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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1853
Erscheinungsdatum: 1853
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[133]

No. 13. 1853.
Die Gartenlaube.


Familien-Blatt. – Verantwortlicher Redakteur Ferdinand Stolle.


Wöchentlich ein ganzer Bogen mit Illustrationen.
Durch alle Buchhandlungen und Postämter für 10 Ngr. vierteljährlich zu beziehen.


Pariser Bilder und Geschichten.

I.
Eine Frau.

Als ich vor einigen Jahren nach Paris kam, ward ich von einem jungen Franzosen, dessen Bekanntschaft ich bei einer mir liebgewonnenen Familie gemacht, in eine Abendgesellschaft (petite soirée) geführt. Wie fast alle Deutschen, welche die französische Hauptstadt zum ersten Male besuchen, kam ich aus dem Staunen und Entzücken gar nicht heraus, überall die Herrlichkeiten, welche ich da erblickte, überall das Neue und Seltsame und doch schon Bekannte, überall das Eigenthümliche und Fremdartige, das mich doch nicht überraschte, über diese Welt von der man in Deutschland so viel hört und liest und die Einem doch noch wunderbarer entgegentritt, als man es erwartet, obgleich die Phantasie gewiß nicht müssig oder träg bei den Vorstellungen geblieben, die man sich von der bewegten Stadt an der Seine gemacht. Ich habe in bester Form für Alles geschwärmt, was ich vor mir sah: für die Boulevards mit ihrem bunten Gemisch von Menschen, für die prachtvoll ausgestatteten Laden und Auslagen, für die Höflichkeit aller Leute, für die unzähligen Mercis und Pardons, die in Paris so reichlich verschwendet werden, daß man mit dem Ueberfluß die ganze übrige Welt versorgen könnte. Ich schwärmte für die feine vornehme Weise aller Classen der Gesellschaft, für den Takt in Rede und Haltung, für die Toiletten, für die Ungezwungenheit der Bewegung, die Leichtigkeit der Unterhaltung, vor Allem aber für die Weiber und ihrer unbeschreiblichen Anmuth bei aller Einfachheit, für ihre Coquetterie, die sich mehr als eine gesellschaftliche Liebenswürdigkeit, denn eine gemeine Schwäche kund gibt. „Alle sind sie schön“ (die Pariserinnen nämlich) schrieb ich in meinem ersten Entzücken an einen Freund, „die Alten wie die Jungen; die Häßlichen wie die Schönen.“ Damals befand ich mich noch in der Befangenheit, welche Paris in dem fremden Ankömmling erzeugt, die nur zu sehen, aber nicht zu prüfen, zu betrachten, aber nicht nachzudenken gestattet, und aus welcher gewisse schüchterne Naturen ihr Lebelang nicht herauskommen.

„Alle sind sie schön“ dachte und schrieb ich; denn ich wußte noch nicht, daß dieses Alles äußerer Aufputz, Tünche sei, daß hier Personen und Dinge wie Theaterstücke in Scene gesetzt werden. Ich wußte noch nicht, welche Verwüstung sich hinter dieser prunkenden Außenseite, welche Krida hinter diesen kunstvollen Auslagen sich verstecke. Doch halt! ich will ja von der Abendunterhaltung erzählen, an der ich nach kurzem Aufenthalte in Paris Theil nahm. –

Ich befand mich in einer „honetten“ Gesellschaft. So nennt man nämlich in Paris eine Gesellschaft, die aus [134] Frauen besteht, welche ihren Männern wirklich und förmlich angetraut sind und aus Mädchen, welche, im Schutz der Familie lebend, ihrer Tugend kein lesbares Fragezeichen anhängen; denn auch die Andern haben hier ihr eigenes Leben und Treiben, ihre Salons, ihre bunte rauschende schimmernde Welt. Was die Männer betrifft, sind sie für eine Gesellschaft nicht maßgebend; denn Glacéhandschuhe, Frack und schwarzes Beinkleid sind die hinreichende Legitimation des Mannes für jeden Pariser Salon. Uebrigens bestand der männliche Theil der Gesellschaft aus bekannten ansässigen jungen Kaufleuten, Aerzten, Advokaten, Agents de change, deren Glücksumstände in einem schnellen Wachsthum begriffen, eine glänzende Zukunft verhießen. Da der Zirkel der wohlhabenden Bürgerklasse angehörte, waren die Toiletten nicht nur gewählt, sondern reich und etwas solider, als man sie bei den Honetten bemerkt, welche, seitdem der Faubourg St. Germain politisch und soziell in Verfall gerathen, Königinnen der Mode geworden. Die Französin jedes Standes weiß von sich die Ueberladung fern zu halten und in dieser klassischen Einfachheit besteht das Geheimniß ihrer unerreichbaren Eleganz; abgerechnet die angeborne Anmuth und Geschmeidigkeit, die sie im baumwollnen wie im Sammtkleid, im Hut mit Marabus und im Häubchen beibehält.

Zwischen diese Gewerbsleute waren einige Künstler untergeordneter Qualität als Gährungsstoff der Conversation gemischt. Diese führten das große Wort und machten Bonmots, wie ihre großen Vorbilder Alexander Dumas und Alfred de Müsset in seiner guten Zeit, da er noch nicht das ecclatante Unglück in der Liebe gehabt und nicht so viel Absynth getrunken, wie jetzt. Mein Freund selbst trieb allerlei Künste: Musik, Malerei und aus Liebhaberei, da er doch etwas thun mußte, wenn er nicht damit beschäftigt war, die beträchtlichen Renten seiner alten Mutter zu verprassen. Die französische Lebhaftigkeit verläugnete sich auch in diesem Kreise nicht, ob er gleich aus so philiströsen Gliedern bestand, als man sie nur in Paris aufzutreiben vermag. Man plauderte, man scherzte, man lachte, man tischte Witze aus eigener und fremder Werkstatt auf; man erzählte Skandale aus den allerhöchsten Kreisen, Anecdoten, tausend komische Vorfälle, man spottete, man sprach Politik. Das Philisterthum liegt eben nicht in der Natur des Franzosen, der immer eine Zeit gehabt, da er sich die Zügel schießen ließ, und in die er, ob jung, ob alt, immer wieder zurückfällt, so wie er den Schauplatz seiner ernsten Beschäftigung, das Bureau, das Comptoir, das Magazin verläßt, um sich dem Vergnügen hinzugeben. Es gibt keinen unsystematischeren Menschen als den Franzosen, und ohne System, ohne Uhr und Kalender in der Hand kein Philisterthum! –

Der Salon, welcher uns aufnahm, war elegant mit allem erforderlichen Zubehör eingerichtet; nur durch kleine Mängel unterschied er sich von dem der eigentlich vornehmen Welt, von dem der großen Künstler, Staatsmänner und der traditionellen Herrlichkeit. So fehlte z. B. das reiche Lichtmeer, von dem sich die vornehme Welt bei solchen Gelegenheiten überströmen läßt. Es fehlte der Ausdruck gewisser Marotten und Liebhabereien, der Einem in den Salons ausgezeichneter Personen entgegentritt. Als Kupferstich- oder Autographen-Sammlungen, Statuen, Vasen, Albums, Portraite berühmter Personen, welche eine Meinungs- oder Geschmacksrichtung bezeichnen. Kurz man vermißte die Symbole der höhern Lebenssphäre; doch kündigten sich desto lebhafter die Wohlhabenheit und das behagliche Bewußtsein derselben an, das man in Paris so selten findet, wo Jeder Alles haben will und von nichts weniger als einem Staatsministerium träumt.

Die Hausfrau, das prachtvollste Exemplar von einer Pariserin, machte auf eine so anziehende Weise die Honneurs, daß sie alle Gäste, besonders die männlichen, entzückte. Eine Deutsche sucht in einer Gesellschaft Einem, höchstens Zweien, die sie vorzieht, dem Vornehmsten, dem Schönsten, dem Berühmtesten, und wenn sie liebt, nur dem Gegenstand ihres Herzens zu gefallen. Die Andern gehen leer aus. Die Französin will Aller Beifall gewinnen, und sie läßt in einer Gesellschaft, neben ihrem Gotte, noch andere Götter bestehen. Sie ist im Salon demokratisch, sie weiß im Salon von keiner Rangordnung. Sie hat freundliche Blicke und Lächeln für Alle ohne Unterschied des Standes. Ihr Auge macht Streifzüge durch den ganzen Gesichtskreis bis hinab zum Diener, der mit Erfrischungen aufwartet; sie versteht es im Fluge zu erobern.

Mir gefiel sie über alle Maßen, diese Madame Lamont, mit dem zarten, blassen, unmerklich mit Rosa angehauchten Gesichtchen, mit den geistreichen sprühenden Augen, in denen so viel Verständniß, so viel Muthwillen, so viel kleine Teufeleien zu sehen waren. Was war das Lächeln auf diesen spöttischen Lippen lockend und einnehmend; was trug sie das Köpfchen und schüttelte sie die braunen Locken so eigenmächtig launenhaft! Von ihrem Füßchen spreche ich nicht; denn für das gibt es kein Wort, keine Kritik, und wie gut verstand sie es, diesen Reiz zur rechten Zeit sichtbar und unsichtbar, oder besser gesagt, reden und schweigen zu machen. Kurz, Madame Lamont, war eine bezaubernde Erscheinung, die Einem ganz leicht den Kopf verrücken konnte.

„Ist Herr Lamont glücklich?“ frug ich meinen Freund, als wir uns auf einen Augenblick zusammenfanden und unbelauscht sprechen konnten.

„Wahrscheinlich,“ gab dieser zur Antwort.

„Ist er von seiner Frau geliebt?“ frug ich weiter.

„Ohne Zweifel,“ erhielt ich zur Antwort; „denn Madame Lamont hat die Einwilligung ihrer Aeltern zu dieser Verbindung erzwungen und weit vortheilhaftere Anträge zurückgewiesen.“

„Der Glückliche!“ rief ich aus.

„Ihnen gefällt also Madame Lamont, wie es scheint?“ sagte der Franzose, indem er mich mit einem schonenden Lächeln ansah.

„Ob sie mir gefällt!“ gab ich zurück; „doch möchte mich, wenn ich ihr Mann oder Geliebter wäre, ihr Wesen sehr beunruhigen.“

„Beunruhigen, wie so?“ frug erstaunt der Franzose.

„Weil sie zu liebenswürdig ist. –“

„Kann man das sein?“

„Mir macht diese Frau den Eindruck, als forderte sie leichtsinnig alle Bewerbungen heraus und ich hätte Angst, daß sie nicht Kraft genug besäße, sie alle zurückzuweisen.“

„Wohin verirrt sich Ihr germanisch türkischer Geist,“ rief lachend mein französischer Freund. „Ich verstehe gar nicht recht, was Sie da Alles sagen und weiß nur, daß Madame Lamont eine hübsche junge Frau ist und ihre [135] Schönheiten nicht verschleiert, sondern im Gegentheil sehen und wirken läßt.“

„Ist es nicht trostlos, daß sie sich nicht mit dem Triumphe über das Herz ihres Gatten begnügt!“

„Sie würden doch nicht verlangen,“ rief staunend der Franzose, „daß Ihre Frau Ihnen allein zu gefallen suche?“

„Wir Deutschen haben diese Anmaßung.“

„Wenn Sie das durchsetzen, wünsche ich Ihnen viel Glück,“ höhnte ungläubig der Franzose. „Eine Pariserin würde eine solche Forderung gar nicht begreifen und nur mit Lachen und Mitleiden erwidern.“ – – –

In diesem Augenblicke trat ein schlankgewachsener Mann, sehr elegant gekleidet, mit einem glattrasirten Gesichte, lebhaften Zügen und einem Blick, der nach Verschiedenheit der Personen, auf die er gerichtet war, einen verschiedenen aber immer sprechenden Ausdruck annahm, in den Salon. Er war alt. Die Furchen auf der Stirn, der tief eingegrabene Krähfuß um die Augen, die ergrauten Haare, und die Zahnlücken, beträchtlich an Zahl, zeigten auf 60 oder wenigstens nahe an dieses Alter. In seinem Auftreten zeigte sich eine etwas absichtliche Nachlässigkeit; aber nichts desto weniger waren seine Verbeugungen gegen die verschiedenen Personen, die er begrüßte und überhaupt seine Bewegungen von auffallender Anmuth und Rundung. Die Unterhaltung war für einen Augenblick unterbrochen; denn Aller Blicke und Aufmerksamkeit wendeten sich dem Ankömmling zu; es ist leicht zu denken, wie meine Neugierde, zu wissen, wer dieser Mann sei, durch diese Signale einer ausgezeichneten Persönlichkeit, gespannt wurde. Doch da es mir nicht passend und nicht großstädtisch genug vorkam nach dem Gegenstand der allgemeinen Theilnahme den Ersten Besten aus der Gesellschaft zu fragen, und mein Freund in einem lebhaften Gespräche mit einigen Damen begriffen war, begnügte ich mich vorläufig damit, diese neue Erscheinung zu beobachten, und so bemerkte ich denn, daß ihm die schöne Hausfrau mit mehr als Freundlichkeit, mit einer Art von Huldigung entgegenkam; sie beschäftigte sich von nun an so ausschließlich mit ihm, als es nur der Anstand zuließ. Sie lauschte auf seine Worte mit einer Andacht, als ob Orakelsprüche aus seinem Munde gekommen wären.

Das Spiel, das sie vorhin mit Blicken und andern Reizen getrieben, hörte plötzlich auf; sie war von dem einen Gaste so ganz und gar in Anspruch genommen, daß sie die übrige Umgebung zu vergessen schien; sie wollte nun, so wenigstens kam es mir vor, gar Niemandem mehr gefallen, als diesem Einen. Mich setzte dieses Benehmen der jungen Hausfrau in Erstaunen; doch gewahrte ich nichts von einer ähnlichen Wirkung an den übrigen Gästen, wie ich auch forschen mochte. Herr Lamont selbst, dessen Gesichtszüge ich mit der größten Aufmerksamkeit prüfte, sah so unangefochten aus, als ob ihn das Betragen seiner Frau gar nichts anginge. Kaum einen gleichgültigen Blick warf er auf die Beiden, deren Unterhaltung seine schöne Ehehälfte so gänzlich einnahm. – Die Sache war mir ein Räthsel, aber so zarter Natur, daß es mir widerstrebte, meinen jungen Freund um dessen Lösung zu bitten. Ich beschränkte mich also, da ich mit ihm unbelauscht sprechen konnte, auf die leicht hingeworfene Frage:

„Wer ist dieser Herr?“ indem ich auf den auffallend Begünstigten zeigte.

„Es ist der große Schauspieler Frederic Lemaitre“ antwortete mir ohne weitere Bemerkung der Franzose.

Wochen vergingen; ich hatte in dem bewegten wechselvollen Pariser Leben die vorübergehenden Begegnungen dieses Abends längst vergessen, als mir eine Geschichte zu Ohren kam, in welcher Madame Lamont die Heldenrolle spielt und die in den verschiedensten Kreisen der Gesellschaft so viel Aufsehen machte als eben eine Geschichte in Paris, wo sich Geschichten wie Menschen rasch verdrängen, zu machen pflegt.

Herr Lamont hatte seit einiger Zeit zu bemerken Gelegenheit gehabt, daß sich seine Frau an gewissen Tagen zu gewissen Stunden vom Hause entfernt, ohne jemals von diesen Gängen und deren Zweck ein Wort zu sprechen. Wie sehr sich auch Herr Lamont bemühte alle beunruhigenden Gedanken in Bezug auf seine Frau von sich zu weisen, sie kamen dennoch mit der bekannten Zudringlichkeit unangenehmer Gedanken und warfen dunkle Schatten auf sein Herz und sein Vertrauen. Eines Tages, nachdem er lange und vergebens mit sich selbst gekämpft hatte, frug er seine Gattin mit so viel Ruhe, als er eben zu behaupten im Stande war, was es denn mit den auffallend häufig und regelmäßig sich wiederholenden Gängen für eine Bewandtniß habe. In der unverkennbarsten Verlegenheit durch diese Frage, suchte Madame sich zu sammeln und antwortete mit unsicherer Stimme, daß sie in der letzten Zeit viel bei ihrer Putzmacherin zu thun gehabt. Nun ließ Herr Lamont seine Gattin nicht mehr aus den Augen und so wie es ohne auffallend zu sein geschehen konnte, begab er sich zur Putzmacherin seiner Frau.

„Madame Lamont hat eine Broche, ein kostbares Andenken von ihrer Mutter verloren. Ist es nicht vielleicht bei Ihnen hier gefunden worden?“ frug Herr Lamont gespannt die Verschönerungskünstlerin.

„Madame Lamont war heute gar nicht hier, Monsieur,“ antwortete die so angeredete Putzmacherin.

„Vielleicht gestern?“ frug Herr Lamont weiter.

„Auch gestern habe ich nicht die Ehre gehabt.“

„Also vorgestern?“

„Die Toilette der Madame Lamont für diese Saison ist seit 14 Tagen vollständig, und es ist sehr lange, daß ich nicht das Vergnügen ihres Besuches gehabt.“

Herr Lamont stürzte fort; er war außer sich vor Wuth und Erbitterung, und Gedanken an Scheidung von der Frau, die ihn so glücklich und so unglücklich gemacht, berührten seine Seele.

Zum Glücke ist der Weg von der bezeichneten Putzmacherin bis in seine Wohnung ein langer, so daß er Zeit hatte sich zu fassen und ließ sich die Stimme, welche noch keinem eifersüchtigen Manne geschwiegen, vernehmen, welche ihm zurief: Vielleicht ist sie doch unschuldig. Auf diese Weise besänftigt, nahm sich Herr Lamont vor, keine Uebereilung zu begehen und sich vollkommene Gewißheit des Frevels zu verschaffen, bevor er ihn bestrafen würde. Es fiel ihm ein, was ihm längst hätte auffallen können, daß er ja den Zweck der geheimnißvollen Gänge durch ein unbemerktes Auflauern ermitteln könnte. Er beschloß die theils traurige, theils lächerliche Rolle zu spielen, die schon so viele Thoren und vernünftige Leute vor ihm gespielt.

Er hielt sich eines Tages in der Straße verborgen, bis er seine Frau mit eiligen Schritten aus dem Hause [136] gehen sah und nun folgte er ihr unbemerkt in gut berechneter Entfernung durch die Straßen quer über die Boulevards, dann wieder durch Straßen bis in die rue de l’echiquier.

Hier sah er sie in ein Haus treten, das ihm wohl bekannt war. Sie ging rasch an der Loge des Concierge vorüber, ohne nach irgend Jemand zu fragen und stieg die Treppe empor.

„Wie einheimisch,“ murmelte der eifersüchtige Ehemann vor sich hin. Sein Herz pochte mit heftigen Schlägen; und eine Zeitlang blieb er vor dem erreichten Hause stehen, theils um sich zu sammeln, theils um mit sich selbst zu berathen, wie er vorgehen sollte, um den beabsichtigten Zweck zu erreichen.

Drauf trat er in’s Haus.

„Monsieur Lemaitre?“ rief er dem Concierge zu.

„Er ist ausgegangen,“ antwortete mürrisch, wie das in Paris Sitte, der Thorhüter.

„Nicht wahr! für mich muß er zu Hause sein,“ rief Herr Lamont und stürmte die Treppe empor.

Mit einer gewissen Sicherheit hielt er bei einer Thüre im zweiten Stockwerk und klingelte. Ein Diener öffnete.

„Sie sind es, Herr Lamont,“ frug dieser, da er den Ankömmling sogleich erkannte.

„Ja freilich bin ich es; was ist darin so Auffallendes?“ antwortete Herr Lamont mit bissiger Schärfe im Ton.

„Nicht das Mindeste, Monsieur,“ entschuldigte der Diener; „ich will Sie sogleich melden.“

„Das ist überflüssig. Ich kann schon so eintreten,“ sprach gereizt Herr Lamont und ohne eine Antwort abzuwarten, trat er in das Gemach, welches an den Vorsaal stieß. Es war leer; allein in dem Salon links, den er wohl kannte, hörte er sprechen; er blieb stehen, um zu lauschen. Eine Männerstimme, die er sogleich als die Frederic Lemaitre’s erkannte, sprach: „Ist es nichts, einem Manne Alles zu sein, und das bist Du mir im ganzen Umfang der Bedeutung. Ich breche mit meiner Vergangenheit, mit meinen Hoffnungen und Träumen, um ganz Dir zu gehören, und noch bist Du nicht zufrieden?“

„Ich bin Dein, ob ich will oder nicht; eine verborgene Gottheit bezwingt mein Herz und gibt mich Dir zum Eigenthume; doch sie dünkt mir eine dunkle, feindliche; ich muß Dich lieben; ob ich es gleich fühle, daß diese Leidenschaft eher mein Verderben, als mein Glück.“ –

„Ja, Dein Verderben!“ wiederholte furchtbar der arme Herr Lamont, dem schier die Sinne vergingen, der auf ein Sopha sank, weil er sich nicht aufrecht zu erhalten vermochte, denn er erkannte die Stimme seiner Frau, welche auf die Rede Lemaitre’s Antwort gab. Und wie sprach sie? mit welchem Feuer, mit welcher Begeisterung. Nie hat er, den sie doch zu lieben vorgab, sie so sprechen hören. Der arme Mann fuhr sich mit den Händen in die Haare, er war in Verzweiflung. Es kamen ihm noch fürchterlichere Vorsätze als Scheidung in den Kopf. Sie sollen Beide sterben, die mich so schändlich verrathen, sagte er vor sich hin mit einem Blick nach der Thüre des Salons. Drinn sprach die männliche Stimme wieder: „Wie magst Du Dich ängstigen! Ein Cherub mit dem flammenden Schwerte will ich vor Deinem Paradiese Wache halten. Und wenn ich Dir ohnmächtig erscheine, zaghaft, von weichem nachgiebigen Wesen, Deine Liebe macht mich zum Helden, zum Gotte. Drum brauchen wir nichts, gar nichts um glücklich zu sein, als unsere Liebe. Die sei wahr und groß, und wir können den Beistand des Schicksals entbehren.“

Madame Lamont sprach:

„Laß mich ruhen an Deinem Herzen, laß mich hangen an Deinen Lippen, laß mich die Welt mit ihren Schmerzen und Freuden in Deinen Armen vergessen.“ –

Nun hielt sich Herr Lamont nicht länger; alle Mäßigung von sich werfend, stürmte er auf die Thüre, wie um sie zu durchbrechen, öffnete und trat in den Salon.

Mit zornfunkelnden Blicken sucht er die Strafbare und ...... er traut seinen Augen nicht ..... seine Frau, in einem Schleppkleid, steht in einer hochtragischen Stellung da, vor ihr Lemaitre mit einem Heft in der Hand, an ihrer Attitude Mancherlei verbessernd. Die alte Haushälterin des berühmten Schauspielers, welche ihm, da er von seiner Frau getrennt lebt, die innern Angelegenheiten überwacht, sitzt auf einem Sopha mit einem Strickstrumpf in der Hand und sieht mit Wohlgefallen lächelnd auf die schöne abenteuerlich aufgeputzte Erscheinung, die sich linkisch und doch anmuthig in dem ungewohnten Costüm benimmt. Herr Lamont bleibt starr vor Entzücken und Beschämung stehen. Niemand spricht ein Wort, bis Madame Lamont das Schweigen bricht.

„Edouard, Du hast mir die Freude verdorben,“ ruft sie unter Thränen. „Ich wollte Dich zu Deinem Namenstag mit einem Schauspiel überraschen. Herr Lemaitre hatte die Gefälligkeit mir meine Rolle einzustudiren und nun ist Alles vorbei.“

Herr Lamont stotterte einige entschuldigende Worte. – Madame Lamont aber war nicht mehr dazu zu bewegen ihre Lection fortzusetzen und es hatte mit dem Namenstagsstück ein Ende. Unter Thränen hat der Eifersüchtige später die Verzeihung seiner braven Frau erfleht, die es lange nicht vergessen konnte, daß er ihr durch sein Mißtrauen eine schöne Freude verdorben.




Ein Besuch in Weimar.

Endlich einmal in Weimar! Dort, 800 Schritte südlich, liegt dieses moderne Athen vor mir so freundlich einladend, obgleich in dieser Schneetrauer am Tag vor Frühlings Anfang. Meine Frau war so ergriffen von dem langersehnten Anblick, daß sie sich unmöglich entschließen konnte zur Einschachtelung in einen Omnibus oder Fiacker, mich am Arm nahm und dem Menschenzuge zur Stadt auf dem Fußwege nachschlenderte. Die Thauluft hatte bereits etwas zaghaft an dem Schnee geleckt, der Wind seine Spiele geübt, der Weg war nichts weniger als anmuthig. Das Geheimniß, comfortable Fußwege zu machen und sie gut zu erhalten, scheint wirklich in Ilm-Athen noch unter [137] die unentdeckten zu gehören. Außerhalb geht es noch nothdürftig, aber der Hohlweg durch die sogenannte Brühlgasse, mit seinen achtzehn Zoll breiten Trottoirs voll Hügeln und Pfützen und Dachtraufen ohne Rinnen erinnert sehr liebenswürdig an manche klassischen Dörfer. Warum sollte man auch in einer Residenz voll wahren Ruhmes zu den vielen Mühen des Lebens noch die hinzufügen, die Fußwege gangbar zu erhalten, wie auch die Witterung sein möge? Die Einwohner haben sich an dergleichen mit stoischer Resignation gewöhnt und die Fremden mögen sich sogleich beim Eintritt überzeugen, daß hier höhere Ansprüche als an solche Alltäglichkeiten zur Geltung kommen.

Schiller’s Arbeitsstube in Weimar.

Der Appetit trieb uns nach dem Gasthof. Einige Reisende, ein Paar junge Beamte und dramatische Künstler bildeten die ziemlich belebte Table d’hote. Kaum hatten wir Platz genommen, so traten zwei zierlich gekleidete junge Männer heiter herein, mit einem flüchtigen Blick erforschend, wohin sie sich setzen sollten. Aber majestätisch, wie der grollende Poseidon aus den Wogen des Meeres, tauchte der Wirth über das Tischtuch empor und rief den beiden Ankömmlingen gebieterisch zu: „Meine Herren, hier wird nicht für Sie gekocht!“ Sie entfernten sich und Stille herrschte ringsum. „Wessen schweren Vergehens haben sich diese beiden Herren schuldig gemacht, daß die ganze Gesellschaft eine solche Behandlung duldet?“ frug ich erstaunt meinen Nachbar. „Die Herrn haben sich gestern die Bemerkung erlaubt, daß der Braten nicht so gut wäre wie gewöhnlich. Das darf nicht sein. Wir Weimaraner sind sehr empfindlich gegen jeden Act der Polizei von Seiten des Staats und der Commun und würden Zeter schreien, wenn von Censur wieder die Rede werden sollte, aber unsre Wirthe dürfen strengste Polizei üben und haben das Recht, auch nicht den allerleisesten Zweifel gegen ihre Allvortrefflichkeit zu dulden. Höflichkeit darf der Wirth nicht auf die Rechnung bringen, also ist er solche auch nicht schuldig.“

Wir wählten zur Besichtigung der Stadt einen Lohndiener und machten uns bald auf den Weg.

Es war weder Freitag noch Sommer, also mußten wir mit der Betrachtung der Außenseite von Goethe’s Haus uns begnügen und trotz seines weltberühmten Salve! mißmuthig weiter gehen. Die Goethe’schen Erben haben ohne Zweifel ein Recht freiester Verfügung über ihr Eigenthum. Aber dieses ihr Eigenthum ist gewissermaßen zugleich Eigenthum der gesammten deutschen Welt, ein Wallfahrtsort, nach dem Pilger aus allen Welttheilen sich einfinden. So darf man vielleicht wohl fragen, was denn die üble Laune hervorgerufen, welche dieses Denkmal des großen Geistes der Welt verschließt und nur so wenigen Glücklichen an einigen Stunden der Sommerfreitage eröffnet. Diese herbe und befremdliche Maßregel ist nicht gleichgültig für Weimar, sie ist es nicht für Hunderte und Tausende von Reisenden, sie ist es nicht für den nationalen Geist und Sinn. Ist keine Aenderung zu hoffen? Wie könnte man sie erzielen?

Der Cicerone leitete unsere Schritte nach dem Kirchhofe, um unterwegs einen Neubau sehen zu lassen: die Freimaurerloge Amalie. Der Baumeister des Rathhauses hat auch dafür den sogenannten freien gothischen Styl gewählt und, irren wir nicht, sinniger und glücklicher als bei dem Rathhaus. Dieser Bau erscheint uns als ein erfreulicher Fortschritt des Künstlers und gehört jedenfalls zu den besten, was Weimar an Bauten besitzt. – Wir standen an dem neuen Kirchhof und der Cicerone bat mich, [138] mit einem bedeutsamen Wink nach einem Placate an der Eingangsthüre, um gefällige Beseitigung der Cigarre. Richtig, da steht es groß geschrieben: „das Rauchen auf dem Kirchhofe ist bei einem Thaler Strafe verboten.“ Der Mensch ist von Natur ein polizeiwidriges Geschöpf und allzeit geneigt, der Polizei unrecht zu geben, aber ich bin ein ziemlich guter Mensch und freute mich daher herzlich, der Polizei auch einmal ein Belobungsdekret ausstellen zu können für dieses odi profanum vulgus. Es liegt in der That etwas Unschickliches, ja Empörendes darin an dem Orte der Hingeschiedenen, wo Pietät, Schmerz und Trauer ihrer mit der Ewigkeit sie verknüpfenden Betrachtungen, Empfindungen und Träumen sich hingeben, kalt und barsch umherzuwandeln, seiner Neugierde, seinen historischen oder ästhetischen Studien mit Cigarrendampf zu huldigen und alles tiefst Menschliche darüber außer Acht zu lassen. –

Der Kirchhof ist gerade keiner der schönsten und sinnigst angelegten noch gepflegten, aber immerhin sehr freundlich. Es gibt ein gutes Zeugniß für Weimars Bewohner, daß man auch in dieser Jahreszeit der reizlosen Schneemonotonie andere Besuche, als die der Neugierde und der Touristen hier findet. Die Betrachtung des Leichenhauses mit allen, von Hufeland angeordneten und von Schwabe vervollkommneten Anstalten zu Verhütung des schaudervollen Lebendig-Begraben-werdens, hatte in diesem Augenblick nichts Lockendes für uns. Wir sehnten uns nach der Fürstengruft, und dort südlich auf der Anhöhe ragt sie hoch empor und harrt bereits der Hofdiener unserer Ankunft. Früher soll es sehr vieler Umständlichkeiten bedurft haben, um diese Fürstengruft besuchen zu können. Dem neuen Hofmarschall muß man zum Ruhm nachsagen, daß er diesen Uebeln ein Ende gemacht und die Betrachtung wesentlich erleichtert hat. Man geht oder sendet in die Hofmarschallamtskanzlei und bestellt, um welche Zeit man in die Fürstengruft wolle und pünktlich wird der Hofdiener auf seinem Posten erscheinen. Auch im Innern ist trefflich für die Besucher gesorgt. Man erwarte kein großes Prunkgebäude. Ueber einem Stufenabsatze steht die von Carl August 1824 durch Coudray erbaute Fürstengruft, ein quadratischer Bau mit dorischem Portal, Segmentfenstern und Kuppelaufsatz. Innen in der Mitte tragen vier Pfeiler, verbunden durch Halbbögen, worin Wappen, das Kuppeldach. An der Rückwand der Altar; vorn im Boden die runde umgitterte Oeffnung, um Licht und mittelst einer Vorrichtung die Särge hinabzulassen in die Gruft. In diese windet links dem Eingang eine steinerne Treppe sich hinunter. Das flache Gewölbe der Gruft senkt sich auf vier niedere breite Mauerpfeiler. – Dem Herabgekommenen rechts herum stehen hier sechsundzwanzig Särge, die ursprünglich in zwei Grüften der Kirche im Residenzschloß beigesetzt waren, nach dessen Brande 1774 in einem untern Gewölbe desselben bewahrt, 1825 hier in die neue Gruft versetzt wurden. Diese sechsundzwanzig Särge umschließen von Herzog Wilhelm, † 1662, an sechsundzwanzig Glieder des Fürstenhauses, die das Verzeichniß auf dem ersten Sarge rechts oder der Hofdiener nennt. Am 16. December 1827 ließ Carl August Schiller’s Reste von dem Jakobskirchhofe hierher versetzen, 6 Monate später eröffnete sich die Gruft für Carl August’s Leiche, am 26. März 1832 stellte man Goethe’s Sarg neben den seines Freundes. Die Särge von Goethe und Schiller stehen gerade der Thür gegenüber ....

Dies Alles erzählt man so ruhig, als wenn gar nichts Besonderes daran und Alles nur ein Frühlingstraum wäre, sobald der Hofdiener seine zwanzig Wachskerzen in der Gruft wieder ausgelöscht hat. Dennoch hat man etwas so Außerordentliches gesehen, wie es weder die Westminsterkirche des stolzen London, noch das Pantheon des übermüthigen Paris, noch Roms unvergänglicher Dom aufzuweisen haben. Es ist die feierliche und glänzende Anerkennung des Göttlichen, das von Gottes Gnaden in Männern, die nicht von Fürstinnen geboren worden. Es ist eine heilige Testamentsclausel für alle Thronfolger Weimars, auf welchen Bahnen sie Heil und Ruhm erstreben, für welchen Geist sie einstehen sollen mit Arm und Mund und Herz. Es ist ein Hallelujah hehren deutschen Fürstensinnes, das die Nation vor Verzweiflung bewahrt, wenn sie aller schmachvollen Dinge der neuern Zeit gedenkt. Ja, wenn Deutschland jemals den schönen Ostertag seiner Nationalität zu feiern berufen ist – aus dieser Fürstengruft mit den beiden Dichtersärgen wird er emporsteigen. Hätte Weimar gar nichts als diese Fürstengruft, so wäre es doch für jeden Deutschen der Mühe werth, hieher zu wallfahrten, ein Lorbeerblatt von diesen Särgen zu pflücken, vor Carl August’s Sarkophag ein Knie zu beugen, ein Gebet zu sprechen für Deutschlands Heil und Ehre.

Wie gern wir auch dem edeln Sinne Carl Friedrich’s und Maria Paulowna’s ehrfurchtsvoll gehuldigt, den schönsten Schmuck des Weimar’schen Schlosses – die Dichterzimmer betrachtet hätten, es fügte sich nicht, wir hatten kaum noch zwei Stunden Zeit für uns. So entschlossen wir uns denn zu einem Besuch von Schiller’s letzter Wohnung auf Erden, welche jetzt von dem Stadtrathe treulich gepflegt, täglich und stündlich für Jedermann offen steht.

Die alte Esplanade am alten Frauenthor, wo Linden und Schützengraben einen oft sehr unentschiedenen Kampf um die Oberherrschaft über die menschliche Nase geführt haben sollen und Reihen von Gärten dem Gartengeschmack Weimars nicht gerade ein Loblied sangen, ist nun verschwunden. Sie hat sich in eine sehr stattliche Straße verwandelt und den Namen Schillerstraße gewonnen, kaum zweihundert Schritte von dem Goetheplatz anfangend, endigend an dem unvergänglichen Witthumspalais von Anna Amalie. Ohngefähr in der Mitte der nach Süden schauenden Seite dieser Straße, an der Ecke einer kurzen Verbindungsgasse steht ein unansehnliches, nur sechs Fenster breites Haus, mit sehr niedrigem Erdgeschoß und zwei Etagen hoch. Die Schrift über der Thür sagt uns, daß es Schiller’s Haus ist. Hier wohnte er die letzten drei Jahre seines Lebens.

Einem flinken Redner in der Judenfrage entschlüpften einmal die Worte: „Welchen Anlaß haben wir, uns so gewaltig über die Juden zu erheben? Wir sind ja nicht mehr als verkehrte Juden: sie bedecken ihr Haupt an Orten tiefster Ehrfurcht, und wir entblößen das Haupt.“ So erging es mir unwillkürlich beim Betreten des Flurs dieser heiligen Halle und der überaus gefällige Castellan hatte nicht wenig Mühe, mich zur Bedeckung des Hauptes zu bewegen, da in den oberen Räumen nicht geheizt wird. Eine Dame unserer Gesellschaft war von Neugierde getrieben an die Hinterthür gerathen und rief voll Entzücken: [139] „Schiller’s Gärtchen!“ – Dieses Gärtchen umfaßt ohngefähr 6 Quadrat-Ruthen und enthält nichts mehr von Schiller, als den nun prachtvollen wilden Weinstock, der einst die Laube seiner Zurückgezogenheit und Erholung im Grünen bildete, als noch Garten an Garten sich reihte. Jetzt ist es ein, zwischen den Mauern von 3 Häusern eingeschlossener, und für die auf der Straße Vorübergehenden sichtbar gemachter, fast sonnenloser Raum, der sich durch die Sorgfalt des wackern Castellans jährlich in ein sehr niedliches Blumengärtchen verwandeln soll und mit der herrlichen, über zwei Stockwerke hohen wilden Rebe Schiller’s prunkt. Uns drängte es nach andern Räumen, und da wir weder Architekten noch Archäologen sind, so verschmähten wir den Besuch des Schiller’schen Buschhauses, obgleich es uns sehr merkwürdig wegen seines Gewölbes geschildert wurde und einst Weimars Münzstätte gewesen ist.

Unser eigentliches Ziel, Schiller’s Wohnung, umfaßt das zweite Stockwerk. Ein wohlthuender Schauer durchrieselte uns, als der Schlüssel des Castellans in dem Schloß sich drehte. Die Thür geht auf: Wir stehen in einem Vorsälchen mit allerlei Bildern und Gipswerken geschmückt, wovon nichts dem großen Dichter gehörte, weil keine Erinnerung sich der unter ihm hier bestandenen Einrichtung entsinnen konnte. Der Thür gegenüber am Boden stehen Duzende reinlicher Hausschuhe – für die Besucher. Man muß sich bequemen, sie als Ueberschuhe anzuziehen, damit man nicht der Arbeit der Frauen und Mädchen Weimars im nächsten Zimmer wehe thue. Man ist noch nicht in dem eigentlichen Heiligthum. Auch von dieses Zimmers Einrichtung unter Schiller ist nichts mehr bekannt, und so hat man, meines Erachtens, wohl gethan, eine solche Einrichtung einst fingiren zu wollen. Das wirklich schöne Geschlecht Weimars stickte mit vereinten Kräften einen köstlichen Blumenteppich für den Fußboden und reizende Ueberzüge für die Polster. Der Stadtrath ließ das Zimmer malen und durch Arabesken am Deckengesims manche Gedichte Schiller’s illustriren. Ob Wille und That, Kunst und Geschmack hierbei immer Hand in Hand gegangen, habe ich in der That keiner Untersuchung gewürdigt: die Kritik muß zu rechter Zeit frei sprechen, aber auch zu rechter Zeit zu schweigen wissen, an geweihten Stätten dem Gefühl sein heiliges Recht unverkümmert lassen.

Die dritte Thür eröffnet das eigentliche ersehnte Heiligthum, Schiller’s Arbeits- und Schlafzimmer. Die miserable Menschennatur begann sich auch in mir zu regen und sprach sich bei den Damen durch seltsame O! und Ach! und Ei! lebendiger aus. Der Contrast dieser Einfachheit mit dem Prunk des vorliegenden Zimmers macht Anfangs einen nicht angenehmen, fast schmerzlichen Eindruck. Unwillkürlich denkt man sich den großen Lieblingsdichter der Nation hier auf dem peinvollen Krankenlager in beengten äußeren Verhältnissen. Dieses unangenehme Gefühl würde sich nicht aufdrängen, wäre es vergönnt gewesen unmittelbar zuvor die fast noch größere Einfachheit vom Studir- und Schlafzimmer des nach außen viel mehr begünstigten Goethe zu betrachten. Die deutschen Größen jener Zeit hatten noch keinen Sinn für das elegante Comfort- und das prunkende Nippeswesen unserer modernen Arbeitszimmer, im Gegentheil schien ihnen nur wohl zu sein in einer gewissen Vergegenwärtigung ihrer früheren Wohnungen und Schulanstalten und auf Universitäten, und sie hatten deshalb mitunter manchen schweren Strauß mit ihren Frauen zu bestehen. Sie überließen sich gern dem süßen Hang zu dem Gewohnten, und fühlten sich behaglich in einer Bequemlichkeit, die auf keine Weise durch Glanz sie genirte, dem [Verke]hr und dem Träumen mit den Musen so hold war, in einer Art von Durcheinander dennoch eine gewisse Ordnung aufrecht erhielt, leicht finden ließ, was man gerade brauchte und suchte.

Unter den mehrfach über einander geklebten Tapeten hatte man glücklicherweise noch Schiller’s Tapete gefunden. Da sie selbst unmöglich ganz zu Tage gefördert werden konnte, fertigte ein hiesiger Fabrikant getreu nach dem Muster eine neue. Diese Form wird gewiß nicht Mode werden, sie erinnert in Allem an Armuth in Kunstfertigkeit und Geschmack. Aber hier hilft sie die Seele in die rechte Stimmung zu versetzen und eine gewisse Harmonie über alle diese Dinge zu verbreiten: Schiller’s Schreibtisch und Tabaksdose, sein außerordentlich einfaches Bettgestell, sein Clavierchen, das ihm so oft Erholung und Schwung verlieh, die Guitarre, die unansehnlichen Wandbilder mit ihren armen Rahmen, die einfachen Stühle. Das Alles beschäftigte die Herzen und Phantasien unserer weiblichen Wesen beinahe ausschließlich, sie konnten nicht loskommen von Betrachtungen und Vergleichungen zwischen damals und jetzt und wollten nicht begreifen, wie Frau von Schiller eine solche Möblirung ertragen, wie Schiller selbst in solcher Umgebung seine Seele zu so erhabenen Gedanken, Gefühlen und Anschauungen aufschwingen konnte.

Die Schillerbibliothek wird täglich interessanter: die verschiedenen Ausgaben von Schiller’s Werken, die Uebersetzungen Englands und Frankreichs, andere auf Schiller selbst oder seine Werke Bezug nehmenden Bücher, sammeln sich mehr und mehr. Es ist in der That der Mühe werth, durch wiederholte öffentliche Aufforderungen an Buchhändler in Deutschland, England und Frankreich dieser werthvollen Schiller-Bibliothek fort und fort neuen Zuwachs zu verschaffen, nach und nach der Vollständigkeit näher zu kommen. Daraus sollten sich die Redactionen der deutschen Hauptzeitschriften ein eigenes angelegentliches Geschäft machen und auch daran erinnern, daß wir 1859 das Fest aller Deutschen, Schiller’s Säkularfeier zu begehen haben. Die Nation bedarf solcher Aufrechterhaltung und Ermunterung, ihre Einheits- und Centralelemente beruhen ja lediglich in den großen Geistern, die deutsch schreiben und unsere Sprache zu ihrer vollen Herrlichkeit herangebildet haben.

Endlich hatten sich die Frauen von der Mobiliarinspection losgemacht und waren nun an das Fremdenbuch gerathen, worin auch wir unsere werthen Namen eintragen mußten. Auch abgesehen von der allgewöhnlichen Neugierde, gewährt die Durchsicht dieses Buchs der Schillerhausbesucher einen eigenthümlichen Reiz und fesselt unwiderstehlich. Es ist keine Höhe und keine Tiefe der Gesellschaft, es gibt keinen noch so obscuren Winkel Deutschlands, der nicht hier mit einigen Namen verträten wäre, die Throne haben ihre Repräsentanten hierher gesendet und aus allen Landen Europa’s kamen Besucher der Stätte, die der Seher und Prophet des neunzehnten Jahrhunderts bewohnt hatte. Nord- und Südamerika sendeten ihre Boten des Grußes und der Verehrung den Manen des Sängers der Humanität und der edelsten Freiheit. Wie peinigte und [140] ängstigte sich sein Herz im Anblick aller politischen und socialen und philosophischen Bedrängnisse, Wirren und Uebelstände des alten Herkommens, des Aberglaubens und des eingefleischten Despotismus, wie mächtig griff er in die Saiten gegen alle diese Ungethüme und wie tief schnitten seine Worte in den alten Krebsschäden ein. Ach, welche glühenden Thränen und Schmerzen hat der gütige Himmel diesem Edlen und Herrlichen erspart, indem er ihn 1848 und die spätern Jahre nicht erleben ließ.

Einige hiesige Buchhändler dürfen sich freuen, ihre beträchtlichen Opfer für Gründung des Schiller-Albums nicht fruchtlos gebracht zu haben. Schriftsteller, Dichter, Tonsetzer, Maler und andre Männer des Geistes drängen sich immer mehr und mehr herzu, dem Andenken Schiller’s hier ein Blättchen zu widmen. Auch hierin liegt eine würdige Aufgabe der deutschen Zeitschriften: sie sollen von Zeit zu Zeit an dieses Album erinnern, zur weiteren Betheiligung aufmuntern. Wie viele auch erschienen sein mögen, so sind doch der Berufenen noch mehr, und der dritte Band hat noch der leeren Seiten manche. Dieses Album sollte zur Säkularfeier von 1859 in einer Prachtausgabe veröffentlicht werden, es gäbe ein köstliches Memento, wie wir ein zweites bis jetzt nicht besitzen. Fortsetzen soll man es, immer fortsetzen und von zehn zu zehn Jahren veröffentlichen. Was auch noch Großes und Herrliches dem Reich der deutschen Poesie erblühen möge, Schiller’s Werke werden unvergänglich und sein Name für jeden Deutschen stets ein geweihter bleiben!




Aus der Menschenheimath.

Briefe
des Schulmeisters emer. Johannes Frisch an seinen ehemaligen Schüler.
Achter Brief.
Die wissenschaftlichen Namen der Thiere und Pflanzen.

Du beklagtest Dich neulich über meine garstigen „unverständlichen Namen“ der Thiere und Pflanzen. Ohne Zweifel verstehst Du damit die wissenschaftlichen, aus der lateinischen und griechischen Sprache entlehnten Benennungen, welche ich namentlich neulich, als ich Dir von den Diatomeen schrieb, gebrauchte, ohne daneben deutsche hinzuzufügen. Ich gestehe Dir, mein Freund, daß ich diese Klage vorhergesehen, ja sogar erwartet habe. Dadurch erhalte ich nun von Dir selbst Veranlassung, Dir darüber Einiges zu schreiben, was Dir außerdem vielleicht gar zu trocken und uninteressant erschienen sein würde. Du kannst Dich über diese wissenschaftlichen Namen in meinen deutschen Briefen an einen deutschen Bauersmann, der nicht Lateinisch und Griechisch versteht, kaum mehr ärgern als ich selbst; aber – ich weiß nicht zu helfen.

Ich muß es daher versuchen, Dich mit den „garstigen, unverständlichen Namen“ auszusöhnen, oder Dich wenigstens über die Art der naturwissenschaftlichen Namengebung zu verständigen.

Sieh, mein lieber Freund, wie die Natur allen Menschen gemeinsam angehört, so ist auch die Wissenschaft der Natur so recht eigentlich eine allgemein menschliche Wissenschaft, welche sich nicht um die trennenden Schranken kümmert, durch welche die Menschen – ich will blos bei den Europäern stehen bleiben – in Deutsche, in Engländer, in Russen, in Franzosen, in Schweden, in Dänen, in Italiener, in Spanier und Türken zerfallen. Diese trennenden Schranken bestehen namentlich in der Sprachverschiedenheit. Die Naturwissenschaft ist das schöne Band, durch welches jene sprachgetrennten Menschen geeinigt werden. Keine Wissenschaft ist so sehr wie die Naturwissenschaft ein Werk, an welchem sich alle gebildeten Völker der Erde gemeinsam betheiligen, mögen sie Deutsch oder sonst wie sprechen. Bedenke, daß es wenigstens 200,000 bekannte Thier- und Pflanzenarten giebt. Hätte nun jede derselben blos einen Volksnamen, so hätte allein z. B. der Maikäfer in Europa etwa 16 verschiedene Namen (einen deutschen, einen englischen, türkischen etc. etc.); das gäbe, auf jedes der 200,000 Thiere und Gewächse angewendet 3,200,000 Namen! Wollte nun ein deutscher Naturforscher englische, französische und italienische naturgeschichtliche Werke studiren, so müßte er, außer der Kenntniß dieser Sprachen, auch noch dreimal 200,000 also 600,000 Namen der Thiere und Pflanzen kennen, welche jene 3 Nationen denselben geben. Das würde geradehin eine Unmöglichkeit sein und – das Studium der Naturwissenschaft würde aufhören, ein allen Nationen gemeinschaftliches zu sein und es würde bald nur eine deutsche, eine englische, eine französische Naturwissenschaft und so fort geben.

Hier kommen nun aber die überall verbreiteten beiden alten Sprachen als Helferinnen in der Noth trefflich zu statten. Jedes neuentdeckte Thier und Gewächs erhält sofort von seinem Entdecker einen aus Wörtern dieser beiden Sprachen gebildeten Namen, mag der Entdecker sonst eine Sprache reden wie immer, der sofort von den Naturforschern aller Nationen angenommen wird. Findet ein europäischer Naturforscher, mag er ein Norweger oder ein Spanier sein in einem Buche den Namen Coccinella bipunctata, so weiß er, welches Thier damit gemeint ist. Es ist der wissenschaftliche Name unseres – ja wie nennt Ihr denn in Eurem Dorfe dieses kleine allbekannte hellkreisförmige Käferchen mit den zinnoberrothen Flügeldecken, mit 2 schwarzen Punkten und den 2 weißen Flecken auf dem schwarzen Halsschilde? Ich könnte Dir jetzt wenigstens 10 deutsche Namen für dies Thierchen herzählen, welche es in den verschiedenen Theilen Deutschlands hat. Da siehst Du, wohin die Verwerfung der wissenschaftlichen Namen führen würde. Es würde eine babylonische Sprachverwirrung werden; denn jener bekannte Käfer, [141] ich meine das Marienkäferchen, auch Gottesküh’chen, Gottesschäfchen genannt, hat ebenso in England und Frankreich seine zehnerlei Volksnamen.

Du siehst also, welch einen außerordentlichen Vortheil die wissenschaftlichen Namen gewähren.

Ich will Dir aber noch eine andere Seite der Sache vorhalten.

Du mußt im Auge behalten, daß nationale Benennungen neben den wissenschaftlichen für die Naturwissenschaft ganz ohne Bedeutung sind. Sie würden, wenn die Entdecker neben den wissenschaftlichen immer auch einen nationalen Namen bilden wollten, von den Naturforschern ganz unbeachtet bleiben. Wir würden also in Europa jedes Jahr im mindesten Falle 8000 neue Nationalnamen erhalten, denn 500 neue Thier- und Pflanzenarten werden jährlich mindestens entdeckt, die blos gemacht würden, um wieder vergessen zu werden. Warum? weil von ihnen nur äußerst wenige in’s Volk eindringen würden, welches nur selten von neuen Entdeckungen, weil diese meist seltene und ausländische Thiere und Pflanzen sind, Kenntniß nimmt. Die dem Volke von Alters her bekannten Thiere und Pflanzen haben schon Volksnamen, hier diesen, zwei Stunden davon oft schon wieder einen andern. Die läßt sich das Volk auch nicht nehmen, wenn es den Naturforschern auch einfallen sollte, einen davon gewissermaßen zu sanktioniren. Deutsche Thier- und Pflanzennamen, um als Deutsche zu reden, giebt das Volk ohne Zuthun der Gelehrten; ja gegen den Ausspruch derselben. Die Namengebung ist bei dem Volke Sache des Gemüths und der Einbildungskraft. Da läßt es sich nicht hineinreden.

Wo freilich für eine Thier- oder Pflanzenart ein deutscher Name vorhanden ist, da werde ich ihn gewiß stets brauchen, und den wissenschaftlichen blos zu mehrer Sicherheit vor Mißverständniß hinzufügen.

Ich denke so: Wenn Jemand Thiere und Pflanzen kennen lernen will, so muß er sich auch die Namen gefallen lassen, bei deren Nennung er sicher ist, daß keine Verwechselungen stattfinden. Hat ja doch jedes Gewerbe, denke dabei auch an die Waidmannssprache, seine eignen Benennungen. Ich möchte die Naturwissenschaft – versteht sich nicht mit gelehrter Gründlichkeit und Vollständigkeit – das Universalgewerbe jedes rechten Menschen nennen. Nun so muß auch jeder Mensch sich den Formen, wenn sie zweckmäßige sind, nach Kräften fügen. Ich kenne ja manchen Bauer und Handwerker, welcher in der naturwissenschaftlichen Namengebung ganz zu Hause ist und über seinen Sammlungen seinen Acker und seine Werkstatt durchaus nicht vernachlässigt.

Siehst Du, mein lieber Freund, so steht die Sache. Bist Du noch nicht beruhigt, so schreib’ mir weiter darüber.




Blätter und Blüthen.

Die dienende Classe in England. Die menschliche Gesellschaft ist darauf angewiesen, daß man sich gegenseitig ergänze, und aus diesen Leistungen des Einen für den Andern entspringt das Wohl Aller. Nur stehe Jeder recht auf seinem Platze, und leiste, was er sich zu leisten vorgesetzt, mit seinem besten Wollen, dann wird ihm auch Anerkennung nicht fehlen. Jede Arbeit hat ihren Werth, sobald sie wohlgethan ist. –

Die dienende Classe in einem Staate hat einen weiten Begriff. Wir verstehen darunter alle Jene, die ihre Leistungen, worin dieselben auch bestehen mögen, einer Person anbieten und von dieser, als Gegenleistung, eine bestimmte Summe empfangen. – Darum nennt sich in England jeder vom Staate besoldete einen Diener der Königin, obwohl die Königin dort nur nominell den Namen der Herrin führt, denn auch sie empfängt dort ihren Gehalt vom Staate. Ebenso nennt sich das Militär im Dienste der Königin, doch fließt auch dessen Sold nicht aus der Casse derselben, sondern aus der des Landes.

Die dienende Classe in einem Staate ist daher eine weit verzweigte und in jeder Sphäre des gesellschaftlichen Verbandes ist sie zu finden, und eigentlich nur der Landbesitzer und der Bürger, der ein Handwerk treibt, sind im weiteren Sinne nicht persönlich abhängig, sie dienen nicht. Man bezeichnet nun noch im Besonderen diejenigen als der dienenden Classe angehörig, die in eine Familie treten, um den Gliedern derselben jene Hülfe zu leisten, deren sie in der Führung des Hauswesens und auch sonst bedürfen. Sowohl Frauen als Männer wählen diesen Zweig der Beschäftigung, weil sie gleich aus dem älterlichen Hause, so wie sie herangewachsen sind, hierzu übergehen können, und keine Kosten der Erlernung eines Erwerbes damit verbunden sind. In England hat jede Familie ein eigenes Haus; je größer dasselbe ist, je mehr Hände sind erforderlich, um die Ordnung desselben zu erhalten. Ein ganz junges Mädchen sucht nun in einem recht großen Hause eine Anstellung zu bekommen, damit sie von den ältern und erfahrenern Dienerinnen lerne. Da giebt’s denn wieder verschiedene Zweige, denen sie sich widmen kann; entweder die Küche, oder das Haus, oder auch die persönliche Bedienung bei den Damen. Wählt sie die Küche, so wird sie als Küchenmädchen unter eine Köchin gestellt, die sehr erfahren ist und zwei bis drei hundert Thaler bekömmt. Sie muß aufwaschen, muß scheuern, putzen, aber immer nur in der Küche, die unter der Erde ist, was man das Souterain nennt. Früh Morgens ist sie die Erste auf und zündet das Feuer an und bereitet alles vor zum Frühstück. Die Köchin hat ein Zimmer neben der Küche an, wo sie mit den ersten Mädchen und Dienern frühstückt; die Küchenmagd aber bleibt in der Küche, wo sie ihren Thee mit Jenen trinkt, die, wie sie, erst ihre Lehrjahre durchmachen. Ebenso beim Mittagstische, denn auch dann liegt noch Arbeit vor ihr, die ihr verbietet reinlich und ordentlich gekleidet zu sein. Zum Abend aber, wo Jeder seine Aufgabe gemacht, da zieht sie ein sauberes Kleid an, setzt eine reine Mütze auf, und erscheint in einem großen Zimmer, wo nun das sämmtliche Personal zum fröhlichen Mahle versammelt ist.

In England verschließt man keine Speisen. Die Köchin schaltet und waltet mit den Vorräthen und zeigt an, wenn dieselben aufgezehrt sind. Sie erhält ihre Befehle und das Uebrige ist ihrem Ermessen überlassen. – Für die Diener [142] sorgt sie. Satt essen darf sich Jeder, Zucker, Thee, Bier, wird monatlich Jedem zugetheilt, da mag er nach Belieben schalten. Zu naschen, oder die Speisen zu begehren, die nicht für ihn bestimmt sind, fällt keinem ein; dazu respectirt sich Jeder zu sehr. Dasselbe findet im übrigen Theile des Hauses statt. – In den Schlafzimmern ist nichts verschlossen, die Wäschschränke sind offen, und Putz und Schmuck jeder Besichtigung frei. Aber keine unberufene Hand rührt etwas an, keine Neugierde wagt sich an diese Dinge, keine Lust am Besitze gewinnt hier den Sieg über das Recht des Eigenthümers. Die dienende Classe respectirt sich zu sehr, um den kleinsten Schritt vom Wege des Rechten abzugehen. Dafür wird sie aber auch wieder respectirt. Von einem Befehle ist hier kaum die Rede. Gleich beim Eintritt werden Jedem die Pflichten seines Postens angedeutet. Das reicht hin. Von da an ist Alles pünktlich vollbracht, und die Besitzer des Hauses scheinen sich um nichts zu bekümmern, so ganz wie von selbst geschieht hier Alles. Ein Erinnern, Schelten, ein Wort des Zornes hört man nicht. – Findet man, daß ein Diener oder eine Dienerin ihre Pflichten nicht erfüllt, so sagt man, daß man nicht zufrieden sei, und sucht ein anderes Individuum für den Posten; denn Jeder ist einmal verantwortlich für sein Thun, das Amt, das er übernommen, muß er allein versehen, damit ihm allein auch die Ehre bleibe. – Hier in Deutschland heißt es immer, man dürfe Niemand in Versuchung führen, dürfe darum kein Geld liegen lassen etc., und wieder wird Naschen für kein Vergehen gehalten und die Frau vom Hause wagt nicht einmal die übriggebliebenen Speisen von der Tafel tragen zu lassen, ohne ihre Aufsicht. Welch eine Beleidigung der Menschenwürde liegt hierin! – Wie kann ich den achten, der mir ein Stück Zucker nehmen wird, sobald ich den Rücken wende? – Und was vor Allem Noth thut in den gegenseitigen Beziehungen des Lebens ist doch die Achtung, – der Respect – aus welchem jene Respectabilität emporwächst, die den ehrenwerthen Bürger des Staates, und die das Vertrauen des Menschen zum Menschen erweckt, diese schönste Basis alles Beisammenlebens, – auf der wir hier zu fußen fast verlernt. – A. B. 


Ueber Nahrungsmittel. Es gehört zu den Kennzeichen der ächten Wissenschaft, daß sie schließlich immer ihre wohlthätigen praktischen Folgen für die Gesammtheit äußern muß. Die Forschungen der Chemie z. B. haben ungemein erfolgreiche Aufschlüsse über eine der wichtigsten Gegenstände der menschlichen Oekonomie, über die Nahrungsmittel gegeben. Wer würde nicht mit Interesse vernehmen, wenn die Wissenschaft der versuchenden Erfahrung den Wink giebt, daß die in neuerer Zeit so häufig vorkommenden Ausfälle der Kartoffelernten keineswegs so arg zu beklagen seien, wenn man nur statt der Kartoffeln vernünftig gewählte Stellvertreter baue. Es giebt bessere Nahrungsmittel als die Kartoffeln; es handelt sich nur darum, diese Erkenntniß, wo es sich thun läßt, in’s Leben einzuführen. Moleschott[1], dieser eben so geistreiche, wie gründliche und unermüdliche Forscher, sagt darüber u. A. Folgendes: „Zu suchen braucht man diese besseren Nahrungsmittel wahrhaftig nicht, viel weniger kostbare Reisen zu dem Zweck zu unternehmen und mühsam neue Pflanzungen einzuführen. Blühen doch Erbsen, Bohnen und Linsen vor unsern Augen. Erbsen, Bohnen und Linsen enthalten annährend so viel Eiweiß (Erbsenstoff) wie unser Blut, sie enthalten zwei- bis dreimal so viel Fettbildner als Erbsenstoff und die Blutsalze in reichlicher Menge. Trotz dem höhern Preise und der kostspieligeren Bereitung sind Erbsen, Bohnen und Linsen billiger als Kartoffeln. Sie sind im Stande, gut gemischtes Blut zu erzeugen, Hirn und Muskeln zu kräftigen. Kartoffeln können dies nicht. Erbsen, Bohnen und Linsen werden durch ihre Nahrhaftigkeit um so viel billiger als Kartoffeln, wie Eisen billiger ist als Holz, wenn es sich um Schienen für unsere Dampfwagen handelt. Erbsen, Bohnen und Linsen geben Kraft zur Arbeit, sie verdienen sich selbst, während eine anhaltende Kartoffeldiät unfehlbar Schwäche und Siechthum nach sich zieht. Wer vierzehn Tage im wörtlichsten Sinne von nichts als Kartoffeln lebt, wird nicht mehr im Stande sein, sich seine Kartoffeln selbst zu verdienen.“


Wilhelm Beseler, der einstige Statthalter von Schleswig-Hollstein, jetzt unangefochten in Braunschweig lebend, hat so eben unter dem Titel: der Prozeß Gervinus[2], die sämmtlichen Aktenstücke und Verhandlungen dieses merkwürdigen Rechtsfalles nebst dem Rechtsgutachten der Universität Göttingen in einer 14 Bogen starken Broschüre veröffentlicht. In der Vorrede spricht sich Beseler über die Unabhängigkeit des Richters und über die Schimpflichkeit einer etwaigen Unterordnung unter fremdartigen Rücksichten in einer Weise aus, die wir hier nicht wiederholen mögen. Er weist energisch und mit Schärfe darauf hin, daß der Hermelinmantel des Richters nur dann fleckenlos bewahrt werde, wenn das Gesetz die einzige Richtschnur der Entscheidung ist.“


Papierverbrauch. Alle Anzeichen weisen darauf hin, daß der literarische Markt für das kommende Jahr viele und interessante Neuigkeiten bringen wird. Es sind einzelne Sammelwerke angekündigt, die literarisch und geschichtlich von Bedeutung sind, wie z. B. das kleine Brockhaus’sche Reallexicon, verschiedene National-Bibliotheken deutscher Classiker, etc. etc. Die Papiermühlen sind in voller Thätigkeit und können kaum dem Bedarfe genügen. Es fehlen Lumpen, so viele es auch in Deutschland geben mag. Der Verbrauch giebt enorme Summen. Um nur ein Beispiel aufzuführen, führen wir an, daß der Illustrirte Dorfbarbier, also eine Wochenschrift von nur Einem Bogen, jährlich mit dem dazu gehörigen Intelligenzblatt Eine Million, 440,000 Bogen verbraucht. Von allen in Deutschland erscheinenden Zeitschriften hat allerdings der Dorfbarbier die stärkste Auflage. Welcher enorme Verbrauch aber stellt sich bei Zeitungen von 10 und 12,000 Expl. Auflage heraus, die täglich und 2 Bogen stark erscheinen?




Gustav Heubner’s Schauspiel: Wittekind, ist am 29. März in Leipzig über die Bretter gegangen und hat trotz der mangelhaften Aufführung sehr gefallen. Besonders der dritte und fünfte Akt sprachen sehr an, am Schluß wurden die Darsteller und der Verfasser gerufen. E. K. 




manicula 0 0 Mit dieser Nummer schließt das erste Quartal und ersuche ich die geehrten Leser das Abonnement schleunigst zu erneuern. Ernst Keil. 



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Schnellpressendruck von Giesecke & Devrient in Leipzig.