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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1853
Erscheinungsdatum: 1853
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[199]

No. 19. 1853.
Die Gartenlaube.


Familien-Blatt. – Verantwortlicher Redakteur Ferdinand Stolle.


Wöchentlich ein ganzer Bogen mit Illustrationen.
Durch alle Buchhandlungen und Postämter für 10 Ngr. vierteljährlich zu beziehen.


Mary.

Sir William Fletscher war ein berühmter Advocat gewesen und mit den Früchten gewonnener und verlorner Prozesse – beinahe 11/2 Millionen Thalern – auf sein großes Landgut im Norden Englands gezogen, um hier seines Goldes und Lebens froh zu werden. Daran hätte ihn auch Niemand gehindert; denn das Bewußtsein seiner Thaten, so schlecht sie sich auch mit Moral und Christenthum vertrugen, störte ihn nicht: er hatte ja Alles im Dienste der Gerechtigkeit „gesetzlich“ erworben – wenn nicht sein einziges Kind, ein wilder Knabe, mit der Zeit groß und ihm eine lebendige Strafe für seine Grundsätze geworden wäre. Vater und Mutter waren „geldstolz“ und hielten es deshalb auch unter ihrer Würde, ihren einzigen Erben – Dudley – in seinen Wünschen und Launen zu hindern, „er hatt’s ja dazu.“ „Arme Leute mögen ihre Kinder so erziehen,“ sagte der alte Fletscher, „daß sie den Mantel nach dem Winde hängen können, mein Dudley kann den Mantel tragen wie’s ihm beliebt.“

So wuchs der Junge wie ein echtes „Goldsöhnchen“ auf. Der Hauslehrer war einer seiner Diener, der ihm zwar nicht die Stiefeln zu wichsen brauchte, dafür aber desto mehr Mühe hatte, ihn nur etwas aus dem Gröbsten herauszupoliren. Der Junge wäre unerträglich gewesen, wenn er mit seiner Verschwendung, seinem Eigensinn nicht eine natürliche Gutmüthigkeit und sogar gelegentlich ein gefühlvolles Herz verbunden hätte.

In seinem neunzehnten Jahre fing er sogar an, oft sehr ernst und sinnig zu werden. Er suchte oft die Einsamkeit, ging oder ritt des Nachts aus, arbeitete am Tage bei verschlossener Thüre und benahm sich überhaupt so seltsam, daß ihn der Hauslehrer für verliebt erklärte und gegen den Vater den Verdacht laut werden ließ, Dudley mache im Geheimen – Verse. Letzteres hielt jedoch „der Alte“ für eine so arge Verläumdung, daß er den Hauslehrer aufforderte, entweder Beweise zu schaffen oder dem Sohne dafür Abbitte zu thun. Was die Verliebtheit betreffe, so wolle er ihm dankbar sein, wenn er Beweise schaffe: hier müsse man bei Zeiten einschreiten, da 10 Meilen rund herum kein Mädchen wohne, das zu seines Sohnes „Gelde“ passe. (In England ist die Phrase: „Sie paßt nicht für mein – Geld“ im Munde von Heirathscandidaten und „Verliebten“ sogar sprüchwörtlich geworden.)

Der Hauslehrer, aufgebracht über den Unglauben, der seinem Scharfsinne begegnete, setzte sich selbst zu einem Untersuchungs-Comité nieder, um zunächst Beweise zu schaffen. So schlich er eines Nachts seinem Schüler nach, bemerkte, wie derselbe sich in die Gebäude eines der Fletscher’schen Pächter verlor, dort eine Melodie pfiff und kurz darauf mit einer weißen Gestalt im benachbarten Parke verschwand.

Der Hauslehrer ging nach Hause und verfiel mehrere Tage lang in tiefes Nachdenken, um Beweise seiner Behauptungen [200] zu schaffen, die seinen Brodherrn recht derb überführen und beschämen sollten.

In einer schwarzen, stürmischen Nacht, während die ganze Familie Fletscher, Vater, Mutter und Sohn – in einem eifrigen Familiengespräche begriffen waren, machte er sich auf nach dem Pachtgute, pfiff, so gut er konnte, dieselbe Melodie, die sein Zögling als Zauberformel gebraucht hatte, und wartete der Dinge, die darauf folgen sollten. Der Erfolg war überraschend. Zwar näherte sich keine weiße Gestalt und flüsterte süße Worte der Liebe, aber zunächst kam ihm ein mächtiger Peitschenhieb auf die Nase, die diesen kostbaren Theil des Gesichts ziemlich zerspaltete, und seine sofortige Flucht wurde von so viel Hieben, die auf den Rücken regneten, beschleunigt, daß er sich selbst wunderte, wie schnell er wieder zu Hause war.

Am nächsten Morgen wunderten sich die Fletscher’s insgesammt nicht wenig über die Nase des Hauslehrers und sein ganzes Aussehen, hielten es aber unter ihrer Würde, von so einer untergeordneten Creatur weitere Notiz zu nehmen. Nur durch einen unerwarteten Besuch wurde diese Nase als Knoten einer dramatischen Entwickelung auf einige Augenblicke wichtig. Der Besitzer derselben ward zu Sir William Fletscher gerufen, der ziemlich aufgeregt auf und abging. Nachdem er Nase und Hauslehrer ziemlich genau angesehen, ließ er seinen Pächter Thomas Wickley eintreten. Letzterer trat ganz so auf, wie aufgebrachte Väter auf dem Theater.

„Sie behaupten also,“ fragte Fletscher, „daß mein Sohn Ihrer Tochter Marie eine ungeziemende Aufmerksamkeit schenke?“

„Das that ich und thu’ ich!“

„Und daß Sie ihn dafür geprügelt haben?“

„Ja – und ich denke, er selber wird die Beweise davon noch an sich tragen. Ich zeichnete ihn erst vorige Nacht.“

Fletscher lachte. Wickley sah ihn mit der größten Entrüstung an.

„Entschuldigen Sie,“ unterbrach sich Fletscher, „mein Lachen erscheint Ihnen nicht am Orte; aber ich werde Sie sogleich von Ihrem Mißverständniß überzeugen – “

„Das können Sie nicht!“

„Hätten Sie ihn wirklich geschlagen, ihn meinen Sohn, würde ich anders vor Ihnen stehen, darauf verlassen Sie sich. Mein Sohn hat gestern Nacht nicht das Haus verlassen. Aber sehen Sie sich mal diesen Gelehrten hier an!“

Wickley musterte den Hauslehrer, schüttelte aber mit dem Kopfe, zog ein Packetchen aus der Tasche und, indem er es Fletscher überreichte, murmelte er mürrisch: „Ich weiß nicht genau, wen ich geprügelt habe; daß aber Jemand etwas Gehöriges von mir bekommen hat, ist ein Factum. Ich weiß auch nicht, wer dies hier geschrieben hat; aber Sie wissens vielleicht.“

Der alte Advocat entfaltete das Packetchen, zog ein zierliches Briefchen mit gepreßten Kanten hervor, überflog es und rief: „Das ist meines Dudley Hand, und es hat wahrhaftig die schauderhafteste Aehnlichkeit mit Poeterei.“

Der Hauslehrer wollte etwas sagen, der alte Advokat riß aber so heftig am Klingelzuge und befahl so heftig, Dudley solle sogleich zu ihm kommen, daß ihm die bescheidene Hinweisung auf seinen psychologischen Scharfsinn, die er auf der Zunge hatte, in den Sprachwerkzeugen stecken blieb.

Dudley trat ein und der alte Fletscher las mit Hohn und Wuth:

Zuviel verlangt! Ich trag’ es nicht,
Mary, von Dir, von meinem Leben,
Von meiner Seele Sonnenlicht
Zu scheiden und mich zu ergeben.
Ergeben, wem? Der Willensmacht,
Dem rohen Heischen unsrer Väter?
Sie lieben nicht, ihr Kopf ist Nacht:
Und unsre Herzen glühn im Aether.

Was Thau der Blume auf dem Feld,
Dem Wasser aber nächtliche Sterne,
Was Gott der ganzen, großen Welt,
Das bist Du mir in Näh’ und Ferne;
Doch wie der Thau die Blume tränkt,
Die Sterne sich im Flusse baden,
Und Gott sich liebend niedersenkt
Zu wandeln auf der Erde Pfaden;

So komm auch Du, Du liebes Licht
Zu mir hernieder ohne Zagen!
Der Trennung Schmerz ertrag’ ich nicht.
Mich zwingt kein Gott, Dir zu entsagen.“

„Hast Du das Zeugs geschrieben?“ fragte der Vater, nachdem er diese Zeilen mit recht grausamer Bedächtigkeit und mit den schrecklichsten Betonungen laut gelesen.

„Das habe ich,“ antwortete Dudley zugleich vor Scham und Zorn erröthend.

„Was hast Du damit sagen wollen? Daß Du dieses Mannes Tochter liebst und heirathen willst?“

„Kein Gentlemen wird einen andern Sinn darin finden.“

„Heirathen?“ rief Fletscher der Alte, sich hoch aufrichtend, als wollte er persönlich die Höhe seines Vermögens damit andeuten. „Unerzogner Bube!“

Der junge Fletscher fuhr bei diesen Worten auf seinen Vater zu, als wollt’ er Hand an ihn legen, besann sich aber sogleich, und trat einen Schritt zurück, indem er sagte: „Ich will die Antwort auf einen solchen Titel schuldig bleiben“ und verließ das Zimmer.

„Poeterei und Liebe zu einer Pachterstochter,“ rief der Vater, „das muß ich an meinem einzigen Sohne erleben!“ –

Mary’s Vater ward mit nichtigen Redensarten von Satisfaction wegen der seiner Tochter angethanen „Schmach“ (da Heirathen in diesem Falle nach den Gesetzen der „guten Gesellschaft“ für eine reine Unmöglichkeit galt) entlassen, Dudley eingeschlossen und das Weitere zwischen Vater, Mutter und Hauslehrer feierlich berathen.

Das Ergebniß dieser geheimen Sitzung ward schon den folgenden Morgen bekannt und ausgeführt. Der Hauslehrer wurde mit einer Gratification, womit er sein Nasenbein wieder in Ordnung bringen lassen sollte, entlassen und der Sohn in ein ehrenvolles Exil geschickt.

„Er ist alt genug, um etwas zu lernen,“ hatte der alte Advocat die Sitzung geschlossen, „er kann gleich anfangen, bei Dr. Calomel Medicin zu studiren, und bei der Tante Mrs. Hays wohnen. London ist weit genug und die Medicin ein gutes Mittel, ihn von solchen Absurdidäten, wie Liebe und Poeterei, zu curiren.“ – –

Dudley eröffnete also seine Studien unter der Leitung des berühmten Dr. Calomel in London und zugleich seine [201] „gesellschaftliche“ Laufbahn unter der Weisung seiner jungen Tante Mrs. Hays. Dr. Calomel lehrte ihm das Geheimniß, Dosen einzugeben, Mrs. Hays – Dosen einzunehmen.

Diese Dame, elegant, reich und schön, hatte großen Einfluß auf Alles, was man Ton und gute Gesellschaft nennt. In ihrem Hause drängten sich vornehme Herren und Damen; ihr Wille galt als Gesetz zunächst in ein Dutzend anderen Familien, die durch ihr bloßes Beispiel mit eisernem Scepter über die ganze „Schicht“ der guten Gesellschaft, in die sie nach englischen Kastengesetzen gehörten, herrschten. Sie war in der That ein Musterbild von Weltdame. Nie war ein Fleckchen auf ihren schneeigen Charakter gefallen. Mit eisiger Kälte und Härte verurtheilte sie jede kleinste Abweichung von dem Pfade der gesellschaftlichen Tugend. Dabei war sie unstreitig die vollkommenste Lehrerin des Lasters, die jemals als Dienerinnen der Hölle auf Erden lebten. „Den Schein retten“ ist Alles, unter dem Heiligenscheine hochkirchlicher Gläubigkeit und hohen guten Gesellschaftstones ist Alles erlaubt. Dudley war ganz verwirrt und entzückt. Wenn er den Glanz seiner Tante mit dem bescheidenen, einfachen Landmädchen verglich, sah er eine ungeheure Kluft, die ihn für immer von seiner ersten Liebe zu trennen schien. Dann schrieb er ihr wohl um so längere und glühendere Briefe, um sich selbst zu täuschen und Mary antwortete in noch ausführlicheren und tiefer und immer tiefer aus ihrem Herzen quellenderen; aber er kam dabei auf dem glänzenden Pfade des Lasters unter der vollkommensten Leitung immer weiter, bis die Briefe an Mary allmählig kürzer und seltener wurden und endlich ganz aufhörten.

Wie die arme Marie sich Tag für Tag und Nacht für Nacht abhärmte, bis ihre feinen, rothen, frischen Wangen von Thränen weggewaschen waren – die Leiden eines solchen Herzens, immer still verzehrend und nagend, ohne Abwechselung und Linderung, im Gegentheil nur gesteigert und verschärft durch gelegentliches rohes, gutgemeintes Dreinreden und „Keifen“ der Aeltern, welche die Quelle bald ahnten, das läßt sich schwerlich schildern. Der Sommer verbleichte zum Herbste, der Herbst fror zum Winter zusammen, Tage und Tage, Wochen und Wochen, Monde und Jahreszeiten waren in träger, schwerer Langsamkeit dahingegangen ohne ein Wort von Dudley. Nur zuweilen hatten die Aeltern absichtlich Mittheilungen über ihn besprochen, wie er in London allmählig ein Trunkenbold, Schwelger und Lustjäger geworden, und wie er auf diesem Wege die reißendsten Fortschritte mache. Nach einer solchen Beurtheilung ihres unbefleckten Ideales, die mit besonders rohen Zurechtweisungen begleitet wurde, begab sie sich eines Nachts in ihr Schlafzimmer, stürzte schluchzend auf die Kniee, schrieb einige Zeilen an ihre Aeltern, hüllte sich in die nöthigsten Kleider und eilte in die kalte, finstre Nacht hinaus. Sie wollte fort, sie mußte fort, sie wollte Dudley sehen, ihn zurückrufen in die Zeit ihrer Unschuld, seiner Poesie, seiner Reinheit, seiner Liebe. Daheim war keine Hoffnung mehr, kein Leben.

Durch die lange, schreckliche, eisige Nacht hin eilte die arme Unglückliche immer die Straße hinauf, die in die Hauptstadt führt, durch weite starre Felder und durch Hügel und Thäler, die sich alle meilenweit auszustrecken und mit ihr zu gehen schienen, um sie nicht vorwärts kommen zu lassen. Und wie die dürren Gerippe riesiger Bäume im Winde zitterten und krachend ihre dürren Arme gegeneinander rieben!

Ruhige Pächtereien lagen schlafend dazwischen, hier und da noch mit einem schwachen Lichte aufblickend, vom großen Hunde bewacht, der eifriger und eifriger bellte, je näher sie kam, und sich erst lange nach dem Verhallen der letzten Schritte zufrieden gab. Durch Hügel und Thal, durch Wald und Feld immer trieb sie eine innere dämonische Gewalt vorwärts. Keine Musik, kein Geisterspuk der Nacht erschreckte sie. Die Wetterfahnen kreischten vergebens, alte Bäume zogen ihr vergebens drohende Gesichter. Sie sah nichts davon, ihre ganze, fieberisch zitternde, schmerzgequälte Seele war bereits in London und suchte ängstlich in den Straßenlabyrinthen herum, das Haus zu finden, wo er wohnte. Das kleine furchtsame Alltagsmädchen schritt als weibliche Heldin durch die Nacht. Der Morgen dämmerte herauf, die Sonne stieg empor, ohne ihre Pflicht zu thun, Wärme auf das ermüdete, vor Kälte und innerm Fieber zitternde Mädchen herabzusenden; endlich ward es auch Mittag – sie wankte, schwankte, ächzte immer noch vorwärts, doch langsamer und immer mühseliger, bis ein Wagen, der langsam vor ihr vorbei gefahren war, still stand und sie zu erwarten schien. Ein alter, glatzköpfiger Gentlemen, in seinem Buffalo-Pelze fast ganz unsichtbar, trippelte herbei und lud das arme, schöne, von Frost, Hunger und innern Leiden zerquälte Wesen mit dem herzlichsten Tone echter Theilnahme ein, sich seines Wagens mit zu bedienen. Sie folgte mechanisch, und so kam sie endlich in einem Hotel Londons an, ohne zu wissen wie. Wie öfter auf dem Wagen, zwang sie auch hier der alte Gentlemen wieder, etwas zu genießen und den Kaffee beinahe kochendheiß zu trinken, bot ihr alle mögliche Hülfe, alle möglichen Rathschläge, allen möglichen Schutz an, ohne daß das arme Wesen wußte, wie sie Alles abwehren sollte. Die uneigennützigste, seltenste Theilnahme des alten edeln Herrn, wie es deren nur in England geben soll, quälte sie nur. Sie bat endlich um etwas Frist; sie werde vielleicht bald im Stande sein, sich ihm vollständig mitzutheilen und ihm für seine edele, herzliche Theilnahme zu danken.

Der Alte ging. Sie blieb im Gastzimmer allein zurück, am Fenster stehend, trostlos auf die großen Häuser drüben und das unaufhörliche, kalte Durcheinandereilen von Wagen und Menschen blickend. Sie versuchte einen Entschluß zu fassen. Dabei wurde ihr die quälende Wirklichkeit ihrer hilflosen Lage immer deutlicher und legte sich auf ihr Herz, wie eine erdrückende Riesenlast. Der Kopf brannte, alle Glieder schmerzten und zitterten im Fieber, und Nichts konnte sie erwärmen. Endlich fragte sie furchtsam einen Kellner, ob er wisse, wo der Dr. Calomel wohne?

Der Kellner machte eine lange Beschreibung, wie das Haus zu finden sei, ging sogar selbst bis zur nächsten Ecke mit und zählte ihr dann die andern Ecken und Straßen vor, die rechts und links, krumm und grade, grade auf das glänzende Haus des berühmten Doctors zuführten.

So verwickelt der Weg war, fand sie ihn doch. Sie stieg die weite Halle empor, die zur ersten Eingangsthür führte, klopfte leise und ward von einem alten, magern [202] Manne, mit einem langen Besen in der Hand eingelassen. Es war noch sehr früh, doch meinte der alte Mann, der Herr Doctor werde bald zu sprechen sein, um seine „Armen-Praxis“ kurz abzufertigen, da er heute sehr früh zu einem Patienten müsse, der mehr Guineen als Gesundheit besitze. Sie ward in ein großes Zimmer gewiesen, das mit verschiedenen scheußlichen Bildern kranker und verunstalteter Köpfe, Körper, Arme und Beine u. s. w. geschmückt war, außerdem mit Glasschränken, in denen Knochen, Schädel und ganze Gerippe aufgeschichtet standen. Durch eine offene Thür sah sie andere große Zimmer, ganz in demselben Style ausmeublirt.

Mary saß und wartete wohl zwei Stunden, während der Diener immer schweigend hin und her fegte, wischte und abstäubte und alle Minuten von der Glocke nach der Thür gerufen ward, um alle Arten von Kranken und zerlumpten Krüppeln, besonders viel hohläugige Mütter mit bläulichen und oft skelettartigen Kindern einzulassen. So füllte sich endlich das große Zimmer. Niemand sprach; nur schrie hier und da ein jämmerliches Kind ohnmächtig auf, und alte Leute seufzten, stöhnten und husteten hier und da durch die öde, stille, elende Gesellschaft, auf welche die gebleichten Knochen aus den Glasschränken still und höhnisch herabgrinzten. Einige Gerippe schienen ganz besonders Wohlgefallen an der Gesellschaft zu finden; sie zeigten die Zähne von einem Ohre bis zum andern und lachten ohne Aufhören. Endlich kam der Doctor hastig herein, ein kleiner, trockner, faltiger, grauhaariger Mann mit kalten blauen Augen, die eben so gefühllos auf die Armen herabsahen, wie er wirklich war. Barsch und heftig gab er Einigen diese und jene Rathschläge, die er manchmal verwechselte, so daß der Blinde eine Verordnung als für ihn bestimmt nahm, welche einem Weibe für ihr lahmes Kind galt. Manche fragte und hörte er gar nicht, Andere schalt er mit einigen Kraftworten aus, und so war er in einigen Minuten mit seiner Wohlthätigkeits-Praxis – durch mehr als 50 Menschen hindurch – zu Ende. Die am Ende sitzende Hauptkranke fuhr er zuletzt an: „Und was ist hier los?“

„Ich wünsche Dudley Fletscher zu sprechen,“ war die zitternde Antwort.

Der Doctor warf einen kalten höhnischen Blick auf die Unglückliche, eilte davon, indem er heftig nach der Uhr sah, und rollte sogleich in seiner prächtigen Doctorkutsche davon.

Hinterher wankten und hinkten die Kranken, welche zu dem höhern Ruhme des berühmten Doctors so viel beitrugen. „Er ist wie unser Heiland selber,“ sagten die höhern Frommen seiner Klike, „er läßt Alle, die mühselig und beladen sind, zu sich kommen und erquickt sie“ – im besten Falle mit Medizin aus einer Apotheke, die ihm – hundert Procent von ihrem Gewinne bezahlen muß.

Marie war allein zurückgeblieben. Der Portier gab ihr endlich Auskunft. Herr Fletscher sei ein Lebemann und komme jetzt selten zum Doctor, doch könne es immer möglich sein, daß er heute grade einmal komme, um am Kohlenfeuer zu schlafen, während die Andern eifrig dem Doctor zuhörten; aber wahrscheinlich sei es nicht. Das Beste sei vielleicht, ein Billet an ihn zurückzulassen.

Mary wartete noch einige Stunden, dann schrieb sie mit zitternder Hand einige Zeilen, übergab sie dem Portier und wankte bis zum Tode betrübt in ihr Hotel zurück. –

Hier dachte sie lange darüber nach, was sie thun, was sie sagen wollte, wenn Dudley wirklich käme.

Sie kam zu keinem bestimmten Gefühle und Gedanken. Nur fieberisches, unendliches Weh durchwüthete Seele und Leib, und wenn sie ihn nur noch einmal sehen, nur noch einmal seine Stimme hören, nur noch einmal seinen Arm um ihre Gestalt geschlungen fühlen könnte, müßte Alles wieder gut sein, dachte sie, weiter nichts. Aber die Zeit schlich langsam dahin und kein Dudley kam. Bei jedem Geräusch von Schritten zitterte sie auch und meinte, nun müsse er es sein. Doch wieder und immer wieder getäuscht und durch impertinentes Ansehen von Kellnern und Fremden in Verlegenheit gesetzt, stellte sie sich wieder an’s Fenster, und, hinstarrend auf das ewige Gedränge in der Straße, merkte sie endlich plötzlich, daß ihre Augen von den fließenden Thränen ganz matt geworden. Das unaufhörliche Toben und Wühlen auf der Straße ging an ihr vorüber wie einförmiges Wasserrauschen. Der Abend kam und sie stand immer noch am Fenster.

Die Laternen wurden angezündet, das Toben und Tosen auf der Straße wurde stiller und stiller, schon sah man die Leute einzeln gehen und immer einzelner, und immer war noch kein Dudley gekommen; Kellner kamen öfter und fragten immer zudringlicher, was sie eigentlich wolle, so daß sie sich zuletzt genöthigt sah, zu gehen. Wohin? Hinaus in die düstern, kalten Straßen Londons mit seinen ewigen Reihen dichtverschlossener und burgartig vergitteter Häuser. Wohin? Nicht von dem Hotel weg: er kann ja immer noch kommen. So ging sie vor dem Hotel und gegenüber auf und ab, jede Gestalt die sich näherte, mit den Augen durchdringend, ob er nun endlich einmal zu entdecken wäre. Aber auch hier wurde sie bald belästigt, von Vorübergehenden frech angesehen oder wohl gar mit verächtlicher Zutraulichkeit angeredet, so daß sie beschloß, seine Wohnung, das Haus der berühmten Mrs. Hays, zu erfragen. Manch kundiger, freundlicher Policemann wurde vergebens gefragt, Mancher der weniger wußte, als nichts, gab ihr Straßen und Richtungen an, die vom Ziele abführten, so daß es Mitternacht wurde, ehe sie sich zurecht gefragt hatte und sicher war, den richtigen Weg zu gehen.

Endlich stand sie vor einem strahlenden Palaste, aus welchem rauschende Musik erscholl. Hier wohnte Mrs. Hays, das war keine Frage mehr. Jedes Kind wußte es in der Nachbarschaft. Sie schlich sich an die prächtige große Thür und sah auch den silbernen Knopf, welcher in einer Umschrift verkündigte, daß er nur von „Gästen“ gezogen werden könne, während auf der andern Seite ein blos „messingner“ Knopf die Umschrift „servants“ (Dienstleuten) trug. Sie zog an einem. An beiden Seiten der Thür liefen Säulenhallen hin mit prächtigem Marmor und Gußeisenwerk. Innerhalb derselben wagte sie sich bis an ein Fenster. Im ersten Augenblicke stand sie ganz geblendet. Die prächtigsten Säle hinter riesigen Spiegelscheiben, wohl absichtlich gar nicht verhüllt, schwammen im üppigsten Lichte goldener und krystallener Kronenleuchter. Purpurne und goldene Tapeten, kostbare Meubles mit Sammet und dem künstlichsten Schnitzwerk, ungeheuere Oelgemälde, schwellende Teppiche mit herrlicher Stickerei und auf diesen ein Gewoge der glänzendsten Gesellschaft, [203] nach den Takten schmetternder, jauchzender Musik sich schwingend und drehend. – Sie sah ein Feenmärchen vor sich und in diesem – Dudley.

Das Blut drängt sich gewaltsam in die blassen Wangen. Er ist es, strahlend in Liebenswürdigkeit und überfließend von süßen Liebesworten zu der üppigen, schmunzelnden Dame an seinem Arme, deren Finger und Hals und Kopf auf das Geschmackloseste mit Gold, Emaille und Brillanten überladen sind. Sie nehmen Platz nicht weit vom Fenster. Er beugt sich mit dem Munde an ihr Ohr und sieht sie an und sie ihn wieder auf eine Weise, deren Sinn auch die Unschuld in ihrem tödtlichsten Weh ahnt. Sie glaubt ihn zu hören, die Worte klingen ihr in’s Ohr wie Dolche, deren jeder das Herz durchbohrt. Ihre Liebe ist verrathen, ihr Ideal entwürdigt – es ist wahr, was angebliche Verläumdung bis in ihre ferne, stille Heimath trug –

Sie ist fort. Das tiefste, tiefste, tödtlichste Weh in dem schönsten Gesicht, das je die Unschuld trug, drängt sich nicht mehr zitternd an die kalte, zwei verschiedene Welten scheidende Spiegelscheibe. Sie ist fort. Die bleiche, rasch aufglühende, zum letzten Male in trügerischer Jugendblüthe aufflammende Gestalt ist fort. Wohin treibt sie ihr tödtliches Weh? Wer fragt danach in der dichten, herzlosen Jagd von drei Millionen Menschen nach Brod, Gewinn, Kupfer, Silber und Gold? Verlieren sich nicht allnächtig Tausende in diesem unendlichen Gewirre ruheloser Straßen in Qualen und Leid, von denen die Welt niemals etwas erfährt, mit denen der Himmel kein Erbarmen hat und die jeden Tag der Todtengräber mit ewigem Schweigen deckt? Das schwache, schöne, unschuldige, ungekannte, wie aus Gottes Meisterhand am Gelungensten hervorgegangene Wesen hat sich verloren im riesigsten Gedränge von Menschen und Waaren und Goldhaufen und Häusern und Wohlthätigkeitsanstalten, die alle, alle verschlossen sind, meilenweit, viele Meilen weit in allen Richtungen sicher und fest und dreifach und vierfach verschlossen.




Eine Gesellschaft von Studenten der Medicin trieb sich trinkend, lachend, pfeifend, rauchend und Billard spielend in einem großen Restaurations-Zimmer herum. Ihre Kleider, der Duft ihrer Cigarren, ihre Getränke, ihr flegelhafter Uebermuth bekundeten, daß ihre Väter eben nicht lässig im Zusenden von Geldanweisungen sein mochten.

„Kömmst Du heute Abend mit in die Vorlesung, Tom?“ fragte Einer, indem er sein geleertes Glas auf den Tisch warf.

„Das versteht sich. Ich denke keine Muskel dieses Helden ununtersucht zu lassen. Er hat uns viel zu schaffen gemacht, dieser Riese, ehe wir ihn erwischen konnten.“

„Ja wahrhaftig, es wäre eine Schande, bei ihm zu fehlen. Das ausgebildetste Muskelsystem und außerdem gehangen, das kommt nicht alle Tage vor.“

„Ganz gewiß,“ setzte ein dritter hinzu, „Croß ist eine wahre Schönheit. Jede Faser an ihm ist ein Kapital für die Wissenschaft. Bei Gehangenen bilden sich namentlich die Blutgefäße musterhaft aus.“

„Wie gelehrt sich Nedschan ausdrückt! Denkst Du Dich nicht auch einmal um unsere Wissenschaft verdient zu machen? Wie wär’s, wenn Du Dich auch einmal der unschuldigen Operation einer zu engen Halsbinde vom Seiler unterwürfest?“

„Wer kann’s wissen in dieser Lotterie des Schicksals. Vorläufig haben wir an Croß genug.“

„Wir haben in unserer Klasse doch einen schönern Bissen!“ versetzte ein tornisterblonder Camerad mit einem feuerrothen Backenbarte, der ihm das Aussehen eines ältlichen, trocknen Kaufmannes, eines englischen Mustergesichts gab. „Eine Schönheit erster Klasse.“

„Ach was, wir halten’s mit dem Stricke. Niemals erwies uns der Galgen einen größern Dienst. Doch vorwärts. Es wird Zeit. Aber vergessen wir Dudley nicht!“

„Wo steckt er denn?“

„Da liegt er, wie gewöhnlich, betrunken und eingeschlafen. Ein Kerl, wie aus Theeblättern gemacht, kann schon gar nichts mehr vertragen.“

„Das kommt von den gütigen, frommen, schönen Tanten,“ erwiederte Einer. Ein schallendes Gelächter und einige Püffe weckten ihn auf. Er starrte um sich, ließ sich in die Mitte nehmen und taumelte mit den singenden, pfeifenden, rauchenden Cameraden davon.

Es war nicht weit bis zum Anatomie-Gebäude der medicinischen Lehranstalt. Sie stiegen schwere, steinerne Treppen hinauf, schritten durch lange Corridore und kamen endlich an große eiserne Doppelthüren, die sich schwerfällig öffneten. Obgleich die Fenster offen standen, durch welche der Wind dämonisch in das flackernde Kaminfeuer fuhr, füllte doch ein unvertilgbarer Verwesungsgeruch das ganze große Auditorium. Auf langen schmalen Tischen streckten sich, nachlässig mit Papier bedeckt, nackte Leichname und auf verschiedenen Seitentischen lagen zerstreut zerschnittene und „präparirte“ Glieder in gräßlicher Farbe und Verstümmelung, auf dem Fußboden und in Winkeln schmutzige Knochen und grinzende Schädel. Die Studenten bewunderten den Riesen, bis der Professor kam und zu schneiden und zu dociren anfing. Studenten und Leichen scheinen beide aufmerksam zu horchen. So oft der Professor schweigt, hört man nichts, als das eigenthümliche Geräusch der Messer und das – Schnarchen Dudley’s, der in einem Winkel eingeschlafen und vom Stuhle gefallen war.

Die Stunde geht rasch dahin. Das Feuer ist niedergebrannt, die Lichter flackern trübe, die Vorlesung ist vorüber. Alles eilt froh über die herrlichen Muskeln des Riesen davon, und der Diener schließt mit einem Ruck die Quelle der Gasflamme, schließt hastig die großen eisernen Thüren und eilt, froh, daß das Tagewerk wieder einmal vorüber ist, nach Hause.

Dudley schläft, vergessen unter Leichen, eingeschlossen in Verwesung, weiter.

Das Feuer ist erloschen. Eisiger Nachtwind überfällt den Bewußtlosen immer empfindlicher, bis er zitternd und bebend an allen Gliedern aufwacht. Er starrt um sich und besinnt sich endlich mit Mühe, in welcher Lage und Umgebung er sich eigentlich befindet. Er graspt sich, stolpernd über Knochen mühsam nach der Thür. Sie ist verschlossen. Das angestrengteste, anhaltendste Klopfen verhallt ungehört in dem Raume und in den öden Hallen draußen. Von der fürchterlichsten Kälte erlahmt, versucht er nun, das Feuer im Kamine wieder zu beleben. Doch [204] ein schwacher Rest von Gluth erbleicht unter seiner störenden Hand. Er greift rasch nach den Papierbogen, mit welchen die Leichen bedeckt sind und sucht es in Flamme zu bringen. Es versengt langsam, aber will nicht in Flammen ausbrechen. Da läuft er in das nächste Zimmer, wo andere Leichen unter dünnem Papier schlafen. Hastig knittert er die Bogen zusammen, sie von Leiche nach Leiche wegreißend. Warum steht er auf einmal starr? Warum gaspt er nach Luft und blickt so stier und wild?

Wenn das ein Traum ist, muß es der grauenvollste sein! Er schlägt sich vor die Stirne, ringt die Hände und taumelt davon. Er wacht. Er will umkehren, noch einmal hinsehen – nein, nein, er kann es nicht. Er hat sie einmal gesehen in vollster, blühendster Schönheit, aber todt, unwiederbringlich verloren und erloschen. Er weiß, warum. Der Brief steckt noch in seiner Tasche. Er versucht ihn beim schwachen Mondenlichte noch einmal zu lesen. Vergebens. Noch einen Blick auf die schöne, schöne Gestalt, die das rasch erstickende Wasser der Themse von dem langsamen Tode des Absiechens am gebrochnen Herzen gerettet hatte, noch einen Blick und er sinkt, von physischer Kälte und dem Blitze des furchtbarsten Richterspruchs in’s Herz getroffen, zusammen.

Dort lag er und starrte mit wahnsinnigem stieren Blick durch die mondhelle Finsterniß über die todten Gebeine hin bis zu ihr, der unschuldigen, schönen, todten Hülle, in der einst seine Poesie, sein Himmel, alle Seligkeit einer reinen Jugend gelebt und geliebt, zu ihr, die er ermordet und unter Diebe und Mörder, unter den Auswurf der Armuth geschleudert! Bewegte sich nicht ihre schöne Hand? – Sie schien sich zu bewegen. Sie erhebt sich, wendet sich, ihre Wange röthet sich, ihr Auge öffnet sich, ihre süße Stimme ruft ihn. Nein, er besinnt sich – da liegt sie noch in Schönheit und Unschuld, aber todt und kalt und bewegungslos. Er rafft sich auf; mit aller Gewalt will er hinaus in die Freiheit, in’s Leben, unter Lebendige. Die schweren Riegel setzen dem Ohnmächtigen unerschütterlich ihre stumme, eiserne Kraft entgegen. Niemand hörte ihn, Niemand, das fühlte er, konnte draußen die ewige Last von seiner Seele nehmen. Er sank wieder an der Thür zusammen.

Dort fand ihn der Schließer am nächsten Morgen besinnungslos und körperlich gelähmt in allen Gliedern. Die Kunst der Aerzte bot vergebens allen ihren Witz auf; wohl kam er wieder zum Bewußtsein seiner Schuld, aber nie wieder zum Gebrauch seiner Glieder. Man fuhr ihn endlich zurück in das väterliche Haus, hilflos wie ein Kind. So blieb er und so lebt er fort niedergebeugt, trostlos in ewiger Reue.

Auf dem kleinen Kirchhofe, nicht weit von seinem Hause, erhebt sich ein grauer Hügel, wo weder der sanfthüllende Schnee des Winters, noch der lustige Vogel des Frühlings ein Denkmmal, einen Namen sehen. Nur das Gras flüstert an kühlen Sommerabenden sehr leise und scheint von dem Unglücklichen verstanden zu werden, der hier so oft und so lange sitzt und wartet, bis er wieder nach Hause getragen wird.

Auch wir wissen wohl, wer unter dem Hügel so frühzeitig den ewigen Schlummer zu schlafen begann. Und von dem stummen, gebrechlichen Wesen, das fast Tag für Tag hiehergetragen und wieder weggetragen wird, läßt sich erwarten, daß er noch in einer Hoffnung Trost finde, in der Hoffnung, bald treu und unwandelbar an ihrer Seite den Schlaf der Todten schlafen zu können.




Spanische Reisebriefe.

Von
E. A. Roßmäßler.
III.[WS 1]
Der Monserrat.
Barcelona den 26. März 1853  

Es war mir gelungen, zu einem Ausfluge nach dem großartigen Naturwunder, welches der Monserrat ist, zwei Reisegefährten zu finden, und so bestiegen wie denn mitsammen am 23. d. M. in der Mittagsstunde den Himmel eines Omnibus, welchen Platz wir der freien Aussicht wegen absichtlich gewählt hatten. Diese Himmelfahrt wurde anfangs in den Gassen Barcelonas, welche ein treues Abbild des wildromantischen catalonischen Hügellandes sind, zu einer wahren Höllenfahrt; aber desto mehr priesen wir unser Himmelreich, als wir auf die gut unterhaltene Landstraße kamen und nun der freiesten Umschau auf die reizende Gegend genossen. Die reiche Stadt streckt ihre Arme weit hinaus in die weite fruchtbare von Hügelreihen umfriedigte Ebene. Die Ortschaft Sans ist großentheils eine Gasse schöner Villen und großer Fabrikgebäude. Wir fuhren durch San Felin, fast noch dieselbe Erscheinung. In allen Hausfluren saßen die Weiber vor großen Klöppelkissen, umringt von kleinen, oft kaum zehnjährigen Schülerinnen. Plötzlich trat der Monserrat als ferner blaugrauer Umriß über den Horizont hervor. Je mehr sich unser schaukelnder Wagen ihm näherte, desto mehr traten auf dem Kamme des wunderbaren Berges die zahlreichen Kegel hervor, die ihm den Namen gegeben haben und die ihm von weitem eine Aehnlichkeit mit einer Unterkinnlade etwa eines Höhlenbären geben. Bei Molins del Rey überschritten wir auf einer schönen steinernen Brücke den Llobregat, ein Fluß, der hier, einige Stunden vor seiner Mündung in das Meer, etwa der Saale bei Halle gleichkommt. Wir blieben nun an seiner rechten Seite, meist dicht an seinem hohen Ufer. Dieses steigt vor Martorell, einem gewerbsfleißigen Städtchen, beträchtlich empor. An diesem hohen Ufer in das Städtchen jäh hinabfahrend, entfaltete sich vor unseren Augen eine unvergleichlich schöne Landschaft. Zur Rechten hatten wir tief unter uns den rauschenden Llobregat, links den zu bedeutender Höhe [205] sich fortzusetzenden Uferhang, dicht vor uns das Städtchen Martorell, zu welchem eine hochgeschwungene Brücke, die Puente del Diablo über den Llobregat führt, und über all diesem die mannichfaltigste Berglandschaft, aus welcher gerade vor uns der breite zackige Rücken des Monserrat hervorragte. Ich schwelgte in den Reizen dieses entzückend-schönen Landschaftsbildes, welches durch die fremdartige Gestalt und das graue Alterthum der Brücke wesentlich gewinnt, deren Fundament und ein verfallener Triumpfbogen an ihrem einen Ende, der alten Charthagena, man behauptet sogar bestimmt, dem Hannibal angehört.

Nachdem in Martorell frische Maulesel vor unsern Wagen gespannt waren, ging es schnell weiter nach Esparraguera zu. Der bisher ziemlich klare Himmel bedeckte sich mit Regenwolken und nun sah der uns schon ziemlich nahe Monserrat vollkommen aschfarbig aus und schien aus zackigem Bimstein zu bestehen. In Esparraguera übernachteten wir, nachdem wir in der für Spanien ganz guten Posada an einem frugalen Nachtessen und feurigem Wein uns gelabt hatten. Wir gönnten uns nur eine kurze Nachtruhe und am andern Morgen ließen wir uns von einem Führer nach dem Dorfe Colbatò, welches dicht am südlichen Abhange des Monserrat liegt, bringen. Um unseren so genußreich verlaufenen 24. März in jeder Hinsicht genußreich zu machen, fanden wir in der sehr freundlichen und reinlichen Posada del Monserrate ein leckeres Frühstück von Chocolade, Eiern und würzigem Wein. Gegen 8 Uhr traten wir unsere Wanderung an. Voran unser Wirth als Führer, auf leichten Sandalen den hüpfenden Schritt des Bergsteigers uns voranschreitend. Seine Führung war eine durchaus durchdachte. Er begann an dem weniger malerischen und nicht beschwerlichen Theile des Weges und stieg zu immer entzückenderen und beschwerlicheren Parthien an, bis er zuletzt unser Leben geradehin in Gefahr brachte, das er aber auch kräftig schützte. Der muntere Petro Bacarisas aus Colbatò wird mir unvergeßlich sein und sei hiermit den Lesern und Leserinnen der „Gartenlaube“ empfohlen, wenn sie dem Monserrat einen Besuch machen wollen.

Der Monserrat ruht, wenigstens nach einer Untersuchung seiner Südseite, aus einer braunroten sandsteinartigen Unterlage, welche aber bei näherer Untersuchung auch wie der Berg selbst ein Conglomerat ist, in welchem das Bindemittel über die eingebackenen Rollsteine sehr vorwaltet. Der Monserrat selbst macht durchaus den Eindruck, als sei er durch vulkanische Gewalt empor gehoben worden, und doch ist er das Werk des Wassers. Um sich einen Begriff von seiner Felsart zu machen, so denke man sich ein Mauerwerk, welches aus Erbsen bis mehr als Kürbis großen abgerundeten Steinen aller Art und einem braunröthlichen Mörtel besteht. Die verwittertet, stets ganz glatten Wände der meist kissenförmigen Felsen erscheinen aber ganz hell grauweiß. Ihre horizontale Schichtung in mächtige Bänke kann man nur selten erkennen, weil sie senkrecht durch reiche mit niedrigem immmergrünem Buschwerk ausgekleidete Schluchten gewaschen sind und man aneinander und übereinander gelegte Säulen zu sehen glaubt. Bei Colbatò, welches großenteils auf einem mit Quarzschnüren durchzogenen und vielfältig in seinen Schichten gestörten Gneis ruht, fand ich einen kleinen sehr regelmäßigen Kegelberg, den ich seiner dunkelgrauen Farbe und seiner Gestalt wegen für einen Basaltdurchbruch hielt. Ich fand aber, daß er aus einem dichten Kalk bestehe, dessen Schichten fast auf dem Kopfe, gegen den Monsterrat zu, aufgerichtet stehen.

Im Aufsteigen unterhielten mich die immergrünen niedrigen Gesträuche, die aus allen den zahllosen Schluchten und Rissen hervorsprießen. Es waren meist niedrige Eichenbüschchen mit stachligen Blättern, Haidearten, Rosmarin, Lavendel, Buchsbaum, Seidelbaste und der bei uns so oft im Zimmer gepflegte Laurentinus (Laurus Tinus), der eben zu blühen begann. Nach zweistündigem Marsche befanden wir uns auf dem Sattel des Gebirges, denn der Monserrat ist mehr so als ein Berg zu nennen. Auf dem nicht sehr breiten Sattel stehen zahllose Felsen von 200 bis 500 Fuß Höhe. Sie sind ganz hellgrau, fast weiß und stets glatt und mit abgerundeten Wänden. Meist gleichen sie in der Form riesigen Zuckerhüten oder plumpen Säulen, bald einzeln, bald truppweise beisammen; hier bilden zwei ein Thor, indem sie sich oben aneinanderlehnen und den Rahmen einer reizenden, kleinen Fernsicht bilden; dort stehen zwei mit ihrem Fuße dicht beisammen und streben oben mit ihren Spitzen auseinander. Meist sind sie durchaus unersteiglich. Nur einen dieser Kegel fanden wir durch ein auf seiner Spitze aufgepflanztes Kreuz als ersteigbar bezeichnet. Er schien aber nicht der höchste und so begnügten wir uns mit der an seinem Fuße nicht weniger schönen und umfassenden Aussicht. Diese zu beschreiben ist ein gewagtes Unternehmen. Ganz Catalonien lag zu unseren Füßen ausgebreitet. Keine Stelle, so groß wie ein Tisch, erschien uns eben - Alles bunt durcheinander geflochtene Berge und Thalschluchten, vom Llobregat und dem Noya durchschlängelt. Im Norden dehnte sich, so weit das Auge reichte, die blendend weiße Kette der Pyrenäen aus; über die Berge im Osten ragte das schneebedeckte Haupt des Monseny hervor, im Westen thürmten sich die valencianischen Gebirge; aber im Süden - da hing das blendende Tagesgestirn über einer Landschaft von unendlicher Schönheit. Zu unseren Füßen lag das freundliche Cobató; im Mittelgrunde ruhete Martorell im Schatten seines steilen Bergnachbars; zu seiner Linken über dem Silberbande des Llobregat konnten wir deutlich Hannibals Teufelsbrücke erkennen. So lös’te sich der südliche Horizont im Sonnenlichte allmählig in Duft auf und an zwei Stellen, über Barcelona und am Ausflusse des Llobregat, beide durch den blauen Hügel des Monjuy geschieden, trat das herrliche Mittelmeer hoch am Horizonte empor. Ueber Barcelona war es mit Sonnenschein in in weiter Ausdehnung übergossen, und nur hier konnte ich durch die Beleuchtung die Grenze zwischen Meer und Himmel erkennen; auf der andern Stelle gingen beide ohne Grenze in einander auf.

Freund Pedro ließ uns wenig Zeit; er trieb vorwärts. Er sagte uns vor dem Weitergehen, mit dem Arme über die Pracht zu unseren Füßen hinstreifend: „Alles, was Sie jetzt als kahle, rothe Erde sehen“ - und unsere ganze erkennbare Umgebung sah so aus - „das sind alles Weingärten.“ Er führte uns nun in die tiefe Schlucht, welche den Monserrat in seiner Längenausdehnung von Westen nach Osten spaltet, und in der, wie in den Eingeweiden eines thierischen Körpers, der ganze wunderbare Bau des phantastischen Bergriesen sich uns [206] offen darlegte. Zunächst sahen wir mehrere zerstörte und verlassene, einstmals aber gewiß ganz wohnlich gewesene Einsiedeleien, deren es 12 giebt. Den Besuch der einen werde ich nie vergessen. Von einer tieferen Stufe der Schlucht ragte vor mir ein Riesenkegel von vielleicht 600 Fuß senkrecht empor. Ungefähr in der Mitte der Höhe seiner glatten Wand sahen wir, mir wenigstens erschien es täuschend so, das angemalte Bild eines verfallenen Häuschens, denn Körper schien mir das Ding nicht zu haben und – nach einer halben Stunde saßen wir in dieser kleinen Ruine der Einsiedelei und verzehrten einen mitgenommenen Imbiß. Wie wir dahin gekommen sind, weiß ich jetzt kaum mehr; nur so viel weiß ich, daß ich, hätte ich vorher von unten Menschen darin gesehen, ich sie für verlorene Verbannte oder für Verzauberte gehalten haben würde. Oft fragten wir mit einigem Grausen unseren munter voranschreitenden Führer, der mit seinen nachgiebigen Sandalen einen sicheren Tritt hatte, „dahinauf“ oder „dahinunter sollen wir?“ Doch es ging überall glücklich für alle Drei. Der Zauber der herrlichen Natur strömte Kraft und Muth durch unsere Leiber. Ich fand in der Schlucht die Pflanzenwelt viel üppiger als auf dem südlichen Abhange. Meine Mütze war nun ringsum mit duftenden Zweigen besteckt, jetzt kam ein frisches Lorbeerreis dazu und nun umweheten mein Gesicht die süßen Düfte dieses Dichterbaums wie die Seufzer der vor dem Apollo fliehenden Daphne. Ich hatte den balsamischen Duft des frischen Lorbeers noch nicht gekannt und nicht geahnet. Der Buchsbaum schoß in der Schlucht zu Stämmchen von 4–5 Ellen empor. Ich brach mir eins der schlankesten zu einem Stocke ab. Das feine harte Holz sprang leicht, fast wie Glas, vom Wurzelstocke ab.

Plötzlich traten wir dicht an den jähen Schlund und tief unter uns lag – vielleicht die malerischeste Lage eines Hauses – in schwindelnder Vogelperspective das Kloster des Monserrat oder wie sein Name ist Convento de Nuestra Sennora del Monserrate. An den steilen Wänden der Schlucht abwärts steigend, waren wir nach einer halben Stunde in der – Wiege des Jesuitismus, denn hier hat Ignatius Loyola seine weitverzweigende „Gesellschaft Jesu“ erdacht. Und wahrlich, man muß den Monserrat durchstiegen und wie wir, seine Wanderung durch denselben am Kloster geendigt haben, um die furchtbare Gewalt und Consequenz des Loyola’schen Systems zu begreifen. Durchdrungen, wie ich es bin, von der Ueberzeugung, daß die Umgebung zu einem großen Theile den Menschen und seine Gedanken macht, konnte ich begreifen, wie gerade hier der Jesuitismus erdacht sein konnte. Ein Mönch, an den wir empfohlen waren, zeigte uns in schwindelnder Höhe über dem Kloster die Mauerüberreste einer kleinen Klause, wie ein Schwalbennest auf die Spitze eines Felsenkegels geklebt, wo der furchtbare Mann die Schlingen und Ketten seines Netzes erfunden, oder, wie der Mönch sagte, in heiligen Bußübungen Tage und Nächte verbracht hat. Was die kühnste Phantasie eines Malers ersinnen kann, – um das Kloster herum ist es überboten. Es liegt am östlichen Ausgange der Schlucht, welche das ganze Gebirge tief spaltet. Hier erheben sich die mächtigen Felsenkegel zum Theil unmittelbar aus den schäumenden Wellen des Llobregat und überragen das gegen 2000 Fuß über dem nahen Mittelmeere gelegene Kloster noch um ein Bedeutendes. Ihre Spitzen gestalten sich gerade hier zu den bizarresten Formen. Aus den Fenstern der Südseite sieht das Auge an den schroffen Felsen, die Oeffnung der Schlucht begrenzend, bis an das Meer, in welchem man bei hellen Wetter die Berge der balearischen Insel Malloria sehen kann. Nach Osten liegt vor dem Beschauer jenseits des nahen Llobregat ein bunt durcheinander geworfenes Berglabyrinth, welches je weiter, desto mehr ansteigt und über welches zuletzt der weiße Scheitel des Monseny hervorblickt. In der unmittelbaren Nähe des Klosters herrscht das ganze Jahr hindurch eine Todtenstille, denn nur seltene Besuche Fremder und Solcher, welche dem einsamen Mönchsleben die Bedürfnisse zuführen, kommen bis hieher. Kaum ein Vogel, die überhaupt in Spanien sehr mangeln sollen, unterbricht die zur Beschaulichkeit einladende Stille dieses zauberischen Plätzchens unserer Mutter Erde.

Doch ich muß zum Ende drängen, wie unser Führer zum Aufbruch drängte, nachdem wir flüchtig die Klostergebäude, seit der Zerstörung durch die Franzosen größtentheils in Ruinen liegend, durchwandert waren. Es sollte noch zu der Tropfsteinhöhle gehen. Schon war es 4 Uhr und noch sollten wir bis zur Höhle eine volle Stunde brauchen. Der Weg führte uns abermals an den kaum gangbaren Wänden der Schluchten hin, wobei zwischen uns und dem Tode hundertmale kaum ein Fuß breit sicheren Bodens war. Endlich waren wir vor der Höhle. Ich wagte es nicht mit hineinzugehen, weil ich zu sehr erhitzt war und nichts sehen mochte, was ich in der Adelsberger Höhle in Illyrien viel schöner gesehen hatte. Ich mochte den Monserrat, von dem ich bezaubert war, in seiner jedenfalls viel weniger schönen Höhle nicht bemäkeln. Ich setzte mich einstweilen auf einen Stein am Eingange der Höhle. Vom Thale aus habe ich wahrscheinlich wie ein kleines Menschenbild, auf die vollkommen senkrechte Wand hingemalt, ausgesehen. Ich hatte keine Ahnung davon, wie hier hinunter zu kommen sein sollte, und, ich muß es gestehen, es wurde mir fast um mein Leben bange. Denn um Knochen handelte es sich hier nicht blos. Ich wußte, daß es einer Strickleiter bedürfen würde und daß zu unserem Heruntersteigen noch 2 Gehülfen von Colbató hierher beordert waren, welches tief unten zu meinen Füßen lag. Es ging aber für Alle glücklich von Statten, obgleich an zwei Stellen der Fehltritt eines Zolles der Kaufpreis unseres armen Lebens gewesen sein würde. Doch war mir für diesen halsbrechenden Schluß der Hochgenuß des Tages nicht zu theuer erkauft, obgleich ich mir und den abwesenden Meinigen stillschweigend das Wort gab, solche augenscheinliche Gefahren hinfüro hübsch zu vermeiden.

Leider gelang es mir nicht, in Barcelona ein erträgliches Bild des wunderbar schönen Monserrat zu finden. Ueberhaupt steht die Kunst in Spanien auf einer sehr tiefen Stufe. In dem großen Barcelona sah ich von Lithographien eigener Fabrik nur elende Machwerke. Desto mehr habe ich mich gefreut, im Kloster des Monserrat in die Fußtapfen eines Frankfurter Freundes, des berühmten Landschaftsmalers Fritz Bamberger, zu treten. Er hat im vorigen Sommer in den reizenden Labyrinthen des Monserrat fleißig gezeichnet. Vielleicht erhalten wir durch ihn bald ein treues Bild dieses Naturwunders.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: „II.“