Die Felsen von Etretat an der normännischen Küste

CLXXXXIV. Die Ruine Sayn Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Fünfter Band (1838) von Joseph Meyer
CLXXXXV. Die Felsen von Etretat an der normännischen Küste
CLXXXXVI. Reinhardsbrunn
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DIE FELSEN VON ETRETAT
oder
das Neptuns-Thor an der Normännischen Küste

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CLXXXXV. Die Felsen von Etretat an der normännischen Küste.




Schön ist das feste Land mit seinen Bergen und Thälern, Flüssen und Wäldern; aber das Höchste, Erhabenste, womit unser Erdball geschmückt ist, lehrt nur Küstenland kennen; das wilde, zauberische Ungeheuer, den unabsehlichen Spiegel des Himmels, das größte Wunderwerk unserer Erde: – das Meer. Betrachte dieß Bild! Scheint es nicht der Traum eines Dichters? Noch nennt das Volk diese wunderbare Felsgestalt das Schloß Neptuns und bevölkert die vermeintliche Ruine mit den zürnenden, tückischen Geistern der Tiefe. Aengstlich vermeidet die gefährlichen Klippen der Schiffer, und wenn er ihrer aus der Ferne sichtbar wird, schlägt er andächtig ein Kreuz und betet ein Vaterunser. Nach einer Sage fordert der Meeresfürst hier jährlich 7 Schiffe und 77 Menschenleben zum Opfer; und wohl mögen nicht viel weniger, vom Sturme hergeschleudert, ihren Untergang finden.

Die Kreidefelsen von Etretat sind Trümmer eines natürlichen Walles, welcher die normännische Küste vor vielen Jahrtausenden ohne Unterbrechung umgürtete. Sie ragen 3 bis 400 Fuß über den Wasserspiegel empor. Die wunderbarste Form zeigt das Neptunsthor, offenbar ein Werk der Wellen, welche das weniger feste Gestein zwischen den Seitenpfeilern allmählig ausgewaschen und zuletzt durchbrochen haben.