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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1853
Erscheinungsdatum: 1853
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[207]

No. 20. 1853.
Die Gartenlaube.


Familien-Blatt. – Verantwortlicher Redakteur Ferdinand Stolle.


Wöchentlich ein ganzer Bogen mit Illustrationen.
Durch alle Buchhandlungen und Postämter für 10 Ngr. vierteljährlich zu beziehen.


Der Stadthauptmann von Lüneburg.

Historische Erzählung aus der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts.
Von
Ed. Gottwald.

Die wilde Herrschaft des Faustrechts in Deutschland, welche im 13. Jahrhunderte den Bund der Hansa hervorgerufen, um den Handel der Städte zu Wasser und zu Land gegen räuberische Ueberfälle zu schützen und den Eroberungsgelüsten der deutschen Ritter und Fürsten eine bewaffnete Macht entgegen zu stellen, diese Herrschaft der rohen Willkür rief auch hundert Jahre später den Bund der schwäbischen Städte in’s Leben, als unter der Regierung des wankelmüthigen Kaiser Karl IV. Nord- und Süddeutschland der Schauplatz der blutigsten Fehden eroberungssüchtiger Fürsten und Bischöfe geworden war. In diese wildbewegte Zeit fiel die Regierung des Herzog Magnus des Jüngern, welcher über die vereinigten Braunschweig-Lüneburg-Hannoverschen Lande herrschte, und dem die Geschichte den Namen Torquatus beilegt.[1]

In ununterbrochener Fehde mit den Herzögen von Sachsen und Mecklenburg, sowie mit den Bischöfen von Hildesheim und Münster verwickelt, mußten die reichen mit der Hansa verbundenen Handelsstädte seines Landes gar oft die leer gewordenen Säckel des nicht immer siegreichen Fürsten füllen und die ärgsten Erpressungen erdulden. Dieser Bedrückungen müde, verschlossen unter dem Schutze des Hansabundes Braunschweig und Harburg, Hannover und Wolfenbüttel zuletzt dem wilden Welfenfürsten ihre Thore und aus friedlichen Bürgern wurden mit den Waffen wohl vertraute Kriegsleute, die hinter den festen Wällen ihrer Städte den beutesüchtigen Heerhaufen des Herzogs höhnend Trotz boten.

Soweit war es auch zwischen dem Herzog Magnus und der Stadt Lüneburg im Jahre 1371 gekommen. – Um die Befreiung von sechzig seiner Ritter zu erlangen, welche in die Gefangenschaft des Herzogs von Mecklenburg [208] gerathen waren, hatte er der Stadt Lüneburg befohlen, die auf der Sülze[2] daselbst haftenden Einkünfte der Mecklenburger Prälaten mit Beschlag zu belegen, und als die Stadt dies zu thun sich geweigert, war derselben vom Commandanten der Burg auf dem dicht vor Lüneburg gelegenen Kalkberge, welche die Stadt beherrschte, eine Strafe von 2000 Mark Silber auferlegt worden.

Kaiser Karl IV., genöthigt durch die Klagen, welche von Fürsten, Bischöfen und Städten fortwährend über den händelsüchtigen Herzog einliefen, erklärte denselben in die Acht, belehnte den Herzog Albert von Sachsen nebst dessen Oheim den Churfürsten Wenzeslaus[3] mit dem lüneburgischen Lande, und übertrug dem Herzog von Mecklenburg die Vollstreckung der Achtserklärung. Sobald Herzog Magnus diese Nachricht erhielt, rückte er mit seinen Kriegsvölkern und verbündetem Adel den Mecklenburgern entgegen, und zwang diese bei Winsen an der Lühe zur Schlacht. Diese aber lief so unglücklich für Herzog Magnus ab, daß er selbst nur mit Mühe sich durch die Flucht rettete, 1500 Todte auf dem Kampfplatz ließ und über 600 seiner adeligen Reiter sich dem Feinde als Gefangene ergeben mußten, für deren Auslösung der Herzog von Mecklenburg 6000 Mark Silber verlangte.

Diese Summe nebst den noch schuldenden 2000 Mark sollte die Stadt Lüneburg binnen acht Tagen auf Befehl des Herzogs nach Celle senden, im Weigerungsfalle aber sollte der Befehlshaber auf dem Kalkberge die Stadt als eine feindliche behandeln, bis der Herzog selbst zu deren Züchtigung heranziehen würde. – Dies zur Einleitung der nachfolgenden Erzählung.


Es war Freitag vor Lichtmesse des Jahres 1371, als vor dem auf dem großen Marktplatze der alten Stadt Lüneburg gelegenen Rathhause sich eine ungewöhnlich zahlreiche Volksmenge versammelt hatte, die trotz der späten Abendstunde und des wilden Schneegestöbers, welches ein heftiger Nordwind durch die Straßen der Stadt jagte, mit neugieriger Unruhe nach den Fenstern des Rathhauses blickte, in welchem der Magistrat Lüneburgs zu ernster Berathung versammelt war, da es sich um nichts Geringeres handelte, als um die Abfassung des Absagebriefs der Stadt an den Herzog Magnus Torquatus von Braunschweig. Denn wenige Tage vorher hatte der Befehlshaber der Festung auf dem Kalkberge die Vornehmsten des Raths und die Führer des von der Stadt besoldeten Kriegsvolkes zu sich entboten und ihnen angekündigt, daß binnen acht Tagen die Löse- und Strafgelder der Stadt erlegt werden müßten, indem er sonst den Befehl seines Gebieters nachzukommen genöthigt sein würde, und so wohl er es auch mit der Stadt meine, sie dann doch nicht länger schonen könne. – Endlich schien die Berathung beendigt; ernsten Schrittes wendete sich der Bürgermeister Lüneburgs Ulrich von Weißenburg über den Marktplatz schreitend seiner Wohnung zu, einen Rathsdiener hinter sich, welcher eine Pergamentrolle trug, die den verhängnißvollen Absagebrief enthielt.

Ehrerbietig grüßend machte ihm die Volksmenge Platz, während die dem Bürgermeister nachfolgenden Senatoren sich unter die Gruppen der Bürger mischten, und nicht lange darauf, als gälte es einer allgemeinen Berathung, sah man die Bürger und Rathsherren sich wieder dem Rathhause zuwenden, und in dem großen Sitzungssaale desselben sich versammeln.

Im Hause des Bürgermeisters von Weißenburg aber hielt währenddem dessen blühende achtzehnjährige Tochter einen stattlichen jungen Kriegsmann umhalset, welcher wie zur Abreise gerüstet, des Bürgermeisters Rückkehr vom Rathhause zu erwarten schien.

„Hab’ keine Angst, Elsbeth!“ tröstete der junge Kriegsmann das bangende Mädchen, indem er einen Kuß auf deren jungfräuliche Stirn drückte. „Ich reise unter Gottes Schutz und gerechter Sache. Mag auch der Magnus ein gar wilder und böser Herr sein, so soll er mir doch nichts anhaben können, da es diesmal gilt der Gewalt die List entgegen zu setzen. Und – fuhr er mit vor Freude strahlenden Blicken fort – knüpft sich doch an die Vollziehung des mir gewordenen Auftrags Deines Vaters Einwilligung zu unserer Herzen Bündniß, wie sollte ich da nicht Alles wagen, um Dich sobald als möglich für immer mein nennen zu dürfen?!“

„Wenn Dich aber der wilde Herzog fest halten und in den Kerker werfen läßt?“ – klagte Elsbeth mit thränenfeuchten Blicken zu dem Geliebten aufschauend.

„So nahe werde ich mir den Wütherich nicht kommen lassen,“ entgegnete beruhigend dieser, und zog das liebende Mädchen fester an seine Brust, indeß, von Beiden unbemerkt, die ernste stolze Gestalt des Bürgermeisters Ulrich von Weißenburg am Eingange des Gemachs sichtbar ward, der mit wehmüthig lächelnden Blicken auf das in inniger Umarmung verschlungene Liebespaar schaute.

„Elsbeth!“ rief jetzt des Vaters ernste Stimme, und erschrocken eilte die Jungfrau aus des jungen Kriegsmanns Umarmung, während dieser sich ehrerbietig vor dem Bürgermeister verneigte, und dann, die Blicke nicht ohne einige Verlegenheit senkend, sich an dem Wehrgehenk seines Schwertes zu schaffen machte.

„Ich will es Euch nicht verargen – begann Weißenburg jetzt mit mildem Ausdruck in Blick und Stimme – daß Ihr Abschied nehmt von einander als gelte es einer langen Trennung, denn wohl könnte es kommen, daß Dein Sponse auf längere Zeit Quartier erhalten dürfte in der Hofburg des Herzogs zu Celle, wenn er nicht all’ seinen Muth und seine Klugheit zusammen nimmt, denn es ist kein leichter Gang, welchen Dir, Arnold Becker, die Stadt Lüneburg als ihren Kriegshauptmann überträgt, und den wir nur eben einem Manne von Entschlossenheit, wie Du als solcher Dich bewährt, übertragen konnten.“

„O meine Ahnungen!“ jammerte Elsbeth, und lehnte von liebender Besorgniß überwältigt, ihr Haupt an des Geliebten Brust, während sie zu gleicher Zeit des näher getretenen Vaters Hand erfaßte.

„Macht mir meine Elsbeth nicht bange, Herr Bürgermeister,“ [209] entgegnete mit einem zärtlichen Blick auf die Geliebte im Tone scherzenden Vorwurfs der junge Kriegsmann.

„Ich weiß recht wohl – fuhr er dann fort – daß ein Ritt zum wilden Welfenherzog, diesem den Absagebrief seiner Stadt Lüneburg zu überbringen, so gar leichtes Spiel nicht ist, da ich aber durch solch’ einen Ritt mir Elsbeth’s Hand und Euern Vatersegen zu unserm Liebesbund erwerbe, so würde ich eben so fest vertrauend auf Gottes Schutz und mein Glück in der Walpurgisnacht zum Hexentanz auf den Blocksberg reiten, als wie jetzt zu Magnus Torquatus nach Celle.“

„Du bist ein wackerer Kämpe, Arnold –“ rief der Bürgermeister, sichtlich erfreut über den kecken Muth des künftigen Schwiegersohns, und auch Elsbeth blickte, ihre Angst vergessend, mit holdseligem Lächeln zu dem Geliebten auf, dessen Lob sie mit Stolz erfüllte, da sie ja deutlich sich sagen mußte, daß Alles, was er zu wagen entschlossen sei, nur aus Liebe zu ihr geschehe.

„Wenn der Auftrag, den wir Dir geben – fuhr Ulrich von Weißenburg zu Arnold Becker gewendet fort – Dir ein neuer Beweis ist, welch’ Vertrauen die Stadt Lüneburg Dir schenkt, so wirst Du mir wohl glauben, daß ich nicht theilnahmlos geblieben, als es sich darum gehandelt, das Leben eines Mannes, welchem ich das Theuerste, was ich auf Erden besitze, mein einziges Kind überlassen will, den Gefahren Preis zu geben, die nicht allein in Celle unter Magnus wildem Kriegsvolke, sondern auch auf Deiner Rückkehr nach Lüneburg durch Verfolgung Dich treffen können.“

„Es ist daher Vorkehrung getroffen, daß bei Deinem Hin- und Herritt auf drei Dir bekannten Punkten der Haide frische Pferde zum Wechsel für Dich bereit gehalten werden, und es kommt nur darauf an, daß Du auch Zeit zur Flucht gewinnst, während der Herzog den Absagebrief durchliest; es muß Dir dies durch List auszuführen überlassen bleiben, denn eben das ist das schwierigste Deines Auftrags.“

Der Bürgermeister hielt hier inne, und warf einen prüfenden Blick auf den Kriegsmann und Elsbeth, deren Besorgniß von Neuem durch die Andeutung der Gefahren, die den Geliebten droheten, mächtig gesteigert wurde. Obgleich sie keines Wortes mächtig zu sein schien, so gab doch ihr heftig wogender Busen und ihr ängstlich forschender Blick, mit welchem sie den Geliebten betrachtete, deutlich die Aufregung kund, in der sie sich befand, während Arnold Becker heiter und ruhig ihr zulächelte. „Nimm jetzt Abschied von Elsbeth –“ begann der Bürgermeister von Neuem – und folge mir in mein Cabinet, wo noch besondere Instruction Dir werden soll.

„Will’s Gott, so bist Du morgen Abend schon wieder hier und dann mag Elsbeth als Deine verlobte Braut Dich begrüßen. – Wir aber,“ setzte er mit ernster Stimme hinzu – „wollen bis morgen nicht unthätig bleiben[WS 1], um Hand an’s Werk zu legen zur Befreiung Lüneburgs von der Zwingburg des Welfenherzogs.“

Mit diesen Worten verließ er das Gemach, und mit dem Ausruf inniger Liebe: „Elsbeth, morgen für immer mein!“ zog der Kriegshauptmann die bangende Jungfrau stürmisch an seine Brust und nach einem langen heißen Kusse eilte er dem Bürgermeister nach.

Eine Stunde später ritt Arnold Becker in den Farben eines herzoglichen Kriegshauptmanns gekleidet, der Straße nach Uelzen zu, indeß Elsbeth in ihrem Kämmerlein im stillen Gebet unter heißen Thränen des Himmels Schutz auf den Geliebten herabflehte.


Während in neuerer Zeit Kunststraßen und Eisenbahnen die öden traurigen Sandflächen durchziehen, welche von Lüneburg und Harburg sich bis nach Münster hin ausbreiten und nur eine geringe Abwechselung von Hügelland und zerstreuten Laub- und Nadelholzparthien bieten, war vor 50 Jahren so wenig wie vor 400 Jahren durch die größte dieser mit Haidekraut und Moorboden bedeckten Ebene, bekannt unter dem Namen der Lüneburger Haide, eine eigentliche Straße nirgend zu finden, wohl aber durchzog ein Labyrinth von Fahrgleisen nach allen Richtungen der Windrose diese Steppe, denn es blieb jedem Fuhrwerk überlassen, sich selbst eine Straße zu wählen. – Der einzelne Reiter und Fußgänger mußte in dieser 12 bis 15 Meilen weiten weglosen Fläche genau bekannt sein, wenn er nicht Gefahr laufen wollte sich zu verirren, da die wenigen in der Haide oder an deren Grenzen gelegenen Ortschaften meilenweite Entfernung von einander trennte, und so lange dieselben nicht sichtbar, auch nirgend das kleinste Zeichen sich kund gab, daß man sich in der Nähe menschlicher Wohnungen befinde.

Aber Arnold Becker hatte den Weg von Lüneburg nach Celle auf seinen Kriegsfahrten schon oft zurückgelegt, um irre zu reiten und gelangte nach 12stündigem scharfen Ritte, ohne daß er auf irgend ein Hinderniß gestoßen, in Zelle an, wo Herzog Magnus Torquatus seit einigen Wochen Hof hielt und von hier aus seine Rüstungen gegen die Bischöfe von Münster und Osnabrück betrieb, mit denen er neuerdings wieder in Fehde gerathen.

So wenig auch Arnold Becker der Furcht in seinem Innern Eingang gestattete, so ward ihm doch etwas unheimlich zu Muthe, als er so allein Celle sich näherte, welches weit eher einem wilden Kriegslager als einer herzoglichen Residenz glich, deren Straßen von neugeworbenen Kriegsvölkern angefüllt waren, und in den weiten Höfen und Zwingern der Hofburg der Kern der herzoglichen Kriegsleute rastete, denen das blutige Fehdeleben zur Gewohnheit geworden und die hinsichtlich ihrer Grausamkeit und Plünderungswuth in Feindesland zum Schreckgebild von ganz Deutschland geworden waren.

Ehe der junge Kriegshauptmann noch vom Roß gestiegen, umringte ihn schon ein Trupp herzoglicher Panzerreiter und musterte den Angekommenen mit mißtrauischen Blicken.

„Nun, Herr Hauptmann,“ begann ein alter Rottmeister, sich selbstgefällig den langen Zwickelbart streichend, indeß Becker sein Roß einem Stallbuben übergab und sorgfältig den Absagebrief unter den Brustharnisch verbarg – „Ihr scheint scharf geritten zu sein; kommt Ihr, um uns die bischöflichen Kreuzfahrer anzumelden, denen die Glatzen nach unsern Flambergen zucken?!“

„Nein, Rottmeister,“ entgegnete Becker ruhig. „Ich komme von der Festung auf dem Kalkberge mit einem Schreiben unsers Commandanten an unsern herzoglichen Kriegsherrn.“

[210] „Aha,“ lachte der Rottmeister, „dann ist der Geldkasten wohl schon aufgepackt, den auf des Burghauptmanns Befehl das patzige Bürgervolk in Lüneburg endlich gefüllt. Nun dann seid Ihr willkommen, denn der Magnus verlangt sehnlich nach Geld und wartet schon längst auf Botschaft von daher.“

„Ich bringe wohl mehr, als der Herzog, unser gnädigster Herr glaubt,“ bemerkte Becker mit geheimnißvoller Wichtigkeit in Blick und Stimme. „Aber“ – fuhr er in einem vertraulichen Tone übergehend fort – „erst Kamerad laßt mich mein armes Roß sicher unterbringen, was wacker hat ausgreifen müssen, um mich so schnell als möglich bis hierher zu tragen, dann will ich Euch länger Rede stehen.“

„So ist’s recht, ein braver Reiter sorgt erst für sein Roß, dann für sich,“ lächelte beifällig der Rottmeister, als Becker dem Stallbuben folgte, während die übrigen Kriegsleute sich gleichgültig von ihm abgewendet, da sie in ihm nichts mehr als einen Eilboten sahen, deren von den Verbündeten des Herzogs in der neuern Zeit so viele in Celle eingetroffen waren.

„Willst du dir einen Goldgulden verdienen?“ – frug Becker den Stallbuben, dessen offenes ehrliches Gesicht ihm gefiel, als er mit diesem allein im Stalle war und sich nun überzeugte, daß sein Roß in guter Pflege sei.

„Einen Goldgulden!“ rief staunend der Stallbube. „Heiliger Ambrosius, einen Goldgulden – und womit denn?“

„Durch einen ganz leichten Dienst,“ fuhr Becker fort. – „Sieh! Du scheinst mir ein wackerer Junge und weißt, wie viel ein gutes Roß dem Reiter werth. Nun aber hat mein Ungarhengst hier scharf herhalten müssen und damit er mir nicht erlahmt durch halbstündige Ruhe, so sollst du ihn, sobald er richtig abgefüttert, aus dem Stalle ziehen und mir ihn bis vielleicht zum äußern Hofthore hin langsam auf- und abführen, so daß, wenn ich schnell wieder auf Herzogs Befehl zurück muß, was sicher geschehen wird, ich ihn auch sogleich wieder zum Fortritt besteigen kann. Versprichst du mir das?“

„Gewiß, Herr Ritter! verlaßt Euch darauf, Euer Roß soll gut verpflegt werden und Ihr sollt es gesattelt und gezäumt finden, noch ehe Ihr die Stufen wieder hinabsteigt, die zu des Herzogs Gemache führen,“ entgegnete treuherzig der Stallbube und ging an die Fütterung des Pferdes, während der lüneburgische Kriegshauptmann mit hochklopfendem Herzen den Hallen der Hofburg zueilte und dort von einem herzoglichen Diener geleitet durch einen langen gewölbten Gang eine breite Treppe hinauf nach einer Art Vorzimmer geführt wurde, in welchem zwei Trabanten des Herzogs, lautlos auf und nieder schreitend und ohne den Ankommenden einer besondern Aufmerksamkeit zu würdigen, Wache hielten. –

In dem Gemache, vor welchem die Trabanten Wache hielten, saß Herzog Magnus Torquatus völlig gerüstet, über dem stark vergoldeten Brustharnisch die schwere silberne Kette tragend, mit welcher ihn als Jüngling des Vaters Zorn gefesselt, umgeben von seinen vertrautesten Räthen und Kriegsobristen, um eine große eichene Tafel, auf welcher eine Anzahl riesiger Humpen paradirten, welche der Mundschenk des Herzogs von Zeit zu Zeit füllte, da der Wein bei den Berathungen dieses Kriegsfürsten mit seinen Getreuen nie fehlen durfte. Zur Seite des Herzogs saß der Kanzler von Sprök, der Einzige, welcher an der großen Berathungstafel mit Schreibmaterial versehen war, vielleicht auch der Einzige, welcher die Schreibekunst wirklich verstand und neben diesem nahmen die Grafen von Hoya, Hallermund und Homburg Platz, während die übrigen Würdenträger des herzoglichen Hofes und die unter den Befehlen der genannten Grafen stehenden Kriegshauptleute in Gruppen vertheilt die Tafel umgaben. –

Die Berathung, welche mit der achten Stunde des Morgens begonnen und bereits drei Stunden gewährt, mochte dem Herzog eben nicht viel Erfreuliches gebracht haben, denn schon zeigten sich auf der vom Wein und Ingrimm gerötheten Stirn des Fürsten finstere Falten, die sichern Vorboten eines bald ausbrechenden Jähzorns, und man schien es der nächsten Umgebung des Herzogs anzumerken, daß bei so böser Laune, wie sie dem Welfenherzog bald zu überfallen drohete, keiner der rauhen bärtigen Kriegsmänner gern in seiner Nähe verweilte.

„Zum Teufel mit all’ diesen Verbündeten!“ – rief nach einer kurzen Pause unheimlichen Schweigens der Herzog plötzlich heftig und schlug so gewaltig mit der Faust auf den Tisch, daß der Kanzler von Sprök erschreckt zusammenfuhr, während die Grafen von Hoya und Hallermund sich ebenfalls erhoben und nur der Graf von Homburg sitzen blieb. – „Zum Teufel mit all’ den Verbündeten!“ wiederholte der Herzog. „Will der Erzbischof Albert von Magdeburg etwa dasselbe Spiel treiben, wie sein Vorfahr, der Erzbischof Dittrich bei Dünkeler[4] und den Feinden leichtes Spiel machen, wo wir vereint ihn für immer zu Boden halten würden. Warum stößt er mit seinem Kriegsvolke nicht zu uns, da bereits acht Tage verflossen, seit er versprochen mit 5000 Mann Fußvolk und 500 adeligen Reitern hier einzutreffen. Just so ging es damals auch und das Zögern brachte uns um Land und Freiheit, während das reiche Hildesheim mit all’ seinem Gold und Silber unser werden mußte und der Bischof Gerhard statt mit unserem Golde sein Domdach zu decken, froh sein durfte, wenn wir ihn nicht in den Hungerthurm gesperrt. Wahrlich des Kaisers Majestät hätte nicht gewagt uns die Achtserklärung zukommen zu lassen, wie er’s dann gethan, als wir von allen Seiten uns verrathen sahen. Aber Geduld! ich will diesen Glatzköpfen für ihr Zaudern und Heucheln eine Fackel aufstecken, die dem Kaiser von Aachen bis Goslar leuchten soll.“ –

„Und wird Adolph von Holstein nicht eben so wortbrüchig handeln wie Eure Pfaffen?“ frug trocken der Graf von Homburg seinen Platz verlassend und sich an die Ecke eines Bogenfensters lehnend.

„Holstein wortbrüchig?!“ fuhr Magnus auf. „Ha! dann dürfte ich mir selbst nicht trauen. Warum befürchtet Ihr dies?“

„Ich befürchte es nicht, aber ich vertraue auch Niemand als mir selbst,“ entgegnete Graf v. Homburg, einer der bedeutendsten Parteiführer der damaligen Zeit, über [211] welchen, so wie über Herzog Magnus die Reichsacht ausgesprochen, der aber mit seinen wilden Kriegsvölkern sich wenig darum kümmerte und diese nach Gefallen in Feindes Lande plündern und sengen ließ und von dem, als einem seiner mächtigsten Verbündeten, selbst Magnus Widerspruch ertrug.

„Wir sind stark genug,“ fuhr der Graf von Homburg fort – „um gegen die feindlichen Bischöfe so wie gegen Sachsen und Mecklenburg Stand zu halten, denn wir zählen an 15,000 Lanzen und 6000 schwer gerüstete Reiter und unsere Kriegsvölker fragen den Teufel nach Bann und Acht, wenn nur reiche Beute in Aussicht ist. Das Herumlungern hier macht das Volk faul und mürrisch, und da wir vor Allem Geld brauchen und Eure getreue Stadt Lüneburg in Güte nicht zahlen will, so glaube ich, es wäre das Kürzeste, wir holten es uns und setzten der Rebellenstadt für die Mühe des Wegs dahin den rothen Hahn auf’s Dach.“

„Ja, auf gegen Lüneburg!“ – riefen die Grafen v. Hoya und Hallermund, ebenfalls Verbündete des Herzogs. „Homburg hat Recht, das Volk wird trotzig und böswillig ob der trägen Ruhe, in die es hier sich schicken muß.“

„Nun, glaubt Ihr denn, der Magnus gefällt sich hier und wäre nicht schon längst aufgebrochen gen Lüneburg, wenn er nicht erst mit den Bischöflichen hätte aufräumen wollen?“ entgegnete bitter lachend der Herzog und warf einen grollenden Blick auf seine Verbündeten.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Staatsgefängniß.

Das Schloß Ham.

Unter den Schlössern Frankreichs hat das alte Schloß Ham, an der Somme im gleichnamigen Departement des nördlichen Frankreichs belegen, zu verschiedenen Zeiten eine verschiedene Rolle gespielt. Durch seine natürliche Lage an einem großen Sumpfe und auf der Westseite durch den Somme-Fluß gedeckt, bot das Schloß, außerdem stark befestigt, durch vier runde, mittelst einer hohen Mauer unter einander in Verbindung stehende Thürme, welche sich gleich vier Wächtern an den Ecken eines länglichen Vierecks erheben, in den unruhigen und kriegerischen Zeiten des 15. und 16. Jahrhunderts einen sicheren und leicht zu vertheidigenden Zufluchtsort. Der kolossale Baustyl desselben rechtfertigt die Annahme, daß es schon im Mittelalter, wo der übermüthige und raublustige Adel den Herrn spielte, erbaut ward. Die starken Mauern des Schlosses trotzten im 16. Jahrhundert einer hartnäckigen Belagerung der Engländer, erlagen aber bald darauf den Spaniern unter Philipp II., der Ham heftig beschießen ließ und es dann mit Sturm einnahm. Seit dem Anfange des 18. Jahrhundert verlor das Schloß seine Bedeutung als Waffenplatz; es wurde zum Staatsgefängnisse bestimmt, und zu diesen Zwecke namentlich der auf der Westseite befindliche, [212] 100 Fuß hohe Thurm, dessen aus Bruchsteinen erbaute Mauern einige 30 Fuß dick sind, eingerichtet. Staatsmänner, Krieger, in Ungnade gefallene Höflinge, hochgestellte Prälaten, Schriftsteller und Künstler haben im Laufe des vorigen und des jetzigen Jahrhunderts in den Zellen dieses Thurmes für wirklich begangene oder ihnen aufgebürdete Vergehen büßen müssen; und in unseren Tagen, d. h. vor noch nicht dreizehn Jahren, wurde Ludwig Napoleon[WS 2], von der Pairskammer zu lebenslänglichem Gefängniß für sein zweites mißlungenes Attentat zu Boulogne verurtheilt, im October 1840 nach Ham abgeführt und dort so strenge bewacht, daß jeder Fluchtversuch unmöglich schien. Seitdem Ludwig Napoleon als Staatsgefangener in Ham saß, war die Aufmerksamkeit Europa’s auf das alte Schloß gerichtet; es war kein Geheimniß, daß der eingekerkerte Prinz noch zahlreiche Verehrer und Anhänger in Frankreich hatte, und man war gespannt, ob diese irgend welche Versuche zu seiner Befreiung unternehmen würden.

Die hierbei zu überwindenden Schwierigkeiten waren freilich der Art, daß auch dem Verwegensten der Muth sinken mußte. Zunächst gränzte es fast an Unmöglichkeit, die zahlreichen Wachen zu täuschen, welche Tag und Nacht sowohl die äußeren Eingangs-Thore zum Schlosse, als auch die inneren Hofräume, die zu dem Gefängnisse führende Treppe und die Gefängnißthüren selbst bewachten. Vierhundert Mann bildeten die Besatzung des Schlosses, und von diesen waren täglich sechszig Mann zum Wachtdienst kommandirt. Die unmittelbar zum Gefängniß führende Thür hüteten drei Schließer, von denen sich zwei beständig im Dienst befanden. Außer den zahlreichen Schildwachen in dem inneren Hofraume war das Hauptthor einem besondern Wächter anvertraut, der alle Aus- und Eingehenden scharf beobachtete. So oft der Prinz auf den Wällen spazieren ging, begleiteten ihn ein Polizeikommissar und drei Gefängnißwärter, die ihm so ängstlich auf Schritt und Tritt folgten, daß an ein plötzliches Entweichen gar nicht zu denken war.

Die Umgebung des Prinzen bildeten sein Arzt, Dr. Conneau und sein Sekretär und zugleich Kammerdiener, Karl Yelin, welchen beiden es erlaubt war, die Stadt Ham besuchen zu dürfen. Auf diese beiden, ihm treu ergebenen Personen war Ludwig Napoleon vorzugsweise angewiesen; sie waren seine Gesellschafter, und in der Unterhaltung mit ihnen und in der Beschäftigung mit schriftstellerischen Arbeiten brachte er seine Zeit hin, und es hieß von Zeit zu Zeit in den öffentlichen Blättern, daß er sich mit Resignation in sein Schicksal ergeben habe. Länger als fünf Jahre war der Prinz bereits in Haft, da erfuhr man, daß derselbe, obgleich er sich bis dahin stets geweigert hatte, die Gnade Ludwig Philipp’s anzusprechen, sich an den König gewendet und diesen um die Erlaubniß gebeten habe, nach Florenz gehen zu dürfen, um seinen, auf den Tod darnieder liegenden Vater, den Grafen St. Leu, ehemaligen König Ludwig von Holland, noch einmal zu sehen und zu sprechen. Dieser Brief des Prinzen, unterm 14. Januar 1846 von Ham datirt, wurde veröffentlicht, und man ersah aus demselben, daß Ludwig Napoleon bei seinem Ehrenworte angelobt hatte, sich, wenn die französische Regierung es wolle, wiederum als Gefangener zu stellen, sobald er die heiligen Pflichten eines Sohnes erfüllt. Wider Erwarten verweigerte das französische Kabinet dem Prinzen die Erfüllung seines Gesuchs, auch blieben die Bemühungen einflußreicher Männer, sowohl in Frankreich wie in England, demselben die Freiheit zu erwirken, fruchtlos. Um so überraschender war daher auch, nach Verlauf einiger Monate, die Nachricht, Ludwig Napoleon habe das fast Unmögliche durchgesetzt, alle ihn umgebenden Wachen getäuscht, sei am 25. Mai aus Ham, in der Verkleidung eines Arbeiters entflohen, und habe glücklich die englische Küste erreicht.

Wie der Prinz diese Flucht vorbereitet und ausgeführt, darüber hat er selbst in einem Briefe an den Redakteur des Journals de la Somme Mittheilungen gemacht. Diesen zufolge hat ihn nur der sehnliche Wunsch, seinen alten, am Rande des Grabes stehenden Vater noch einmal zu sehen, zu dem kühnen Unternehmen angetrieben, dessen Ausführung, wie er selbst schreibt, mehr Muth und Entschlossenheit erforderte, als die Unternehmungen von Straßburg und Boulogne. Nothwendig gewordene Reparaturen in demjenigen Theile des Thurmes, den der Prinz inne hatte, brachten ihn auf die Idee, sich als einer der hierbei beschäftigten Arbeiter, als Maurer, zu verkleiden, um unter dieser Maske aus dem Schlosse zu entkommen. Sein Kammerdiener Yelin sorgte sofort für eine Blouse und ein Paar Holzschuhe, und in diesen Kleidern trat der Prinz, nachdem er sich seinen Bart abgeschnitten und sein Haar gefärbt hatte, am Morgen des 25. Mai um die achte Morgenstunde die gefährliche Wanderung an. Er trug ein Bett auf der Schulter und hatte ganz das Ansehn eines Arbeiters; um aber keinen von diesen Leuten zu begegnen, hatte Yelin einen Theil derselben zu einem Morgentrunke eingeladen, auch einen der Schließer abgerufen, während sich Dr. Conneau mit den anderen unterhielt. Dennoch hatte der Prinz kaum seine Zelle verlassen, als ihm ein Arbeiter begegnete, der ihn jedoch für einen seiner Kameraden ansah. Unten an der Treppe stieß der Flüchtling auf einen Gefängnißwärter, aber er hielt das Bett vor sein Gesicht, und wurde weder von diesem noch von den Schildwachen und dem Officier in den inneren Hofräumen, an denen er vorüber mußte, erkannt. Die Soldaten am Wachthause schienen allerdings über sein Erscheinen einigermaßen überrascht, und namentlich sah ihn der Tambour mit so auffallender Aufmerksamkeit nach, daß der Prinz schon an dem glücklichen Gelingen seines Wagnisses zweifelte. Zufällig begegneten ihm jedoch wieder einige Arbeiter und da er sofort das Bett vor das Gesicht hielt, diese aber meinten, er wolle sich aus Scherz vor ihnen verbergen, so rief einer derselben: „Oho, das ist ja Bernard!“

Dieser Ausruf befreite den Prinzen von aller Gefahr, entdeckt zu werden; er kam glücklich aus dem Schlosse und ging dann rasch auf der Straße nach St. Quentin fort. Der treue Yelin, der bereits Tags zuvor für einen Wagen gesorgt hatte, holte ihn bald ein, und nun eilte der Prinz, nachdem er sich seiner Verkleidung entledigt hatte, durch St. Quentin, nach Valenciennes, und von hier auf der Eisenbahn nach Brüssel, wo er am Abend desselben Tages eintraf und sich am nächsten Morgen über Ostende nach England begab.

Der Arzt des Prinzen, Dr. Conneau, war im Gefängnisse zurückgeblieben, und man glaubte daher, Ludwig Napoleon sei unwohl. Derselbe meldete jedoch gleich nach seiner Ankunft in London dem französischen Gesandten, [213] daß er aus Ham entflohen sei, versicherte demselben seine friedlichen Absichten, und bat ihn, sich seiner noch in der Gefangenschaft befindlichen Freunde anzunehmen.

Sieben Jahre sind seitdem verflossen und der damals dem Kerker entronnene Prinz Ludwig Napoleon gebietet jetzt als Kaiser der Franzosen über Frankreich, Ludwig Philipp aber ist im Exil gestorben und seine Kinder und Kindes-Kinder leben in der Verbannung.




Aus der Menschenheimath.

Briefe
des Schulmeisters emer. Johannes Frisch an seinen ehemaligen Schüler.
Zehnter Brief.
Ein streitiges Gebiet.

Wenn man eine Lilie und einen Fisch vergleicht, so sollte man allerdings kaum glauben, daß es zwischen dem Thierreiche und dem Pflanzenreiche ein streitiges Gebiet, daß es Wesen gebe, über die heut zu Tage noch von den Naturforschern gestritten wird, ob sie Thiere oder Pflanzen seien.

Ich glaube nicht mich zu irren, indem ich voraussetze, daß es Dich interessiren werde, wenn ich Dich in meinem heutigen Briefe einmal auf dieses streitige Gebiet hinausführe. Obgleich es sich dabei nur um die kleinsten Wesen handelt, so werden wir doch bei einigen derselben großartige Beziehungen, sogar zu dem Interesse des menschlichen Lebens und Bedürfnisses und zu der Oberflächengestaltung der Erde finden. Daß es sich hier aber nicht um große Körper handeln könne, das versteht sich wohl ganz von selbst; denn darin liegt eben zum Theil wenigstens der Grund, daß man über ihre thierische- oder pflanzliche Natur im Unklaren ist, daß sie viel zu winzig sind, um eine nur einigermaßen zusammengesetzte innere Organisation zu haben, die es, wenn sie sie hätten, leicht machen würde, den Zweifel zu lösen.

Eigentlich steht die Angelegenheit, die uns jetzt ein Stündchen beschäftigen soll, in engster Verbindung mit der Frage: wodurch unterscheiden sich Thiere und Pflanzen von einander. Jedermann glaubt dies zu wissen und dennoch – gesteht jeder ehrliche Naturforscher ein, daß er es nicht wisse. Ja, wenn alle Pflanzen die vollendete Ausbildung der Eichen, Tulpen und dergl., und alle Thiere die der Vögel, Insekten, Fische u. s. w. hätten, so wäre die Sache leicht. Es gibt aber eine Menge niederer, d. h. sehr unvollkommen gebildeter Thiere und Pflanzen, bei denen die von den genannten und ähnlichen vollkommneren Thieren abgeleitete Erklärung der Begriffe Thier und Pflanze oft weder hinter noch vor passen will.

Es würde also keinesweges ein überflüssiges Geschäft sein, wenn ich Dir jetzt die Unterschiede zwischen Pflanzen und Thieren möglichst deutlich und ausführlich auseinandersetzen würde. Ich unterlasse es aber, weil es mich heute zu weit von meinem „streitigen Gebiete“ wegführen würde. Wünschest Du es, so ist es später einmal auch noch Zeit.

Ich führe Dich jetzt in Gedanken an einem heißen Sommertage an einen Sumpf oder Teich, oder an einen Wassergraben oder meinetwegen auch an eine kleine Lache eines verlassenen Steinbruches – mit einem Worte an ein stehendes Gewässer, welches einen feinen schlammigen Grund hat, in welchem Meerlinsen und andere Sumpf- und Wassergewächse und namentlich die bekannten, grünen, schlüpfrigen Wasserfäden, die der Botaniker Algen nennt, wachsen. So viel auch auf einer Quadratmeile Landes Insekten und Fische und Vögel und Säugethiere leben – in einer Hand voll von dem feinen Schlamme eines solchen Wassers leben doch oft hundertmal mehr kleine Wesen; so klein freilich, daß es der stärksten Vergrößerung bedarf, um sie einigermaßen deutlich zu sehen.

Niemand ahnet – wem nicht die Kenntniß der Natur offen daliegt – daß ein am Rande eines Teiches schwimmendes verfaultes Baumblatt ein kleines Weltall ist für Millionen – ich schreibe Dir diese Zahl nicht gedankenlos hin – unendlich kleiner und unendlich zierlicher Wesen, welche für die Menschen von Leeuwenhoeck[5] gewissermaßen erst geschaffen wurden, als er sie mit dem nicht lange vorher erfundenen Mikroskope 1675 entdeckte.

Bis vor nicht langer Zeit wurde diese außerordentlich artenreiche Welt winziger Geschöpfchen unter dem Namen Infusionsthierchen zusammengeworfen. Seit etwa 30 Jahren hat man aber angefangen diese schon vielen Tausende verschiedener Gattungen und Arten – von denen man eine vollständige Sammlung in einem Fingerhute unterbringen könnte – als Wesen von sehr verschiedenartiger Gattung auf der Stufenleiter des Natursystems zu erkennen.

Für heute will ich mich auf eine Gruppe dieser kleinen Feenwelt beschränken, welche man mit dem wissenschaftlichen Namen Diatomeen belegt, was auf das Vermögen, sich zu theilen, hindeutet. Früher nannte man sie meist Bacillarien oder Stabthierchen, wegen der Aehnlichkeit mancher mit einem Zollstabe. Einen allgemein angenommenen deutschen Namen gibt es noch nicht. Er wird kommen, wenn der Streit, ob Thier ob Pflanze, entgiltig entschieden sein wird.

Ich bitte Dich, ohne weiteres meine heutige Zeichnung zur Hand zu nehmen. An sie will ich das anreihen, was ich Dir von den Diatomeen erzählen will. Vergiß nicht, daß meine Figuren sehr stark vergrößert sind. Die Vergrößerung ist ungefähr eine vierhundertmalige. Die Figur 10 also z. B. ist in der Wirklichkeit blos den vierhundertsten Theil so lang als sie hier erscheint. Man braucht [214] lange Zeit, wenn man die zahllosen Diatomeen genau mit dem Mikroskop besehen will, welche mit einem Tropfen Wasser auf einem Glasplättchen von der Größe eines Zolles dünn ausgebreitet sind.

Die Zierlichkeit und Manchfaltigkeit der Figuren meiner Zeichnung wird Dir um so mehr auffallen, wenn Du bedenkst, daß die formschaffende Kraft dazu blos einen so unendlich kleinen Raum hat. Du würdest die abgebildeten

etwa 30 Diatomeen auf einem Glasplättchen für ein wenig Staub halten und hinweghauchen. Was wirst Du aber sagen, wenn ich hinzufüge, daß diese Körperchen unverbrennlich sind. Wenn Du das Glasplättchen mit ihnen mit einem Zängelchen über einer nicht rußenden Spiritusflamme glühend heiß machen würdest, so würdest Du sie nachher unter dem Mikroskope unverändert wiederfinden. Nur die feinen Stielchen von Fig. 1 und 3 und die Algenfäden mit x bezeichnet, an denen jene wie Fig. 7 und 8, sitzen, würdest Du von der Hitze zerstört finden. Woher kommt das? Alle Diatomeen haben wie unsere Schnecken und Muscheln einen zierlichen sogenannten Panzer – das was Du siehst ist blos der Panzer – der aus einer Kieselerde besteht, wie die Schnecken- und Muschelschalen aus Kalkerde bestehen. Dieser Panzer ist fast immer, wenn es überhaupt Ausnahmen von dieser Regel gibt, glashell durchsichtig. Ich habe dies durch Uebereinanderlegung einiger, z. B. 7 über 9, angedeutet. Also alle die zierlichen Streifen, Rippen, Punkte, Zähnchen, die Du siehst, befinden sich an dem Kieselpanzer. Innerhalb desselben befinden sich nun die schwachen Spuren von Organisation, mit denen sich diese unvollkommenen Wesen begnügen müssen. Da ist freilich von Herz und Magen, Lungen und Leber, Augen und Ohren keine Rede. Darum ist aber eben die Entscheidung der Frage so schwer, ob man in ihnen Thiere oder Pflanzen vor sich habe. Und doch ist in den schwachen Spuren ihres inneren Organismus von Beiden etwas, weshalb sie von Manchen für Wesen gehalten werden, welche gewissermaßen zwischen Thier- und Pflanzenreich in der Mitte stehen.

Fig. 7 und 9 zeigen Dir, daß sich die Diatomeen auf verschiedene Weise zu zierlichen Gruppen verbinden. Fig. 10 ist eine einzelne selbstständige Diatomee, (stärker vergrößert), wie sich deren in Fig. 9 eine ganze Menge zu dem zierlichen Kreise durch seitliche Aneinanderlegung verbunden haben. Es ist dies das schöne meridion circulare. – Deutsche Namen gibt es für diese Geschöpfchen kaum, da sich das Volk noch nicht mit ihnen befaßt hat und die Wissenschaft nicht nach den Sprachstämmen ihre Namen gibt, sondern in den für alle Sprachstämme gleich geltenden Sprachen der alten Römer und Griechen. Bei der gemeinen Diatomee, Diatoma vulgare, (Fig. 7) sind die einzelnen Individuen an einer Ecke durch einen kurzen Stiel zu einer Kette verbunden. Die Synedra gracilis (Fig. 8) sitzt sternförmig gruppirt an einem Stückchen Algenfaden. Die sehr kleine Cocconeis pediculus (Fig. 2) schmarotzt oft zu Hunderttausenden an den Algenfäden, wie die Schildläuse (Coccus) auf Pommeranzenblättern, von denen sie auch den Namen hat. Die gemeinste von allen Diatomeen, Navicula viridis, siehst Du in Fig. 4 von zwei Seiten dargestellt; eben so zwei andere Arten: die von der einen Seite einer Schuhsohle ähnliche Surirella solea (Fig. 5) und die schlanke Synedra ulna (Fig. 6). Gomphonema subramosum (Fig. 1) sitzt gesellig auf kurzen, zuweilen verästelten weichen Stielchen ebenso wie Cocconema cistula (Fig. 3) auf einem Algenfaden.

Doch ich nehme Deine Aufmerksamkeit nicht blos für die Kleinheit und Zierlichkeit und für die zweifelhafte Natur der Diatomeen in Anspruch. Sie sind auch von hohem praktischen Interesse. Mehrere Straßen von Berlin stehen auf einer an manchen Stellen über 50 Ellen mächtigen feinen silbergrauen Erde, welche großentheils aus Diatomeen-Panzern besteht, und woraus man Ziegelsteine brennt. Man baut also Häuser aus diesen unsichtbar kleinen Wesen! In der Lüneburger Haide findet sich eine Schicht, die viele hundert Ruthen lang und zum Theil 40 Fuß mächtig ist, welche durchaus nur aus den leeren Panzern von Diatomeen besteht! Unser Polierschiefer und Tripel ist nichts weiter, als Diatomeen Panzer. Ein Würfelzoll davon enthält deren etwa 41,000 Millionen! Solche Diatomeen-Schichten kennt man in Europa, Afrika und Amerika.

Aber ihre höchste, wenn auch eine traurige Bedeutung für den Menschen gewinnen diese kleinen Wesen dort oben am kalten Norden, in Schweden und Lappland, wo der Sommer nicht warm und lang genug ist, um Brodkorn zu reifen. Dort werden alljährlich viele hundert Wagen feines, schneeweißes Bergmehl, so nennt man diese Kieselpanzer-Erde, mit gemahlener Baumrinde und einem wenig echten Roggenmehl – zu Brod verbacken. Also recht eigentlich Brod aus Kieselstein! Ich habe von dort, aus Lollhagysiön, eine Probe dieses Bergmehls, worin ich mit [215] dem schärfsten Mikroskop nichts weiter als eben die, zum Theil zerbrochenen, kleinen Kieselpanzer entdecke. Gerade dort ißt man sie in der Noth sehr häufig. Jene Ablagerungen der Kieselpanzer dieser kleinen Wesen, welche wahrscheinlich vor Jahrtausenden erfolgt sind, sind also Magazine für den darbenden Hunger; uralte Magazine!




Blätter und Blüthen.

Die Englische Küche. „Sage mir, mit wem Du umgehst und ich will Dir sagen, wer Du bist,“ ist ein Sprichwort, das wir überall wiederfinden, weil es auf einer tiefliegenden psychologischen Wahrheit beruht, die in jedem Clima dieselbe bleibt. „Sage mir, was Du ißt und ich will Dir sagen, wer Du bist,“ möchte nicht minder seine Berechtigung finden, wenn man im neunzehnten Jahrhundert noch mit einem Sprichworte hervortreten dürfte. Aber die Zeiten sind lange dahin! Die gute Gesellschaft, die so genannte, wo Wachskerzen brennen, und der Fuß auf spiegelglatten Parkets ausgleitet, hat sich eine eigene Sprache geschaffen, die ohne Fallen und Steigen der Stimme, das Wort, wie Bachesmurmeln, über die Lippe trägt; hier ist kein kerniger Spruch, der mit drei Worten eine Lebenswahrheit hinstellt, mehr gebräuchlich, denn man kommt nicht zusammen der Wahrheit halber. Im Gegentheil! – Im Volke hört man dann und wann noch so ein Wort aus alter Zeit, das einst der Lippe eines Weisen entfallen, im frommen Glauben an die Autorität von Mund zu Mund getragen wurde, und sich bis heute mit schwachen Nachklängen erhält, denn auch hier wird es seltener. – Was die Bildersprache dem Oriente, das war vielleicht einst dem Deutschen sein Sprichwort. Er konnte sich damit bei wenigen Worten so gar Vieles denken. Jetzt ist die Sprache so reich, daß man der Gedanken entbehren kann. Gesetzt aber, wir dürften uns des Sprichworts bedienen, so wäre ein auf die Speise bezügliches gewiß recht gut angebracht; besonders mit Bezug auf den Engländer, der in diesem Punkte sehr systematisch zu Werke geht. Wohin der Sohn des nebeligen Albion auch seine Schritte lenkt, überall wird seine Hauptsorge darauf gerichtet sein, daß er sich angemessen nähre. Der Wohlgeschmack einer Speise wird ihn nimmer dafür entschädigen, daß sie an Nahrungsstoffen arm! Er ist sich auf jedem Schritte durch das Leben bewußt, daß sein physischer Mensch der Träger des geistigen Menschen ist, und wird darum seine Basis stets im Auge behalten.

In jedem Volke ist das Clima in gewissem Sinne die Begründerin seiner Küche. England, mit seiner feuchten Luft, bedingt daher eine Lebensweise, die dem Bewohner des Continents befremdend ist. Er hat es keinem Zufall überlassen seine Küche zu bilden, kein Gastronom hat ihm verschreiben dürfen, wie er seine Speisen bereite, sondern Vernunft und Erfahrung haben hier das entscheidende Urtheil gesprochen. Das ist gesund, und das ist nicht gesund, sind daher Worte, die bei seinen Mahlzeiten unzählige Anwendung finden. Und selbst die Wissenschaft hat man sich in dem Punkte dienstbar gemacht. Sie half nicht allein Spinnmaschinen erfinden, Pferde diätetisch auf die erste Stufe bringen, den Menschen an äußerer Schönheit der kaukasischen Race wieder nähern; sie lehrte ihnen auch eine Biscuit-Torte durch Soda, statt mit Eiern, locker zu machen, ein Fortschritt den jede Hausfrau mit Dank in ihren Rechnungsbüchern verzeichnet.

Der Engländer, das wissen wir alle, ist ein durchaus praktischer Mensch, der gerne weiß, warum er eine Sache thut. Setzt er sich zu Tische, so geht er nicht leichtsinnig dabei zu Werke, er betet, denn er ist sich bewußt, daß es sich hier um sein oder nicht sein handelt; – er betet, daß ihm seine Speise bekommen möge. Nachdem er sich auf diese Weise christlich mit der Gottheit verständigt, beginnt er seinen Act der Pietät – der Erhaltung seines Lebens.

Nur drei Mal täglich speist der Engländer. – Je schwerer das Clima, je langsamer die Verdauung, darum auch genießen diejenigen, die geistig arbeiten, gewöhnlich vom Frühstück bis zum späten Mittagsessen um acht Uhr Abends keine Speise. Er steht nicht früh auf, – vom weichen Pfühle und Morgenroth darf man bei ihm nicht reden; entschlüpft er seiner harten Matratze, so fällt sein Auge sogleich auf seine Marter-Instrumente, seinen härenen Hausschuh, sein rauhes Handtuch, womit er sich nach dem kalten Bade sofort reibt, bis er einem gekochten Krebse gleicht: Die praktischen Morgenträume sind nun schon alle dahin und mit Vergnügen sieht er la tête – mit Herrn von Le Mâistre zu reden, die Treppe hinunter steigen, und eine Portion heißen gebratenen Speckes mit Andacht verschlingen. Eier und Speck sind die Lieblingsessen des Engländers bei seinem Frühmahle, grade wie bei dem Chinesen, der von diesen beiden Speisen, nebst Reis, existirt – und da beide dem Gehirne Nahrung zuführen, so hat er dadurch allerdings einen Vorzug vor den Kaffee trinkenden Geschöpfen, die einzig ihre Einbildungskraft füttern. – Gleich nach dem Frühstück geht es in die frische Luft hinaus, wäre es auch nur um – eine Cigarre zu rauchen. Denn dies Geschäft wird er unter keiner Bedingung im Zimmer vornehmen.

Zu seinem Mittagsmahle bedarf der Engländer keiner Suppe, aber Fleisch, nur immer Fleisch. Suppe ist in England ein Luxus, denn man ißt sie nur sehr stark, so wie überhaupt alles kräftig sein muß, und das Fleisch wovon sie bereitet werden, wird nicht genossen, weil es keinen Nahrungsstoff enthält. Ein Haushalt, der nicht auf Luxus eingerichtet ist, bietet daher keine Suppe. Gekochtes Fleisch ißt man nur stewed, das heißt, ganz kurz in seiner eigenen Brühe eingekocht, und ein großes Stück Rindfleisch auf diese Art zubereitet, ist ein Lieblingsessen der Engländer. Fleisch und Gemüse werden aufgetragen, beide ohne Zuthat von Butter, – nach Moses Vorschrift, möchte man sagen. Aber das Fleisch ist so vortrefflich und die Gemüse sind so schön cultivirt, daß beide der Zuthat entbehren können. Ein Beefsteak schwimmt in seinem eigenen Blute, eine Cotellet von Hammelfleisch ist gleichfalls en naturel bereitet, und zugleich die gesundeste Speise, für [216] die der Engländer schwärmt – eben so dreht sich ein Braten lustig vor dem rothen Kohlenfeuer, bis ihm die hellen Tropfen von der Haut herabrieseln und unten in eine Pfanne fallen, die diesen Lebenssaft bewahrt und in seiner natürlichen Güte auf die Tafel sendet. Das Gemüse kocht indessen auf dem Feuer lustig fort und zwar, – sei es ein Blumenkohl so groß wie ein Menschenkopf, oder eine Pfund schwere Kartoffel – in seiner natürlichen Größe – und je größer je schöner, und erscheint auch in seiner riesigen Schönheit auf dem Tische. Die Köchin ist so gut wie unbeschäftigt; denn diese Gerichte kochen sich nun selbst, und sie mag vornehmen was der Haushalt sonst erfordert. – Der Pudding – bei uns Mehlspeise genannt – wird bei dem nächsten Bäcker gebacken. In einem kleinen Haushalte will man nicht deshalb allein den kleinen Ofen heizen, in dessen Röhre er bäckt. Der ganze Reis mit Milch ist aufgequollen, die Köchin hat ihn in eine weiße Schüssel gefüllt, ein, oder zwei Eier hineingeschlagen – und auch das nicht immer – der Bäckerjunge mit seiner weißen Mütze hat einen sonderbaren unarticulirten Ton ausgestoßen, der sein Dasein verräth, sie ist mit ihrer Schüssel hinausgeeilt, und hat diese auf sein weißes Brett gesetzt, das er auf seinem Kopfe trägt und mit einer Hand hält – und ihr Pudding macht ihr nun keine weitere Sorge. Pünktlich um die anberaumte Zeit wird derselbe Ton sie rufen, und hellbraun und dampfend wird ihr der Reis in ihrer Schüssel entgegen lachen. Ihre Mehlspeisen wechseln aber auch, sie nimmt nicht immer Reis, sie nimmt auch Gries und Sago und Arrowroot und was es sonst an körnigen Gewächsen giebt, die sich mit Milch vertragen. Das ist für den Winter, und für die Kinder, die neben dem kräftigen Fleische stets auch etwas Hülsenfrucht haben müssen. Kommt aber im Sommer die Obstzeit, dann werden auch Früchte hinzugezogen, und die berühmten Obstpasteten und Obstpuddings kommen an die Reihe. Aber auch diese verursachen der Köchin wenig Mühe. Die Obstpastete ist schnell gemacht. Das Obst wird, roh wie es ist, in eine Schüssel gethan und oben mit einer dünnen Schicht Butterteich überdeckt, in die man mit einer Gabel einige Stiche macht. Die Nothwendigkeit dieser Stiche kennt jede Köchin; aber die Ursache dieser Nothwendigkeit begreift sie nicht. Wären in dem Butterteiche nicht diese kleinen unsichtbaren Höhlchen, so würde die Schüssel, wenn sich die Hitze in derselben ausdehnt und keinen hinreichenden Raum mehr findet, zerspringen; darum die weißen Löcher. – Der Bäcker bäckt die Torte nun, und die berühmte Obstpastete ist fertig. Mit dem Obstpudding ist schon ein wenig mehr Mühe verbunden; aber auch nur wenig. Die Köchin muß da früh schon das schöne weiße Rindertalg mit feinem Mehl vermischen und dünne ausrollen; dann legt sie rohes Obst darauf, schlägt den Teich dicht darum zu, bindet ihn in ein Tuch, stellt dies in ein Gefäß und kocht es eine Stunde lang; dann öffnet sie es, und in einer grauen Rinde verborgen, stecken die duftenden Aepfel, die bei dem ersten Schnitte mit einer wohlschmeckenden Brühe herausfallen. In der Zusammenstellung dieser Speisen sind die Nahrungsstoffe stets, wie durch eine Inspiration, sehr glücklich gemischt, und das Obst, mit solcher Zuthat, wird zu einer gesunden, nahrhaften Speise.

Auch das Geflügel röstet der Engländer nur vor seinem Kohlenfeuer, das Huhn und das Hühnchen müssen gleich sehr in ihrem eigenen Fette schwimmen, eine Aufgabe, die sie nicht immer gebührend lösen. Dafür gibt man ihnen dann aber eine weiße Sauce bei, bereitet von Semmel und Milch mit etwas Zwiebel und Pfeffer und ißt kleine Saucisses dazu, oder auch geröstete Speckscheiben.

Reine Luft, kaltes Baden, und die nahrhafte einfache Diät verleihen dem Engländer jene Muskelkraft und rosige Gesichtsfarbe, die schönen Zähne und die kräftige Gestalt, durch die er sich auszeichnet. – Die Speisen, die man auf seinem Tische sieht, sind der Ausdruck des ganzen Menschen. – Kräftig, solide und einfach wählt er alles, und vor allem dem Zwecke entsprechend. Der gesunde Egoismus, mit dem sich sein „Ich“ so lange mit einem großen Buchstaben dem kleinen „sie“ gegenüber behauptet, legt er stets bei der Wahl seiner Speisen an den Tag. An eine Nachahmung des Fremden ist dabei nicht zu denken, Frösche, Schnecken und Vogelnester läßt er unberührt an sich vorübergehen; denn sie nähren ihn nicht, ein Beefsteak aber und ein Glas Porter wird unter allen Umständen sein Herz erfreuen und den Vorzug erhalten, – und sieht man ihn essen, sei es auch an den äußersten Polen, so wird man sogleich errathen, daß es ein Sohn des grünen Albion ist, der hier die höchste Pflicht gegen sich selbst erfüllt. –




Alles schon dagewesen. Mit dem Od, Tischrücken und Geisterklopfen wird die große Menge wieder auf das Gebiet des Geheimnißvollen und Wunderbaren geleitet. Was im vorigen Jahrhundert bereits so vielfach bearbeitet und von Gauklern aller Art ausgebeutet wurde, was man durch Wissenschaft und nüchterne Verstandesanschauung längst beseitigt glaubte, dieser ganze romantische Plunder mit seiner Welt des Geisterspukes und Uebersinnlichen, seinen Wahrsagern und Erscheinungen der Verstorbenen, er scheint noch einmal wiederkehren zu wollen. Justinus Kerner mit seiner Seherin von Prevorst, von Immermann in Münchhausen so prächtig versiflirt, schwimmt wieder oben. In den Zeitungen wimmelt’s bereits von geisterhaften Andeutungen, und die Buchhändler, „um einem längst gefühlten Bedürfniß abzuhelfen,“ sorgen nicht für geistreiche, sondern für Geisterlektüre. So ist in Berlin jetzt unter dem Titel: „Beglaubigte Mittheilungen aus der Geisterwelt und Nachtgebiete der Natur“ eine Schrift erschienen, die „beglaubigte“ Geistererscheinungen, Heraustreten aus sich selbst, Todesprophezeihungen etc. in Masse bietet. Zum Vergnügen unsrer Leser theilen wir eine Probe daraus mit:

König Friedrich Wilhelm I. von Preußen, Vater Königs Friedrich II., stand mit dem König August II. von Polen in so freundschaftlichen Verhältnissen, daß sie einander, wenn’s möglich war, wenigstens Einmal des Jahres sahen. Dies geschah auch noch kurz vor dem Tode des letztern; derselbe schien sich damals ziemlich wohl zu befinden, nur hatte er eine etwas bedenkliche Entzündung an einer Zehe. Die Aerzte hatten ihn daher vor jedem Uebermaaß in starken Getränken sehr gewarnt, und der König von Preußen, welcher dies wußte, befahl seinem Feldmarschall von Grumbkow (der den König bis an die Grenze begleitete und ihn dort in einem königlichen Schloß standesgemäß bewirthen sollte), daß er bei jenem Abschiedsschmauß alles sorgfältig vermeiden möchte, wodurch die – dem König von Polen aus erwähnter [217] Ursache von den Aerzten so sehr empfohlene Mäßigung im Genusse des Weins überschritten werden könnte.

Als aber König August noch gleichsam zu guter Letzt einige Bouteillen Champagner verlangte, so gab Grumbkow, der diesen Wein selbst liebte, nach, und genoß dessen auch seinerseits so viel, daß er sich, indem er über den Hof des königl. Schlosses in sein Quartier ging, an einer Wagendeichsel eine Rippe zerbrach und sich daher in einem Tragsessel zum König August bringen lassen mußte, als dieser seine Reise des andern Morgens sehr früh fortsetzen und ihm noch einige Aufträge an König Friedrich Wilhelm geben wollte. Hierbei war der König von Polen, außer einem vorn geöffneten Hemd, nur mit einem kurzen polnischen Pelz bekleidet.

In eben diesem Aufzuge, nur mit geschlossenen Augen, erschien er am 1. Febr. 1733 früh, ungefähr um 3 Uhr, dem Feldmarschall von Grumbkow und sagte zu ihm:

„Mon cher Grumbkow! je viens de mourir ce moment à Varsovie.“[6]

Grumbkow, dem die Schmerzen des Rippenbruchs damals noch wenig Schlaf gestatteten, hatte unmittelbar zuvor bei dem Schein seiner Nachtlampe und durch seine dünnen Bettvorhänge bemerkt, daß sich die Thüre seines Vorzimmers, worin sein Kammerdiener schlief, öffnete, daß eine lange menschliche Gestalt hereinkommt, in langsam feierlichem Schritt um sein Bett herumgeht und seine Bettvorhänge schnell öffnet. Nun stand die Gestalt König August’s gerade so, wie Letzterer nur wenige Tage vorher lebendig vor ihm gestanden, vor dem erstaunten Grumbkow und ging dann, nachdem er obige Worte gesprochen hatte, wieder zu eben der Thür hinaus. Grumbkow klingelte und fragte den zur nämlichen Thür hereineilenden Kammerdiener, ob er den nicht auch gesehen habe, der so eben gerade da herein und hinaus gegangen sei? – der Kammerdiener hatte nichts gesehen.

Grumbkow schrieb sogleich den ganzen Vorgang an seinen Freund, den damals bei König Friedrich Wilhelms Hoflager befindlichen kaiserlich königlichen Gesandten und Feldmarschall, Grafen von Seckendorf, und bat Letzteren, die Sache dem König bei der Parade mit guter Art zu hinterbringen. Bei dem Gesandten von Seckendorf befand sich, als ihm das Grumbkow’sche Billet schon früh um 5 Uhr zukam, dessen Schwestersohn und Gesandschaftssekretair von Seckendorf, nachheriger Brandenburg-Anspachischer Minister und zuletzt kaiserlicher Geheimer Rath. Jener sagte zu diesem, indem er ihm das Billet zum Lesen darbot: „sollte man nicht denken, die Schmerzen hätten den alten Grumbkow zum Visionär gemacht? Ich muß aber den Inhalt dieses Billets noch heute dem König hinterbringen!“

Nach 40 Stunden (wo ich nicht irre) langte durch die von Warschau nach Berlin von 3 zu 3 Stunden unterlegten polnischen Ulanen und preußischen Husaren die Nachricht in Berlin an, daß der König von Polen in der nämlichen Stunde, wo Grumbkow jene Erscheinung gehabt hatte, zu Warschau gestorben sei.


  1. Magnus Torquatus regierte vom Jahre 1358–1370 und erhielt seinen Beinamen durch das Tragen einer silbernen Kette, an welche ihn in seinem sechszehnten Jahre sein Vater Magnus der Fromme hatte festschließen lassen, als er auf dessen Drohung: „wenn er seine bösen Streiche nicht lassen wolle, würde er ihn an ein hänfenes Seil hängen lassen.“ höhnend geantwortet: „So Du mich hängen lassen willst, muß es an einer silbernen Kette geschehen, denn ein Strick paßt für keinen Herzogssohn!“ Die Kette selbst trug Magnus Torquatus bis zu seinem Tode.
  2. Die Sülze, ein schon im vierzehnten Jahrhundert ergiebiges Salzbergwerk dicht bei Lüneburg, welches nebst seinen Gebäuden mit einer besondern Ringmauer umschlossen war.
  3. Herzog Albert von Sachsen und Kurfürst Wenzeslaus waren Fürsten aus dem Askanischen Hause, welches in die Sachsen-Lauenburgische und Sachsen-Wittenbergische Linie getheilt war. Nach der von Kaiser Karl IV. ertheilten güldenen Bulle verblieb die Churwürde und das Erzamt bei der Sachsen-Wittenbergischen Linie, während die Sachsen-Lauenburgische nur den Herzogstitel führte.
  4. Durch zu spätes Eintreffen der erzbischöflichen Hülfsvölker verlor Magnus Torquatus die Schlacht bei Dünkeler d. 3. Sept. 1367 gegen Bischof Gerhard von Hildesheim.
  5. Sprich: Löwenhuk.
  6. Mein lieber Grumbkow! ich bin so eben in Warschau gestorben.




Die Todtenuhr. „Pick, pick, pick!“ so hat es der Leser gewiß schon in der Stube oder im Schlafkämmerchen klingen gehört, wenn er allein war, und schon Mancher, welcher sich dieses Picken nicht enträthseln konnte, stammelte dabei voll Furcht und Angst die Worte: „Ach, das ist die Todtenuhr!“ – Allerdings ist sie es; jedoch eine ganz andere als die, welche in seinem Kopfe spukt; denn ein kaum drei Linien langes, schwarzbraunes Käferchen – die Todtenuhr oder der Holzwurm genannt – erzeugt die unschuldigen, dem Picken einer Taschenuhr vergleichbaren Töne, indem es seine starken Kiefer an einander schlägt. Es schadet nichts, wenn man sich zu jedem Pick, den das Thierchen hören läßt, einen Buchstaben denkt, bis ein ganzer Satz daraus wird, wie z. B. „Eins ist Noth“ oder „Bedenke das Ende“ oder „Zeit vergeht um Jahr um Jahr“ und andere sind. So ein Sprüchlein hat immer sein Gutes, und man kann nicht oft genug daran erinnert werden.

Weißt Du aber auch wohl, warum das Thierchen so pickt? – Das thut es, um sein Weibchen, sein Männchen oder auch einen andern seiner Kameraden herbeizurufen, also keineswegs aus dem lächerlichen Grunde, den Tod eines der Stubenbewohner verkündigen zu wollen und die Leute in Furcht und Angst zu setzen. Aber es kommt noch besser, und der Leser wird sich nicht wenig wundern, wenn ich ihm sage, daß der Holzwurm Jahr aus Jahr ein sein trockenes Brot, nämlich die Sägespäne ißt, die er selbst macht, und nichts dazu trinkt und doch nicht verdurstet. Wie das möglich ist, sagen uns die Naturforscher.

Sie haben nämlich gefunden, daß in dem Pflanzenstoffe zweierlei Wasser ist; eines, das man durch Pressen und Aufhängen in der Luft herausbringen kann, wie der Papiermacher aus dem Papiere, und ein anderes festgewordenes, das man nur durch Verbrennen herausbringen kann. Nimmt man z. E.[WS 3] ein leinenes Tuch, das 10 Pfd. wiegt und hängt’s einen ganzen Tag in die Sonne oder bringt’s in die stärkste Presse, die man hat, so könnte leicht Einer wetten, es wäre kein Tropfen Wasser mehr darin. Und doch müßte er seine Wette an den Scheidekünstler verlieren; denn der brächte das Tuch in ein Ding, gleich einer fest verschlossenen Branntweinblase, schürte Feuer darunter und brächte noch wenigstens 4 Pfd. Wasser heraus. Ebenso würde er auch aus einem Stück Holze, das 50 Pfd. schwer wäre und sei es noch so alt und trocken, doch noch 22 Pfd. Wasser herausnöthigen. Das kann aber der Magen des Holzwurms, der von dem Schöpfer dazu eingerichtet ist, noch besser als der Scheidekünstler, und Gott der Herr reicht also auch ihm das Wasserkrüglein, nur auf eine andere Weise als dem durstigen Wanderer an dem Brunnen.

Unser kleiner Käfer heißt aber auch noch Trotzkopf und führt diesen Namen mit demselben Rechte, wie der erste Minister den Namen Ministerpräsident. Bemerkt er nämlich, daß ein Menschenkind in seiner Nähe ist, so zieht er augenblicklich das Trotzköpflein unter die Kapuze, legt die Beine fest an den Leib und läßt sich dann weder durch Feuer, Wasser, noch irgend ein anderes Mittel, wär’s auch noch so grausam, bewegen, auch nur das geringste Lebenszeichen von sich zu geben. Und in einem solchen Zustand, verharrt er minuten-, ja stundenlang. Erst wenn er glaubt sicher zu sein und nicht mehr beobachtet zu werden, regt er [218] sich von Neuem, geht eiligst seinen Schlupfwinkeln und dunkeln Gängen zu und beginnt sein „Pick, pick, pick!“

Der Holzwurm ist ein sehr schädliches Insekt. Er durchlöchert nicht nur das Holzwerk unserer Häuser, in dem er sich auch als Larve und Puppe aufhält, sondern schadet uns noch auf verschiedene andere Weise. Hatte doch einst ein solcher Käfer 27 neben einander stehende Folianten in gerader Linie durchbohrt. So können wir uns denn nur freuen, daß der schwarze Immenkäfer oder Ameisenwolf ihn unaufhörlich verfolgt und dadurch seiner allzugroßen Vermehrung einen Damm entgegensetzt.




Zur orientalischen Frage. Wie schwer es dem Sultan wird die Vorurtheile seines Volkes zu überwinden und abendländische Verbesserungen in Staat und Gesellschaft einzuführen, mag ein Beispiel lehren. Vor einigen Jahren, bei der neuen Organisation des Heeres, wurde eine neue Art Hosen eingeführt, wie sie die Türken bis jetzt nicht kannten und als eine durchaus nothwendige Zuthat natürlich auch die Hosenträger. Dagegen sträubten sich fast alle türkischen Soldaten und warum? – weil diese Hosenträger auf dem Rücken ein Kreuz bilden, das Zeichen der Ungläubigen. Viele erdulden noch jetzt lieber die strengste Strafe, selbst den Tod für Ungehorsam gegen militärische Befehle, als daß sie auf ihrem Körper dieses ihrer Religion feindliche Zeichen tragen.




Literarisches. Wer Lust hat ein recht fades, in Tendenz und Ausführung ganz verfehltes Buch zu lesen, dem empfehlen wir den so eben in Pesth in Lieferungen erscheinenden Roman von Levitschnigg: „Der Montenegriner oder Christenleiden in der Türkei.“ Der Verfasser ist einer jener unglücklichen Autoren, deren Begeisterung par Ordre de Mufti nur dann erscheint, wenn sie bei bestimmten Richtungen oder Personen Geschäfte machen kann. – Dagegen möchten wir unsern Freunden dringend rathen, das vor einigen Tagen in Leipzig erschienene „Buch der Lyrik“ von Adolf Böttger nicht zu übersehen. In der prächtigsten Ausstattung wird hier der Lesewelt eine Anzahl Gedichte geboten, die nicht, wie es jetzt leider bei dergleichen Sammlungen Mode geworden, aus den Gedichtsammlungen anderer Autoren ge  nommen (fast hätten wir gesagt: gestohlen) sind, sondern in Originalgedichten bestehen, von den bedeutendsten Dichtern der Gegenwart, als Geibel, M. Hartmann, Fr. Hebbel, A. Meißner, Eichendorff, L. Schäfer, C. Beck, Seidl, Vogl, L. Storch, A. Böttger, Roquette etc. etc. Es ist da ein Reichthum von Poesie aufgestapelt, wie in keinem der neuen Albums oder Musenalmanache. Schade, daß sich der Herausgeber durch seine Gutmüthigkeit zur Aufnahme der Beiträge von Bube, Redwitz, Rud. Hirsch, und Bechstein verleiten ließ, die gar sehr von den übrigen abstechen. – Freunde der Natur machen wir noch auf ein von Körner herausgegebenes Buch: Der Mensch und die Natur, aufmerksam, das sehr gut und frisch geschriebene Skizzen aus dem Kultur- und Naturleben enthält. Die einzelnen Artikel sind ebenso unterhaltend wie belehrend. –




Vehse behandelt in dem so eben erschienenen zweiundzwanzigsten Bande seiner „Geschichte der deutschen Höfe“ die Hofhaltungen des Hauses Braunschweig in Deutschland und England. Den Romanschriftstellern, denen es so oft an interessanten historischen Stoffen fehlt, empfehlen wir diesen Band auf das Angelegentlichste, sie werden Material in Masse darin finden. Interessant ist es noch, was Vehse von dem vertriebenen Herzog Carl von Braunschweig erzählt. Dieser wird als ein Mann hingestellt, der Gift und Dolch nicht scheute, wenn es die Erreichung seiner Zwecke galt. Nach Vehse soll beim Schloßbrande ein „Lieblingskästchen des Herzogs“ aufgefunden worden sein, mit verschiedenen Giftsorten und in kleine Gläser eingeschmolzenen Portionen Aqua toffana. (Weiß man wirklich in Braunschweig von diesem Kästchen?) Der Herzog soll den Viceoberstallmeister von Oynhausen mit diesem Gifte, (über dessen sichere Wirksamkeit er oft Gespräche führte) einen vielwissenden Kammerdiener und einen Mohren umgebracht haben. An das Sterbebett Oynhausen’s gerufen, soll er die entsetzlichen Worte ausgestoßen haben: „O ich muß mich an Leichen gewöhnen.“ Das klingt etwas theatralisch, etwas gemacht und Herzog Carl war damals alles, nur kein Phrasenmacher! Vehse erzählt noch eine Masse anderer „liebenswürdiger Züge aus dem Leben dieses Mannes.“ So haßte der Herzog aus mancherlei Gründen den Kammerherrn von Cramm und wollte um jeden Preis Rache an ihm nehmen. Cramm’s Gemahlin war gesegneter Hoffnung. Alle Aerzte Braunschweigs erhielten Befehl vom Herzog, ihr bei ihrer Niederkunft absolut keinen Beistand zu leisten; ihm, dem Herzog solle aber augenblickliche Anzeige von ihren ersten Wehen gemacht werden, um in ihrer Nähe sodann – eine Pulverexplosion zu veranstalten.

Die Gemahlin des Herrn von Cromm ist doch jedenfalls niedergekommen, Herr Vehse erzählt aber nicht, daß die Pulverexplosion wirklich stattgefunden, wie denn überhaupt überall die Beweise für seine Anschuldigungen fehlen. Unser Mann ist der Herzog Carl wahrlich nicht, alberne Anekdötchen aber, die in den dreißig Jahren vom Braunschweiger Adel ausgestreut wurden, um den Haß gegen Herzog Carl zu nähren, sollte man nicht einem Geschichtswerk einverleiben. Dadurch müssen nothwendig Zweifel an der Wahrhaftigkeit aller übrigen Mittheilungen entstehen. E. K.  



Briefkasten.

K. Ch. in Sdhn. Recht hübsch, aber viel zu lang. Folgt nächstens retour. – E. H. in Lz. Danken freundlichst, können aber jetzt keinen Gebrauch davon machen. – Franz R–sch in Hschbg. Jede Woche nur zwei Ihrer Gedichte, jedes von 224 Zeilen, wünschen Sie in der Gartenlaube abgedruckt! Was haben wir Ihnen Leids gethan, daß Sie uns umbringen wollen? – Lkbn. in Fkfrt. Ihre medicinischen Artikel sind, wenn auch mit bedeutenden Veränderungen, zum Abdruck gekommen. Fortsetzung bitten wir vorläufig nicht zu senden. – A. Sch. in Ddn. Kann aus mancherlei Gründen, deren Mittheilung hier zu weitläufig wäre, nicht veröffentlicht werden. Sie haben Recht, aber nicht Alles, was Recht ist, darf gedruckt werden. – H. Phle in Lbch. Märchen – Schwänke – Anekdoten – nein, passen nicht für die Gartenlaube. – L. St. in W. Danke bestens. Brieflich mehr.

Die Redaktion.     




Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Schnellpressendruck von Giesecke & Devrient in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: beiben
  2. Napoleon III.
  3. Abkürzung: zum Exempel