Textdaten
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Titel: Die Göttin der Vernunft
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 3, S. 51–52
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[40]

Das Fest der Göttin der Vernunft in Paris 1793.
Nach dem Oelgemälde von Coëssin de la Fosse.[WS 1]

[51] Die Göttin der Vernunft. (Mit Illustration S. 40 und 41.) Das lebendige Gemälde von Coëssin de la Fosse[WS 2] zeigt uns das in den stürmischen Jahren der ersten französischen Revolution feierlich begangene Fest der Vernunftgöttin, welche die Freigeister des Konvents, die Stürmer und Dränger der Kommune an die Stelle der bisher andächtig verehrten Gottheit setzen wollten. Anacharsis Cloots, der Apostel des Menschengeschlechtes, Chaumette, der Syndikus der Pariser Gemeinde, Hebert, der Herausgeber des Schmutzblattes „Père Duchesne“, und andere Gleichgesinnte waren die Urheber dieses Festes, welches die Bevölkerung der Hauptstadt in einen wilden Taumel versetzte und mit der Entweihung der Kirchen und wüsten Gelagen jeder Art verbunden war. Die damaligen Machthaber Frankreichs, vor allem Robespierre, hielten sich grollend beiseite, ließen das Volk eine [52] Zeitlang austoben, bis der Rausch vorüber war. Dann schickte der tugendhafte Advokat von Arras die Veranstalter dieser großartigen Volkskomödie aufs Schaffot und feierte selbst das Fest des höchsten Wesens, das ebenfalls mit großen Umzügen, glänzendem Pomp und symbolischen Schaustellungen begangen wurde.

Ein schönes Weib sollte die Göttin der Vernunft vertreten; in Paris war es beim ersten Festzug die Schauspielerin Maillard, welche in der duftigen Tunika, den Speer in der Hand, auf hohem Thronsessel durch die Straßen getragen wurde, vom Jubel des Volkes begrüßt; wir sehen sie im Mittelpunkte unseres Bildes, mit der Haltung einer Viktoria, stolz herabsehen auf die vielköpfige Menge. Ein Geleite von Frauen und Mädchen in weißen Gewändern, mit luftigen Schleiern, umgiebt sie; doch es fehlen auch im Zuge nicht die Furien der Guillotine, nicht die wildesten, blutdürstenden Jakobiner. Voraus zieht die Bürgergarde; ihr Musikcorps beginnt den Zug und mischt seine schmetternden Klänge in das Jauchzen des Pöbels. Wo dieser sich zu weit vordrängen will, hemmen ihn die Stadtmilizen und die vorgestreckten Speere der Pikenträger; doch die Neugierigen sind auf Gerüste aller Art und auf Wagen geklettert, um „die Göttin“ und den Zug mitanzusehen. Freche Dirnen im Vordergrunde freuen sich der neuen „Religion“ und glauben, daß ihre Stunde jetzt geschlagen hat; vielleicht fällt auch ihnen das Los zu, einmal die Göttin zu spielen und vor dem ganzen Volk von Paris mit ihren Reizen zu glänzen; aber auch an Mißvergnügten fehlt es nicht, die mit düsteren Mienen und geballter Faust auf diese Entweihung des Heiligen, auf diese Wiedergeburt eines die Sinne berauschenden Heidenthums blicken.  

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Coëssin de la Tolle
  2. Vorlage: Coëssin de la Tolle