es schon Pfifficusse, die als Götzenpriester, Zauberer, Wahrsager, Isis- und Osirisdiener u. s. f. den Kranken unter Opfern, Zauberformeln, Inkubationen (Schlafen und Träumen im Tempel), Gesängen und anderm Hokuspokus die gewöhnlichsten Dinge als Heilmittel verabreichten und, weil die meisten Krankheiten auch damals schon, gerade so wie heutzutage noch, von selbst heilten, als übermenschliche Wesen, als heilende Engel verehrt wurden. Einer solchen Verehrung verdankte Aesculap (wahrscheinlich ein Hauptpfifficus im Behandeln von Kranken, wenn er nämlich wirklich existirt hat) seine Stelle als medicinische Gottheit. Ihm zu Ehren wurden Tempel, meistens in schönen Gegenden, auf Bergen oder in Hainen und in der Nähe von Quellen gebaut, zu welchen die Kranken, in der Regel zu Fuße, wallfahrteten und, wie es ganz natürlich war und noch ist, in Folge der Reise, der Luftveränderung, der Zerstreuung und Bäder (mit Reibungen, Striegeln und allerlei Manipulationen) sehr häufig genasen; auch trug sicherlich die durch mystische Gebräuche erhöhte Einbildungskraft des Patienten manches zur Genesung mit bei. Neben diesen Wallfahrten suchte man aber auch noch die Götter, welche die Krankheiten geschickt haben sollten, durch Opfer zu versöhnen oder, verschwand die Krankheit, dafür zu belohnen. Solche Opfer, welche man Anathemata nannte, wurden in den Tempeln aufgestellt und bestanden entweder in metallenen Votivtafeln oder in goldenen, silbernen und elfenbeinenen Nachbildungen der kranken Glieder. – Die Nachkommen und Erben der Geheimnisse des Aesculap (die Asklepiaden), welche klug und weise waren und sich durch Eidschwur gegenseitig verpflichteten, den Schwindel Niemand zu verrathen, kurirten als eigene Kaste auf der Insel Kos und Knidos wacker darauf los. Ihnen machten es sodann in der mysteriösen Heilkünstelei die spätern Aerzte der alexandrinischen Schule, sowie die römischen Augurn und Harnspices mit Glück nach.

Blicken wir auf diese erste Kindheit der Heilkunst zurück, so muß man erstaunen, wie so ähnlich dieselbe der Heilkunst unserer Tage ist. Unsere Pfiffici, sehr oft aber gar nicht sehr pfiffig, versetzen jetzt – als Allopathen, Homöopathen, Hydropathen, Rademacherianer, Schrothianer, Magnetiseure, Sympathetiker, Gymnastiker, Barbiere, Apotheker, Schäfer, Hufschmiede, Somnambulen und die zu ihrem, aber nicht zu der leidenden Menschheit Besten mit Geheimmitteln handelnden Buchhändler (s. Gartenlaube Nr. 18 v. J.) – den Kranken unter verschiedenartigem Hokuspokus mehr oder weniger harmlose Stoffe als Heilmittel oder machen an ihnen possirliche Heilkunststücke und lassen sich dann, wenn die Krankheit zufällig und von selbst verschwindet, mit öffentlichen Danksagungen, Titeln, Orden, Louisd’oren oder wenigstens mit der Versicherung ewiger Dankbarkeit (anbei eine Stickerei von schöner Hand) u. s. f. ehren. Die Aesculapstempel existiren jetzt als Bäder und Kaltwasserheilanstalten: die Anathemata findet man in den Krücken, Rollstühlen, Votivtafeln, Albums und dergleichen wieder, welche die Badedoctoren sorgsam aufbewahren; und daß die Asklepiaden, d. s. unsere in die Mysterien der verschiedenen Heilkünste einzuweihenden Nachkommen nicht aussterben, dafür wird schon von verschiedenen Seiten gesorgt.

Die ersten Spuren einer wissenschaftlichen Anwendung wirksamer und naturgemäßer Heilmittel finden sich (etwa 700 Jahre vor Christi Geburt) bei den Griechen und entsprangen aus den Kampfschulen (Gymnasien) derselben. Diese Mittel bestanden in gymnastischen Uebungen, Bädern, Einreibungen und in Ausbildung der Athmungsorgane, wurden aber nach dem Alter und der Körperconstitution des Einzelnen verständig modificirt. Uebrigens war es nicht sowohl die Herstellung von Krankheiten, womit sich die damaligen Aerzte (so hießen die Aufseher über die Gymnasien und deren Handlanger) beschäftigten, als vielmehr die Heranbildung eines gesunden, kräftigen und schönen Körpers. Ach! hätten wir doch noch solche Aerzte! Leider gab es damals aber neben der rationellen Heilkunst auch noch eine von den Priestern gepflegte und aus abergläubischer Gaukelei bestehende. Selbst Pythagoras sieht noch überall Geister und Dämonen, welche Krankheiten hervorbringen und heilen, und deren Einfluß man durch Zauberei und magische Kunst bekämpfen muß. Aus jener Wiegenzeit der Medicin und des Menschengeschlechts überhaupt besitzen wir übrigens noch jetzt eine recht hübsche Anzahl von Medicamenten, die zum Theil von den Hindus und Aegyptern, zum Theil von den Griechen stammen. – Hippokrates (zu Deutsch: Pferdebändiger) war es, der die Pferdearbeit unternahm und die Heilkunst von den abergläubischen Gaukeleien zu reinigen suchte (400 vor Chr. Geb.) und zuerst den Satz aussprach: „die Natur ist es, welche die Krankheiten heilt.“ Er wendete seine Aufmerksamkeit vorzüglich auf die Krankheitsursachen, auf Luft, Wohnung, Wasser und Nahrung, wie der von ihm gethane Ausspruch beweist: „die Wirkungen der diätetischen Mittel sind dauerhaft, die der Arzneimittel vorübergehend.“ Diesen ersten rationellen (d. h. vernünftigen) und wirklich physiologischen Mediciner, welcher nur der nüchternen Erfahrung und nicht der hohlen Speculation Vertrauen geschenkt wissen wollte, hat man nun in der folgenden und zwar bis auf unsere Zeit schmählich mißverstanden und jeden Unsinn der rohesten Empirie, wie er heutzutage in der Rademacher’schen Quacksalberei hoffentlich seine höchste Höhe erreicht hat, in die Schuhe geschoben. So ist es denn gekommen, daß der einfache hippokratische Heilmittelapparat durch ganz kopflose Anwendung des ersten besten Mittels bei der ersten besten Krankheitserscheinung zu einem Wuste nichtsnutzigen Zeuges angewachsen ist, welches nur insofern noch hippokratisch genannt werden kann, als es allenfalls Pferde zu bändigen im Stande wäre. Noch heute passen Plato’s Worte auf das betrogene arzneisüchtige Menschengeschlecht: „solche Kranke, die aus Unmäßigkeit und Faulheit keine Lust haben, von ihrer schädlichen Lebensweise abzulassen, richten durch alles Heilenlassen nichts aus, als daß sie ihre Krankheit bunter und größer machen; bevor sie nicht anfangen anders zu leben, wird weder Arznei, noch Brennen, noch Schneiden, noch Besprechen, noch Amulette, noch irgend etwas dergleichen das Mindeste helfen können.“ Nur noch Crasistratos (der schon vollständig den Aderlaß und die Purganzen verwarf), sowie Hierophilus, die ersten Lehrer der Schule zu Alexandrien (etwa 300 vor Chr. Geb.), gehörten noch zu den rationellen Medicinern, denn sie empfahlen Mäßigkeit, Bäder, Klystiere, Frictionen und Bewegung; sie tadelten die Thorheit solcher Aerzte, die aus allen drei Reichen Arzneimittel zusammensuchten, auch behaupteten sie, daß man mit ihren einfachen Mitteln weiter komme, als mit der Masse zusammengesetzter Arzneien. Mit diesen beiden alexandrinischen Aerzten hörte so ziemlich die vernünftige Heilkunst mit ihren einfachen physiologischen Mitteln ganz auf und es begann nun in der Medicin das lange Zeitalter der Quacksalberei.

Die unvernünftige empirische Schule, von den Griechen (250 vor Chr. Geb.) und den Römern (100 vor Chr. Geb.) gegründet, beschäftigte sich von nun an mit nichts anderem, als mit Arzneiversuchen und mit leeren Zänkereien darüber. Man wendete gegen jede in die Augen fallende widernatürliche Erscheinung oder Symptomengruppe irgend ein Mittel an, welches, sobald diese darnach verschwand, als Heilmittel gegen jene Erscheinung angesehen wurde. Man ahnete gar nicht, daß dasselbe Resultat auch ohne alle Arznei oder beim Gebrauche sehr vieler anderer, auch der unschuldigsten Mittel hätte erzielt werden können. Man wußte nämlich damals noch nicht, daß unser Körper von Natur so eingerichtet ist, daß Störungen in einem Theile desselben durch nothwendig nachfolgende anderweite Veränderungen allmälig wieder ausgeglichen werden. Was sagst Du nun aber, lieber Leser, dazu, daß dieselbe Wirthschaft mit den unvernünftigen Arzneiversuchen auch jetzt noch, wo die medicinische Wissenschaft die Heilkünstler doch aufgeklärt haben sollte, ganz wie damals fortdauert? Auch gab es damals unter den Empirikern schon eine Art von Homöopathen, die den Grundsatz hatten, man müsse bei krankhaften, in die Sinne fallenden Erscheinungen solche Heilmittel anwenden, die ähnliche Erscheinungen hervorzurufen im Stande wären. – Nach Galen, der noch einmal (150 nach Chr. Geb.), aber vergebens, den alten empirischen Unsinn zu stürzen und die hippokratische [41] Medicin wieder einzuführen versuchte, kam die Heilkunst, wie überhaupt die menschliche Vernunft, allmälig so herunter, daß nur noch mit Wallfahrten, Wundern, Magie, Reliquien, Amuletten, Teufelbannen, Exorzismen, kabballistischem Unsinn und dergleichen gegen Krankheiten zu Felde gezogen wurde. Auch von diesen Mitteln trifft man in der Jetztzeit noch manche an und wer weiß, was die Zukunft davon wieder bescheeren wird. – Die Araber, die Erben der übrig gebliebenen Reste griechischer Weisheit, sorgten zur damaligen Zeit für die Heilkunst nur insofern noch, als sie eine unsinnige Masse von Heilmitteln, bisweilen aus 60, 70 und mehr Ingredienzen zusammengesetzt (Theriak, Mithridat) erfanden und im Jahre 765 in Bagdad eine öffentliche Apotheke stifteten. Daß sie solche schreckliche Thaten thaten, wird man erklärlich finden, wenn man weiß, daß der berühmteste arabische Arzt, Ebn Sina (oder Avicenna) behauptete, der Arzt dürfe eben so wenig als der Priester die Vernunft anwenden. – Im 10. und 11. Jahrhundert befand sich die Heilkunst fast nur in den Händen der Mönche und bestand natürlich bei dem damaligen Hange zum Wunderbaren und Abenteuerlichen, größtentheils aus Aberglauben, selbst dann noch, als die medicinischen Schulen zu Salerno (wo die Aerzte zuerst den Titel Doctoren und Magister erhielten), Montpellier, Paris und Bologna gegründet waren. Die Aerzte des 14. Jahrhunderts traf übrigens damals schon ihres vielen Medicinirens wegen der Spott und die Verachtung ihrer vernünftigeren Zeitgenossen und Petrarca schrieb in einem Briefe, welchen man auch jetzt noch recht gut unterzeichnen kann, die Worte: „daß durch die Medicin im Allgemeinen mehr geschadet als genützt werde, daß das leichtgläubige Volk meistens betrogen werde und daß der Arzt nicht durch das Unglück Anderer sich bereichern solle.“

Als durch die Buchdruckerkunst im 15. Jahrhundert die Wissenschaften und Künste wieder aufzublühen begannen, blieben die meisten Aerzte doch immer noch blinde Nachbeter ihrer unwissenden Vorgänger und abergläubische Verehrer der von diesen empfohlenen Arzneimittel. Die meisten derselben glaubten noch, daß die Krankheiten durch den Teufel, durch Zauberer und Hexen entständen; sie hätten am liebsten durch Verbrennen und Ersäufen die Kranken radical geheilt. Daß bei solcher Dummheit und zu einer Zeit, wo die Astrologen (Nostrodamus an der Spitze) sowie die Alchymisten (Goldmacher) und Universalmedicin- oder Lebensessenzen-Brauer mit den Suchern nach dem Steine der Weisen ihr Pfeifchen schnitten, einer vernünftigeren Heilkunst nicht auf die Beine geholfen werden konnte, ist leicht einzusehen. – Im Anfange des 16. Jahrhunderts erschien als Stern für alle zukünftigen Arzneimitteljäger Theophrastus Paracelsus, der fanatischste Charlatan und Kabbaliste, den es je gegeben hat. Er bereicherte die Heilkunst mit Unmassen von Arzneikörpern, von Arcanis und Talismanen, und diese Bereicherung stieg in Folge der Entdeckung von Amerika und dem erwachenden Verkehr mit Ostindien in’s Unglaubliche. Selbst im 17. Jabrhunderte noch, wo die wichtigsten Entdeckungen in der Anatomie und Physiologie gemacht wurden, blieb die Heilkunst in den Banden des Mysticismus und Aberglaubens; Amulette, sympathetische, Geheim- und Universalmittel spielten neben Medicamenten aus der alten und neuen Welt eine Hauptrolle. Die Sucht, möglichst viele Stoffe in einer Arznei zu vereinigen, wurde nie höher getrieben als damals. Uebrigens waren bald diese bald jene Klassen von Arzneimitteln an der Tagesordnung. Es scheint wirklich, wenn man diese früheren Zeiten mit der jetzigen vergleicht, als ob die Heilkünstler stets der Wissenschaft zum Aerger und Hohne gelebt hätten, auch heute noch steht die Heilkunst weit hinter der Wissenschaft zurück, heute noch kommen die unsinnigsten Mittel bald in bald aus der Mode, heute noch suchen die Aerzte nach Arcanis. Uebrigens hörte man damals doch schon einzelne Stimmen behaupten (Guy Patin), daß durch manche Arzneien mehr Menschen umgekommen wären, als durch den dreißigjährigen Krieg. Am heftigsten eiferte gegen die damaligen Aerzte Harvey; er theilte dieselben in sechs Klassen: in Eisendoctoren, die vorzüglich Eisenmittel verordneten: in Eselsärzte, welche Schwindsuchten mit Eselsmilch zu heilen vorgaben; in Jesuitenärzte, die das schädliche Jesuitenpulver (China) gaben; in Wasserdoctoren, die alle Krankheiten mit Mineralwasser heilen wollten: in Fleischdoctoren, die Freunde der Blutentziehungen, und in Dreckdoctoren, die Empfehler der ausleerenden Mittel. Als um diese Zeit der Taback und Thee allgemeiner eingeführt wurde, boten sich die Gewinnsucht der Aerzte und der holländischen Kaufleute einander die Hand; so gab Bontekop folgende Lehre zur Verlängerung des Lebens: „rauche unaufhörlich Taback und trinke beständig Thee oder im Nothfall Kaffee, und bediene dich des Opiums, so oft dir etwas fehlt.“ – Im 18. Jahrhunderte findet man ein buntes Durcheinander von Heilmethoden; hier mußten die Kranken bei dem einen Arzte schwitzen, beim andern Blut lassen; Der vomirte, Jener purgirte; was dem Patienten fehlte, wußten sie natürlich alle zusammen nicht. Die Heroen dieser Zeit sind Hoffmann, Stahl und Stoll. Fr. Hoffmann erwartet sehr viel von der Naturheilkraft, war ein großer Freund der diätetischen Behandlung und namentlich der äußern und innern Anwendung des Wassers; Stahl dagegen hielt auf Ausleerungen durch Schweiß und verordnete Aderlässe, Brech- und Purgirmittel; er verkaufte übrigens nebenbei, wie auch Fr. Hoffmann, verschiedene Arcana und führte die unsinnigen Präservativaderlässe ein. Stoll, der den Grund der meisten Krankheiten in einer Gallenveränderung und in Unreinigkeiten im Bauche suchte, kurirte fast nur mit Brech- und Purgirmitteln; Brown und Girtanner kämpften bei einer Krankheit immer nur entweder gegen heftige Erregung oder gegen Schwäche; ähnlich kurirte Rasori. – Das 19. Jahrhundert zeichnet sich bis jetzt noch durch keine rationellere Heilkunst vor dem achtzehnten Säculum aus; im Gegentheile, hier schossen und wachsen noch jetzt eine Menge der widersinnigsten Heilmethoden, geheime und Apothekermittel, zur Praxis berechtigte und unberechtigte Heilkünstler, kalte und warme Wasseranstalten zusehends empor, trotzdem daß die medicinische Wissenschaft eine ganz bedeutende Höhe erreicht hat. Während zu Anfang dieses Jahrhunderts in Frankreich Broussais fast alle Krankheiten einer Magen- und Darmentzündung, wenigstens einer Entzündung zuschrieb und deshalb alles mit Blutentziehungen kurirte, betrachtete man (die sogen. naturhistorische Schule) in Deutschland die Krankheit als ein für sich bestehendes Etwas, als eine feindliche Macht, ja sogar als eine parasitische Person, die sich mit der Lebenskraft unseres Organismus, wie Engel und Teufel um unsere Seele stritten. Der Engel bemüht sich (wie Henle sagte) seinen Gegner todtzuschlagen und dessen sterbliche Reste aus irgend einer der natürlichen Oeffnungen unseres Körpers hinauszuschmeißen; ihm muß natürlich vom Arzte beigestanden werden. Häufig unterliegt aber der Engel, trotz des Beistandes von Seiten des Arztes. Noch jetzt giebt es solche naturhistorische Heilkünstler und diese forschen fortwährend nach neuen Waffen (Arzneimitteln) und entwerfen Schlachtpläne (Heilmethoden), um die feindliche Krankheit zu überrumpeln und mit Pulver und Blei oder mit Kartätschen (Pillen) zu vernichten. – Um die allgemeine Confusion im Reiche des Aesculap vollständig zu machen (sagt Steudel in seiner, auch vom Laien lesenswerthen Schrift: „die medicinische Praxis, ihre Illusionen und ihr Streben zur Gewißheit,“ sehr gut), erschien nun die Homöopathie und stellte Grundsätze auf, welche aller Erfahrung und dem gesunden Menschenverstände Hohn sprechen, und nur der Umstand, daß es in der Heilkunst noch nie einen Unsinn gegeben hat, der nicht seine Vertheidiger und Anhänger gefunden hätte, läßt es begreiflich erscheinen, daß es Männer gab und noch giebt, welche glauben, daß ein Naturgesetz, welches keine Ausnahme macht, unwahr sei für die Arzneimittel, indem sie annehmen, daß deren Wirksamkeit mit ihrer Verdünnung und Abnahme gerade an wirksamem Stoffe zuzunehmen fähig sei. Doch hat die Homöopathie trotz ihrer unsinnigen Grundprincipien das Gute gehabt, daß sie zeigte, wie viel durch bloße diätetische Behandlung, ohne alle Medikamente, zu erreichen sei. Es ist übrigens sehr zu bedauern, daß Hahnemann bei der Verkleinerung der Arzneigaben nicht noch einen Schritt weiter ging und die letzte Täuschung fallen ließ, welche in den Pülverchen und Kügelchen besteht, womit den Kranken der erforderliche Sand in die Augen gestreut wird. Wir wären heute weiter und brauchten nicht vor Hahnemann’s Denkmal die Augen niederzuschlagen, wenn dieser Mann damals schonungslos die Wahrheit ausgesprochen hätte, daß unser ganzer Arzneischatz unnützer Kram sei. So aber wächst die Heilkünstelei mit Arzneimitteln zusehends, die Heilkünstler bringen sich durch ihre fortwährenden Widersprüche und den schnellen Wechsel ihrer Systeme immer mehr um den Credit und aller Orten tauchen jetzt Feinde der legitimen Heilkunst als wassersüchtige Heilkünstler, trockene Semmeldoctoren, Magnetiseure, Geheimmitteler, Somnambulen, Kräuterweiber u. s. f. [42] auf. Am betrübendsten ist es aber, daß sich selbst die meisten derjenigen Aerzte, denen die großartigen Fortschritte der medicinischen Wissenschaft nicht fremd geblieben sind (die sogen. rationellen oder physiologischen Mediciner), doch von dem allgemeinen Strudel fortreißen lassen und nicht um ein Haar weniger quacksalbern, als die unwissenschaftlichsten Heilkünstler. Fragst Du warum? so heißt’s: mit so unwissenden und abergläubischen Kranken ist ja nichts Vernünftiges anzufangen. Und allerdings scheint es auch wirklich so, denn vernünftige diätetische Vorschriften werden von den meisten Kranken verachtet und nicht honorirt, während sie für ein Recept, ein Pülverchen, ein Geheimmittel und dergl. schwärmen und dabei das Geld so gut wie zum Fenster hinauswerfen. Kurz, in Sachen der Heilkunst steht es heutzutage so, daß dieselbe weit hinter der Wissenschaft zurückgeblieben ist und sich, trotz des täglich wachsenden Wustes von Arzneimitteln und von Heilmethoden doch in einem ganz erbärmlichen Zustande befindet und zwar blos deshalb, weil die Menschheit über sich und über das, was in der Natur vorgeht, in der größten Unwissenheit lebt. Soll denn das nie anders werden?

(Ueber die Heilkunst der Jetztzeit in einem spätern Aufsatze.)
(B.) 




Aus der Gewerbswelt.

Mitgetheilt von Friedrich Georg Wieck.
Die wollenen Lumpen.
„Nur die Lumpe sind bescheiten.“ 
Goethe . 

Lumpen sind allerdings eine bescheidene Waare. Es sind die Ueberbleibsel unserer Gewänder und Kleidungsstücke, unserer Bett- und Möbelüberzüge, unserer Decken und Teppiche, unserer Segel und Netze, unserer Stricke und Emballage. Das endliche Loos aller unserer schönen leinenen, baumwollenen, wollenen und seidenen Stoffe ist: zu Lumpen zu werden. Die Spitzenhaube und das Züchtlingshemd, Bettlerkittel und Königsmantel: als Lumpen werden sie sich alle gleich und müssen es sich gefallen lassen, sortirt zu werden, nicht nach dem gewesenen Zeugwerthe, sondern nach dem jetzigen Lumpenwerthe: in Schwarz aus wollenen Lappen u. s. w., Filtrir zu Löschpapier; Pack, grobe aus Säcken und dergleichen, auch Schrenz genannt; Concept, Adler, Kanzlei und Post aus mehr oder minder feinen baumwollenen und leinenen Zeugen. Die theuren Wollenstoffe und die kostbaren stolzen Seidenzeuge sind die werthlosesten Lumpen, weil man aus ihnen nicht das schöne weiße Papier machen kann: den Träger unserer Gedanken, den Vermittler unserer Empfindungen, den Trost aller verkannten Dichter, die Hülfe bedrängter Schuldner und die, wenn auch oft trügerische Hoffnung lange hingehaltener Gläubiger, das Spielzeug der Börse und die Stütze der Finanzwirthschaft.

So bescheiden nun auch die Lumpen sind, so anmaßlich werden sie, wenn sie sich in Papier verwandelt haben. Das bescheidenste Linnen wird das alleranmaßlichste Velinpapier, während der Frack der feinen Gesellschaft sich als – Löschpapier in derselben nicht mehr sehen lassen kann.

Unsere nachdenkenden Leser werden es daher sehr begreiflich finden, daß Lumpen oder Hadern, wie man sie auch wohl nennt, einen höchst wichtigen Handelsartikel ausmachen, der, wie alle Papierfabrikanten klagen, von Tage zu Tage verhältnißmäßig theurer und seltener wird, weil die Papierfabrikation überall doch noch rascher fortschreitet als die – Zerrissenheit. In einigen Ländern bestehen Ausfuhrverbote von Lumpen, während man fertige Zeuge willig herein läßt, so daß es fast den Anschein gewinnen könnte, als müsse die Erzeugung von Lumpen gute Rechnung geben.

Wir haben gesehen, daß die Lumpen gleichsam als abgestorbene Zeuge zu betrachten sind, die sich in der Form von Papier wieder beleben. Dieses geht in Makulatur, in Spähnen und in mancher andern Form wieder zu Grunde in den Holländern der Papierfabriken und stellt so ein anschauliches Bild des Kreislaufs der Materie, der steten Verjüngung des Stoffs auf! Eine Fabrikation der neueren Zeit giebt zu dieser Behauptung einen neuen Beleg. Jeder, der über den Lumpenartikel nicht so ganz leicht hinweg denkt, wird sich fragen, wo denn die vielen wollenen Lumpen, die, wie unschwer einzusehen ist, nur in sehr geringer Menge für ganz gemeine Papiersorten verwendet werden, endlich hinkommen? Die Antwort darauf ist, daß sie endlich, nach mancherlei Schicksalen, über deren Schilderung wir hinweggehen wollen, so weit herunterkommen, daß sie – wenigstens vor noch nicht langer Zeit, und zum Theil auch noch jetzt – als Dünger aufs Feld gefahren werden müssen.

Jene neue Fabrikation hat sich nun inzwischen jener armen alten Lumpen angenommen, vorausgesetzt, daß sie aus ungewalkten Zeugen herrühren, daher u. A. von Strumpfzeugen, Merino’s, Thibets, Flanellen u. s. w., und vorzugsweise nimmt sie auf Stoffe aus Kammgarn Rücksicht. Jene gutsortirten, wollenen Lumpen nimmt nun die Fabrikation, wäscht sie zuförderst rein aus und bringt sie, zuweilen gleich unter Wasser, in eine Maschine mit rasch umlaufenden sägenartigen Blättern.

Diese zupfen, zerren und reißen endlich die Fäden auseinander, so daß dieselben sich wieder in ihre ursprünglichen Wollfasern auflösen.

Hat die schlaue Fabrikation es so weit gebracht, so bringt sie jene neuausgezupften Wollfasern mit ein bischen frischer Wolle vermischt, in die Wollkratze. In derselben entsteht nun eine zarte, lockere Wollwatte und aus dieser wird endlich aus den bekannten Spinnmaschinen mit ungemeiner Geschwindigkeit ein neuer Faden gesponnen. Die weitere Verarbeitung jenes Fadens auf dem Webstuhle zu allerhand Zeugen, erklärt sich von selbst. Augenscheinlich ist ferner, daß in Folge der Vermischung der verschiedenen Farben in den wollenen Lampen – es wäre denn, man sortirte sie vorher nach der Farbe – eine Melirung entsteht, die in der Regel die Eselsfarbe oder, wenn man lieber will, die Mausfarbe besitzt. Auch sind die aus der Lumpenwolle (franz. Chiffons de laine engl. Shoddy wool) gefertigten Zeuge nicht so haltbar und können nicht so fein gemacht werden, als die aus friscker guter Wolle gefertigten. Jedoch, sie sind wohlfeiler; und was thut nicht ein guter Hausvater oder eine gute Hausfrau in dieser theuren Zeit, wo es so viele Ausgaben giebt, um nur etwas recht wohlfeil zu erhalten!

Kaum bleibt ein Zweifel, daß gewisse Waaren aus England, wo die Fabrikation aus Lumpenwolle schon eine geraume Zeit lang betrieben worden ist, lumpenwollig nach Deutschland eingeführt werden. So lesen wir u. A. in einem ganz neuen Geschäftsberichte aus Leeds: „Eine der vortheilhaftesten und am schwunghaftesten betriebene Fabrikation in der Umgegend von Leeds, ist in Batley und Nachbarschaft angesiedelt. Sie besteht in der Wiederverarbeitung von Wolllumpen in Vermischung mit etwas neuer Wolle. Man fertigt allerlei Stoffe, wesentlich für Männertracht daraus. Die melirten Witneys (ein Beinkleiderstoff) sind darin ein sehr gangbarer Artikel.“ In Sachsen haben sich zu verschiedenen Zeiten mehrere Unternehmer ebenfalls angelegen sein lassen, beregte Fabrikation einzuführen. Da dieselben aber nur die Lumpenwolle erzeugten, nicht zugleich aber fertige Waare machten, so fanden sie Schwierigkeiten, denen gegenüber sie die Fabrikation wieder einstellten. Unseres Wissens giebt es jetzt im nördlichen Deutschland nur in Borna und in Ruhla zwei Fabriken, welche die Lumpenwolle auf Filzwaare verarbeiten; dahingegen besteht in Baden eine bedeutende Fabrik, welche dem Vernehmen nach dreihundert Arbeiter beschäftigt, und jene Wiederbelebung alter Wollstoffe, die „Phönix-Wollerzeugung“ in großem Maßstabe und mit aller Vorsorge betreibt. Zumal fehlt es nicht an Reinigungsanstalten, Wasch- und Badehäusern für die Arbeiter.

Unserentheils können wir vom gewerblichen Gesichtspunkte jene Fabrikation nicht als bedenklich betrachten, vorausgesetzt, daß [43] die Waare dafür verkauft wird, was sie ist; und daß dies auch geschehe, irgend eine Sicherheit gegeben sei. Man erlasse uns hier Vorschläge dazu! Daß sich aber eine Fabrikation vor dem öffentlichen Verdachte hütet: Lumpenwolle zu verarbeiten, muß Jedermann billigen. Welche Wunden sind der deutschen Leinwandmanufaktur dadurch geschlagen worden, daß man Baumwolle unter die Leinwand mischte und es nicht sagte!

Die Vernichtung haben wir also besiegt in der Wolle. Es handelt sich jetzt um die Seide. Trotz unserem Geschick stehen wir darin den Chinesen nach. Diese kleben einzelne Lappen mit dem Firniß Sit-si wieder zu ganzen Stücken zusammen und bedrucken sie dann auf’s Neue.




Bilder aus dem Pariser Leben.

Von einem deutschen Arzte.
Die Morgue.

Wer von den Höhen des lateinischen Viertels herab und aus seinen schmutzigen, engen, dunklen Gassen an der Seine heraustritt, schreitet gewöhnlich unbekümmert um seine nächste Umgebung, die Blicke auf die graziösen, träumerischen Thürme von Notre-Dame geheftet, über die steil aufsteigende Brücke von St. Michel und weiß, an den ersten Häusern wieder angekommen, gewiß nicht, daß er an dem alten Marché neuf und an der Morgue vorbei, an einem, der schauerlichsten, seltsamsten und zugleich praktischesten „Institute“ neuer Polizei vorüber geeilt ist.

Er hat sich nicht gefragt, was das nicht allzugroße, dunkle, massive Häuschen vorstelle, das knapp am schmalen Seine-Arme angeklebt, wie die Wachthütte des Polizeipostens schweigend dasteht, gleichsam, die doppelte Reihe grüner Regenschirme commandirend, welche die ewigen Buden des Neumarktes repräsentiren. Er hat vielleicht nicht die großen Wunder von Paris bemerkt, die sich auf der Brücke unter seinen Blicken offenbarten, einen Pariser Schuhflicker, jetzt Mineralienhändler, der ohne Hammer und Löthrohr, ein Kind des Pariser Pflasters, die Wunder Gottes in den Steinen kennt und um zwei bis fünf Sous verkauft, klassifizirt, rubrizirt, etikettirt und putzt … oder der Mann mit den drei Schub langen besenartigen Haaren, der seine Pommade verkauft, oder den Kaninchenhändler, oder aber den Bajazzo, der täglich um vierzig Sous mehr Witz und Geist verschleudert, in Wind und Wetter und in dumme Ohren, als mancher Humorist, oder endlich die Schaaren der Neugierigen, die über die Brüstung der Brücke gelehnt stundenlang einem langweiligen Angler zusehen, der unten am Flusse sitzend, seinem Weibe entfloh.

Paris ist so reich an abwechselnden Unterhaltungen, daß selbst die überall gewesenen Menschen vor Wonne zerfließen, wie sollte man also Angesichts von Notre-Dame noch Zeit und Augen haben, auf All’ das zu achten, was die Brücke St. Michel und der Marché neuf enthalten! – – – Und doch steht hier die Morgue, jenes dunkle, massive Häuschen, nach welchem der Pariser zuerst eilt, noch bevor er sich bei der Polizei Raths erholt, wenn ihm ein theures Wesen, ein Bruder, eine Schwester, oder Vater oder Geliebter plötzlich verloren gegangen, der in das Gewirre der Stadt ging und nicht heim kehrte; das Häuschen, worin ein Theil von Paris vor Schauer nie den Fuß setzt und der andere, wie in’s Schauspielhaus täglich eilt, um sich gerade jene Dosis Schauer zu holen, der diesen nach Aufregung lechzenden Gemüthern zur nothwendigen Labung geworden ist.

Die Morgue ward an dem Arm der Seine in die arme Cité gesetzt, am Eingange vor den gleich armen Quartieren St. Jacques und Marceau, von denen es eben die Brücke St. Michel trennt, zwischen der Polizeipräfektur und ihren Gefängnissen, dem Justizpalaste und dem großen Spitale Hôtel-Dieu. Hier werden die Leichen oder die Leichentheile von Personen aufgenommen, deren Namen oder Familien unbekannt geblieben sind. Was man aus der Seine an unbekannten Körpern fischt oder in den Gassen, Cloaken und Spelunken der Stadt aufliest, alle Leichname von Menschen, welche Laster, Elend oder Verzweiflung oder der Mörderdolch aus der Welt geschafft und auf die Straße geworfen – sie kommen in diese Hallen, deren Wände schon Scenen des Jammers und des Wiedererkennens gesehen, wir kein anderes Gebäude der Erde.

[44] Durch die einzige Thür tritt man in einen mit Steinen gepflasterten Raum, der an hundert Personen fassen kann. Rechts von der Thüre sind die dem Publikum verschlossenen beschränkten Lokalitäten des Beamten, der die Bücher führt, des Arztes, welcher mit einer Untersuchung beauftragt wird, und der zur Reinhaltung der Anstalt bestimmten Diener. Wohnungen befinden sich keine darin. Links von der Thür hinter drei großen Schaufenstern, von denen das Publikum durch eine eiserne Schranke in einiger Entfernung gehalten wird, erblickt man auf geneigten Steintafeln die nackten Verunglückten, auf die ein Wasserstrahl fortwährend geleitet, wird, während zu ihren Köpfen an der Wand die zu ihnen gehörenden mitgefundenen Kleider und Geräthschaften u. dgl. aufgehängt sind. Diese sämmtlichen Reste bleiben hier ausgesetzt, bis sie erkannt werden. Die Verwandten oder Bekannten können sie dann zurückfordern und haben nur ganz unbedeutende Kosten zu entrichten. Das jetzige Gebäude besteht erst seit 1835.

Von 1836 bis 1846 wurden hier 3344 Leichen und 94 Leichentheile ausgesetzt, wovon nur 378 unerkannt blieben; unter 8 Ausstellungen haben also 7 ihren Zweck erreicht.

Oft schweigt diese Morgue wochenlang, das geöffnete Thor sperrt sich langweilig auf, nur einzelne unentbehrliche Besucher, die Stammgäste des Schauers, treten schüchtern ein, werfen einen enttäuschten Blick auf die wenigen Lumpen, die von verweseten Leichen allein noch übrig geblieben an den schwarzen Nägeln hängen. Die Steintische sind trocken und leer und das sonst nasse Pflaster des Zuschauer-Raumes glänzt staubig im matten Tageslichte.

Plötzlich aber, ohne daß eine Zeitung vielleicht das Schauspiel ankündigt, wimmeln die Umgebungen des finstern Häuschens. Der Bajazzo, der Kaninchenhändler und der Mann mit den langen, besenartigen Haaren schreien ihre Wunder und Witze aus, der Mineralog kramt seine schönsten Krystalle auf der Brüstung der Brücke aus und die Gaffer, welche die Kunst der Angler bewundern, erdrücken einander, bevor noch ein einziger Fisch seine Albernheit bereut. – – Es ist ein Tag der Morgue, die Fischer haben einen Pariser aus der Seine gezogen, oder in irgend einem „häuslichen Leben“ hat die Polizei ein Mittelding zwischen Tod und Mord, zwischen Krankheit und Selbstmord gefaßt.

Das große Volk der Pariser, Mann und Weib, Greis und Kind, Reich und Arm, Publikum und Kritiker, Polizei und Taschendiebe sind auf den Beinen, vor und in der Morgue, und der Beamte spitzt die Federn, um „die Mähre zu erzählen eines Menschen, der an sich und der Welt verzweifelte“, oder den ein „mitfühlendes Geschöpf“ um einiger Groschen willen erschlug.

Dann liegen auf den geneigten Steintischen die blau aufgedunsenen Glieder eines „Unbekannten“, der „vierzehn Tage im Wasser geblieben“, oder die rothgestreiften Züge eines Erstochenen, oder das schwarz unterlaufene Gesicht „eines erhängt Gefundenen“.

Wer ist’s? Woher kam er? Wer brachte ihn? Niemand kann Antwort geben und jeder frägt. Die Weiber voran, die Kinder zur Seite und die Provinzialbewohner in dichten Schaaren fragen, zweifeln und erzählen Geschichten, um einander die Haare zu Berge zu treiben. Der Doktor in seinem „Arbeitszimmer“ hat der Polizei seinen unentbehrlichen Fingerzeig gegeben; die Polizei hat seine feinhörigen Agenten ausgeschickt, die in allen Trachten unter das Publikum gemischt, meinen und zweifeln, klagen und spotten, streiten und declamiren, und an jedem Ohr und Herzen horchen, wo sich vielleicht ein böses Gewissen oder eine berauschte Zunge verrathe.

Neben der blauen Blouse und den nägelbeschlagenen Schuhen des armen Tagelöhners glänzen an den schwarzen Nägeln die lackirten Stiefeln und der feine schwarze Rock des wohlhabenden, des ruinirten oder des abenteuernden Boulevardkindes und die alten Fetzen des Weibes aus dem Volke triefen neben den seidenen Flittern der „Geliebten“, die ein eifersüchtiger oder ein diebischer Liebhaber abseits geführt hatte.

In dem nahen Justizpalaste sitzt der Instructionsrichter mit seinen Schreibern bereit, jede Aussage, die ihm dienlich scheint, mit einer Anweisung auf zwei Francs zu belohnen, und in der eben so nahen Polizeipräfectur laufen einander die witternden Agenten die Zehen ab.

In der höhern Gesellschaft von Paris muß ein Unglück dramatisch aussehen, um die Ehre zu verdienen, daß man von ihm spreche… in der großen untern Gesellschaft muß ein Fall mit der Morgue, mit der Polizeipräfectur und mit dem Justizpalaste in naher Berührung stehen, um in allen Familien, in allen Garküchen, in allen Werkstätten beredet und berüchtigt zu werden, um auf allen Märkten gesungen zu werden, in Verse gebracht und von der Drehorgel begleitet, nach der beliebten Melodie: „Ein Vöglein kam an’s Fensterlein etc.“

Darauf verfällt die Morgue wieder in ihr finsteres Schweigen, die Stammbesucher, allein treu, nahen sich wieder schüchtern, der Bajazzo, der Mann mit den langen besenartigen Haaren verschwinden … der Untersuchungsrichter und die Kanzleien der Polizeipräfectur schreiben und schreiben, die genialsten Agenten der Polizei bewahren in ihren fernsten geheimsten Gehirnfalten die unbestimmten, farblosen Schimmer von Spuren, auf die sie der Zusammenlauf in der Morgue gebracht und Tage, Monate, wohl auch Jahre vergehen … Plötzlich faßt eine Hand mitten in seiner unschuldigen Zerstreuung und Sicherheit einen Schuldigen, der vor so langer Zeit einen Streich gethan, von dem die Morgue so leise erzittert hatte, als die Volksmenge zuströmte.

Dann enthält die Tribunal-Zeitung einen kurzen Artikel, „wie von ungefähr eines der gefährlichsten Subjecte in’s Garn gelaufen“ … die Assisen hallen von den glänzenden Anklageakten und Vertheidigungen wider und wiederum eines Tages sagt uns ein kurzer Brief der Tribunal-Zeitung, daß am genannten Datum die menschliche und göttliche Gerechtigkeit gesühnt ward von dem ….

Die Morgue aber steht anspruchlos da. Tag für Tag, „eine Mausefalle“, wie die Polizei-Agenten sie nennen, „eine nützliche Secirschule“, sagt der Mediciner, „eine gräßliche Baracke“ ruft der Bürger aus, „ein ganz profitabler Platz“, meint der Mann mit den langen Haaren, „pfui, ein schreckliches Wort“, entsetzt sich die elegante Welt.




Blätter und Blüthen.

Kriegsrath Klepper. Wer wollte es in Abrede stellen, daß unsere Zucht- und Besserungshäuser selbst der bessern Zucht und der Verbesserung oft mehr bedürfen, als viele der in ihnen eingesperrten Verbrecher; daß namentlich die Benennung „Besserungsanstalten“ eine bittere Ironie ist. Geschieht nun gleichwohl auf diesem Gebiete sehr wenig, diese Anstalten ihrem Zwecke entsprechender zu machen, so verdienen die Anstrengungen einzelner Männer um so mehr die öffentliche Anerkennung, da sie meistens mit eigener Aufopferung verbunden sind, und auf allgemeine Anerkennung, auf prunkenden Lohn kaum rechnen können, indem die Mehrzahl der Menschen von dem Kreise ihres stillen Wirkens die Blicke mit Geringschätzung oder Ekel abwendet. Deshalb haben wir das Streben Appert’s mit lebhaftem Interesse verfolgt, und ihm die vollste Anerkennung gezollt, obgleich die Früchte desselben bis jetzt noch nicht segensreich zu Tage gefördert worden sind. Deshalb stimmen wir aus vollem Herzen in das Lob, welches dem Spanier Montesinos, Director des Gefängnisses in Valencia, in Nr. 47 der Gartenlaube von 1853 gezollt wird. Eben deshalb aber finden wir uns auch veranlaßt, der Vergessenheit das Andenken eines deutschen Landsmannes zu entreißen, der auf dem gleichen Gebiete mit Montesinos in unserer Zeit viel Gutes geleistet hat, und wenn auch nicht in einem kleineren Wirkungskreise gleich dem Spanier so wahrhaft Ausgezeichnetes, dafür in einem weit ausgedehnteren viel Gutes, so daß die Summe seines Verdienstes kaum geringer sein dürfte.

Klepper, Königlich Preußischer Kriegsrath, ein Mann, der noch in späterem Alter das Gemüth eines Kindes bewahrte, der kein größeres Vergnügen kannte, als Werke der Wohlthätigkeit und Menschenliebe zu üben, hatte sich während der Freiheitskriege bei der Verwaltung der Lazarethe rühmlichst ausgezeichnet. Man fand dabei Gelegenheit, seine seltene Aufopferungsfähigkeit und Selbstverläugnung, sowie seine wahre Menschenliebe kennen zu lernen, und dies gab Veranlassung, ihn in den Zwanziger Jahren mit einer Revision sämmtlicher Strafanstalten der preußischen Monarchie zu beauftragen. Er wurde von dem Ministerium mit den ausgedehntesten Vollmachten versehen, und sämmtliche Directoren, Obern und Unteraufseher aller den Civilgerichten unterworfenen Zucht-, Straf-, Corrections-Arbeitshäuser, oder welchen Namen immer dergleichen Anstalten führen mögen, erhielten den Befehl, seinen Anordnungen unbedingte Folge zu leisten, und in besonderen Fällen stand ihm unter seiner persönlichen Verantwortlichkeit sogar das Recht zu, niedere Beamte augenblicklich von ihrem Amte zu suspendiren oder ganz abzusetzen. So kam es denn, daß [45] sein Name durch das ganze Land von den Zuchthausbeamten bald eben so sehr gefürchtet als von den Züchtlingen gesegnet wurde. Denn so weichmüthig er im gewöhnlichen Leben war, so unnachsichtlich strenge zeigte er sich, wo es die Bestrafung unmenschlicher, grausamer oder roher Zuchtmeister galt, und bald hörte man von zahlreichen Absetzungen bei dem Aufsichtspersonale der Gefängnisse. Sein Augenmerk war zunächst auf eine bessere, menschlichere Behandlung der Sträflinge gerichtet, denn eine durchgreifende Reorganisation des ganzen Strafsystems und der innern Einrichtung der Zuchthäuser lag außerhalb seiner Machtvollkommenheit, obgleich er die Instruction hatte, dazu nach den zu sammelnden Erfahrungen Vorschläge zu machen.

Klepper wußte wohl, wie wenig offizielle Revisionen dahin führen, die Wahrheit zu ergründen; deshalb nahm er die seinigen häufig incognito, unter irgend einer unscheinbaren Maske vor, in der Tasche die gefürchtete Vollmacht, die ihn in den Stand setzte, im Fall der Noth augenblicklich mit Energie einzuschreiten. Ein mehrfach von ihm angewendetes Mittel, auf praktische Weise zu der Kenntniß der Behandlungsart zu gelangen, der die Gefangenen hier und dort unterworfen wurden, war, daß er sich arretiren ließ, um so an sich selbst die gewünschten Erfahrungen zu machen. Er besuchte zu diesem Zwecke bäufig solche Orte, von denen es bekannt war, daß dort Prügeleien zu Verhaftungen en masse führten, bei denen es dann natürlich hieß: Mit gefangen, mit gehangen, und wo der Unschuldige mit dem Schuldigen leiden mußte. Diese Absicht erreichte er auch eines Abends in einer Tabagie Berlins, und er wurde mit einem ganzen Schwarm Arretirter, unter denen sich auch mehrere Frauen und Mädchen befanden, nach dem sogenannten Ochsenkopf transportirt. Hier angekommen, wurde der ganze Schub in ein Gemach gesperrt, ohne daß man es nöthig fand, zuvor die Geschlechter zu sondern. Klepper murrte darüber laut, allein durch einige derbe Worte des Schließers zur Ruhe verwiesen, schwieg er, um den weitern Verlauf der Dinge abzuwarten. Das Gemach, in dem er sich mit allen Uebrigen befand, und in welchem eine undurchdringliche Dunkelheit herrschte, war so eng, daß unmöglich Alle darin Platz zum Liegen hätten finden können, und so suchte sich Jeder, so gut es gehen wollte, einzurichten, um den Rest der Nacht zuzubringen, denn vor dem vollen Tage ließ sich auf keine Erlösung rechnen.

Klepper hatte einen Platz in der Nähe der Thür eingenommen und lauschte hier, oft mit Schauder, auf die Unterhaltung seiner rohen Umgebung. Da wurde das halblaute Geflüster durch gellendes Schmerzengeschrei unterbrochen. Eine Frau war plötzlich auf eine Weise erkrankt, welche augenblickliche Hülfe verlangte. Klepper klopfte daher mit gewaltigen Schlägen an den Schieber in der Thür, und bald fragte eine Schildwache, was es gäbe. Klepper sagte es und bat, den Schließer zu benachrichtigen, damit er ärztlichen Beistand herbeischaffe. Brummend entfernte sich die Schildwache mit der Aeußerung, das würde wohl keine so große Eile haben. Und in der That vergingen zehn Minuten, es verging eine Viertel-, endlich eine halbe Stunde, ohne daß der Schließer kam. Während dessen aber war das Geschrei der armen Frau immer kläglicher, immer herzzerreißender geworden, und Klepper donnerte nun ununterbrochen und aus allen Kräften mit Händen und Füßen gegen die Thür und forderte die Zunächststehenden auf, ihn in seinen Bemühungen zu unterstützen. Diese aber verweigerten jede Hülfsleistung der Art, indem sie lachend sagten: „Na, warte nur, Dir wird der Schließer den Dank für Deine Menschenliebe auf den Rücken schreiben.“

Und es schien, als sollte ihre Prophezeiung sich verwirklichen, denn schon nach wenigen Minuten kamen eilige Schritte herbei, und an dem Rasseln des schweren Schlüsselbundes erkannte man den Schließer. „Na, warte nur, Kerl. Du sollst daran denken!“ brummte er, während er die Thür aufschloß und alle Gefangenen scheu aus der Nähe den Ruhestörers zurückwichen, um ja nicht mit diesem verwechselt oder als dessen Mitschuldige betrachtet zu werden. Kaum hatte der Schließer die Thür geöffnet und die Laterne neben sich auf den Fußboden gesetzt, als er mit dem Ausrufe: „Verfluchter Kerl, was soll das heißen!“ auf Klepper eindrang und dazu hoch die Peitsche schwang. – „Zurück!“ donnerte ihm Klepper entgegen. „Er wird hier Niemand mehr unmenschlich behandeln, denn ich entsetze Ihn seinen Postens! – Ich bin der Kriegsrath Klepper!“ – Zugleich hielt er ihm mit drohenden Blicken seine Vollmacht entgegen.

„Gnade, Herr Kriegsrath!“ stammelte erschrocken der Schließer, und sank auf die Knie vor dem Zürnenden, dessen unerbittliche Strenge er kannte und der ihn bei einer frühern Gelegenheit bereits ernst verwarnt hatte.

Ohne eine weitere Antwort zu geben, gebot Klepper: „Jetzt rasch Hülfe geschafft für diese arme Frau. Das Uebrige wird sich finden! – Und für hinlängliche Beleuchtung gesorgt!“

Mit zauberhafter Schnelligkeit wurden die Befehle befolgt, doch bei der Absetzung des Schließers blieb es!

Leider wurde der Kriegsrath Klepper bald darauf seinem segensreichen Wirken durch schwere körperliche Leiden entzogen, welche eine Folge seiner Thätigkeit in den Lazarethen waren. So blieb sein schön begonnenes Werk unvollendet, obgleich man mancherlei Verbesserungen anerkennen muß, die seit jener Zeit in dem Zuchthauswesen Preußens eingetreten sind. Ist aber der Name Dessen, dem man wenigstens zum großen Theile, den ersten Impuls dazu verdankt, hinlänglich gekannt und geehrt? – Längst ruht er in kühler Erde, doch segensreich hat sein Streben ihn überlebt. – Möchte er bald einen edeln Nachfolger finden, der kräftig und würdig in seine Fußtapfen tritt.




Für Mütter. Unter dem Titel: Die Benutzung der ersten Lebenstage des Säuglings zu dessen Eingewöhnung in eine naturgemäße Lebensordnung ist so eben ein kleines aber beherzigenswerthes Büchlein von Dr. Besser (Göttingen bei Wigand) in zweiter Auflage erschienen. Wenige Aeltern wissen oder beherzigen es, daß gerade diejenige Erziehung oder Gewöhnung, welche dem neugeborenen Erdbürger in seinen ersten Lebenswochen zu Theil wird, für die ganze Entwickelung seines späteren Charakters und Benehmens von überwiegender Wichtigkeit ist. Dr. Besser hat die Hauptregeln, welche bei der Pflege eines gesunden Neugeborenen in den ersten paar Lebenswochen streng beobachtet werden müssen, auf drei zurückgeführt:

1. Vom ersten Tage an werde eine Nachtzeit, etwa von 9 Uhr Abends bis 5 Uhr Morgens, ausschließlich als Zeit der Ruhe für das Kind und die Mutter beobachtet und dem Kinde daher in dieser Zeit schlechterdings keine Nahrung gereicht.

2. Die Zeiten, wo das Kind den Tag über genährt wird, sollen festbestimmte sein, und dasselbe soll in keinem Falle öfter als viermal täglich Nahrung erhalten (also diese nicht, wie es üblich, durch Schreien ertrotzen dürfen).

3. Das neugeborne Kind soll in den ersten paar Wochen niemals umhergetragen, gewiegt oder geschaukelt werden.

Auf diese Weise soll das Kind bei Zeiten gewöhnt werden, in Befriedigung seiner Bedürfnisse Ordnung zu halten und seine Launen (oder Langeweile etc.) nicht durch ertrotzte Beschwichtigungsmittel zu befriedigen.

Dr. R. 




Pariser Geschichte. Eine mysteriöse Neuigkeit trauriger Natur geht beute von Mund zu Mund. Es handelt sich um einen Mord, den ein bekannter Kaufmann im Quartier des Champs Elysées an seiner Frau verübt hat. Nach vollbrachter That hat er sich alsbald nach dem benachbarten Polizei-Commissariat begeben und sich als Gefangener gestellt. Was ich über den Fall habe in Erfahrung bringen können, theile ich Ihnen in Nachstehendem mit.

Gegen Ende des Jahres 1849 machte Herr V. die Bekanntschaft einer jungen Dame, deren Mutter in der Provinz in einer kleinen Stadt ein Hotel garni hielt. Aus der Bekanntschaft ward eine zärtliche Liebschaft, deren Frucht ein Mädchen war.

Es war der lebhafteste Wunsch des jungen Mannen, eine legitime Ehe mit dem Gegenstande seiner Neigung zu schließen, alle seine guten Vorsätze aber scheiterten an der Hartnäckigkeit seiner Familie, welche ihre Einwilligung trotz aller Bitten und Thränen versagte.

Vor ungefähr zwei Jahren verlor die Mutter des jungen Mädchens ihren Sohn, der bei der Armee in Afrika stand, durch den Tod, und fühlte sich durch diesen Verlust bewogen, ihren bisherigen Wohnort mit Paris zu vertauschen, wo sie Zerstreuung zu finden hoffte. Sie kaufte hier ein großes Hotel garni. Ihre Tochter und Herr V. schlossen sich ihr alsbald an und es ist heute gerade ein Jahr, daß die jungen Leute durch eine legitime Ehe ihre begangenen Sünden wieder gut zu machen suchten. Seit jener Zeit machten die V.’schen Ehegatten ein großes Haus; sie sahen viel Gesellschaft bei sich und gaben Diners, Feten und Bälle. Einer dieser V.’schen Bälle war es auch, bei welchem eine junge liebenswürdige Künstlerin vom Theater Odeon ihren Tod durch Erstickung fand, da sie mit einem leichten Gagekleide beim Contretanz dem Kamin zu nahe gekommen und von der Flamme ergriffen worden war.

Vorgestern war bei V., wie gewöhnlich, Empfang, und seine Frau hatte, obgleich sie ein wenig leidend war, bis um ein Uhr Morgens getanzt. Sie hatte sich an einen Tisch gesetzt, an welchem man Lansquenet spielte und über heftiges Kopfweh geklagt. Ihr Mann, der die häufigen Feste ungern sah, hatte sich nur eine Stunde lang sehen lassen, dann aber in sein Zimmer zurückgezogen, in welchem er sich einschloß.

Um fünf Uhr Morgens entfernten sich alle Gäste, und als einer der Eingeladenen sich bei Madame V. entschuldigte, so lange geblieben zu sein, erwiederte sie ihm: „Sie haben mir im Gegentheil einen Dienst geleistet: ich habe schon seit drei Tagen kein Auge geschlossen und werde auch jetzt noch nicht zu Bett gehen.“ „Wollen Sie dann nicht ein wenig mit mir spazieren fahren?“ fragte darauf eine Dame von der Gesellschaft.

„Ich? spazieren fahren?“ erwiederte Madame V. „was würde mein Mann dazu sagen! Wenn ich um eine ähnliche Stunde selbst mit Ihnen, spazieren ginge, würde es bald keine Madame V. mehr geben.“

Sie sprach diese Worte mit vieler Traurigkeit, welche von der Gesellschaft auf Rechnung der Eifersucht des Herrn V. geschrieben wurde.

Im Laufe des folgenden Tages ging Herr V. mehrmals aus, kam aber immer bald wieder zurück. Um 4 Uhr Nachmittags setzte er sich in seinem Zimmer nieder und schrieb. Als die Kammerfrau ihn bleich und erregt sah, frug sie, ob der Brief fortzutragen sein werde. „Nein! ich werde ihn selbst forttragen! Entfernen Sie sich!“ erhielt sie zur Antwort. Sie ging schweigend und hörte, wie Herr V. die Thür hinter ihr verschloß.

Sobald der Brief fertig geschrieben war, trat Herr V. aus seinem Kabinet, schritt durch das Schlafzimmer und den Salon, und trat in’s Boudoir seiner Frau. Diese saß am Fenster, mit einer Stickerei beschäftigt, und hatte ihre kleine sechsjährige Tochter bei sich.

Was sich hier ereignete, weiß kein Mensch, aber nach Verlauf einiger Minuten hörte die Kammerfrau das kleine Mädchen schreien: „Bonne, Bonne! komme doch! ich weiß nicht, was Vater mit Mama macht!“ Die Kammerfrau lief herbei. Sie fand Madame V. am Boden liegend, ihren Mann über sie gebeugt. Sich erhebend, warf dieser einen von Blut rauchenden Dolch in die Mitte des Zimmers und sagte, sich zur Kammerfrau wendend: „Jetzt gebe ich zum Polizeicommissär!“

Die unglückliche junge Frau hatte ihr volles Bewußtsein behalten. „Louise, hilf mir aufstehen,“ sagte sie, „ich will versuchen, ob ich gehen kann.“ Die Kammerfrau wollte ihr in die Höhe helfen, es gelang ihr aber nicht. Ihre Herrin äußerte, dies bemerkend: „Ich bin also verloren!“

Indessen war ein Arzt aufgesucht worden, der sogleich herbeieilte. Beim Anblick zweier Wunden, die sich an der Brust, ein wenig unterhalb [46] des Herzens befanden, glaubte er, daß edle Theile nicht verletzt sein würden, als er aber die Unglückliche noch aufmerksamer untersuchte, fand er noch schwere Wunden in den Nieren, und eine Bewegung, die er sie machen ließ, führte sogleich heftigen Auswurf von Blut und den Tod herbei.

Während das Alles sich im Boudoir der unglücklichen Madame V. zutrug, ließ sich Herr V., der einen Wagen bestiegen hatte, zu dem Polizeicommissär des Reviers fahren. Die Entschlossenheit, Aufregung und Wuth, die ihn bis dahin ohne Zweifel aufrecht erhalten hatten, verließen ihn unterweges, und als der Wagen vor der Thür des Commissariats anlangte, fand der darin Sitzende sich außer Stande, ohne fremde Hülfe auszusteigen; der Kutscher ging zum Commissar hinein und sagte ihm, daß er einen Herrn geladen habe, jetzt aber fürchte, ihm nur noch einen Leichnam zu bringen. Von zwei andern Personen unterstützt, gelang es ihm jedoch, Herrn V. in das Büreau zu führen. – „Ich habe soeben meine Frau getödtet,“ sagte Letzterer mit schwacher Stimme beim Eintreten, „sie betrog mich mit anderen Männern, welche sie empfing; ich habe sie getödtet, meine Ehre gerächt und stelle mich nun als Gefangener.“ Nach diesen Worten verfiel er in eine völlige Abspannung und man hat bis diesen Augenblick noch nicht ein Wort aus ihm herausbringen können.

Ich behalte mir weitere Enthüllungen in Betreff dieses romantisch-schauderhaften Falles vor. –




Die Zeitgenossen des „alten Herrn.“ Es giebt einen Vorwurf, den man den an Jahren vorgerückten Menschen macht, daß sie ihre Jugendzeit schöner, freundlicher, besser finden, als die Gegenwart. Wir wollen es dahin gestellt sein lassen, wie weit dieser Vorwurf ein gerechter ist. Die Lebensskizze des alten Herrn können wir ohne den Gedanken an diesen Vorwurf nicht aus der Hand legen. Wir genießen jetzt die Früchte der Geistesfreiheit, die er, den Cyclus der größten Männer um sich versammelnd, anstrebte.

Aus dem klang- und sagenreichen Thüringen erheben sich die Wiegen der geistigen Freiheit. Was Karl August in Weimar schuf, haben wir gesehen. Werfen wir einen Blick in die weitern Gauen von Thüringen. Das Weimar nächste Erfurt war bewohnt und regiert von dem Krummstabe und ein altes Sprüchwort war daselbst: „unter dem Krummstab ist gut wohnen.“ Es war damals ein wahres Wort! Dahlberg, der Gönner und Freund des edlen Wessenberg, regierte als Coadjutor von Mainz. Wenn er auch nicht die Heroen des Geistes um sich versammeln konnte, so war nicht weniger ein Kreis der freisinnigsten und denkendsten Männer um ihn. Er gab wöchentlich Gesellschaften, wo jeder gebildete Mann Zutritt hatte, gleichviel welcher Konfession er angehörte, und nur wissenschaftliche Erörterungen waren der Gegenstand der Unterhaltungen. Zu seiner Tafel wurden Alle gezogen, die seinem edeln freisinnigen Leben und Streben gleichgesinnt schienen. So war sein, dem katholischen Bischofe, innigster Freund der Senior des evangelischen Ministerii, Engelhardt. Aus einzelnen Zügen des Lebens ist der Charakter des Menschen zu erkennen. Engelhard war an der Tafel bei Dahlberg. In vielleicht heiterer Weinlaune bemerkt Dahlberg: „Ihr Evangelischen seid doch arme Leute. Ihr habt nur drei Sakramente, da haben wir es doch besser, wir haben sieben.“ „Wohl wahr,“ sagte Engelhardt ernst, „aber mit Vielem hält man Haus, mit Wenigem kömmt man auch aus.“ Da war von keinem konfessionellen Kampfe die Rede, das Licht der Vernunft durchleuchtete den Regenten, es durchleuchtete die Professoren der damaligen Universität, und dieser Geist der ächten edlen Freiheit verzweigte sich in unendlichen Aesten durch die Schulen zum Volk. Ein Schüler jener Zeit war Gneisenau, der Schlachtenheld, dessen Vater bekanntlich Bauinspektor in Erfurt war und Neidhard hieß. Gneisenau’s mathematischer Kopf war wohl eine der Hauptzahlen in dem Kampfe gegen den Riesen des neunzehnten Jahrhunderts. Auch das war ein Mann, der stets bereit war, die töpferne Schüssel auf seine Tafel zu setzen. Noch erinnere ich mich, wie er als Feldmarschall nach Erfurt kommend, sich alle offizielle Ehrenbezeugungen verbat, bei einem alten Professor der Universität einkehrte, dessen Schwester ihm als Braut gestorben, alle die mit ihm zu Dahlberg’s Zeit studirt, um sich versammelte, und diese fröhliche Zeit durch gaudeamus igitur etc. zurückrief und Alle mit brüderlichem Du, mochten sie nun in bescheidenen Kreisen oder in höhern Lebenssphären sich bewegen, begrüßte. Es waren wackere Namen dabei, als Trommsdorff, der Mitgründer der neuern Chemie, Weingärtner der Mathematiker, auch der meines Vaters, den ich verschweige, der mit Röhr, Bretschneider, Paulus und Ammon, die Dunkelmänner, die überall wieder auftauchten, mit den Waffen der Wahrheit und des Lichtes bekämpfte. Das waren die Zustände Erfurts zur Zeit des alten Herrn. Einen andern sächsischen Thron schmückte in Gotha Ernst II., bekannt durch seine Einfachheit und Gerechtigkeit, und sein Nachfolger Herzog August, ein Fürst, ausgeschmückt mit seltenen Geistesgaben. Wenn ihn auch der Vorwurf trifft, daß er nicht so weise mit den Mitteln, die ihm sein Vorgänger hinterlassen, umging und seine Hofhaltung nicht zu der billigsten gehörte, so verband er aber mit dieser Neigung zum Luxus, die Liebe zu Kunst und Wissenschaft, vervollständigte die für ein so kleines Land wie Gotha sehr reichen Sammlungen aller Art und unterstützte Alles, was den geistigen Fortschritt begünstigte. Zu seinen Lieblingen und Vertrauten gehörte Friedrich Jacobs, im Kreise der Gelehrten als Herausgeber der griechischen Anthologie, aber noch mehr im Volke bekannt, als der Anbahner einer edlern Geistesrichtung der Jugendschriften! Häufig las er seine Manuskripte dem Herzoge vor, darunter einst seine Bruchstücke über die Forderungen der Zeit, die in einer Weise geschrieben waren, daß sie jetzt schwerlich gedruckt werden dürften. „Lieber Jacobs,“ erwiederte der Herzog, „das ist nicht für mich und noch viel weniger für meinen Vetter in Weimar geschrieben.“ „Das weiß ich,“ erklärte Jacobs, „aber es kann eine Zeit kommen, wo es gut ist, wenn es nicht braucht gedruckt zu werden.“

In Coburg regierte Ernst Friedrich mit seinem Minister Moritz August von Thümmel, dem Dichter, dem Verfasser der Reisen, der mit eisernem Fleiße außer seinen Lieblingsarbeiten Alles leitete, untersuchte, entschied, was sich seinem Ministerberufe entgegenstellte.

So war es zur Zeit den alten Herrn in Thüringen, die meisten Herrscher des zerstückelten Landes vereinigten sich zum Fortschritt der Geistesbildung, des Lichtes und der Wahrheit.




Der amerikanische Gesandte am französischen Hofe. Ueber dieses Thema bringt ein amerikanisches Blatt, die Cincinnati Gazette folgende Notizen:

„Am 15. August (1853) gab der französische Minister der auswärtigen Angelegenheiten. Drouyn de L’Huys. dem diplomatischen Corps ein Diner zu Ehren des Geburtstags Napoleon’s I. Alle in Paris befindlichen Gesandten und Geschäftsträger, sowie einige nicht mehr in Thätigkeit befindliche Diplomaten, waren bei diesem Mahle anwesend. Auch auf Sandford’s, unseres Gesandten, Karte stand, wie auf allen übrigen, in einer Ecke „in Uniform.“ Sandford schrieb sofort an den Minister des Auswärtigen, „daß seine Regierung, wie Herr de L’Huys ohne Zweifel wahrgenommen haben werde, kürzlich gewisse Instruktionen in Bezug auf Hofuniform erlassen habe, denen nachzukommen seine Pflicht sei; wenn er also bei dem Mahle erscheine, was ihm sicher viel Vergnügen machen werde, so müsse es in dem einfachen Anzuge eines Bürgers der Vereinigten Staaten geschehen. Gleichfalls ersuche er den Minister, wenn nöthig, dem Hofe anzuzeigen, daß er eben so in den Tuilerien sich zeigen werde.“ Er empfing ungesäumt vom Minister eine Antwort, welche keinen Einwand machte.

Er ging, und wie man sich denken kann, machte dieser Eingriff in altes Herkommen gerade zu einer Zeit, wo der Hof mehr und mehr ceremoniell und glänzend wird, großen Aufsehen und veranlaßte viel Gerede. Die Versammlung war brillant und schien mehr aus Gold, funkelnden Kreuzen, Sternen und kaiserlichen Adlern, als aus Menschen zusammengesetzt. Sie waren buchstäblich mit Schmuck überladen.

Sandford allein erschien in dem Anzuge eines einfachen Bürgers: schwarzer Frack, weiße Weste, gleiche Halsbinde und schwarze Hosen, ohne irgend eine Auszeichnung oder Stickerei. Während des Essens saß er neben dem Geschäftsträger der Schweiz, ihm gegenüber aber der Geschäftsträger von Venezuela, so vollständig in goldene Stickereien eingewickelt, daß er seinen Körper nur mit der größten Schwierigkeit in Bewegung setzen konnte. Der schweizer Geschäftsträger bemerkte, indem er sich gegen Sandford wandte: „Sehen Sie diesen kleinen Herrn, er ist der Repräsentant der unbedeutendsten Regierung von Venezuela, einer Macht, die kaum auf ihren Beinen stehen kann, die Wucht seiner Goldborten erstickt ihn fast, indessen Sie, der eine der größten Mächte der Welt, wo nicht die größte, vertritt, in der einfachen Tracht eines bescheidenen Bürgers erscheinen. Dieser Contrast macht Ihnen und Ihrem Lande Ehre.“ Etliche andere Complimente der Art wurden Sandford indirect gesagt, indessen die Mehrzahl der Anwesenden zeigte positive Abneigung. Die Neuerung war zu sehr ein directer Commentar zu ihrer eigenen Erscheinung, sie führte zu einem eigenthümlichen Gedankengang und nothwendig auch zu unangenehmen Betrachtungen über ihre eigene Stellung. Der Herzog von Guiche, der die französische Regierung zu Turin vertritt, nahm nach dem Essen Sandfords Arm und machte einige starke Bemerkungen über sein Auftreten. Sandford entgegnete in demselben Ton, und das Gespräch nahm eine andere Wendung. Der türkische Gesandte, Omar Pascha, am französischen Hofe sehr geachtet, suchte Sandford’s Gesellschaft und sagte zu ihm mit schlecht verhehltem Verdruß: „Eh! Qu’est ce que c’est! Vous avez l’air d’un corbeau dans cette foule des oiseaux d’or! (Was ist das? Sie sehen wie ein schwarzer Rabe unter diesen goldenen Vögeln aus!) Obwohl Sandford dem Muhamedaner seine Gründe aus einandersetzte, wollten sie diesem doch nicht recht einleuchten.

Der Tag war zugleich der Empfangstag in den Tuilerien, und der Kaiser empfing eine große Anzahl Würdenträger, darunter auch das diplomatische Corps. Sandford war auch hier in seinem schwarzen Gewande anwesend, abermals ein Rabe unter den goldenen Vögeln. Gewöhnlich bildet bei solchen Gelegenheiten das diplomatische Corps einen Kreis, der Kaiser geht dann herum und reicht Jedem die Hand. Diesmal aber blieb er auf der Stufe des Thrones stehen, zum Zeichen, daß die Gesandten zu ihm zu kommen haben. Etliche derselben näherten sich ihm, darunter Lord Cowley. Sandford schritt gerade durch das Zimmer und machte im Vorübergehen dem Kaiser sein Kompliment.

Abends wurde eine auserwählte Gesellschaft von hundertfünfzig Personen in die Tuilerien geladen, um mit dem Kaiser und der Kaiserin der Illumination beizuwohnen. Die Gesellschaft bestand aus der kaiserlichen Familie, den Gesandten und ihren Frauen und etlichen wenigen hervorragenden Fremden, unter denen der Marschall Narvaez und die Königin Christine von Spanien. Wiederum war Alles in Uniform, mit Ausnahme Mr. Sandford’s, welcher diesmal etwas Mühe hatte, durch die Hände der zahlreichen Lakaien zu kommen, die den Weg zur Majestät pflastern. Die Gesellschaft hatte sich im Saale der Marschälle versammelt; um neun Uhr traten der Kaiser und die Kaiserin ein. Sandford sprach mit der Prinzessin Mathilde, dem preußischen Gesandten und mit zwei oder drei Andereren über seinen Anzug, als der Kaiser sich zeigte. Als dieser Sandford erblickte, ging er sofort auf ihn zu, reichte ihm die Hand, sprach einige Minuten mit ihm und ersuchte ihn, wenn er schreibe, zu melden, daß er der beständige Freund Amerika’s sei! Der Kaiser ist schlau und hat seine Schule durchgemacht.





Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.