Die Ermordung zweier Frauen in der Königgrätzerstraße in Berlin

Textdaten
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Autor: Hugo Friedländer
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Titel: Die Ermordung zweier Frauen in der Königgrätzerstraße in Berlin.
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aus: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 2, S. 48–83
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Erscheinungsdatum: 1911
Verlag: Hermann Barsdorf
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Google-USA*, Commons
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Die Ermordung zweier Frauen in der Königgrätzerstraße in Berlin.
(Der Mordprozeß Gönczi.)

Mit welchem Raffinement die Verbrecherzunft zu Werke geht, vermag nur der erfahrene Kriminalist zu wissen, zu dessen Obliegenheiten es gehört, jahraus, jahrein die Straftaten, die in der weiten Welt verübt werden, aus nächster Nähe zu verzeichnen. Zu diesen Kriminalisten zählen auch die Gerichtsberichterstatter. Deren Beruf bringt es mit sich, daß sie die ärgsten Straftaten wie alltägliche Vorkommnisse betrachten, daß sie mit einem Wort auf dem Standpunkt des „nihil admirari“ angelangt sind. Trotzdem kommt es vor, daß auch alte im Dienste ergraute Kriminalisten von einem gewissen Schauder ergriffen werden. So geschah es auch am 23. August 1897, als die deutsche Reichshauptstadt die Kunde durcheilte: im Hause Königgrätzer Straße 35, in unmittelbarer Nähe des Anhalter Bahnhofes, dicht am Askanischen Platz, also gewissermaßen im verkehrsreichsten und vornehmsten Teile Berlins, sei ein Doppelmord geschehen. Das vornehme Haus, Königgrätzer Straße 35, gehörte der am 20. November 1823 geborenen Witwe Auguste Schultze geb. Lutze, und deren Stieftochter, der am 7. Januar 1841 geborenen Klara Schultze. Der Ehemann der alten Schultze besaß im Kreise Spremberg große Gipsbrüche und noch ein zweites Haus in Berlin. Sein Vermögen soll sich auf weit über eine Million belaufen haben. Er wurde daher der „Millionen-Schultze“ oder auch der „Gips-Schultze“ genannt. Im Jahre 1892 starb Schultze und hinterließ sein großes Vermögen seiner Frau und Tochter. Diese beiden Damen lebten sehr zurückgezogen. Sie wohnten im zweiten Stock des Hauses Königgrätzer Straße 35 und führten ein förmlich einsiedlerisches Leben. Außer dem Manne, der ihnen täglich Kohlen brachte, einer Aufwärterin und einer Zeitungsfrau betrat kein Fremder die Schultzesche Wohnung. Die beiden Damen verließen ihr Heim nur, wenn sie in ihrem in der Prenzlauer Allee belegenen zweiten Hause die Mieten einziehen oder mit ihrem am Alexanderplatz wohnenden Bankier Rücksprache nehmen wollten. Sie machten weder Besuche, noch empfingen sie solche, zumal sie sehr geizig und nicht weniger mißtrauisch waren. Am 14. August 1897, vormittags 10 Uhr, waren die beiden Frauen zum letzten Male von Hausbewohnern lebend gesehen worden. Schon gegen Mittag des genannten Tages klingelte der Kohlenmann vergebens vor der Schultzeschen Wohnung. Aber auch Zeitungsboten, Briefträger usw. fanden trotz allen Klingelns keinen Einlaß. Den Hausbewohnern fiel dies wohl auf. Allein ein in der Mühlenstraße wohnender Schuhmacher, namens Gönczi, der einige Wochen vor dem 14. August 1897 im Hause Königgrätzer Straße 35 einen zu ebener Erde gelegenen Laden nebst Keller und Nebengelaß gemietet hatte, teilte den Hausbewohnern mit, die beiden Damen seien nach Paris gefahren, hätten ihm die Schlüssel ihrer Wohnung übergeben und ihn auch mit der Einziehung der Mieten betraut. Den Hausbewohnern schien das sehr wenig glaubhaft. Gleich darauf traf jedoch aus Hannover ein Telegramm von den vermißten Damen an einen alten Hausbewohner ein, in dem die Angaben Gönczis vollauf bestätigt wurden. Ein Telegramm gleichen Inhalts erhielt auch der Verwalter des Schultzeschen Hauses in der Prenzlauer Allee. Es fiel daher niemandem mehr auf, daß Gönczi mit Frau in der Schultzeschen Wohnung sich zu schaffen machte, und auch nicht, daß Gönczi eine Anzahl Fuhren Erde in den Keller schaffen ließ. Endlich, am 23. August, nahmen Hausbewohner einen eigentümlichen, aus dem Keller kommenden Geruch, der auf Leichenverwesung hindeutete, wahr. Als der Keller durch einen Schlosser geöffnet worden war, fand man in dem Vorderzimmer die dort hineingeworfene Erde aufgehäuft vor. Die Kriminalpolizei ließ die Erde abschaufeln und man stieß alsbald auf zwei Kisten, in denen die Leichen der beiden Frauen, in schwarzes Wachstuch eingehüllt, vorgefunden wurden. Beiden waren die Schädel eingeschlagen, der alten Frau auch noch der Unterkiefer zertrümmert, beide Leichen waren mit Blut besudelt. Blutspuren deuteten darauf hin, daß der Mord in dem Gönczischen Laden vollführt worden war; vermutlich hat der Mörder zunächst eine der Frauen in den Laden gelockt, dort ermordet und den Leichnam in den Keller geschafft, und dasselbe alsdann bei der zweiten getan. Die Beute des Raubmörders war nicht annähernd so groß, als er gehofft hatte, da Frau Schultze ihr Barvermögen im Betrage von etwa einer halben Million teils bei einem Bankier, teils bei der Reichsbank hinterlegt hatte. Außer einigen wenigen Wertpapieren im Betrage von einigen tausend Mark, mehreren Schmucksachen und einer kleinen Barsumme ist dem Mörder nichts in die Hände gefallen. Daß Gönczi die Tat vollbracht haben müsse, war sofort jedermann klar, die Bemühungen der Polizei, des Ehepaares Gönczi habhaft zu werden, waren jedoch zunächst vergeblich. Gönczi und Frau waren mit ihrem Hund schon einige Tage vorher aus Berlin abgereist. Es wurde sogleich vom Berliner Polizeipräsidium, im Verein mit den Erben der Ermordeten, eine hohe Belohnung auf Ergreifung des Gönczischen Ehepaares ausgesetzt. An die Polizeibehörden aller zivilisierten Staaten, an sämtliche deutsche Konsulate im Auslande und an zahllose Zeitungen der ganzen Welt wurden wiederholt Steckbriefe mit dem Bildnisse des Ehepaares geschickt, und durch besondere Aufrufe wurde die Öffentlichkeit zur Mithilfe bei der Entdeckung und Verhaftung der Flüchtigen aufgefordert. Es war jedoch keine Spur von dem verbrecherischen Ehepaar zu entdecken. Endlich nach vollen zwei Jahren, Anfang August 1899, kam ein Mann aus Curtiba (Brasilien) in das deutsche Generalkonsulat nach Rio de Janeiro. Als er den dort ausgestellten Steckbrief auf das Gönczische Ehepaar sah, bemerkte er sofort: er habe die beiden Leute oftmals in Curtiba gesehen. Auf Veranlassung des deutschen Generalkonsuls wurden sogleich Polizeibeamte nach Curtiba gesandt. Gönczi muß aber durch irgendeine Unvorsichtigkeit Wind bekommen haben, denn er war spurlos aus Curtiba und Umgegend verschwunden. Im September 1899 gelang es, Gönczi und Frau auf Anordnung des deutschen Generalkonsuls Werner in Rio de Janeiro zu verhaften. Nach längeren diplomatischen Verhandlungen wurden Gönczi und Frau per Schiff nach Hamburg und von dort nach Berlin gebracht. Der Hund „Butzi“, von dem sich die Gönczischen Eheleute auch in Brasilien nicht trennen konnten, wurde von dem Generalkonsul Werner zurückbehalten und für Rechnung des preußischen Justizfiskus verkauft. Gönczi und Frau hatten sich vom 3. bis 7. April 1900 vor dem Schwurgericht des Landgerichts Berlin I wegen Mordes bzw. Beihilfe und Begünstigung zu verantworten. Den Vorsitz des Schwurgerichtshofs führte Landgerichtsdirektor Huth. Die Anklage vertrat Staatsanwaltschaftsrat Plaschke; die Verteidigung war dem Rechtsanwalt Dr. Herbert Fränkel und Justizrat Grabower übertragen. Der Andrang des Publikums nach dem großen Schwurgerichtssaal des alten Moabiter Gerichtsgebäudes war enorm. Der vor dem Richtertisch aufgestellte Zeugentisch war von einer Anzahl Pappschachteln bedeckt. Ferner sah man einen Teil des Gönczischen Ladentisches, die in Sackleinwand eingehüllten Kisten, in denen die Leichen der Frau Schultze und ihrer Stieftochter Klara vorgefunden wurden, ein Stück Läuferstoff und dergl. mehr. Zunächst wurde Frau Gönczi von einem Schutzmann auf die Anklagebank geführt. Sie war 50 Jahre alt, eine stark abgemagerte blasse Frau mit einem Kropfhals. Der Kopf der Frau war fast unaufhörlich durch nervöse Zuckungen in Bewegung. Frau Gönczi befand sich in großer Erregung, so daß ihr wiederholt Hoffmannstropfen gereicht werden mußten. Gönczi, 47 Jahre alt, war ein schmächtiger Mann mit wohlgepflegtem grauen Vollbart und Haupthaar. Er erschien in schwarzem Anzug mit Gehrock und blickte ohne ein Zeichen der Erregung im Saale umher. Auf Befragen des Vorsitzenden bemerkte Gönczi: Er sei in Maros-Vasarhely (deutsch: Pflugstadt) in Siebenbürgen geboren, woselbst sein Vater Grundbesitz im Werte von 20 000 M. bewirtschaftet habe. Er habe bis zu seinem 14. Lebensjahre die deutsche und ungarische Schule in Hermannstadt und Klausenburg besucht und sei dann in die Lehre zu einem Schuhmacher gekommen. Im Jahre 1872 sei er Soldat geworden und in das 62. Infanterie-Regiment (Prinz Ludwig von Bayern) in Karlsburg eingetreten. Nach dreijähriger Dienstzeit sei er im Jahre 1875 wegen einer Differenz mit seinem Bezirks-Feldwebel desertiert, aber wieder ergriffen worden und deswegen, sowie weil er einige dem Fiskus gehörige Sachen mitgenommen hatte, zu 4 Jahren schweren Kerkers verurteilt worden, welche Strafe er auf der Festung Theresienstadt verbüßt habe. Im April 1884 sei er losgekommen und bei dem Hofschuhmacher Lürmitz in Budapest als Geselle eingetreten. Dann sei er noch bei dem Hofschuhmacher Ristel in Wien und bei den Hofschuhmachern Bayer und Weidinger in München tätig gewesen. Im Jahre 1891 habe er in Budapest seine Frau geheiratet, die er in München kennen gelernt hatte. Im Jahre 1892 trat er in das Müller & Schlitzwegsche Schuhwarengeschäft in Berlin ein, wo er 5 Jahre als Werkführer tätig gewesen sei. Im Mai 1897 habe er sich selbständig gemacht und im Hause Mühlenstraße 45 ein Wiener Schuhwaren-Geschäft eröffnet. Seine Frau habe 1500 M. in die Ehe gebracht.

Frau Gönczi bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Sie sei in Mindorf in Bayern geboren und katholischer Konfession. Bis zu ihrer Verheiratung war sie in München als Verkäuferin tätig. Sie wisse von der ganzen Sache nichts, sie wußte nicht einmal, daß ihr Mann in der Königgrätzer Straße, wo sich der Mord ereignete, eine Filiale besessen habe. – Vors.: Sind Sie beteiligt an dem Morde? – Angekl.: Nein. – Vors.: Sie wissen also auch nichts davon? – Angekl.: Nichts; mein Mann hat mir nichts davon gesagt. Anfang August, so bemerkte die Angeklagte weiter auf Befragen des Vorsitzenden, habe ihr ihr Mann mitgeteilt, daß er eine Hausverwalterstelle bekommen habe. Sie habe sich nicht weiter darum bekümmert, da sie vollauf in dem Geschäft in der Mühlenstraße zu tun hatte. Am 14. August 1897, dem Mordtage, sei ihr Mann sehr früh fortgegangen und gegen 12 Uhr mittags sehr blaß und erregt zurückgekehrt. Am 18. August habe er plötzlich zu ihr gesagt, sie müßten sofort abreisen, sie solle ihre Sachen einpacken. Er habe ihr verschiedene Schmucksachen und Wertpapiere gezeigt, darunter mexikanische Anleihe, die er angeblich im Schlafzimmer der Frau Schultze gefunden habe. Er habe dazu angegeben: Die Frau Schultze habe ihn als Hausverwalter engagiert und ihn beauftragt, in ihrem Hause Ordnung zu halten, während sie mit ihrer Stieftochter eine Reise nach Hannover machte. Am 18. vormittags habe er die Wohnung der Frau Schultze leer gefunden und die Wertsachen an sich genommen. Ihr sei dies nicht auffällig erschienen, da ihr Mann die Schlüssel zu der Wohnung in der Hand hatte. Er sei auch schon am 14. einmal hingegangen, um dort Bilder anzunageln. – Vors.: Nahm er da etwas mit? – Angekl.: Ja, ein Beil. – Vors.: Hat er das wieder mitgebracht? – Angekl.: Nein. Die Angeklagte erzählte sodann weiter: Am Abend des 18. August 1897 habe ihr Mann zwei Droschken bestellt und sei in eine mit seinem Wolfsspitz eingestiegen, in der andern habe sie mit ihrem Dienstmädchen Martha Raffalski Platz genommen. Sie seien alsdann zuerst planlos herumgefahren und hätten sich schließlich zum Bahnhof Friedrichstraße begeben, wo sie sich bis zur Abfahrt des Zuges nach Frankfurt a. d. O. aufhielten. – Vors.: Ihr Mann hatte Ihnen wohl nicht gesagt, wohin Sie reisen würden? – Angekl.: Doch, er sagte, wir fahren nach Brüssel. – Vors.: Man fährt doch aber nicht über Frankfurt a. d. O. nach Brüssel? – Angekl.: Ich wußte ja nicht, wo Brüssel liegt. Die Angeklagte bemerkte hierauf, daß sie sich bis gegen 6 Uhr früh in Frankfurt a. d. Oder aufgehalten hätten und dann über Kottbus, Halle, Köln und Aachen nach Brüssel gefahren seien. Hier hätten sie sich zunächst nicht einlogiert, sondern seien die erste Nacht in den Straßen Brüssels herumgegangen. Am andern Tage erst habe ihr Mann in einem Hotel in der Nähe des Boulevard Wohnung genommen. Ende September seien sie dann nach Antwerpen und von dort mit einem Dampfschiff nach Rio de Janeiro gefahren. In Brüssel habe ihr Mann eine ihm nicht gehörende Uhr verkauft und in Antwerpen für das Geld eine neue erstanden. Die Wertpapiere habe er in Sao Paolo in Brasilien verkauft. – Vors.: Wo haben Sie denn nun die erste Nachricht von der Ermordung der Frau Schultze und ihrer Tochter erhalten? – Angekl.: In Brüssel. Mein Mann las es mir aus einer Zeitung vor. – Vors.: Hat er im Anschluß daran noch etwas zu Ihnen gesagt? – Angekl.: Nein. Er hat mir nur nachher in Brasilien gesagt, der Löwy und der Schulz (der Schulz hat ein Restaurant in dem Hause der Frau Schultze) werden es schon wissen, wer es gewesen ist. Er deutete dann an, daß die beiden die Frauen gemeinsam umgebracht und in den Keller geschafft hätten, wobei er Hilfe geleistet habe. – Vors.: Wissen Sie, daß die Raffalski ein Liebesverhältnis mit Ihrem Mann hatte? – Angekl.: Nein, wenn ich das gewußt hätte, würde ich sie nicht im Hause geduldet haben.

Hierauf wurde der Ehemann Gönczi zur Sache vernommen. Im unverfälschten ungarischen Dialekt bestritt er mit denkbar größter Zungenfertigkeit die gegen ihn erhobene Anklage und beschuldigte den im Hause Königgrätzerstraße 35 wohnenden Gastwirt Hinz sowie den Hausverwalter Habermann der Tat. Er habe die beiden Frauen erst 4 Wochen vor ihrem Tode kennen gelernt. Die alte Frau Schultze habe ihm sofort sehr großes Vertrauen entgegengebracht und ihm sogar die Schlüssel zu ihrer Wohnung überlassen. Es sei ihm bald aufgefallen, daß die Stieftochter Klara ein Verhältnis mit einem Schuhreisenden Löwy unterhielt, von dem die alte Frau keine Kenntnis hatte. Die beiden hätten sich in dem kleinen Zimmer hinter dem von ihm gemieteten Laden wiederholt getroffen. Löwy habe ihm geraten, den Laden auf recht lange zu mieten, damit er sich mit der Stieftochter recht oft und ungestört treffen könne. Hinz und Habermann hätten von diesem Verhältnis Kenntnis gehabt. – Vors.: Das Fräulein Klara Schultze war eine 56 1/2 jährige alte Person, die von Gesichtszucken und Speichelfluß geplagt war und sehr „schlunzig“ ging. Wie wollen Sie uns glauben machen, daß sie unter diesen Umständen einen Liebhaber gefunden haben sollte? – Angekl.: Das Verhältnis hatte ja auch schon vor 17 Jahren begonnen. – Vors.: Und während dieser langen Zeit soll die Mutter gar nichts davon gemerkt haben? Das ist doch kaum glaublich. – Angekl.: Es ist aber so. Der Angeklagte erzählte dann weiter: Der Vorschlag Löwys, mit ihm gemeinsam den Laden in der Königgrätzerstraße zu mieten, habe ihm sehr eingeleuchtet, da er Löwy für einen wohlhabenden Mann gehalten habe. Er habe dementsprechend auch die Firma Gönczi u. Co. an den Laden anbringen lassen. – Vors.: Wo wohnte denn dieser Löwy? – Angekl.: Er hat mir eine Visitenkarte gegeben, darauf stand: „Johann Löwy, Brüssel, Boulevard 2a. – Vors.: Es ist auffällig, daß nicht darauf steht: welcher Boulevard. Ferner ist es auffällig, daß Sie den Löwy, als Sie nachher nach Brüssel kamen, nicht aufgesucht haben. – Angekl.: Ja, ich habe ihn nicht finden können. Der Angeklagte bemerkte ferner auf Befragen des Vorsitzenden: Am 14. August sei er mit Löwy und dessen Schwester, einer angeblichen Rentiersfrau, im Pschorrbräu zusammengetroffen und da habe ihm Löwy folgendes erzählt: Klara Schultze sei am 14. August mit ihrer Mutter von einer Reise aus Hannover zurückgekehrt. Er, Löwy, habe unten in dem Hinterzimmer des Ladens sich aufgehalten und die beiden Damen gebeten, noch ein Glas Bier mit ihm zu trinken. Als Frau Schultze hinuntergekommen sei, habe sie gesagt: Herr Löwy, da Sie so anständig sind und uns Bier spendieren, so will ich Ihnen auch Zigarren anbieten. Sie habe die Stieftochter nach oben geschickt, um die Zigarren zu holen. Während dieser Zeit sei er, Löwy, zu dem Gastwirt Hinz hinübergegangen und habe diesem, der eine „große Wut“ auf die alte Schultze hatte, gesagt, er solle doch drei Glas Bier hinübertragen. Die alte Schultze sei übrigens allein im Zimmer, er könne sich dabei für den Ausdruck „Mörder“ revanchieren, mit dem ihn die alte Frau einmal belegt habe. Als dann Hinz ins Zimmer getreten sei, habe die alte Frau gerufen: „Wenn ich gewußt hätte, daß das Bier von diesem „Mörder“ kam, hätte ich mich nicht einladen lassen.“ Über diese Bemerkung sei Hinz so erregt geworden, daß er über die alte Frau hergefallen sei und sie geschlagen habe. Dabei sei das Licht umgefallen und in der Dunkelheit seien Löwy und Klara Schultze in das Zimmer getreten. Letztere habe ihrer Mutter zu Hilfe eilen wollen, sei aber in die Hände des Hinz gefallen und von diesem irrtümlich auch geschlagen worden. Als man Licht gemacht habe, sei Hinz ganz bestürzt gewesen und habe gerufen: „Nun habe ich ja die Klara auch totgeschlagen!“ Die beiden Frauen hätten noch bis in die Nacht hinein gelebt und seien erst infolge ihres großen Blutverlustes verschieden. Löwy habe sodann Wachsleinwand aus dem Laden geholt und diese um die Köpfe der Toten gebunden, worauf man die Leichen gegen Morgen in den Keller und hier in die Kisten geschafft habe. Löwy und Hinz hatten nun ihn, Gönczi, als Täter vorzuschieben beschlossen, da er keine Kinder hatte und Geld brauchte. Demgemäß habe ihm Löwy gesagt: Er, Gönczi, solle nach Brasilien gehen, er würde 10 000 M. erhalten und solle ja nichts von der Sache sagen. – Vors.: Weshalb haben Sie denn nun nicht das Nächstliegende getan und sind zur Polizei gegangen, um die Sache anzuzeigen? – Angekl.: Löwy hatte mich ängstlich gemacht. Er sagte, die Geschichte wäre in meinem Laden passiert, die Wachsleinwand und die Kisten gehörten mir, also würde man mir nicht glauben und sie beide würden dann noch das Ihrige tun, um mich hineinzureiten. – Vors.: Sie flohen dann. Haben Sie die 10 000 M. erhalten? – Angekl.: Nein. Löwy sagte, er würde mir das Geld erst schicken, wenn ich in Brasilien wäre, er gab mir aber Juwelen und Uhren, sowie Wertpapiere von der Frau Schultze, damit ich genügend Reisegeld hätte. – Vors.: Sie sind dann nach Brüssel gefahren. Weshalb fuhren Sie zunächst nach Frankfurt a. d. Oder? – Angekl.: Ich wußte den richtigen Weg nicht. – Vors.: Hat Ihnen denn Löwy, der ja angeblich in Brüssel wohnte, den Reiseweg nicht gesagt? – Angekl.: Nein.

Der erste Zeuge war Polizeileutnant Höpfner, Vorsteher des für das Haus Königgrätzerstraße 35 zuständigen Polizeireviers. Er bekundete: Nach dem 14. August 1897 sei wiederholt auf seinem Bureau davon gesprochen worden, daß in dem Hause Königgrätzerstraße 35 nicht alles mit rechten Dingen zugehe. Trotzdem die Wirtin Frau Schultze und ihre Stieftochter angeblich verreist seien, bringe doch jeden Morgen der Bäcker das Frühstück, der Kohlenmann die Kohlen und die Botenfrau die Zeitungen. Es sei doch merkwürdig, daß die Frauen die Leute nicht abbestellt hätten. Am 23. August sei dann der Bankier Gumpel, der der Vermögensverwalter der Frauen war, zu ihm, Zeugen, gekommen und habe seiner Verwunderung Ausdruck gegeben, daß die Frauen abgereist sein sollten, ohne bei ihm Geld zu erheben. Das Gerücht, daß die Frauen verreist seien, hatte Gönczi verbreitet. Er, Zeuge, habe daraufhin in Begleitung von zwei Kriminalschutzleuten das Haus durchsucht und dabei sei ihm vor allem das am 16. August ohne Anzeige bei dem zuständigen Revier erfolgte Abladen mehrerer Fuhren Sand in das unter dem Gönczischen Laden befindliche Kellerzimmer verdächtig erschienen, um so mehr, als das Zimmer gedielt und früher bewohnt wurde. Gönczi hatte angegeben, Löwy wollte unter dem Sande einen größeren Posten Ungarwein aufbewahren. Als er (Polizeileutnant) das Kellerzimmer betreten wollte, fand er daselbst ein Kunstschloß vorgelegt, das auch ein herbeigerufener Kunstschlosser nicht zu öffnen vermochte. Er habe deshalb die Türfüllung herausnehmen und durch die entstandene Öffnung die beiden Beamten hineinkriechen lassen. In dem Zimmer wurde der angefahrene Sand in einer Ecke aufgeschaufelt vorgefunden. Ein Spaten stand dabei. Mit diesem schaufelte einer der Schutzleute etwas Sand beiseite, worauf eine Kiste sichtbar wurde. Es sei ihm, Zeugen, aufgefallen, daß der Wein in Kisten liegen sollte, statt direkt in dem Sande, er habe deshalb die Kiste öffnen lassen. Da habe man die Leiche der Klara Schultze und später in der andern Kiste die der alten Frau Schultze gefunden. Die sofort benachrichtigte Kriminalpolizei habe das weitere veranlaßt.

Dr. med. Köhler bekundete: Er habe die erste ärztliche Untersuchung der beiden Leichen vorgenommen. Beide Leichen waren schon stark in Verwesung übergegangen. Die Gesichter seien entweder mit einem Beile oder einem eisernen Totschläger bearbeitet worden. Das Stirn- und Nasenbein war bei beiden Leichen vollständig zertrümmert. – Der Gerichtschemiker Dr. Paul Jeserich legte hierauf einen Läufer auseinander, an dem er Blutspuren nachweisen wollte. Dieser Läufer lag hinter dem Ladentisch in der Königgrätzer Straße und ließ äußerlich keine Blutspuren erkennen. In dem Augenblick, als der Vors. den Angeklagten fragte: Kennen Sie den Läufer, antwortete dieser in seiner schnellen Sprechweise: Gewiß, darauf fiel ja die Frau hin, als sie - dann stockte er und versetzte: So sagte mir Löwy. – Staatsanw. Plaschke: Ich konstatiere, daß der Angeklagte gesagt hat, die Frau ist auf diesen Läufer gefallen. Ob ihm Löwy dies mitgeteilt hat, lasse ich dahingestellt. Tatsache ist, daß der Angeklagte bisher den Schauplatz der Tat immer in das Hinterzimmer des Ladens verlegt hat. – I bitt’ schön, Herr Staatsanwalt, die Frau ist aus dem Hinterzimmer in den Laden hinein und auf den Läufer gefallen. – Staatsanw.: Das ist ganz unwahrscheinlich. – Bankier Gumpel bekundete als Zeuge: Er habe ca. 150 000 M. in Wertpapieren in Aufbewahrung gehabt und den Frauen davon ca. 4000 M. stets zur Verfügung gestellt. Das letztemal habe er Brauhaus-Aktien und mexikanische Anleihe gegeben. Die Stieftochter Klara habe unumschränkte Vollmacht gehabt und habe hauptsächlich die Verhandlungen mit ihm, Zeugen, geführt. – Vors.: Was ist denn nun an der Bezeichnung Gips- und Millionen-Schultze dran? – Zeuge: Der Mann der Frau Schultze, ein Bauunternehmer Schultze, besaß die Gipsbrüche bei Spremberg in der Mark, die einen Wert von 5–600 000 M. haben mögen. Bei einem Verkaufe würden 2–300 000 M. herausgekommen sein. Da die alte Frau Schultze außer diesen Gipsbrüchen auch noch 180 Morgen Wiesen und ferner die drei Grundstücke in Berlin besaß, so konnte man sie auf 11/2 Millionen M. taxieren. Der Zeuge bekundete ferner: Es sei ihm aufgefallen, daß die Frauen sich bei ihm nicht sehen ließen. Er habe daher im Hause Königgrätzer Straße 35 Nachfrage gehalten und sei dabei auf Gönczi gestoßen. Dieser habe angeblich in der Schultzeschen Wohnung die Gaslampen in Ordnung gebracht und zu ihm gesagt: die beiden Frauen seien nach Hannover und Paris gefahren und kämen demnächst wieder. Er, Gönczi, sei der von ihnen eingesetzte Hausverwalter und bringe ihre Wohnung in Ordnung. Ihm, Zeugen, sei das alles sehr auffällig erschienen, da einmal die beiden Frauen seit Jahren nicht mehr gereist waren und andererseits, weil sie ihm von der Einsetzung Gönczis als Hausverwalter nichts mitgeteilt hatten. Schließlich sei es ihm auch verdächtig erschienen, daß die als sehr mißtrauisch bekannten beiden Frauen dem Gönczi ihre Wohnungsschlüssel hinterlassen haben sollten. Auf Grund aller dieser Umstände habe er am 23. August 1897 die Anzeige bei dem zuständigen Polizeirevier erstattet, die zur Entdeckung der Mordtat geführt habe.

Da der Angeklagte immer wieder auf Löwy zu sprechen kam, forderte ihn der Vorsitzende auf, die Persönlichkeit des Löwy genau zu schildern. – Angekl. Gönczi: Er war eben ein älterer Mann, so 42–46 Jahre alt. Sein Haar war rötlich-grau und er war ein geborener Brüsseler. – Vors.: Was für eine Religion hatte der Mann denn? - Er war ein getaufter Israelit. – Vors.: Sprach er denn nur immer französisch[WS 1]? – Angekl.: Aber nein, er sprach gut deutsch. – Vors.: Aber französisch doch auch. – Angekl.: Einmal hat er französisch gesprochen, sonst sprach er immer seine Muttersprache. – Vors.: Wie das? – Angekl.: Nun, belgisch. (Große Heiterkeit.)

Wirtschafterin Franz bekundete als Zeugin: Sie sei Wirtschafterin beim Geheimrat Thür, der eine Wohnung neben der der Damen Schultze inne hatte. Sie kannte die Ermordeten seit drei Jahren. Die beiden Damen haben ein sehr zurückgezogenes Leben geführt. Am Sonnabend, den 14. August 1897, sei es ihr aufgefallen, daß der Eismann keinen Einlaß in die Wohnung finden konnte und daß die Singspiel, die das Eis angenommen, mit dem gleichen Mißerfolge zu verschiedenen Tageszeiten an der Schultzeschen Wohnung geklingelt hatte. Gönczi habe ihr später die Mitteilung gemacht, daß die Damen verreist seien. Befremdet habe es sie, daß Gönczi Erde und Schutt in den sauber gestrichenen und tapezierten Keller habe werfen lassen. Auf Befragen habe Gönczi erklärt, daß er einen kleinen Weinhandel anfangen und die Erde zum Lagern des Weines benutzen wolle. Gönczi habe ihr erzählt, die Schultzens seien nach Brüssel und Paris gefahren, sie kehrten vielleicht nicht mehr zurück, denn sie wollten sich eine Villa kaufen und hätten ihn beauftragt, das Haus zu verwalten und die Wirtschaft nachzuschicken; er kenne Frau Schultze schon seit 5 Jahren, seine Frau sei eine entfernte Verwandte von ihr. Am Tage darauf sei sie (Zeugin) von einem Spaziergange zurückgekehrt und habe im Vorübergehen in das Fenster des Gönczischen Kellers hineingesehen. Es sei ihr sogleich der Gedanke gekommen: „Die Schultzes liegen gewiß da unten ermordet im Keller“. Da trat von der gegenüberliegenden Straßenseite Gönczi hastig auf sie zu und sagte erregt: „Frau Schultze ist verreist“, worauf sie entgegnete: „Das haben Sie mir ja schon gestern gesagt.“ Hierauf drang Gönczi in sie, sie möchte sich doch einmal die Schultzesche Wohnung ansehen. Nach anfänglicher Weigerung sei sie auf seinen Wunsch eingegangen. Die Wohnung sah aus wie eine Trödelbude. Es sei ihr aufgefallen, daß die Betten auch in Unordnung waren, wie sie doch jemand, der verreist, nicht zurücklasse. Im Berliner Zimmer habe sie die Hüte der Schultzeschenn Damen liegen sehen. Da ihr bekannt war, daß die Damen andere Hüte nicht besaßen, so erschien ihr die ganze Sache höchst verdächtig und unheimlich. Sie habe sich deshalb über ihre Begegnungen mit Gönczi schriftliche Aufzeichnungen gemacht. Noch denselben Abend habe sie die frühere Portierfrau, Frau Murowski, aufgesucht und dieser ihre Bedenken mitgeteilt. Auf ihre Erzählung, Gönczi behaupte, daß er die Frauen Schultze schon seit 5 Jahren kenne, habe Frau Murowski sofort gesagt: Das ist eine grobe Lüge. Auch Frau Murowski war überzeugt, daß ein Verbrechen vorliege. Von der Existenz eines Löwy im Hause habe sie (Zeugin) keine Ahnung. – Vors.: Was sagen Sie dazu, Gönczi? – Angekl.: Wenn das Fräulein sagt, ich kenne Frau Schultze schon seit 5 Jahren, so hat sie falsch verstanden. Ich habe gesagt, ich bin seit 5 Jahren hier und kenne die Frau nicht.

Maurerpolier Habermann bekundete: Er sei am Mordtage gar nicht in der Königgrätzer Straße gewesen. – Staatsanw.: Kennen Sie den Löwy? – Zeuge: Nein. – Staatsanw.: Der Angeklagte behauptet, daß Sie auch um den Mord ganz genau wissen. – Zeuge (entrüstet): Ich? – Gönczi (sehr eifrig): Jawohl! Dieser Mann sollte die Leichen einmauern und auch 10 000 M. erhalten. – Zeuge: Das ist eine ganz gemeine Lüge. – Vors.: Gönczi hat folgendes behauptet: Er habe am 14. August die Gasleitung revidiert und als er sich im ersten Stock befunden, habe er im Keller ein Poltern gehört; er habe dann Habermann gesehen, der ihm zugerufen, er habe sein Handwerkszeug in den Keller getragen. Nach kurzer Zeit habe er gesehen, daß Hinz und Löwy auf zwei Brettern einen Gegenstand nach dem Keller hinuntergeschleppt hätten. Er habe angenommen, daß der Wein angekommen sei, den Hinz im Sande habe lagern wollen, tatsächlich seien es aber die Leichen gewesen. – Der Zeuge Habermann hörte diese Erzählung kopfschüttelnd an und erklärte diese Behauptungen für „so erlogen, daß es keine Worte dafür gibt“. – Gönczi: Der Zeuge kennt den Löwy ganz genau, er kennt ihn 16 oder 17 Jahre. – Zeuge: Ach, Unsinn! – Es wurden alsdann mehrere Bewohner des Hauses Königgrätzer Straße 35 vernommen, die sämtlich bekundeten, daß sie von dem angeblichen Löwy weder etwas gesehen noch gehört haben. – Droschkenkutscherfrau Hahn bekundete: Sie habe mit Gönczis Wand an Wand in der Mühlenstraße gewohnt. In der Nacht zum 13. August 1897, also in der Nacht vor dem Morde, habe sie Frau Gönczi laut weinen gehört. Beide Ehegatten haben so laut und erregt gesprochen, daß sie einen Zank zwischen beiden vermutete. Sie wunderte sich darüber, da ein solcher Zank noch nie vorgekommen war. Gönczi habe seiner Frau immer wieder energisch zugerufen, sie solle still sein. – Dienstmädchen Temme: Sie war im Hause Königgrätzer Straße 35 bedienstet. Am Tage nach dem Morde sagte ihr Gönczi, daß die beiden Schultzes nach Paris gereist seien und ca. 6 Wochen dort bleiben würden. Wenn sie irgend etwas wünsche, solle sie sich an ihn als den Verwalter wenden. An diesem Tage abends habe sie Gönczi nochmals gesehen, als er die Treppenlampen anzündete. – Gönczi: Ich kenne das Fräulein nicht, am Sonntag hat Löwy das Gas angezündet. – Vert. R.-A. Fränkel: Hat die Zeugin nicht in der Zeit vom 14. bis 20. August einmal zwei unbekannte Männer auf dem Hofe des Hauses bemerkt? – Zeugin: Ja. Ich frug sie, was sie wollten, sie versteckten sich aber. Nachher traf ich sie nochmals und da sagten sie, sie wollten die Kellerwohnung im Hause mieten. – Der frühere Portier des Hauses Königgrätzer Straße 35, den die Frau Schultze entließ, weil sie die Hauswartung mit ihrer Tochter allein ausführen wollte, bekundete, daß auch er den angeblichen Löwy nie bemerkt und auch nichts von einer Liebschaft der Klara Schultze wahrgenommen habe. – Filzschuhfabrikant Schmolling: Er kenne Gönczi vom Müller u. Schlitawegschen Geschäft her, wo er sein Mitarbeiter war. Gönczi sei ein ruhiger, liebenswürdiger Mann gewesen; er habe viel mit ihm verkehrt. Am 15. August habe er Gönczi eines Geschäftes wegen aufgesucht. Gönczi sei gegen 6 Uhr nach Hause gekommen und etwas erregt gewesen. Er, Zeuge, habe ihn dann ersucht, mit ihm einen Spaziergang nach Treptow zu machen, Gönczi habe dies aber abgelehnt mit dem Bemerken, er müsse nach der Königgrätzer Straße, um das Gas anzuzünden. Gönczi habe ihm auch einen Bund Schlüssel gezeigt und gesagt: Ich habe da eine sehr gute Verwalterstelle, die Leute haben mir sogar die Schlüssel zu ihrer Wohnung und zu ihrem Geldschrank gegeben. – Gastwirt Hinz bekundete auf Befragen des Vorsitzenden, daß er einen Mann namens Löwy nicht kenne. – Vors.: Hat ein Löwy in dem Hinterzimmer des Gönczischen Ladens gewohnt? – Zeuge: Ich weiß nichts davon. – Vors.: Hat ein Löwy in Ihrem Lokal verkehrt? – Zeuge: Nein, niemals. – Vors.: Gönczi behauptet, Sie kennen den Löwy. – Zeuge: Das ist alles Schwindel, ich kenne den Mann gar nicht. – Angekl. Gönczi: Er kennt ihn ganz genau, aber jetzt verleugnet er ihn. Der Zeuge bemerkte hierauf: Er habe eine sogenannte „Droschkenkutscher-Kneipe“, in der viel Lärm herrsche, so daß er von den Vorgängen in dem nebenan belegenen Laden des Angeklagten nicht gut etwas habe hören können. Gönczi sei öfters in seinem Lokal gewesen und habe sich zunächst als Mieter des Ladens, später als Hausverwalter vorgestellt. An dem Laden habe er das Schild Gönczi u. Co. anmachen lassen. Von dem Compagnon habe er nie etwas bemerkt. Als er seiner Verwunderung darüber Ausdruck gegeben habe, daß Gönczi so ohne weiteres Hausverwalter geworden sei, habe dieser erwidert: Das ist doch nichts Auffälliges, ich kenne ja die Schultzes seit 5 Jahren. Gönczi habe noch einen Schlüsselbund vorgezeigt und gesagt, er besitze sogar die Schlüssel zu der Schultzeschen Wohnung. Am 14. August, dem Mordtage, sei Gönczi um 10 oder 11 Uhr in seinem Laden gewesen und habe durch das Schaufenster auf die Straße geblickt. Gegen 11 Uhr sei die Klara Schultze von einem Ausgange zurückkehrend über die Straße in das Haus gegangen. Gönczi sei sofort mit dem Bemerken hinausgegangen: er müsse mit dem Fräulein noch etwas wegen des Gases besprechen. Nach zwei Stunden sei dann Gönczi sehr erregt und erhitzt wiedergekommen und habe noch ein Glas Bier getrunken, worauf er in einer Droschke nach Hause gefahren sei. – Vors.: Sie sollen in Feindschaft mit der alten Frau Schultze gelebt haben? – Zeuge: I Jott bewahre. Ich habe bloß einmal Krach mit ihr gehabt, weil ein Faß Bier auf dem Flur ausgelaufen war. – Vors.: Sie sollen sie „alte Hexe“, „olles Weib“ usw. genannt haben? – Zeuge: I Jott bewahre. – Vors.: Am Sonnabend, dem Mordtage, soll Löwy zu Ihnen in den Laden gekommen sein und gesagt haben, Sie sollten drei Glas Bier in das Hinterzimmer des Gönczischen Ladens bringen; die alte und Klara Schultze seien auch da und Sie könnten, da Klara auf einige Minuten nach oben gegangen sei, der Alten ein paar dafür auswischen, daß sie Sie einmal „Mörder“ geschimpft habe. – Zeuge: I Jott bewahre. Det is allens Schwindel; der Mensch lügt sich noch unterm Jalgen durch! – Vors.: Sie sollen dann mit der alten Frau Streit angefangen und sie niedergeschlagen haben. Darauf sei Klara Schultze in das Zimmer getreten und in der Dunkelheit hätten Sie diese für die alte Frau gehalten und nun die Klara auch totgeschlagen. – Zeuge: I Jott bewahre; det is ja jräßlich. Ick weeß doch nischt. Det is allens Schwindel. (Der Zeuge streckte die Hände entrüstet von sich und blickte Gönczi zornig an.) – Vors.: Angeklagter, was haben Sie dazu zu bemerken? – Angekl.: I bitt schön, Herr Präsident, das is alles so wahr als ich hier stehe. Das weiß Gott im Himmel. – Vors. (zum Zeugen): Haben Sie ein Liebesverhältnis der Klara Schultze irgend jemals begünstigt? – Zeuge: Niemals, ich weiß von nichts. – Der Angeklagte, welcher während der Vernehmung des Zeugen leichenblaß geworden war, sprudelte noch einmal seine bekannte Erzählung über den angeblichen Verlauf der Mordtat hervor, widersprach sich aber fortwährend, stockte und verlor schließlich ganz den Faden, so daß der Vorsitzende ihm wiederholt nachhelfen mußte. Der Zeuge Hinz blieb demgegenüber entschieden dabei, daß die ganze Erzählung des Angeklagten ein haarsträubendes Lügengewebe sei.

Es folgte darauf die Vernehmung des Schreibsachverständigen, Sekretärs Altrichter: Er habe zunächst die Urschriften der beiden Depeschen, die an Gönczi selbst und an den Hausverwalter Schlecht gerichtet waren, verglichen. Der Augenschein lehre, daß beide Depeschen von einer Hand herrühren. Aber auch in betreff der Rechtschreibung sei eine auffällige Übereinstimmung vorhanden. Dieselben Fehler seien in beiden Depeschen vorhanden. Das Wort „Miete“ sei in beiden Depeschen „Mite“ geschrieben, anstatt „sparen“ schreibe der Absender „Sparren“ und die Worte „Wir reisen“ zeigten sich übereinstimmend als „Wir Reisen“. Auch in dem von Gönczi an die Raffalski gerichteten Briefe trete die Eigenheit des Verfassers in Erscheinung, Hauptwörter klein und Eigenschaftswörter groß zu schreiben. Dazu kommen noch eine Anzahl Dialektfehler, kein Norddeutscher würde sagen: „Richten Sie meine Wohnung!“ Das sei eine spezifisch österreichische Ausdrucksweise. Er komme zu dem Schluß, daß die Urschriften der beiden Depeschen von der Hand des Angeklagten herrühren. Die Depeschen seien beide auf frankierte, nicht adressierte Postkarten geschrieben, woraus er den Schluß ziehe, daß der Verfasser wahrscheinlich ursprünglich beabsichtigt hatte, eine Postkarte zu schicken, daß die Absendung der Originalschrift ihm aber doch zu gefährlich war. – Vors.: Was sagen Sie dazu, Gönczi? – Gönczi: Bitt’ schön, Herr Präsident, ich hab’ nix geschrieben. – Vors.: Ihre Frau hat aber doch auch Ihre Handschrift anerkannt. – Gönczi: „Bitt’ schön, Herr Präsident, so a Frau kann darüber gar nix wissen. Sehen Sie, mancher Mensch schreibt wie der andere, ich will Ihnen 15- bis 20mal hintereinander einen und denselben Namen schreiben und er soll jedesmal anders ausschau’n. Ja, auf Handschriften darf man nix geben!“ – Tischlermeister Stiller: Er kenne den Angeklagten seit 1892; er habe ihm die Ladeneinrichtungen in der Mühlenstraße und in der Königgrätzer Straße besorgt. Gönczi schulde ihm noch ca. 1400 M. Gönczi habe ihm u. a. erzählt, er wolle auch in der Prenzlauer Allee und in der Potsdamer Straße einen Schuhwarenladen einrichten. Der Angeklagte habe ferner für das Hinterzimmer des Ladens in der Königgrätzer Straße eine Einrichtung bestellt mit dem Bemerken, dort solle sein Compagnon Löwy wohnen, der ein großer Schuhwarenhändler sei und in Brüssel, Boulevard 2a wohne. Am Tage nach dem Morde sei plötzlich Gönczi bei ihm im Laden erschienen, habe gerufen: „Der „Brüsseler“ (Löwy) ist tot!“ Gönczi habe für ca. 2000 M. Kohlenaktien der Scaczer Werke und Münchener Brauhausaktien aus der Tasche gezogen, um ihm seine Rechnung zu bezahlen. Er sei dann mit Gönczi zu einem Bankier gegangen, um die Papiere zu verkaufen, sie seien sie aber nicht losgeworden. Am 18. abends sei Gönczi gegen 10 Uhr in großer Aufregung zu ihm gekommen und habe ihn um 500 M. bitten lassen, da er eine dringende Reise machen müsse. Er, Zeuge, habe sich jedoch verleugnen lassen und Gönczi sei unverrichteter Sache wieder fortgegangen. – Handelsfrau Adeline Mohr: Sie sei durch Zufall mit Gönczi bekannt geworden, als sie einmal in einer Stehbierhalle in der Potsdamer Straße ihre Waren anbot. Gönczi habe ihr von seinem Bier angeboten und ein Gespräch begonnen. Er habe gesehen, daß sie zwei Trauringe trug und gesagt, er sei auch Witwer, seine Frau sei im Kindbett gestorben und sie könnten ja öfter miteinander ausgehen. Dies sei auch geschehen, sie haben sich mehrfach getroffen. Die Zeugin erzählte sodann eine langatmige Geschichte, aus der hervorzugehen schien, daß der Angeklagte ihr die Ehe versprochen habe. Er habe eines Tages auch von ihr erfahren, daß sie wegen großer Schlaflosigkeit und Nervosität von Zeit zu Zeit zu Professor Mendel gehe und von diesem Schlafpulver erhalte. Gönczi, der ihr seinen Namen genannt, habe sich sehr lebhaft danach erkundigt, wie die Wirkung eines solchen Schlafpulvers sei, er habe, als sie ihm erzählte, daß sie einmal überfallen worden sei, sich genau nach den Einzelheiten erkundigt und als er hörte, daß sie eine Erbschaft zu erwarten habe, ganz genau sich orientiert, wie hoch sie sei und wann sie angetreten werden könnte. Der Schlußeffekt der Erzählung, die der Angeklagte mit heiterem Gesichte anhörte, ging dahin, daß die Zeugin schließlich den Verkehr mit Gönczi aufgegeben habe, weil sie es doch für richtiger hielt, sich nicht wieder zu verheiraten. – Gönczi erklärte unter schallender Heiterkeit des Publikums: Ich kenne die Frau überhaupt nicht! – Bremser Kiersche: Er wohnte im Hause Mühlenstraße 7 und kannte Gönczi und dessen Frau. Er sah sie beide am 18. August 1897 abends vor dem Laden stehen, als er in den Dienst ging, um von Frankfurt a. O. aus einen Güterzug zu begleiten. Zu seinem größten Erstaunen habe er um 2 Uhr nachts, also vier Stunden später, Gönczi und dessen Frau auf dem Bahnsteig in Frankfurt a. O. stehen sehen. Er sei auf Gönczi zugegangen; dieser sei aber schnell in den Wartesaal gelaufen. Hier habe er ihn später aufgesucht. Gönczi habe aber so getan, als kenne er ihn nicht. Erst als Frau Gönczi zu ihm gesagt habe: Das ist ja unser Nachbar, der Herr Kiersche! habe Gönczi langsam gesagt: Ach so, guten Abend, Herr Kiersche. – Vors.: Ist Ihnen das nicht aufgefallen? – Zeuge: Ja, ich erklärte mir sein Verhalten damit, daß er „gerückt“ wäre, weil er seine Miete nicht zahlen konnte. Gönczi hat sich noch bis gegen 6 Uhr morgens in Frankfurt (Oder) aufgehalten und ist über Kottbus abgefahren. – Den Bahnhofsportier Lehmann hat der Angeklagte nach dem schnellsten Zuge nach Brüssel und Paris gefragt. Wir hielten dem Angeklagten sodann vor, welchen Umweg er gemacht habe, indem er erst nach Frankfurt (Oder) gefahren sei; Gönczi habe erwidert, er habe eine kranke Schwester in Frankfurt, die er noch besuchen wollte. Dem Schaffner Thiel und dem Geschäftsreisenden Kowalski hat der Angeklagte erzählt, er wolle zur Weltausstellung nach Brüssel. – Die Ehefrau des Gastwirts Hinz wies ebenfalls die Behauptung, daß ihr Mann der Täter gewesen sei, mit großer Entrüstung zurück. Auch den Löwy kenne sie nicht. – Vors.: Angeklagter, was sagen Sie dazu? – Gönczi: I bitt schön, Herr Präsident, Sie woaß olles, Sie wird aber doch net „Ja“ sagen. Sie leignet eben olles, dös glaub’ i schon! – Staatsanw.: Frau Zeugin, hat Ihr Mann sich mit der Frau Schultze schlecht gestanden? – Zeugin: Nein, im Gegenteil. – Vors.: Gönczi behauptet ferner, Ihr Mann habe sich Montag abend gewundert, daß Gönczi noch keine Nachricht von den Damen habe. Gönczi habe erwidert: Ach was, die hast du ja längst massakriert. Darauf hätten Sie zu Ihrem Manne gesagt: So halte doch das Maul! – Zeugin: Das ist alles nicht wahr.

Sanitätsrat Dr. Mittenzweig und Dr. Schulz legten sodann die oberen Schädelhälften der beiden ermordeten Frauen vor und zeigten die Art der nach dem Kopf geführten Schläge. Als die beiden Sachverständigen auf den Angeklagten zutraten, um auch diesem die durchlöcherten Schädeldecken vorzuhalten, streckte er abwehrend die Hände aus und sagte mit lächelnder Miene: I bitt schön, i woaß ja doch von nix, was geht doas mi an! Ein Geschworener bat, den Angeklagten zu untersuchen, ob er genügend kräftig erscheine, die beiden Frauen niederzuschlagen. Sanitätsrat Mittenzweig bejahte diese Frage auf Grund einer kurzen Untersuchung der Arme des Angeklagten.

Der Untersuchungsrichter, Landgerichtsrat Herr, bekundete: Der Angeklagte habe in einer Weise gelogen, wie es ihm noch niemals vorgekommen sei. Alle Versuche, die Existenz und den Aufenthalt des mysteriösen Löwy und dessen Schwester zu ermitteln, seien gescheitert. Der Angeklagte sei nicht weiter gekommen, als daß die Schwester in der Nähe der Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche wohnen solle und daß bei seinen Versuchen, die Wohnung der Schwester festzustellen, immer merkwürdigerweise Herr Löwy hindernd dazwischen getreten sei. Der Untersuchungsrichter gab noch eine Reihe klassischer Beispiele von der Lügenhaftigkeit des Angeklagten. Letzterer hatte behauptet, daß er die beiden Frauen um 4 Uhr nach dem Bahnhofe begleitet habe. Gegen den Vorhalt, daß damals der Zug nach Hannover erst um 7 Uhr abging, hatte der Angeklagte nur nichtssagende Einwände. Auch bei anderen Punkten konnte ihm die absolute Unwahrheit seiner Behauptungen sofort vorgehalten werden. Er (Zeuge) habe sich die denkbar größte Mühe gegeben, alles aufzuklären, und obgleich er selbst fest davon überzeugt war, daß alle Angaben des Angeklagten über den angeblichen Löwy pure Lügen waren, habe er eifrigst geforscht, ob nicht doch ein Körnchen Wahrheit dabei sei. So habe er sich einen Plan von Brüssel kommen lassen und mit dem Kriminalkommissar v. Kracht sich alle erdenkliche Mühe gegeben, um festzustellen, wo Gönczi in Brüssel gewohnt habe. Und das Ergebnis sei gewesen, daß bei der Abführung Gönczi zu dem Gerichtsdiener gesagt haben soll: Wenn die denken, sie können mich mit so was fangen, dann irren sie sich. Der Zeuge schloß mit der nochmaligen Versicherung, daß sämtliche von ihm abgefaßte Protokolle nicht mehr und nicht weniger enthalten, als die Vernehmungen Gönczis tatsächlich ergeben haben. – Gönczi, vom Vorsitzenden aufgefordert, sich zu äußern, erklärte in höchst theatralischer Weise, heftig gestikulierend und mit vibrierender Stimme, daß er nur das, was er bisher gesagt habe, wiederholen könnte. „Als ich zum Herrn Untersuchungsrichter hineingeführt wurde, empfing mich dieser mit den Worten: Sie sind der Mörder! Sie müssen ein Geständnis ablegen! Ich sagte: Nein, ich kann kein Geständnis ablegen, ich bin kein Mörder. Darauf hab’ ich alles erzählt, wie’s gewesen ist. Der anwesende Polizei-Kommissar hat gesagt, es seien alles Lügen. Ich habe mich beschwert, aber es hat geheißen: Halten Sie’s Maul, antworten Sie, wenn man Sie fragt! Es ist nicht alles aufgeschrieben worden, was ich gesagt habe. Der Protokollführer hat nicht geschrieben, sondern mich nur angeschaut, so daß ich ihm sagte: Ich bin nicht so dumm, wie du mich anschaust! Wenn ich wirklich der Mörder wär’, hätt’ ich das schon längst gesagt. Seit fünf Monaten schon sitze ich in Eisen, wenn ich esse, muß ich mit dem Mund in die Schüssel, ist denn das nicht eine Schande! Ich bitte, daß das erste mit mir aufgenommene Protokoll verlesen wird. Daraus geht hervor, daß nicht alles aufgeschrieben wurde. Jedes Wort, was ich gesagt hab’, hätt’ aufgeschrieben werden müssen. Es handelt sich hier nicht um ein Glas Bier, sondern um die Todesstrafe! Der Herr Staatsanwalt hat mir gesagt, daß ein Brief eingelaufen sei in Brasilien, wo sich einer als Mörder bezeichnet, der Mann muß doch hergeschafft werden bei so einer schweren Sach’! Ich hab’ meinem Doktor Rechtsanwalt meine ganzen Protokolle übergeben und ich bitte, daß die verlesen werden. Da werden Sie sehen, daß alles stimmt, was ich gesagt habe von vornherein und daß ich nicht gelogen habe.“ Das Protokoll ist 60 Seiten lang. Unter heftigen Handbewegungen und mit vor Erregung gesteigerter Stimme beteuerte Gönczi wiederholt, daß er die Mordtat nicht begangen habe. – Staatsanwalt: Vom General-Konsul in Rio de Janeiro ist am 20. Februar cr. ein Schreiben eingegangen. Danach hatte ein Mann namens Louis Schulz an das Konsulat einen Brief gerichtet, in welchem es etwa hieß: „Ich habe einen schweren Mord auf dem Gewissen, den ich mit dem Gönczischen Ehepaar in Berlin verübt habe. Herr Gönczi hat sein Wort mir gegenüber nicht gehalten. Der Berliner Magistrat hatte auf meine Person keinen Steckbrief erlassen, aber meine Reue läßt es nicht zu, daß ich schweige. Sie werden die Reue eines schwer beladenen Herzens nicht aufgeben und mein Gewissen aufhelfen.“ – Der Staatsanwalt erklärte, daß bei jeder Mordsache bekanntlich anonyme Briefe wie Pilze aus der Erde schießen. Bei der letzten Mordsache, die er zu bearbeiten hatte, seien 18 Briefe bei ihm eingetroffen, in denen sich 18 Mörder gemeldet hätten. Obgleich er nun auf einen Brief, der mit Louis Schulz unterzeichnet sei, nichts gebe, habe er doch noch weitere Nachforschungen veranlaßt, da gleichzeitig mit der Selbstanzeige des Louis Schulz in Rio de Janeiro ein Brief eingegangen war, auf dem der Schornsteinfegermeister Heinrich in Sonderburg als Absender bezeichnet war. Er habe deshalb den Kriminal-Kommissar v. Kracht mit Ermittelungen beauftragt. Es sei festgestellt worden, daß dieser Schulz im Jahre 1895 nach Brasilien ausgewandert sei und während der in Frage kommenden Zeit sich in Bahia aufgehalten habe. Damit erledigte sich die Selbstbezichtigung. Staatsanwalt Plaschke bemerkte dazu: Auch in dem vorliegenden Verfahren haben sich 18 Mörder gemeldet. Es ist eine bekannte Tatsache, daß sich bei fast jedem Morde angebliche Täter melden, ohne daß man zu ermitteln vermag, was sie dazu treibt. Im vorliegenden Falle scheint der Schulz sich freie Überfahrt haben verschaffen wollen. Von einer Täterschaft kann nicht die Rede sein. – Angekl. Gönczi: I bitt schön, wie kann i der Täter sein, wann sich der Mann da meldet. Der muß doch herübergeholt werden. – Vors.: Na das erledigt sich ja schon dadurch, daß der Mann zu der Zeit, als die Tat begangen wurde, sich in Brasilien befand.

Eine Reihe weiterer Zeugen bekundete, daß der Angeklagte einige Tage vor dem Morde erzählt habe, er habe in der Lotterie gewonnen, er besitze eine reiche Tante, die in Hannover wohne und im Sterben liege usw., alles Dinge, die erklären sollten, woher er plötzlich viel Geld habe. Andererseits hat er durch diese Erzählungen auch verschiedene Leute veranlaßt, ihm Kredit zu geben. – Schlosser Hast: In der Wirtschaft des Gastwirts Schinke habe er wiederholt einen Mann namens Lewy gesehen. Dieser war 30 Jahre alt, von großer Statur und hatte einen hellen Schnurrbart. Der Mann habe französisch gesprochen und sei viel im Auslande gereist. – Staatsanwalt Plaschke: Ich habe inzwischen Ermittelungen anstellen lassen und kann mitteilen, daß es sich um den Geschäftsreisenden Levy handelt, der 30 Jahre alt und in Hessen geboren ist. Der Mann spricht mehrere Sprachen, auch französisch und wohnte bei dem Gastwirt Schinke. – Gastwirt Schinke bestätigte, daß ein Mann, namens Levy, bei ihm gewohnt habe, aber vollständig unverdächtíg sei. Auch der Angeklagte Gönczi erklärte, daß dieser Mann schon seines jugendlichen Alters wegen nicht in Betracht kommen könne.

Am letzten Verhandlungstage fragte der Vorsitzende den Angeklagten, ob er an einen der Zeugen noch eine Frage zu richten habe. – Gönczi: Jawohl, Herr Präsident, bitt’ schön, lassen’s mich ausreden. (Erregt.) Heit is der letzte Tag und der letzte Termin, wo ich ihnen kann meine Unschuld beweisen. Ich weiß, was auf meinem Herzen liegt, und weiß, daß mein Gewissen ist frei und rein! Jeder hat mich zwischen 9 und 10 Uhr gesehn, alles, was die übrigen Zeugen gesprochen haben, ist nur ein Schauspiel, das ist gar nix wert, hier kommt’s nur darauf an: Wer hat die Tat begangen? I hab’s nicht getan! Ich bin in der ganzen Welt als Raubmörder ausgeschrien worden und habe nur zu meinem Gott bitten können: Lieber Gott, verlaß mich nicht. Er hat mich nicht verlassen, er hat mich beschützt, indem er mir Verstand und Geist belassen hat, der liebe Gott steht mir bei. Ich hab’ ihn auch für meine Ehefrau gebeten. (Frau Gönczi fing an zu schluchzen.) Die arme Frau ist auch 2 Jahre unter dem furchtbaren Druck gestanden, sie ist krank und schwach darüber geworden. Bitt’ schön, lassen’s mich ausreden. Es ist möglich, daß der Herr Rechtsanwalt mir meine Ehre wiedergibt, aber es ist schwer! Schaun’s, der Löwy, der existiert. Habermann weiß doch, daß Löwy ein Liebesverhältnis mit Fräulein Klara gehabt hat. (Mit lauter Stimme.) Löwy existiert, wenn man ihn nur suchen will! I hab’ auch zwei Jahre lang nicht existiert, trotzdem die Polizei meine Photographie hatte, man hat mich gesucht und nicht gefunden. I hab’ dem Polizeikommissär gesagt, er soll die Personalbeschreibung vom Löwy aufnehmen, da hat’s aber geheißen: Quatsch! Ich möcht’ noch mal meinen ehrlichen Namen wiederhaben! Jetzt machen mich alle schlecht! Habermann und selbst Stiller. Aber Petrus hat auch den Herrn Jesus Christus verleugnet, und so verleugnen die Zeugen jetzt mich. – Vors.: Angeklagter, es handelt sich jetzt lediglich darum, ob Sie noch Fragen haben. – Gönczi: Bitt’ schön, Herr Präsident, lassen’s mich ausreden. Sehn Sie, i bin beschuldigt, daß in mein’ Hemd Blutflecke gewesen seien, und sehn Sie, da kam Herr Jeserich und hat nix von Blut im Hemd gesehen. Sehn Sie, nix kann mir bewiesen werden, daß ich die Tat begangen hab’. Es wird die Zeit kommen, wo ich noch sprechen werde. Weiter: Habermann sagt, es ist nix wahr, daß die Frau Schultze mir die Schlüssel gegeben hat, und doch ist’s wahr! Wenn ich die Tat hätte machen wollen, hätte ich sie in die enge Wohnung umbringen können; dann hätte ich alles zusammengekramt und wäre davongegangen und hätte nicht am 16. und 17. August Stiller noch die Rechnung bezahlt. Wie ich es sag’, so ist es! Das sag’ ich vor den Herrn Präsidenten und die Herren Geschworenen und das Publikum und die ganze Welt! Sehn’s, ich bin nach Brüssel gekommen. Keiner hat mich kennt, hab’ keine Popiere g’habt, hab’ nicht gekannt französisch und nicht belgisch und hab’ doch vier Wochen Aufnahme gefunden. Warum? Weil mich Löwy hat hingebracht! Meiner Frau hab’ ich gesagt, wenn dich der Richter wird fragen, dann sagst du schwarz, wenn’s schwarz ist, und weiß, wenn’s weiß ist. Aber arme Frau hat sagen müssen, was Untersuchungsrichter wollte, wenn sie nicht hungern wollte. Und so hat die Arme auch gesagt, das Telegramm sieht meiner Handschrift ähnlich. Was soll das arme Weib auch sagen? Gewiß sieht’s ähnlich, ich hab’s aber nicht geschrieben. – Vors.: Nun, Gönczi wenn Sie sich noch verteidigen wollen, so werden Sie später noch das Wort erhalten. Jetzt setzen Sie sich!

Nach Verlesung der Schuldfragen nahm Staatsanwaltschaftsrat Plaschke das Wort: Meine Herren Geschworenen! Ich glaube nicht, daß in diesem Augenblicke bei Ihnen noch ein einziger darüber zweifeln kann, welche Anträge ich Ihnen unterbreiten werde und wie die Ihnen vorgelegten Fragen zu beantworten sind. Und weil ich glaube, daß Sie ganz genau wissen, was ich tun werde und tun muß, so will ich – abweichend von den sonstigen Gepflogenheiten – meine Schlußanträge gleich voranstellen: Ich beantrage, bezüglich der Frau Gönczi die Schuldfragen zu verneinen und den Angeklagten Gönczi des Raubes und Mordes in zwei Fällen für schuldig zu erklären. Man kann den Satz aufstellen, daß jedermann, also auch der Angeklagte, ein gewisses Anrecht darauf hat, daß seine Angaben so lange für wahr und glaubwürdig gehalten werden, als ihm das Gegenteil nicht klipp und klar nachgewiesen wird. Da die Erfahrung dafür spricht, daß der Angeklagte, der nichts zu verbergen hat, die Wahrheit sagt, so habe ich es in anderen Strafprozessen so gehalten, daß ich die Angaben der Angeklagten immer genau prüfte, ob deren Angaben wahr oder unwahr oder bewußt unwahr, d. h. erlogen waren. Würde ich nun diesen Weg auch heute gehen und Punkt für Punkt beleuchten und erörtern, in denen der Angeklagte bewußt die Unwahrheit gesagt hat, so würde aus Abend und Morgen der nächste Tag werden. Ich werde deshalb nur die Punkte in den Aussagen des Angeklagten berühren, die für die Schuldfragen von Bedeutung sind. Haben wir auch den Angeklagten als Lügner kennen gelernt, so bitte ich Sie doch, rechnen Sie dies ihm nicht zu hoch an. Seine Lügen sind ihm in Fleisch und Blut übergegangen, er stellt selbst die unwesentlichsten Punkte in Abrede. Es ist ihm kaum möglich, die Wahrheit zu sagen, obgleich er wissen muß, daß er dadurch jede Sympathie bei seinen Richtern verlieren muß. Aber wie gesagt, ich bitte Sie, rechnen Sie ihm dies nicht zu hoch an, Sie sollen nicht über den Lügner, sondern über den Verbrecher urteilen. Es sind ferner über diese Angelegenheit viele Nachrichten durch die Presse gegangen, welche der Wahrheit nicht entsprachen. Ich will annehmen, daß die Berichterstatter zum Teil falsch unterrichtet waren, aber andernteils sollte wohl die Sensationslust des Publikums dadurch befriedigt werden. Der Phantasie der Reporter können ja keine Schranken gezogen werden. Ich bitte Sie also, alle diese Zeitungsnotizen aus Ihrem Gedächtnisse zu verbannen und Ihrem Urteilsspruche nur das zugrunde zu legen, was Sie in dieser Verhandlung gehört haben. Der Staatsanwalt erörterte hierauf in eingehender Weise den Tatbestand und fuhr alsdann fort: Ich gebe zu, daß die Städte Berlin und Brüssel eine Menge Personen beherbergen, welche Löwy heißen. Löwy ist eine Art internationaler Name. Ich habe vielfach Zuschriften erhalten, die auf die Spur helfen sollten; ich habe sie aber nicht beachtet, denn es ist ein eigen Ding um solche Zuschriften. Oftmals wollen sie nicht die Wahrheit zu Tage fördern, sondern sind durch andere Motive hervorgerufen. Manche der Schreiber wollen Zeugen-Gebühren erlangen oder ähnliches, ja es ist mir in meiner Praxis schon vorgekommen, daß es sich um die Erlangung einer Eintrittskarte handelte. (Heiterkeit.) Auch der Herr Verteidiger hat, wie ich glaube, mit derartigen Zuschriften oder anderen Anregungen nicht sehr gute Erfahrungen gemacht. Mir kam es nicht darauf an, jene unbekannten Personen zu ermitteln, in deren Begleitung der Angeklagte ja von verschiedenen Zeugen gesehen worden ist, sondern auf jenen Löwy, der als Täter in Frage kommen soll. Dieser Löwy ist aber von niemand gesehen worden, denn er existiert überhaupt nicht.

Mit den Zeugen, auf die der Angeklagte sich berufen hat und die nachträglich geladen sind, ist wirklich kein Staat zu machen. Und nun das angebliche Liebesverhältnis zwischen Löwy und der Klara Schultze! Es ist gar nicht einzusehen, warum die alte Frau Schultze so erzürnt gegen diesen doch augenscheinlich ganz gut situierten Freiersmann gewesen sein sollte. Der Mann war doch auch so genügsam, daß er im Hinterzimmer kampierte und auf einer Bettstelle schlief, die nur Matratze und Keilkissen hatte. Und treu muß er doch auch gewesen sein, denn nach Gönczis Behauptung hat er ja 17 Jahre um die Gunst der Klara Schultze‚ die so sehr begehrenswert doch nicht mehr war, gebuhlt. Warum also sollte die alte Frau Schultze die Liebeswerbung des Löwy nicht gewollt haben? Nein, das ist alles offenbarer Schwindel! Kein Mensch hat im Hause von der Existenz des Löwy auch nur eine Ahnung gehabt und was die Beschuldigungen des Angeklagten gegen Hinz betrifft, so sind diese zu meiner Freude sowohl vom Gerichtshofe, als auch von der Verteidigung als durchaus hinfällig anerkannt worden, denn sonst hätte Hinz nicht widerspruchslos vereidigt werden können! Alle Angaben, die der Angeklagte über den angeblichen Löwy vorgebracht hat, sind ebenso unwahr, wie seine Behauptung, daß Löwy bei der Abreise im Wartesaal des Bahnhofs Friedrichstraße mit ihm zusammen war und sogar die Reise nach Brüssel mitgemacht habe. Davon weiß kein Mensch etwas, nicht einmal seine eigene Frau.

Ganz widerspruchsvoll sind auch die Angaben, die er in Bezug auf Stiller und dessen Kenntnis von der Existenz des Löwy gemacht hat. Allerdings hat er Herrn Stiller schon im Juni von einem Löwy erzählt. Das läßt sich aber ganz einfach daraus erklären, daß er bei Herrn Stiller damals schon sehr in der Kreide stand und nun, wo er noch eine Ladeneinrichtung auf Kredit haben wollte, zu dem Schwindel griff, Herrn Stiller zu sagen, daß er einen solventen Kompagnon aus Brüssel habe. Ist aber Löwy eine fingierte Person, so wird die Situation für Gönczi furchtbar ernst und das Belastungsmaterial für ihn ist so erdrückend, daß man sich wundern muß, wie er noch die Stirn haben kann, sich gegen dieses Belastungsmaterial aufzulehnen.

Die Mordtat muß am Sonnabend, 14. August, etwa in der Zeit zwischen 9 und 11 Uhr vormittags geschehen sein. Genaue Zeitangaben sind natürlich unmöglich. An demselben 14. August hat der Angeklagte dem Dr. Schlesinger schon gesagt: die Frauen seien verreist. Er mußte daher an diesem Tage schon wissen, daß die Frauen auf Nimmerwiederkehr verschwunden waren. Das unstete Droschkenfahren des Angeklagten am 14. August ist ganz durchsichtig; er wollte ein Alibi haben und schleunigst an den Ort der Tat zurückkehren, um alles, was dort passiert ist, beobachten zu können. Das ist die Lösung der Sache. Schon am 13. August hatte der Angeklagte dritten Personen mitgeteilt: die Frauen hätten sich so geärgert, daß sie zu verreisen gedächten. Er hat daher schon am 13. die Absicht gehabt, die Frauen aus der Welt zu schaffen, und diesen Moment mögen die Geschworenen festhalten. Die Beweisaufnahme hat klipp und klar ergeben, daß der Angeklagte schon am 14. vormittags die erfolgte Abreise der Frauen nach Brüssel und Paris mitgeteilt, während nach seiner Darstellung die Abreise erst am 14. abends und zwar nach Hannover stattgefunden hat. Am 14. hat sich dann der Angeklagte im Besitz der Schlüssel befunden, am 15. war er schon im Besitz von Brauhaus-Aktien und der Sklaskaer Kohlen-Obligationen. Da seine Behauptung, daß er sie am 15. von Löwy erhalten habe, durch die Beweisaufnahme als falsch erwiesen ist, so ergibt sich als Fazit: der Angeklagte hat die Wertpapiere schon am 14. geraubt und der Mord ist bereits am 14. August geschehen.

Dann kommen die Kisten in Betracht. Es ist wohl zu beachten, daß der Angeklagte schon am 15. August morgens von dem Beschaffen von Erde gesprochen hat. Als Pflugmacher den Keller geöffnet hat, sah er zwei längliche Kisten stehen, die jedenfalls damals noch leer waren. Am 16. August hat sich nach dem Zeugnis der Frau Gönczi diese mit ihrem Manne nach der Königgrätzer Straße begeben und zwei schwere Kisten von dem Hinterzimmer nach dem Keller getragen. Der Angeklagte sage nun, wie er das Kunststück habe fertig bringen können, da er in der Zwischenzeit gar nicht in der Königgrätzer Straße war. Das ist eine Unwahrheit! Durch seine eigene Ehefrau und die Zeugin Raffalski ist nachgewiesen, daß er sich am Sonntag, 15. August, auf dem Spaziergange von ihnen getrennt hat und erst 9 Uhr abends zurückgekehrt ist; die Hausbewohner haben ihn am Sonntag gesehen, als er Gas anzündete, und es steht somit fest, daß er am Sonntag in dem Hause war. Er hat die Zeit am Sonntag benutzt, um die leeren Kisten hinauf zu schaffen und die Leichen hineinzupacken. Der Mangel an Leichengeruch‚ den der Angeklagte ins Feld führt, will gar nichts zu seinen Gunsten beweisen. Nun kommt die Erde. Es ist festgestellt, daß Hinz an der Beschaffung der Erde keinerlei Interesse hatte, vielmehr der Angeklagte diese bestellt und in den Keller hat schaufeln lassen. Am 16. August passierten allerlei interessante Dinge: die Hingabe der geraubten Papiere an Stiller, der gemeinschaftliche Gang nach dem Bankier, auf dessen Frage der Angeklagte behauptete, er habe die Wertpapiere schon lange, und die Äußerung Gönczis an den Bankier, daß er die Papiere nicht verkaufen wolle, sondern sie für einen Bekannten in Brüssel bewahren müsse. Er ahnte wahrscheinlich, daß nach Bekanntwerden der Mordtat der Verbleib der Papiere ermittelt und er bald entdeckt werden konnte, und deshalb hielt er es für ratsamer, die Papiere bei Stiller in Verwahrung zu belassen und sich darauf von diesem ein Darlehn geben zu lassen. Ein solches hat er ja auch am 17. in Höhe von 400 M. erhalten. Dazu kommt am 17. August die charakteristische Szene mit der Zeugin Frank, die aus der Begegnung mit dem Angeklagten und aus der gemeinschaftlichen Besichtigung der Schultzeschen Wohnung sofort das Gefühl erhielt, daß ein Verbrechen begangen sein müsse. Im Laufe des 18. August ist die Sache bei der Polizei anhängig gemacht worden, der Angeklagte hatte Wind davon bekommen, und dies ist der Schlüssel zu seiner Flucht am 18. abends. An diesem Tage ist Gönczi früh 7 Uhr weggegangen und nach Frau Gönczis Bekundung erst nach 73/4 Uhr abends wiedergekommen. Nach Ausweis des Kursbuches reicht diese Spanne Zeit vollkommen aus, um nach Hannover zu fahren, dort die Depesche aufzugeben und um 7 Uhr wieder hier zu sein. Ist dies aber möglich, so entschwindet der Gedanke vollkommen, daß eine dritte Person an dem Morde beteiligt sein könnte. Die Aussagen der Raffalski, wonach der Angeklagte am 18. nachmittags vor seinem Laden gesessen habe, sind nicht beweiskräftig, denn, während alle übrigen Zeugen in dieser Mordsache nach bestem Wissen und Gewissen die reine Wahrheit gesagt haben, ist dies von der Raffalski nicht zu sagen; mindestens ist die Raffalski unsicher.

Nachdem der Staatsanwalt noch den Nachweis geführt, daß die Depesche aus Hannover von Gönczi selbst verfaßt sei, fuhr er fort: Meine Herren Geschworenen, ich habe das feste Vertrauen zu Ihnen, daß Sie sich in Ihrem Urteil nicht dadurch beeinflussen lassen werden, weil der Mord mit Todesstrafe geahndet wird. Der einzige Zweifel könnte darüber auftauchen, ob ein Fall des Raubes vorliegt, oder ob zwei Fälle vorliegen, denn es kann angenommen werden, daß er erst beide Frauen beseitigen mußte, bevor er rauben konnte.

Was die Ehefrau Gönczi anlangt, so bin ich der Meinung, daß sie als Mittäterin nicht in Frage kommt. Ich glaube, daß das, was Frau Gönczi hier gesagt hat, der Wahrheit entspricht. Die Angeklagte hat es aber unterlassen, der Behörde von dem geplanten Verbrechen ihres Ehemannes Anzeige zu machen zu einer Zeit, als die Ausführung noch verhindert werden konnte. Sie ist auch der Hehlerei schuldig, denn sie hat die geraubten Schmucksachen an sich gebracht. Demnach rechtfertigt sich wegen dieser Schuld der Angeklagten deren Untersuchungshaft. Ich möchte dies besonders betonen, damit nicht, wenn Frau Gönczi freigesprochen werden sollte, wieder in den Zeitungen ein Spektakel darüber losgeht, daß man die Angeklagte in Haft behalten hat. – Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Herbert Fränkel: M. H.! Ich gebe von vornherein zu, daß der Angeklagte sich in unzählige Widersprüche verwickelt hat. Er lügt, sobald er den Mund auftut, er ist ein geborener Aufschneider und deshalb muß man alle seine Angaben überhaupt außer Acht lassen und sich nur an die nackten Tatsachen halten. Aus diesen wirklichen Tatsachen kann man zwanzig Schlüsse und Möglichkeiten ziehen, denn es handelt sich um einen Indizienbeweis. Die Wahrscheinlichkeit kann nicht die Wahrheit ersetzen, auch der geringste Zweifel muß hinreichen, um die Schuld als nicht erwiesen zu halten. Der Staatsanwalt hat selbst anerkannt, daß wahrscheinlich zwei die Tat vollführt haben, und deshalb hat man auch zuerst die Ehefrau als Mittäterin angesehen. Jetzt scheidet der Staatsanwalt aber die Frau selbst aus. Nun sollte man doch die Spuren des zweiten Täters verfolgen, und dazu gibt der Brief des Louis Schulz an das Konsulat in Rio de Janeiro die Handhabe. Die bisherigen Nachforschungen sind unzureichend, nicht einmal das Original des Briefes liegt vor. Ich beantrage daher: Das Strafverfahren gegen die Ehefrau abzutrennen und die Verhandlung gegen den Ehemann zum Zwecke weiterer Ermittelungen zu vertagen.

Staatsanwalt: Es ist richtig, daß der Angeklagte bei seiner ersten Vernehmung von einem Gastwirt Schulz gesprochen hat, der im Hause Königgrätzer Straße 35 gewohnt habe, er hat sich aber sofort dahin verbessert, daß er den Schankwirt Hinz meine. Wenn der Antrag des Verteidigers durchgeht, so gebe ich ihm zu bedenken, daß Gönczi noch Jahr und Tag in Untersuchungshaft sitzen kann und zwar nach wie vor in Fesseln, das wird er seinem Verteidiger zu verdanken haben. Ich möchte dem Verteidiger anheimgeben, seinen Antrag zurückzuziehen.

R.-A. Dr. Fränkel: Ich überlasse es dem Angeklagten, ob er den Antrag aufrechterhalten will. – Vors.: Angeklagter Gönczi, wie stellen Sie sich zu dem Antrage? – Angekl.: Meine arme Frau muß unschuldig sterben, es ist nun ganz egal, ob sie im Gefängnis unschuldig stirbt. Wenn es keine Gerechtigkeit mehr gibt, dann wollen wir beide unschuldig sterben. – Vors.: Ja, soll denn der Beweisantrag des Herrn Rechtsanwalts gestellt werden? – Gönczi: Jawohl, es soll Beweis erhoben werden, wenn ich die Tat nicht begangen hab’, will ich mich nicht verurteilen lassen. – Vors.: Wenn Sie aber meinen, daß Ihre Frau aus dem Gefängnis herauskommt, dann dürften Sie vielleicht im Irrtum sein. – Angekl.: Bitt’ schön, das macht nix, wir haben uns Treue geschworen bis zum Tod. Wenn die arme Frau was gegen mich ausgesagt hat, dazu ist sie nur gezwungen worden. (Frau Gönczi weinte während dieser Worte des Angeklagten bitterlich.) – Der Vorsitzende machte eine halbe Stunde Pause, um dem Verteidiger Gelegenheit zu geben, sich mit seinem Klienten zu verständigen. Nach Ablauf dieser Frist erklärte Rechtsanwalt Dr. Fränkel: Er habe dem Angeklagten geraten, auf den Beweisantrag zu verzichten. – Vors.: Nun, Gönczi? – Angeklagter Gönczi: Ich will nicht verzichten, ich will noch ’mal verhandelt haben. – Rechtsanwalt Dr. Fränkel: Der Angeklagte legt Gewicht darauf, daß das Original des Schulzschen Briefes an das Konsulat in Rio de Janeiro herbeigschafft wird. Der Verteidiger stellte darauf schriftlich den Antrag, das Schreiben des Louis Schulz herbeizuschaffen und an der Hand dieses weitere Ermittelungen nach dem Schreiber anzustellen. Er beantragte weiter, das Verfahren gegen Frau Gönczi abzutrennen und zur Anstellung der Ermittelungen die Sache zu vertagen. – Justizrat Grabower bat im Interesse seiner Klientin um Ablehnung des Antrages, der wohl nur auf denselben Mann zurückzuführen sei, der allen schon so viele Nüsse zu knacken aufgegeben habe. Gönczi würde durch die Erfüllung seines Antrages gar nichts zu Gunsten seiner Frau erreichen. – Der Gerichtshof beschloß, den Antrag auf Trennung des Verfahrens abzulehnen, weil die Schuldfrage zweckmäßig nur gegen beide Angeklagte gemeinsam entschieden werden könne, ferner auch den Antrag auf Anstellung von Ermittelungen abzulehnen, da, selbst wenn aufgeklärt würde, daß der Schreiber des Schulzschen Briefes der Täter sei, dadurch nicht bewiesen werde, daß der Angeklagte nicht an der Tat beteiligt sei. – Der Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Fränkel, wies alsdann darauf hin, daß die Art, wie der Angeklagte an der Tat beteiligt sein könne, stets im Dunklen bleiben würde. Eine ganze Reihe von Umständen spräche dafür, daß zwei Personen dabei beteiligt seien. Dies sei ja auch vom Staatsanwalt zugegeben worden. Wenn das Zeugnis der Raffalski allein auch nicht als ausschlaggebend angesehen werden könne, so fielen die bestimmten Auslassungen des Dr. Schlesingerschen Ehepaares und der Zeugen Hellmich und Vorwärts um so schwerer ins Gewicht. Danach sei Gönczi am 18. August in Berlin gewesen. Auffallend sei es außerdem, daß man keine Blutspuren an der Kleidung Gönczis oder Verletzungen an seinem Körper wahrgenommen habe. Besonders die jüngere Schultze sei eine kräftige Frau gewesen und es lasse sich nicht annehmen, daß diese sich ohne Gegenwehr würde haben hinschlachten lassen. Auch der Umstand, daß der Angeklagte das Beil aus seiner Wohnung nach der Königgrätzer Straße trug, sei kein Beweis dafür, daß er die Mordtaten begangen habe, viel näher liege die Annahme, daß er das Instrument seinem Genossen geliefert und sich demnach nur der Beihilfe schuldig gemacht habe. Wollten die Geschworenen die Schuldfrage wegen Mordes bejahen, so müßten sie auch der festen Überzeugung sein, daß Gönczi der Täter sei; liege dagegen der geringste Zweifel vor, so müsse die Schuldfrage verneint und Gönczi nur wegen Beihilfe schuldig gesprochen werden. Dies beantrage er.

Nach einer kurzen Erwiderung des Staatsanwalts bemerkte der Verteidiger: Es müsse zum mindesten doch geprüft werden, ob der Angeklagte nur habe stehlen wollen und um ein Hindernis zu beseitigen, die Frauen ermordet habe. – Der Staatsanwalt gab dem Verteidiger anheim, eine solche Schuldfrage zu beantragen. Der Verteidiger erklärte jedoch, daß er darauf verzichte, da er die Schuld des Angeklagten nicht für erwiesen erachte. – Vert. Justizrat Grabower schloß sich bezüglich der Frau Gönczi dem Antrage des Staatsanwalts an. – Der Angeklagte Gönczi beteuerte nochmals in längerer Rede seine Unschuld. Er hätte die Morde viel bequemer in der Schultzeschen Wohnung begehen können und alsdann nicht nötig gehabt, sich eine Ladeneinrichtung machen zu lassen. – Die Geschworenen bejahten bezüglich Gönczi die Schuldfragen wegen Mordes und Raubes in zwei Fällen, verneinten dagegen die Schuldfrage bezüglich der Frau Gönczi. – Der Gerichtshof verurteilte dementsprechend Gönczi zweimal zum Tode und zu dauerndem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte. Frau Gönczi wurde freigesprochen. – Nachdem das Todesurteil Rechtskraft erlangt hatte, wurde Gönczi hingerichtet.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: französich