Die Ermordung der Medizinalrätin Molitor auf der Promenade in Baden-Baden

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Autor: Hugo Friedländer
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Titel: Die Ermordung der Medizinalrätin Molitor auf der Promenade in Baden-Baden.
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aus: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 2, S. 1–47
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Erscheinungsdatum: 1911
Verlag: Hermann Barsdorf
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Google-USA*, Commons
Kurzbeschreibung: Prozess gegen Carl Hau
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Die Ermordung der Medizinalrätin Molitor auf der Promenade in Baden-Baden.
(Der Hau-Prozeß.)

Dem Fortschritt der Kultur ist es zu danken, daß Kapitalverbrechen sich allmählich vermindern. Das Leben eines Menschen gilt jetzt mehr als vor etwa hundert Jahren. Wenn auch die Verbrecherwelt nicht ausstirbt, so werden doch Morde nicht mehr so häufig begangen als zur Zeit unserer Großeltern und Urgroßeltern. Eine große Erregung bemächtigt sich der gesitteten Menschheit, wenn die Kunde von einem Morde, dem größten Verbrechen, das das Strafgesetzbuch kennt, ruchbar wird. Es war daher naturgemäß, daß, als am Abende des 6. November 1906 auf der Promenade in Baden-Baden die Medizinalrätin Molitor meuchlings erschossen wurde, das Verbrechen in der ganzen Kulturwelt das größte Aufsehen erregte. Die Erregung war um so größer, da der Verdacht der Täterschaft auf den Schwiegersohn der 62 Jahre alten Medizinalrätin, den Universitätsprofessor und amerikanischen Rechtsanwalt Dr. jur. Karl Hau fiel. Die Medizinalrätin Molitor hatte ein Vermögen von fast einer Million. Sie bewohnte mit ihrer damals noch unverheirateten Tochter Olga in dem idyllisch belegenen, feinen Badeort Baden-Baden eine prächtige Villa und gehörte zu den Honoratioren des Badeortes, in dem bekanntlich auch im Winter viele Kurgäste weilen. Viele reiche Familien wohnen ständig in Baden-Baden, es herrscht daher auch im Winter ein sehr geselliges Leben. Im Frühjahr 1901 weilte die Medizinalrätin Molitor mit ihren damals noch unverheirateten Töchtern Lina und Olga in Ajaccio (Insel Korsika). Dort gesellte sich zu den Damen der zwanzigjährige Student Karl Hau. Dieser, der schon als blutjunger Gymnasiast ein sehr ausschweifendes Leben geführt und dadurch üble Folgen davongetragen hatte, war auf ärztliches Anraten nach Ajaccio gekommen. Es gelang ihm sehr bald, das Herz der damals 25 Jahre alten Lina Molitor zu erobern. Er hielt um die Hand der jungen Dame an. Allein mit Rücksicht auf seine grobe Jugend und den Umstand, daß er sich noch in den ersten Semestern befand, wurde er von der Medizinalrätin Molitor abgewiesen. Hau wußte aber Fräulein Molitor zu überreden, sich auf ein Sparkassenbuch 2000 Mark zu verschaffen. Mit diesem Gelde reisten die beiden jungen Leute heimlich ab, angeblich um sich trauen zu lassen. Sehr bald müssen wohl die jungen Leute zu der Überzeugung gelangt sein, das ihrer Eheschließung unüberwindbare Hindernisse entgegenstanden. Frau Medizinalrätin Molitor erhielt eines Tages aus Realp am St. Gotthard ein Telegramm, in dem angezeigt war: ihre Tochter habe aus Verzweiflung auf sich geschossen und liege schwer verwundet darnieder. Die alte Medizinalrätin eilte an das Krankenbett ihrer Tochter, die nach kurzer Zeit genas. Um nun die Ehre ihrer Tochter zu retten, willigte Frau Molitor in die Heirat. Das junge Paar begab sich nach der Hochzeit sehr bald nach Washington. Es lebte von den Unterstützungen der beiderseitigen Eltern, denn Hau hatte noch sechs Semester zu studieren. Nach bestandenem Examen wurde Hau, der der deutschen, englischen, französischen und italienischen Sprache in Wort und Schrift vollkommen mächtig ist, Privatsekretär des ottomanischen Generalkonsuls in Washington, Dr. Schönfeld. In dessen Begleitung fuhr er 1903 nach Konstantinopel, um die dortigen Handelskreise für die Weltausstellung in St. Louis zu interessieren. Er hatte aber mit seiner Mission wenig Erfolg. Als er nach Washington zurückgekehrt war, wurde er bei dem höchsten Gerichtshof in Washington als Rechtsanwalt zugelassen und assoziierte sich mit dem amerikanischem Rechtsanwalt Yenahan. Er wurde außerdem als außerordentlicher Professor für römisches Recht an die George Washington-Universität in Washington berufen. Im Auftrage der amerikanischen Standard Oil Compagnie und einer amerikanischen Elektrizitätsgesellschaft war er wiederholt in Konstantinopel. Er soll aber dort wiederum keine Erfolge gehabt haben. Seine Schwiegermutter hatte seiner Frau einen Scheck von 65000 M. überwiesen. Diesen hatte er sich kurz vor seiner Abreise nach Konstantinopel, wo er sich einige Monate aufhielt, auszahlen lassen. Dies Geld soll er fast vollständig in Konstantinopel verbraucht haben.

Professor Dr. Hau war in Washington eine allgemein beliebte Persönlichkeit. Er wurde Mitglied der ersten Klubs in Washington und New York. Im Kosmosklub lernte er den Präsidenten Roosevelt, sowie ferner Morgan, Rockefeller, Harriman und andre kennen. Hau soll in Konstantinopel ein derartig ausschweifendes Leben geführt haben, daß die Türken daran Anstoß nahmen und die besseren Kreise der türkischen Hauptstadt sich von ihm zurückzogen.

Am 17. Oktober 1906, vormittags gegen 91/2 Uhr, trat in das Fremdenbureau einer großen Wiener Bank ein hochgewachsener, elegant gekleideter Mann. Er sprach englisch und französisch und nannte sich Dr. Karl Hau. Er wies einen auf 400 Lstr. lautenden Scheck der Londoner Bank Brown, Schiply u. Co. vor und wünschte, ihn ausgezahlt zu erhalten. Da an der Echtheit der Unterschrift nicht zu zweifeln war, wurden dem Mann 9592 Kronen anstandslos gezahlt. Zwei Tage später erhielt die Bank ein Telegramm des Londoner Bankhauses Brown, Schiply u. Co., in dem angezeigt wurde, daß der Scheck dem wirklichen Dr. Karl Hau auf der Reise von Konstantinopel nach Wien im Orient-Expreßzug gestohlen worden sei. Die Depesche kam selbstverständlich zu spät, der Scheck war bereits gezahlt. Die Wiener Bank erstattete dem Sicherheitsbureau der Wiener Polizeidirektion unverzüglich Anzeige. Das Sicherheitsbureau stellte fest, daß am Morgen des 17. Oktober, gegen 8 Uhr vormittags, mit dem aus Konstantinopel eingetroffenen Orient-Expreßzug ein Reisender angekommen sei, auf den die Personalbeschreibung des Präsentanten des Schecks genau paßte. Der Mann war nur etwa zwei Stunden aus dem Bahnhof gegangen und hatte alsdann die Reise nach Deutschland fortgesetzt. Er hatte in Frankfurt a. M. den Zug verlassen. Dem Personal des Orient-Expreßzuges war von einem Diebstahl keine Anzeige gemacht worden.

Professor Dr. Hau, dies war der geheimnisvolle Scheckeinlöser in Wien, war direkt nach Baden-Baden gereist. Dort weilte in der Villa ihrer Mutter Frau Dr. Hau mit ihrem kleinen Töchterchen. Professor Dr. Hau fuhr sogleich mit Frau, Kind und seiner Schwägerin Olga nach Paris und nahm dort im Hotel Regina Wohnung. Bald darauf erhielt die alte Medizinalrätin aus Paris ein Telegramm folgenden Inhalts: „Komme mit nächstem Zuge Paris, Olga sehr krank, Lina.“ Frau Molitor reiste sofort ab. Als sie in der französischen Hauptstadt anlangte, war niemand zu ihrem Empfange auf dem Bahnhof. In großer Angst fuhr sie nach dem Hotel Regina. Zu ihrer großen Freude war Olga Molitor vollständig gesund. Die Kinder wunderten sich aber über das plötzliche Erscheinen der Mutter, denn sie hatten kein Telegramm gesandt, letzteres war gefälscht. Die alte Geheimrätin befürchtete: das Telegramm sei von jemandem gesandt worden, der die Absicht habe, in ihrer Villa in Baden-Baden einen Einbruchsdiebstahl zu begehen. Sie kehrte deshalb sehr bald mit ihrer Tochter Olga nach Baden-Baden zurück und erstattete dort wegen des gefälschten Telegramms Anzeige. Professor Dr. Hau fuhr mit Frau und Kind nach London. Er wollte nach kurzem Aufenthalt in der Hauptstadt Großbritanniens nach Washington reisen. Da erhielt er plötzlich von dem Direktor der Standard Oil Compagnie ein Telegramm folgenden Inhalts: „Kommen Sie sofort nach Berlin. Strengste Verschwiegenheit. Eile dringend notwendig.“ Hau reiste sogleich ab, Frau und Kind in London zurücklassend. Er fuhr aber nicht nach Berlin, sondern nach Frankfurt am Main. Dort weilte er mehrere Tage, fragte den Hotelportier, wo es schöne Weiber gebe und bestellte sich bei einem Friseur einen falschen Bart und eine Perücke. Inzwischen besuchte er in Gesellschaft von Halbweltdamen Theater, Konzerte und Zirkus und lebte in Saus und Braus. Nach Fertigstellung des Bartes und der Perücke reiste er nach Baden-Baden. Am Spätnachmittag des 6. November 1906 klingelte es in der Villa Molitor am Telephon. Ein Dienstmädchen fragte, wer da sei. „Hier Postvorsteher Graf" war die Antwort. „Ich lasse die Frau Medizinalrätin bitten, sofort nach dem Postamt zu kommen, das Aufgabeformular der gefälschten Depesche hat sich gefunden." Die alte Medizinalrätin ließ dem Postvorsteher sagen: sie werde am Vormittag des folgenden Tages zur Post kommen, sie sei erkältet und wolle deshalb bei dem unwirschen Wetter in so später Abendstunde nicht noch einmal ausgehen. „Es ist aber dringend notwendig, daß die Frau Medizinalrätin noch heute und zwar möglichst sofort kommt," wurde zur Antwort gegeben. Darauf kleidete sich die Medizinalrätin an. Ihre Tochter Olga war bei einer benachbarten Familie zum Tee. Um nicht allein über die dunkle Promenade zu gehen, holte die alte Dame ihre Tochter ab. Als beide Damen die Lindenstaffel passierten, krachte plötzlich ein Schuß. Er traf die alte Medizinalrätin in den Rücken und durchbohrte ihr das Herz. Die alte Dame fiel lautlos zur Erde, sie war sofort tot. Eine Anzahl Leute hatten Professor Dr. Hau an diesem Tage mit falschem Bart und Perücke in Baden-Baden gesehen. Dieser Mann war nach der Ermordung der Medizinalrätin spurlos verschwunden. Es wurde sofort festgestellt, daß weder das Aufgabeformular der gefälschten Depesche gefunden worden sei, noch daß Postvorsteher Graf die Medizinalrätin nach dem Postamt bestellt hatte. Das Mädchen, das am Telephon gesprochen, behauptete mit vollster Bestimmtheit: Sie habe am Telephon genau die Stimme des Professors Dr. Hau erkannt. Da man wußte, daß Frau Hau mit ihrem Kinde in London weilte, wurde sofort an die Londoner Polizei depeschiert und um Festnahme des Hau gebeten. Diese erfolgte sogleich. Hau wurde sehr bald ausgeliefert und in das Untersuchungsgefängnis nach Karlsruhe gebracht. Er bestritt mit vollster Entschiedenheit, den Mord begangen zu haben. Anfang Juni 1907 hatte Frau Hau mit ihrem Gatten eine längere Unterredung im Untersuchungsgefängnis. Die unglückliche Frau sagte dem Hau: Sie könne es nicht überleben, daß in öffentlicher Gerichtssitzung ihre Familienverhältnisse vor aller Welt erörtert werden, auch sei sie der Meinung, daß Hau ihre Mutter erschossen habe. Sie wolle sich deshalb das Leben nehmen. Zwei Tage darauf ertränkte sich Frau Hau im Pfäffikoner See bei Zürich. Am 17. Juli 1907 begann die öffentliche Verhandlung wider Professor Dr. Hau vor dem Großherzoglichen Schwurgericht zu Karlsruhe. Die Anklage war wegen Mordes, auf Grund des § 211 des Straf-Gesetzbuches, erhoben. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Dr. Eller. Die Anklage vertrat Staatsanwalt Dr. Bleicher. Die Verteidigung führte und zwar als Wahlverteidiger, Rechtsanwalt Dr. Dietz-Karlsruhe. Die Verhandlung, die fünf volle Tage dauerte, wurde in der ganzen Kulturwelt mit größter Spannung verfolgt. Der Angeklagte war ein großer, schlanker, bartloser junger Mann von 26 Jahren. Sein dunkles Haupthaar war bereits etwas gelichtet. Man sah es ihm an, daß er sehr ausschweifend gelebt hatte. Er machte den Eindruck eines jungen Theologen; man konnte ihn auch für einen Schauspieler halten. Er stand zumeist mit gekreuzten Armen auf der Anklagebank und trug eine geradezu erstaunliche Ruhe zur Schau. Er war am 3. Februar 1881 als Sohn des Direktors der Vorschußbank zu Berncastel geboren und katholischer Konfession. Er wurde von vier Gendarmen auf die Anklagebank geführt. Hau unterhielt sich zunächst lächelnd mit seinem Verteidiger. Alsdann setzte er sich ein goldenes Pincenez auf und betrachtete sich mit auffallender Seelenruhe das im Gerichtssaale herrschende Getriebe. Auf dem Zeugentisch stand in einem mit Spiritus gefüllten Glasbehälter das Herz der ermordeten Medizinalrätin. Es war genau zu sehen, daß die Kugel mitten durch das Herz gegangen war. Die Vernehmung des Angeklagten gestaltete sich folgendermaßen:

Vors.: Angeklagter, bekennen Sie sich schuldig, Ihre Schwiegermutter erschossen zu haben? – Angeklagter: Nein. – Vors.: Sie geben aber zu, am Tage des Mordes, den 6. November 1906, in Baden-Baden gewesen zu sein. – Angekl: Jawohl. – Vors.: Zu welchem Zwecke sind Sie nach Baden-Baden gekommen? – Angekl.: Darüber verweigere ich die Aussage. – Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden bemerkte der Angeklagte: Seine Mutter sei gestorben, als er 3 Jahre alt war. Sein Vater habe zum zweitenmale geheiratet. Er habe das Gymnasium in Köln bis zur Obertertia, alsdann das Gymnasium zu Trier besucht und dort mit der Note „gut“ das Abiturientenexamen gemacht. Alsdann habe er vier Semester in Freiburg und ein Semester in Berlin studiert. – Vors.: Sie sollen schon als Gymnasiast in Köln viel mit Frauenzimmern verkehrt und üble Folgen davongetragen haben? – Angekl. (nach einigem Zögern): Darüber verweigere ich die Antwort. – Vors.: Sie sollen auch in Trier und auch als Student sehr opulent gelebt und ganz besonders viel mit Frauenzimmern verkehrt haben? – Angekl. (nach einigem Zögern): Ich will das nicht bestreiten. – Vors.: Augenscheinlich infolge Ihres ausschweifenden Lebenswandels haben Sie, als Sie in Berlin studierten, einen heftigen Blutsturz bekommen? – Angekl.: Jawohl. – Vors.: Die Ärzte hielten den Blutsturz für so bedenklich, daß sie Sie nach Ajaccio auf der Insel Korsika schickten? – Angekl.: Jawohl. – Vors.: Wie alt waren Sie damals? – Angekl: 19 Jahre. – Vors.: Wie hoch war Ihr Monatswechsel? – Angekl.: Das ist mir nicht mehr genau in Erinnerung. – Vors.: So ungefähr? – Angekl.: Etwa 150 bis 200 M. – Vors.: Sie waren auch in Monaco und haben dort gespielt? – Angekl: Jawohl. – Vors.: Haben Sie gewonnen oder verloren? – Angekl.: Gewonnen. – Vors.: In Ajaccio haben Sie die Familie Molitor kennen gelernt? – Angekl.: Jawohl. – Vors.: Sie haben, trotz Ihrer Jugend, sofort um die Hand Ihrer späteren Frau, des Fräuleins Lina Molitor, angehalten, aber abschlägigen Bescheid erhalten? – Angekl.: Jawohl. – Vors.: Da Sie aber trotzdem von Fräulein Lina Molitor nicht abließen, verlobte Frau Medizinalrätin Molitor ihre Tochter Lina mit einem Offizier. Sie wußten jedoch die junge Dame schließlich zu bewegen, 2000 M. auf ein Sparkassenbuch abzuheben und alsdann mit ihr zu flüchten? – Angekl.: Jawohl. – Der Angeklagte erklärte alsdann auf Befragen des Vorsitzenden, daß er über seine Beziehungen zu seiner späteren Frau die Aussage verweigere. – Vors.: Sie sind selbst Rechtsanwalt, vielleicht werden Sie einsehen, daß es nicht in Ihrem Interesse liegt, auf alle Fragen die Antwort zu verweigern. – Der Angeklagte schwieg und gab im weiteren Verlauf zu, daß er und seine spätere Frau in Realp beschlossen hatten, sich zu erschießen, da sie einsahen, daß ihrer Verheiratung unüberwindbare Hindernisse entgegenstehen. Seine Frau hatte sich in die Seite geschossen. Er habe infolgedessen an Frau Molitor und an seinen Vater telegraphiert. Frau Medizinalrätin Molitor sei sehr bald in Realp erschienen und habe schließlich in die Heirat gewilligt. Er sei alsdann mit seiner Frau nach Washington gegangen, um dort seine Studien zu vollenden. Er habe in der Hauptsache internationales Recht studiert. Er sei nach Washington gegangen, weil dies der Sitz des Präsidenten und der meisten Regierungsbehörden sei. Nachdem er seine Examina bestanden, sei er zunächst Sekretär des ottomanischen Generalkonsuls in Washington, Dr. Schönfeld, geworden. In dessen Begleitung sei er im Jahre 1903 nach Konstantinopel gegangen, um die türkische Regierung und die dortigen Industriellen für die Weltausstellung in St. Louis zu interessieren. Er habe aber keinen Erfolg gehabt. Nachdem er nach Washington zurückgekommen war, sei er, obwohl er noch nicht amerikanischer Bürger war, beim höchsten Washingtoner Gerichtshof als Rechtsanwalt zugelassen worden. Er habe sich mit einem amerikanischen Rechtsanwalt, namens Yenahan, assoziiert. Gleichzeitig sei er zum außerordentlichen Professor für römisches Recht der George Washingtoner Universität berufen worden. Diese seine Lehrtätigkeit habe er mit Unterbrechungen drei Jahre lang ausgeübt. Er sei im Auftrage einer amerikanischen Elektrizitäts- und einer amerikanischen Gesellschaft für den Bau von Kriegsschiffen in Konstantinopel gewesen. Er habe in Konstantinopel keine Erfolge gehabt. Die Geschäfte wären gute gewesen, es habe aber damals eine Spannung zwischen Washington und Konstantinopel geherrscht. Die amerikanische Regierung hatte ihren Gesandten in Konstantinopel zum Botschafter ernannt, ohne sich mit der türkischen Regierung vorher in Verbindung zu setzen. – Der Angeklagte gab im weiteren zu, daß er in Konstantinopel überaus luxuriös gelebt habe. – Vors.: Ein Milliardär kann ja vielleicht so üppig leben, aber ein studierter Mann, der aus ganz kleinlichen Verhältnissen hervorgegangen ist, hätte sich doch ein wenig mehr nach seinen Vermögensverhältnissen richten müssen. – Angekl.: Das lag an den amerikanischen Verhältnissen. – Vors.: Sie sind doch aber kein Amerikaner! – Angekl.: Die vier Jahre, die ich in Amerika lebte, sind auf meine Lebensweise nicht ohne Einfluß gewesen. – Vors.: Sie haben aber die Amerikaner weit übertroffen. Ein vernünftiger Amerikaner in Ihren Verhältnissen hätte zweifellos etwas eingeschränkter gelebt. Sie sollen in Berlin und auch in Wien und Budapest vielfach mit Weibern verkehrt haben. Sie haben selbst zugegeben, in Wien mit der Otero und anderen Frauen verkehrt zu haben. – Der Angeklagte schwieg.

Im weiteren Verlauf der Vernehmung gab er zu, daß, als er aus Konstantinopel abreiste, er all sein Geld ausgegeben hatte; er besaß nur noch einen Scheck von 8000 M. Diesen habe er in Wien eingelöst. Er gebe zu, von Frankfurt a. M. an die Wiener Bank telegraphiert zu haben, der Scheck sei ihm gestohlen worden. Es war selbstverständlich ausgeschlossen, daß er das Geld noch einmal ausgezahlt erhalten hätte, er bezweckte aber, einen neuen Scheckbrief zu erhalten. – Vors.: Jedenfalls war dies Verhalten ein unlauteres. – Der Angeklagte schwieg.

Der Angeklagte erzählte ferner auf Befragen des Vorsitzenden: Im Sommer 1906 sei er eine Zeitlang mit Frau, Kind und einem Kindermädchen in der Schweiz gewesen; er gebe zu, auch dort mit seiner Familie sehr luxuriös gelebt zu haben. – Vors.: Das Geld, das Sie auf den Scheck in Wien ausgezahlt erhalten hatten, es waren etwas über 8000 M., war damals Ihr einziges Geld? – Angekl.: Jawohl. – Vors.: Sie haben damals eine Zeitlang mit Frau und Kind bei Ihrer Schwiegermutter in Baden-Baden gewohnt? – Angekl.: Jawohl. – Vors.: Ende Oktober 1906 sind Sie mit Ihrer Frau, Kind und Ihrer Schwägerin, dem Fräulein Olga Molitor, nach Paris gereist? – Angekl.: Jawohl. – Vors.: Hatten Sie Beziehungen zu Fräulein Olga? – Angekl.: Darüber verweigere ich die Auskunft. – Vors.: War Ihre Frau eifersüchtig auf Ihre Schwägerin? – Angekl.: Das weiß ich nicht. – Vors.: Wenige Tage nachdem Sie in Paris waren, kam an Ihre Schwiegermutter aus Paris nach Baden-Baden ein Telegramm folgenden Inhalts: „Komme sofort nach Paris, Olga sehr krank; reise mit nächstem Zuge. Lina.“ Frau Molitor reiste sofort nach Paris und erfuhr hier, daß Olga nicht krank und das Telegramm gefälscht war. Haben Sie das Telegramm geschrieben? – Angekl.: Darüber verweigere ich die Antwort. (Große Bewegung im Zuhörerraum.) – Vors.: Ich brauche wohl kaum darauf aufmerksam machen, daß es ein wesentlicher Unterschied ist, ob man etwas in Abrede stellt oder die Antwort verweigert. Sie haben bisher bestritten, das Telegramm geschrieben zu haben. – Angekl.: Ich habe immer erklärt, bezüglich des Telegramms die Antwort zu verweigern. – Vors.: Es ist jedenfalls sehr verdächtig, daß Sie bezüglich dieses für das vorliegende Verbrechen so überaus wichtigen Telegramms weder die Verfasserschaft bestreiten, noch zugeben, sondern die Antwort verweigern. Der Angeklagte schwieg. – Vors.: Ist es nicht in Paris zwischen Ihnen und Ihrer Frau, Ihrer Schwägerin Olga wegen zu einer heftigen Eifersuchtsszene gekommen? – Angekl.: Darüber verweigere ich die Auskunft. – Vors.: Daß Ihre Frau die Schreiberin des Telegramms war, ist doch wohl ausgeschlossen? – Angekl.: Darüber verweigere ich auch die Auskunft. – Vors.: Ihre Schwiegermutter ist nun, ärgerlich, daß sie durch eine gefälschte Depesche nach Paris gelockt worden sei, sehr bald mit ihrer Tochter Olga nach Baden-Baden wieder zurückgereist und hat dort auf dem Postamt nach dem Aufgeber der gefälschten Depesche Nachforschungen angestellt. Sie sind mit Frau und Kind nach London gefahren und haben dort im Cecil-Hotel Wohnung genommen. Dort haben Sie eine Depesche unterschrieben „Thies“ erhalten. Die Depesche lautete: „Kommen Sie unverzüglich nach Berlin. Diskretion notwendig. Eile geboten.“ Sie haben zugegeben, diese Depesche an sich gesandt zu haben, um Grund zu haben, noch einmal nach dem Kontinent zu reisen. – Angekl.: Jawohl. – Vors.: Weshalb ließen Sie sich in London einen falschen Bart machen, fuhren aber nicht nach Berlin, sondern nach Frankfurt? – Angekl.: Ich hatte in Frankfurt geschäftliche Beziehungen. – Vors.: Mit wem standen Sie in Frankfurt in geschäftlichen Beziehungen? – Angekl.: Darüber verweigere ich auch die Auskunft. – Vors.: Es läge doch aber in Ihrem dringenden Interesse, hierüber Auskunft zu geben. – Angekl.: schwieg. – Vors.: Im Hotel „Englischer Hof“ in Frankfurt haben Sie den Portier gefragt, ob er Ihnen einige fesche Weiber besorgen könne. Am folgenden Tage haben Sie sich von einem Frankfurter Friseur einen falschen Bart und eine Perücke machen lassen. Nachdem Sie sich Bart und Perücke hatten anstecken lassen, sind Sie am 6. November nach Baden-Baden gefahren. Sie sind nachmittags in Baden-Baden angekommen und haben dort Ihr Gepäck auf dem Bahnhof aufgegeben. Sie sind nicht in ein Hotel gegangen, sondern haben an der Gepäckexpedition gesagt: Sie wollen abends weiterreisen. Bart und Perücke waren offenbar nicht gut gemacht, denn Sie sind mehrfach durch Ihren falschen Bart und Perücke in Baden-Baden beobachtet worden. Einem Schutzmann sind Sie derartig aufgefallen, daß er Ihre Persönlichkeit feststellen wollte. Sie haben auch zugegeben, Ihre Schwiegermutter am Spätnachmittag des 6. November 1906 ans Telephon gerufen zu haben. Sie haben sich als Postvorsteher Graf ausgegeben und Ihre Schwiegermutter aufgefordert, sofort nach dem Postamt zu kommen, das Aufgabeformular des gefälschten Pariser Telegramms habe sich gefunden. Ihre Schwiegermutter ist der Aufforderung nach anfänglicher Weigerung nachgekommen. Sie kam mit ihrer Tochter Olga nach dem Postamt. Als die Damen in der Nähe der Lindenstaffel waren, krachte ein Schuß. Er traf Frau Molitor in den Rücken. Die alte Dame fiel lautlos zur Erde, sie war sofort tot. In demselben Augenblick sah man einen großen, schlanken Mann eiligst nach dem Bahnhof laufen. – Angekl.: Ich verweigere über die gesamten Vorgänge in Baden-Baden en bloc die Aussage. (Große Bewegung im Zuhörerraum.) – Vors.: Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß, nachdem Sie das meiste zugegeben haben, Ihre heutige Erklärung auf Richter, die an direkte Beweise nicht gebunden sind, einen schlechten Eindruck machen muß. Sie reisten nun, nachdem Ihre Schwiegermutter ermordet war, mit dem nächsten Zuge nach Frankfurt. Von dort telegraphierten Sie an Ihre Frau nach London: „War nicht in Berlin, habe Geschäfte in Frankfurt abgemacht, komme sofort zurück." Während Sie in Frankfurt waren und sich wahrscheinlich auf die Ermordung Ihrer Schwiegermutter vorbereiteten, schrieb Ihre Frau an ihre Mutter einen herzlichen Brief, in dem sie ihr Bedauern aussprach, daß Sie sich den Strapazen einer so weiten Reise unterziehen mußten. Ich frage Sie nun, was hat Sie veranlaßt, nach Frankfurt zu reisen, sich dort einen falschen Bart und eine Perücke machen zu lassen und vermummt, d. h. mit falschem Bart und Perücke angetan nach Baden-Baden zu reisen? – Angekl.: Ich verweigere darüber die Antwort. – Vors. (mit erhobener Stimme): Wenn Sie sich unschuldig fühlen, können Sie uns alsdann sagen, wer Ihre Schwiegermutter erschossen hat? – Angekl.: Das weiß ich nicht. – Vors.: Was hat Sie veranlaßt, Ihre Schwiegermutter unter falscher Angabe ans Telephon zu rufen und nach geschehener Tat fluchtartig Baden-Baden zu verlassen? – Angekl.: Ich habe Baden-Baden nicht fluchtartig verlassen. – Vors.: Das wird von einer Reihe von Zeugen bekundet werden. Was hat Sie außerdem veranlaßt, nach geschehener Tat Bart und Perücke von sich zu werfen. – Angekl.: Darüber verweigere ich die Antwort. – Vors.: Wollen Sie etwa behaupten, Sie wären wegen Ihrer Beziehungen zu Ihrer Schwägerin Olga oder anderer in der vermummten Form nach Baden-Baden gekommen? – Angekl.: Ich verweigere auf alle diese Fragen die Antwort. – Vors.: Sind Sie denn immer im Besitz Ihrer geistigen Kräfte gewesen? – Angekl.: Jawohl, vollständig. – Vors.: Ihr Verteidiger hat das bezweifelt. – Angekl.: Mein Herr Verteidiger hat überhaupt ein anderes Verteidigungssystem beobachtet als ich. – Vors.: Ihr Verteidigungssystem beschränkt sich darauf, auf die wichtigsten Fragen die Antwort zu verweigern. Man kann ein solches Verteidigungssystem unklug, vielleicht aber auch als raffiniert bezeichnen. Sie werden jedenfalls zugeben, daß Ihr ganzes Vorgehen, die gefälschten Depeschen, Ihre Wiederabreise nach dem Kontinent, Ihre Vermummung, Ihre Reise nach Frankfurt a. M., nach Baden-Baden, Ihre fluchtartige Abreise von Baden-Baden, der Umstand, daß Sie nur noch wenig Geld hatten und alle Ihre Geschäfte nicht zustande gekommen waren, doch ungemein verdächtig ist. – Angekl.: Ich hatte noch viel Geld zu erwarten. – Vors.: Klammern Sie sich nicht an Nebensächlichkeiten. Ihre Frau hat im übrigen einen Brief hinterlassen, in dem sie der Vermutung Ausdruck gibt, daß Sie zeitweise geistesgestört seien. Aus dem von Ihrer Frau entworfenen Testament, in dem sie u. a. bestimmte, daß ihr Kind einen anderen Namen annehmen solle, gibt sie ziemlich unverhohlen der Überzeugung Ausdruck, daß sie Sie für den Mörder ihrer Mutter gehalten hat. – Angekl.: Wenn ich Gelegenheit gehabt hätte, während meiner Untersuchungshaft mit meiner Frau eingehend zu sprechen, dann hätte ich ihr den unwiderleglichen Beweis geliefert, daß ich nicht der Mörder bin. – Vors.: Wollen Sie uns das nicht sagen, Sie haben auf niemanden Rücksicht zu nehmen. Es läge in Ihrem dringenden Interesse, das was Sie Ihrer Frau sagen wollten, jetzt hier anzugeben. – Angekl.: Was ich meiner Frau sagen wollte, kann ich niemand anderem mitteilen. – Vert.: Ich ersuche, den Angeklagten zu fragen, ob er am 6. November einen Revolver bei sich gehabt hat? – Angekl. Darüber verweigere ich die Antwort. (Große Bewegung im Zuhörerraum.) – Ein Beisitzer: Es ist aber in einem Ihrer Koffer ein Revolver gefunden worden? – Angekl.: Das ist richtig; mit diesem Revolver ist in Belgrad ein Attentat verübt worden; ich habe ihn in der Türkei geschenkt erhalten. – Vors.: Haben Sie den Schuß gehört, der Ihre Schwiegermutter tot zu Boden gestreckt hat? – Angekl.: Ich verweigere auch hierüber die Antwort. – Vors.: Nun Angeklagter, ich frage Sie noch einmal, bekennen Sie sich schuldig, Sie müssen doch selbst aus reinen Menschlichkeitsgründen sich sagen, daß Ihr Verteidigungssystem Sie stark verdächtig macht. – Angekl.: Ich habe nichts weiter hinzuzufügen.

Unter allgemeiner Spannung wurde Fräulein Olga Molitor, eine große, schlanke, hübsche, rötlich blonde Dame, als Zeugin in den Saal gerufen. Sie würdigte den Angeklagten keines Blickes. Der Angeklagte schlug die Augen nieder. Fräulein Molitor bekundete: Am 6. November 1906, nachmittags gegen 6 Uhr, klingelte es am Telephon. Das Mädchen fragte, wer da sei. Es wurde gesagt: Postinspektor Graf, er möchte Frau Medizinalrätin sprechen. Mama trat ans Telephon, da wurde ihr gesagt, sie solle sofort aufs Postamt kommen, das Aufgabeformular der gefälschten Depesche sei aus Paris gekommen. Mama sagte, sie werde am folgenden Tage kommen, da sie sehr erkältet sei. Es wurde ihr aber erwidert, die Sache sei so dringend, daß sie sofort selbst zum Postamt kommen müsse. Mama zog sich infolgedessen sofort an, sie wollte zunächst allein zum Postamt gehen; ich erbot mich jedoch sogleich, sie zu begleiten. Als wir aus der Bismarckstraße kamen, sah ich eine Männergestalt, die uns auf Schritt und Tritt nachkam. Dies kam mir unheimlich vor. Plötzlich in der Nähe der Lindenstaffel krachte ein Schuß. Mama war getroffen, sie fiel sofort lautlos tot zu Boden. (Die Zeugin schluchzte bei diesen Worten heftig.) Nach dem Schuß sah ich einen Mann mit langem Mantel nach dem Bahnhof zu laufen. – Vors.: Haben Sie den Mann genau gesehen? – Zeugin: Nein. – Vors.: Ich bin genötigt, Ihnen die Frage vorzulegen, hatten Sie irgendwelche nähere Beziehungen zu dem Angeklagten? – Zeugin: Niemals. – Vors.: Hat der Angeklagte Ihnen einmal die Kur gemacht? – Zeugin: Nein. – Vors.: Ist Ihnen bekannt, daß der Angeklagte bezüglich Ihrer Person einmal irgendwelche Absichten hatte? – Zeugin: Ich habe niemals derartiges wahrgenommen. – Vors.: Halten Sie es für möglich, daß der Schuß aus irgendeiner Ursache Ihnen gegolten hat, und daß irrtümlicherweise Ihre Frau Mutter getroffen wurde? – Zeugin: Das halte ich für ausgeschlossen. – Vors.: Es soll einmal zwischen Ihrer verstorbenen Schwester Lina und dem Angeklagten zu einer heftigen Eifersuchtsszene gekommen sein? – Zeugin: Das ist möglich; meine verstorbene Schwester war sehr eifersüchtig. – Vors.: Die Eifersuchtsszene soll Ihretwegen entstanden sein? – Zeugin: Das ist möglich, ich hatte aber niemals das Gefühl, daß der Angeklagte sich mir auch nur nähern wollte. – Vors.: Dann erübrigt sich wohl auch die Frage, ob Sie dem Angeklagten ein Telegramm nach Dover gesandt haben? – Zeugin: Ich habe dem Angeklagten niemals ein Telegramm gesandt. – Auf weiteres Befragen bemerkte die Zeugin: Sie könne sich nicht enträtseln, wer das Telegramm in Paris an ihre Mutter aufgegeben habe. Daß ihre Schwester Lina das Telegramm aufgegeben, halte sie für ausgeschlossen. Wenn ihre Mutter mit dem nächsten Zuge nach Paris gekommen wäre, wie es in der Depesche verlangt wurde, dann hätte sie gegen 10 Uhr abends auf dem Ostbahnhof in Paris eintreffen müssen. Nach dem Tode der Mama habe sie mit der Schwester natürlicherweise über den Fall gesprochen. Die Schwester habe oftmals gesagt: Ihre Lage sei geradezu entsetzlich. Es sei ihr (Zeugin) in der letzten Zeit einmal vorgekommen, als sei ihre Schwester eifersüchtig auf sie. Dies sei selbstverständlich ohne jeden Grund gewesen. Eine Eifersuchtsszene zwischen den Eheleuten habe sie niemals wahrgenommen. Auf weiteres Befragen bekundete die Zeugin: Sie seien sieben Geschwister gewesen, ihre Mutter hatte ein großes Vermögen. Die Mutter sei seinerzeit auf ärztliches Anraten nach Ajaccio gegangen. Es sei richtig, daß ihre Schwester mit dem Angeklagten geflohen sei. Ihre Schwester Luise habe erzählt, der Angeklagte habe in Realp auf ihre Schwester geschossen. Ihre Mutter habe auf dringendes Bitten ihrer Schwester eine sehr große Summe Geldes gegeben. Sie habe ihrer Schwester den Tod ihrer Mutter mit den Worten telegraphisch angezeigt: „Mama dann und dann beerdigt.“ Daraufhin habe sie ein gänzlich verstümmeltes Telegramm aus London erhalten. Ihre Schwester habe ihr erzählt: Die ersten Worte ihres Mannes nach dem Tode ihrer Mutter waren: „Denke dir, es wird behauptet, ich habe deine Mutter ermordet.“ Sie erinnere sich, daß, als sie bei der Villa Engelhorn vorüberkamen, die Uhr 5 Minuten über 6 zeigte; sie habe aber gehört, daß diese Uhr sehr vorgegangen sei. Unterwegs seien sie zwei elegant gekleideten Herren, einem älteren und einem jüngeren, ferner der Frau von Reitzenstein und einem Automobil begegnet. Ob sie einen Mann von der Größe des Hau gesehen habe, könne sie nicht mit Bestimmtheit behaupten. – Vors.: Sie haben nicht die Beobachtung gemacht, daß ein Mann von der Statur des Hau sich in der Nähe Ihrer Villa umhergetrieben hat?

– Zeugin: Nein. – Vert.: Sie haben früher gesagt, Sie hatten das Empfinden, daß der Mann, der Ihnen nachgekommen war, geschossen habe? – Zeugin: Dieser Überzeugung bin ich noch heute. – Vert.: Sie haben ferner sogleich nach dem Morde gesagt: es müsse ein Racheakt sein. – Zeugin: Ich war der Ansicht, daß das Pariser Telegramm ein Racheakt war. Als nun Mama erschossen war, sagte ich: nun hat der Rächer seine Rache vollendet. – Vors.: Haben Sie eine bestimmte Person im Verdacht, die den Racheakt ausgeführt haben könnte? – Zeugin: Nein. – Auf weiteres Befragen bemerkte die Zeugin: Sie halte es für ausgeschlossen, daß vom Dienstpersonal ein Racheakt ausgeübt worden sei. Sie hatten einen Diener, Namens Wieland, dieser war aber sehr klein. Sie könne bestimmt versichern, daß nur ein Schuß gefallen sei. – Vors.: Angeklagter, was haben Sie auf die Aussage des Frl. Molitor zu sagen? – Angekl.: Nichts. – Vors.: Sie haben nichts auf die Aussage zu bemerken? – Angekl.: Nein. – Vors.: Angeklagter, Sie haben heute vormittag Andeutungen gemacht, als ob zwischen Ihnen und der Zeugin nähere Beziehungen bestanden haben. Geben Sie jetzt zu, daß die Aussagen des Frl. Molitor wahr sind? – Angekl.: Ich habe nichts dagegen einzuwenden. – Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden bemerkte die Zeugin: Sie habe den Hau für einen abnorm klugen, geistig sehr hoch stehenden Mann gehalten. – Auf Befragen des Geh. Hofrats Professor Dr. Hoche bemerkte die Zeugin: Der Angeklagte sei ihr wohl oftmals etwas komisch vorgekommen, sie habe aber keinerlei Wahrnehmungen gemacht, die auf Geistesgestörtheit des Angeklagten hätten schließen lassen. In den ersten Jahren der Verheiratung ihrer Schwester mit dem Angeklagten habe eine gewisse Spannung bestanden. Sie habe lediglich ihrer Schwester geschrieben, den Mann aber niemals grüßen lassen. Man hatte ihm nicht verziehen, daß er ihre Schwester verführt hatte. Es sei erst später zu einem Ausgleich gekommen. Der Angeklagte habe sehr große Ausgaben gemacht. Er habe allerdings stets von großartigen Plänen, durch die er Unsummen verdienen werde, gesprochen. – Vors.: Haben Sie ihm das geglaubt? – Zeugin: Jawohl. – Vors.: Wenn Sie gewußt hätten, daß seine Pläne nur Flunkerei seien, würden Sie alsdann sein luxuriöses Leben gebilligt haben? – Zeugin: Dann keineswegs. – Es wurde alsdann der türkische Schifferkat-Orden vorgelegt. Es ist das ein Orden mit vielen Brillanten besetzt. Diesen Orden hatte der Angeklagte seiner Frau mitgebracht. – Vors.: Von wem hatten Sie den Orden? – Angekl.: Er ist für meine Frau verliehen worden. – Vors.: Von wem ist er Ihnen verliehen worden? – Angekl.: Von der Pforte. – Vors.: Wer ist die Pforte? – Angekl.: Das türkische Ministerium des Auswärtigen. – Vors.: Bei uns verleiht Orden der Souverän. Vom deutschen Botschafter in Konstantinopel ist festgestellt worden, daß seit März 1906 ein solcher Orden nicht verliehen worden ist. Haben Sie den Orden vielleicht bei einem Juwelier gekauft? – Angekl.: Nein, ich habe den Orden von einem türkischen Großwürdenträger erhalten. – Vors.: Wer war dieser Großwürdenträger? – Angekl.: Ich lehne es ab, den Namen zu nennen. (Große Heiterkeit im Zuschauerraum.) – Fräulein Olga Molitor bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Der Orden sei ihr sehr komisch vorgekommen. Sie habe gesagt: Das seien gar keine Brillanten, sondern nur Kiesel. – Auf Antrag des Verteidigers wurde ein Brief der verstorbenen Gattin des Angeklagten verlesen. In diesem klagte diese ihrer Mutter ihre Not. Sie müsse sich sogar selbst die Wäsche waschen. Sie sei trotzdem mit ihrem Schicksal ganz zufrieden, es wäre eine Grausamkeit, ihr Familienglück stören zu wollen. Ihr Mann habe trotz seiner Jugend eine hervorragende Stellung bei der Universität erlangt.

Geh. Medizinalrat Dr. Naumann (Baden) bekundete: Er sei viele Jahre Hausarzt bei Molitor gewesen. Die ermordete Frau Molitor habe ihm oftmals gesagt, Sie ahnen nicht, wie viel ich nach Amerika schicken muß, mehr, als meine anderen Kinder wissen dürfen. Der Angeklagte habe in der letzten Zeit oftmals von seinen großen Einnahmen gesprochen und seine Frau mit Geschenken überschüttet. Auf Vorhalt der alten Frau Molitor habe der Angeklagte gesagt: Wir haben schlimme Zeiten durchgemacht, jetzt, da es uns gut geht, muß es mir auch gestattet sein, meine Frau reichlich zu beschenken. Der Angeklagte habe es auch veranlaßt, daß Frl. Olga mit nach Paris gefahren sei. Daß zwischen letzterer und dem Angeklagten nähere Beziehungen bestanden haben, halte er für ausgeschlossen. – Frau Molitor sei eine kerngesunde Frau gewesen, die gut noch 15 bis 20 Jahre leben konnte, zumal in ihrer Familie mehrere Leute sehr alt geworden seien. Der Täter müsse in knieender Stellung geschossen haben, um das Herz zu treffen. Die Kugel sei in den Rücken durch die Rippen mitten durch das Herz gegangen. Der Gerichtshof beschloß, Frln. Olga Molitor zu vereidigen. Letztere bekundete noch auf Befragen: Ihre Schwester Lina habe sich vor einigen Wochen im Pfäffikoner See bei Zürich ertränkt. Ihre Schwester habe ein Testament hinterlassen und sie (Zeugin) in einem längeren Brief gebeten, sich ganz besonders ihres Kindes anzunehmen. Das Kind solle einfach, aber fein erzogen werden. – Auf Befragen des Verteidigers bemerkte die Zeugin: Ihre Schwester Lina habe in Paris zu ihrer Mutter gesagt: „Weißt du, ich kann mir nicht helfen, ich bin auf ,Ogeli‘ eifersüchtig.“ Sie (Zeugin) sei in der Familie „Ogeli" genannt worden.

Es erschien hierauf als Zeuge Redakteur Bratter: Er sei ständiger Korrespondent der „Newyork Sun" in Konstantinopel. Er wohne augenblicklich vorübergehend in Berlin. Er habe den Angeklagten in Konstantinopel kennen gelernt. Der Angeklagte, der sich einfach „Herr Hau“, nicht Doktor nannte, habe in Konstantinopel mit den höchsten türkischen Würdenträgern und Vertretern großer europäischer Zeitungen verkehrt. Er habe angeblich für eine amerikanische Reederei und für eine Gesellschaft Geschäfte zu machen gesucht, die sich mit Schießverbesserungen beschäftige. Er sei in Konstantinopel als „Grand seigneur“ aufgetreten, habe viel Geld verbraucht. Hau habe erzählt: sein Vater sei ein steinreicher Bankier, seine Mutter oder Stiefmutter eine geborene Gräfin. Seine Stiefmutter sei eine bildschöne Frau, in die er sich schon als 14jähriger Knabe verliebt habe. Seine Schwiegermutter sei ebenfalls eine steinreiche Frau von Molitor. Er habe gesagt, er sei Rechtsbeirat der türkischen und chinesischen Botschaft in Washington, konsultativer Rechtsanwalt und Universitätsprofessor in Washington. Sein Gesamteinkommen betrage 250 000 M. jährlich. Er hatte sich in Konstantinopel eine Jacht gepachtet, die ihn jährlich 2000 M. kostete. Er hatte eine so große Vorliebe für Edelsteine, daß er (Z.) zu der Ansicht gekommen sei, Hau sei pathologisch zu beurteilen. Er habe so viel von sexuellen Ausschweifungen erzählt, die er schon als Student getrieben, daß er das für Übertreibung gehalten habe. Auch von sexuellen Ausschweifungen, die er in Konstantinopel getrieben, habe der Angeklagte ungeheuerliche Dinge erzählt. Der Angeklagte habe mit Halbweltdamen geradezu Orgien gefeiert, viele Bälle besucht usw. Einer Sängerin namens Otero hatte er ein Zimmer gemietet, für das er 60 Kronen monatlich zahlte. Er habe einmal den Angeklagten gefragt, was denn seine Frau machen würde, wenn sie von seinem ausschweifenden Leben erfahre; darauf habe er erwidert: Dann würde sie sich sofort scheiden lassen. Hau habe ein anderes Mal erzählt: Sein Vater sei ein angesehener Bankdirektor, Rittergutsbesitzer und Abgeordneter des Deutschen Reichstages. Hau habe so viel erzählt, daß er ihn für pathologisch gehalten habe. Von Hau selbst und anderen sei ihm mitgeteilt worden: Hau werde scharf von Spionen überwacht und den Anarchisten denunziert. Vom Sultan sei Hau nicht empfangen worden. Daß der Sultan Frau Hau empfangen wollte und daß Hau vom deutschen Kaiser empfangen werden sollte, habe er (Zeuge) nicht gehört. Er bezweifle, daß Hau den „Schifferkat-Orden" erhalten habe. – Auf Befragen des Staatsanwalts bemerkte der Zeuge: Er habe gelegentlich bei dem Angeklagten einen Revolver gesehen. In Konstantinopel müsse jeder einen Revolver haben. – Auf Befragen des Verteidigers bemerkte der Zeuge: Der Verkehr, den der Angeklagte mit Vertretern der Presse usw. hatte, habe keinerlei Anstoß erregt, wohl aber sein Verkehr mit dem Kammerdiener eines Botschafters. Mit diesem durfte ein Mann von der sozialen Stellung des Angeklagten nicht verkehren. Es sei richtig, daß es längere Zeit dauere, ehe man imstande sei, in Konstantinopel ein Geschäft zu machen. – Hierauf wurde der gerichtliche Schreibsachverständige Langenbruch-Berlin als Sachverständiger vereidigt. Als Langenbruch seinen Vortrag beginnen wollte, bemerkte der Verteidiger R.-A. Dr. Dietz: Der Angeklagte gibt die Erklärung ab, daß er das Pariser Telegramm geschrieben habe. (Große, anhaltende, allgemeine Bewegung.) – Vors.: Angeklagter, wollen Sie diese Erklärung selbst abgeben? – Angekl.: Ich gebe zu, das Pariser Telegramm geschrieben zu haben. (Erneute allgemeine Bewegung.) – Vors.: Hat Ihre Frau davon Kenntnis gehabt? – Angekl.: Darüber gebe ich keine Erklärung ab. – Vors.: Sie geben aber zu, das Pariser Telegramm an Ihre Schwiegermutter geschrieben und es auf dem Telegraphenamt in Paris aufgegeben zu haben? – Angekl.: Ich habe nur erklärt, daß ich das Telegramm geschrieben habe. – Vors.: Und wer hat es aufs Telegraphenamt befördert? – Angekl.: Darüber will ich keine Erklärung abgeben.

Frau Dr. Müller (Linz), die Tante des Angeklagten, bekundete: Ich fragte einmal Frau Hau: ist es wahr, daß Ihre Schwester Olga in Ihren Mann verliebt ist? Frau Hau antwortete: Jawohl, das ist leider wahr. Haben Sie das nicht Ihrer Mutter erzählt und Ihre Schwester zur Rede gestellt, fragte ich. Frau Hau versetzte: Ich habe es meiner Mutter erzählt und auch meine Schwester mit den Worten zur Rede gestellt: ,Was hast du mit meinem Mann für ein „Techtel Mechtel?“ Auf Befragen eines Geschworenen bemerkte die Zeugin: Sie wäre in der Lage und auch bereit gewesen, dem Angeklagten 10 000 M., ihre Kinder bis zu 50 000 M. zu leihen.

Der Angeklagte sei, so lange er bei ihr in Pension war, sehr religiös gewesen. Sie habe erfahren, daß der Angeklagte in Untersuchungshaft den Geistlichen empfangen, gebeichtet und Absolution erhalten habe. – Ein Geschworener: Der Angeklagte hat heute vormittag zugegeben, die Pariser Depesche geschrieben zu haben, weiß Frl. Olga Molitor vielleicht, weshalb der Angeklagte auf alle weiteren diesbezüglichen Fragen die Antwort verweigert hat? – Frl. Olga Molitor: Davon ist mir nichts bekannt. – Pfarrkurat Link (Karlsruhe) bezeichnete es als falsch, daß er dem Angeklagten Absolution erteilt habe.

Oberleutnant Molitor vom 145. Infanterie-Regiment in Metz: Er sei der Sohn der Ermordeten. Als er die Nachricht von dem Tode seiner Mutter erhielt, glaubte er zunächst, seine Mutter sei einem Schlaganfall erlegen. Erst als er in Baden-Baden in die Villa seiner Mutter eingetreten war, habe er erfahren, daß die Mutter erschossen worden sei. Der Verdacht der Täterschaft fiel sofort auf Hau. Nur seine Schwester Lina hielt die Täterschaft ihres Mannes für unmöglich. Sie sagte: Ihr Mann habe so viel Feinde, daß die Tat jemand begangen haben könne, um den Verdacht auf ihren Mann zu lenken. Schließlich habe sie aber nicht mehr an die Schuldlosigkeit ihres Mannes geglaubt. – Vors.: Es ist Ihnen bekannt, daß Ihre verstorbene Frau Mutter ein Telegramm aus Paris erhalten hat, in dem sie aufgefordert wurde, mit dem nächsten Zuge nach Paris zu kommen. Hätte Ihre Frau Mutter den nächsten Zug benützt, dann wäre sie abends nach 10 Uhr auf dem Ostbahnhof in Paris angekommen. Der Angeklagte hat gestern zugegeben, das Telegramm geschrieben zu haben und zwar, um die Entfernung Ihrer Schwester Olga zu bewirken. Haben Sie irgend etwas wahrgenommen, was auf nähere Beziehungen zwischen Ihrer Schwester Olga und dem Angeklagten schließen ließe? – Zeuge: Nein. – Der Zeuge gab alsdann näheren Aufschluß über den Leichenbefund seiner Schwester Lina, Gattin des Angeklagten, die sich bekanntlich am 7. Juni 1907 im Pfäffikoner See in der Schweiz ertränkt hat.

Der Vorsitzende verlas einen bei der Frau Lina Hau gefundenen Brief, in dem sie die Schweizer Polizei ersuchte, sie am Fundort ohne Geistlichen beerdigen zu lassen. „Mein Testament befindet sich in einer Schublade in der Villa Molitor zu Baden-Baden. Der Grund meines Selbstmordes ist leicht zu erraten. Mein Mann, den ich über alles liebte, wird der Ermordung meiner Mutter beschuldigt. Ich kann diesen Zustand nicht länger ertragen.“ – Der Zeuge Oberleutnant Molitor bemerkte im weiteren auf Befragen des Staatsanwalts: Nachdem er seiner Schwester Lina die Sachlage klar gemacht hatte, begann sie zu weinen. Sehr bald darauf sagte sie: Sie habe sich nunmehr von der Schuld ihres Mannes überzeugt, sie habe dies auch dem Verteidiger ihres Mannes in London mitgeteilt. (Der Angeklagte wurde bekanntlich in London verhaftet und erst nach diplomatischen Unterhandlungen ausgeliefert.) Oberleutnant Molitor bekundete ferner: Seine Schwester sei nachher noch mehrfach schwankend gewesen. Sie sagte einmal: „So lange noch ein Atom vorhanden ist, das gegen die Schuld meines Mannes spricht, werde ich meinen Mann verteidigen. Wenn ich mich aber von der Schuld meines Mannes überzeugen sollte, dann ist es mit meinem Leben zu Ende.“ – Vors.: Nun, Angeklagter, was haben Sie hierzu zu sagen? – Hau: Auf die ganze Aussage? Nichts. – Der Gerichtshof beschloß, den Zeugen zu vereidigen. – Der Vorsitzende verlas noch einen von Lina Hau an den Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Dietz, gerichteten Brief, der etwa folgendermaßen lautete: „Geehrter Herr Doktor! Der Besuch bei Hau im Gefängnis war vollständig unbefriedigt. Wir waren beide nahe an hysterischen Anfällen. Ich kann nicht mehr weiter leben. Ich kann die Verhandlung nicht überleben. Ich habe meinem Manne Vorstellungen gemacht, aber dabei die Menschlichkeit nicht außer acht gelassen. Ich will hoffen, daß dieser Brief keine üble Nachfolge haben wird. Dringen Sie in ihn.“ – Der Angeklagte bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Seine Frau habe ihm in Gegenwart des Gefängnisinspektors gesagt: Sie könne unmöglich die Verhandlung überleben, da, wie doch der Staatsanwalt angedeutet habe, Dinge vorkommen werden, die für die Familie sehr unangenehm sein dürften. Seine Frau habe ihn aufgefordert, einen Selbstmord zu begehen, um die Verhandlung unmöglich zu machen. Er habe erwidert: er könne diesen Rat nicht befolgen, da dies ein Schuldbekenntnis wäre. – Vors.: Weshalb haben Sie nicht wenigstens den Versuch gemacht, Ihre Frau von dem Selbstmord abzuhalten? – Angekl.: Ich habe das sofort getan; ich habe sogleich gebeten, den Verteidiger telephonisch zu mir zu rufen. Herr Rechtsanwalt Dr. Dietz versprach mir auch auf mein Bitten, sofort alles zu tun, um meine Frau von dem Selbstmord zurückzuhalten. – Verteidiger Rechtsanwalt Dietz: Ich kann dies bestätigen; ich habe auch sofort das Erforderliche getan, Frau Hau war aber bereits abgereist, ihr Aufenthalt konnte nicht ermittelt werden. – Vors.: Jedenfalls scheint Ihre Frau von Ihrer Schuld überzeugt gewesen zu sein. – Angekl.: Keineswegs, sie sagte nur, sie könne die Verhandlung nicht überleben, in der Dinge vorkommen dürften, die für die Familie unangenehm sein werden. – Staatsanwalt: Ich habe Frau Hau seit November 1906 nicht mehr gesprochen. Ich habe mir eines Tages den Angeklagten vorführen lassen, ihm das gesamte Beweismaterial vorgehalten und ihn gefragt, ob er wirklich die gesamten Verhältnisse der Familie Molitor vor aller Welt verhandeln lassen wolle. Ich wollte den Angeklagten dadurch zu einem Geständnis bewegen, zumal er bereits zugestanden hatte, das Telegramm nach London an sich selbst geschickt zu haben.

Frau Stahl (Frankfurt a. M.): Sie sei die Schwester der Stiefmutter des Angeklagten. Der Angeklagte habe ihr einmal erzählt: Er habe in Konstantinopel ein Souper gegeben, das 1600 Franken gekostet habe, allerdings sei das nicht oftmals vorgekommen. Er sei in Konstantinopel einmal von einem maskierten Räuber in seinem Hotelzimmer überfallen worden. Er habe den Räuber mit einem geladenen Revolver so lange in Schach gehalten, bis auf sein Hilfegeschrei das Hotelpersonal herbeigeeilt sei und den Räuber festgenommen habe. Er habe ihr ferner erzählt: Der Sultan habe den Wunsch geäußert, seine Frau zu empfangen. Da diese aber nicht kam, habe der Sultan einen Vertreter nach Baden-Baden gesandt, um seine Frau zu bitten, nach Konstantinopel zu kommen. Der deutsche Kaiser habe ihn empfangen wollen, damit er dem Monarchen Vortrag über amerikanische Verhältnisse halte. Auf dem Wege von Konstantinopel nach Wien habe sich ihm mit aller Gewalt eine Dame aufgedrängt. Diese mußte er mit vielem Gelde unterstützen, obwohl er deren Anerbietungen abgelehnt hatte. Er trug 5000 Franken bei sich. Auf ihre (der Zeugin) Frage, weshalb er so viel Geld bei sich trage, sagte er: Jawohl, das muß ich tun. Wenn ich Brillanten sehe, die mein Gefallen erregen, dann kaufe ich sie meiner Frau, wenn sie auch mehrere tausend Mark kosten. – Dienstmädchen Marie Bechle: Sie habe sofort, als sie ans Telephon trat, mit voller Bestimmtheit die Stimme des Dr. Hau erkannt und habe dies auch sogleich der Medizinalrätin mitgeteilt. – Auf nochmaligen Vorhalt des Vorsitzenden bemerkte der Angeklagte: Ich habe bezüglich meines Aufenthalts in Baden-Baden vieles zugegeben, um nicht nach Baden-Baden transportiert zu werden. Ich kann aber nicht zugeben, daß ich am 6. November 1906 meine Schwiegermutter mittelst Fernsprecher nach dem Postamt bestellt habe. Ich verweigere im übrigen bezüglich meines am 6. November in Baden-Baden geschehenen Aufenthalts jede Erklärung. – Untersuchungsrichter Amtsrichter Dr. Ritter bekundete als Zeuge: Der Angeklagte habe zunächst alles bestritten, schließlich aber gesagt: er wolle Tatsachen, die durch Zeugen bewiesen werden können, nicht bestreiten, nur über Motive lehne er jede Erklärung ab. Er gab schließlich auf Vorhalt zu, in Frankfurt gewesen zu sein, sich dort einen falschen Bart und Perücke haben anfertigen lassen, am 6. November 1906 in Baden-Baden gewesen zu sein, dort auf einer Bank in der Kaiser Wilhelm-Straße gesessen und an diesem Tage einen falschen Bart getragen zu haben. Ich sagte: Geben Sie auch zu, am Abend des 6. November in Baden-Baden an Ihre Schwiegermutter, die Frau Medizinalrätin Molitor telephoniert und sie nach dem Postamt bestellt zu haben? Nach einigem Zögern versetzte er: „Das gebe ich zu.“ Geben Sie auch zu, Ihre Schwiegermutter erschossen zu haben? fragte ich. Nach einigem Zögern sagte der Angeklagte: Das kann mir der Herr Untersuchungsrichter nicht beweisen.

Im weiteren Verlauf wurde Referendar und Maler Lenk als Zeuge vernommen: Er sei wegen Verdachts eines Sittlichkeitsvergehens verhaftet gewesen. Er hatte die Vermutung, daß er verhaftet, zum mindesten, daß seine Haft in die Länge gezogen worden sei, damit er in dem Prozeß Hau als Zeuge auftreten könne. Er sei so wenig belastet gewesen, daß er vom Schöffengericht ohne weiteres freigesprochen worden sei, das Gericht habe aber selbst eine hohe Kaution abgelehnt. Er habe deshalb von vornherein den Entschluß gefaßt, wenn er als Zeuge geladen werden sollte, sein Zeugnis zu verweigern. Durch die Verhandlung, die er in den Zeitungsberichten verfolgt habe, sei er jedoch in seinem Entschluß schwankend geworden. Er erkläre, wenn er von der Schuld des Angeklagten überzeugt wäre, würde er Zeugnis ablegen. Da das aber nicht der Fall sei, so verweigere er über die von ihm im Untersuchungsgefängnis gemachten Wahrnehmungen die Aussage. Ich habe gestern nacht, so etwa fuhr der Zeuge fort, an Fräulein Olga Molitor geschrieben und sie um eine Unterredung ersucht. Fräulein Olga Molitor und ihr Bruder haben aber die Unterredung abgelehnt. Als ich Oberleutnant Molitor sagte: es handle sich um sehr wichtige Dinge und zwar sowohl im Interesse der Familie Molitor, als auch des Angeklagten, sagte Oberleutnant Molitor: Das Interesse des Angeklagten ist mir vollständig gleichgültig. – Vors.: Wenn Fräul. Olga Molitor Ihnen die Unterredung gewährt hätte, dann würde sie doch zur Kenntnis des Gerichts gekommen sein? – Zeuge: Das mag sein, jedenfalls lehne ich es ab, über das, was mir der Angeklagte gesagt hat, Zeugnis abzulegen, selbst auf die Gefahr hin, daß das Zwangsverfahren gegen mich angewendet werden sollte. (Große Bewegung im Zuhörerraum.) – Vert.: Ich beantrage, gegen den Zeugen das Zwangsverfahren anzuwenden. Die Sache ist doch zu wichtig, als daß ich auf das Zeugnis des Herrn Lenk verzichten könnte. – Vors.: Vielleicht teilt der Angeklagte mit, was er dem Zeugen mitgeteilt hat, wir kämen dadurch über das sehr mißliebige Zwangsverfahren hinweg. Zunächst ersuche ich Sie, Herr Verteidiger, anzugeben, welche Fragen ich dem Zeugen vorlegen soll. – Vert.: Ich beantrage, den Zeugen zu fragen, 1. ob der Angeklagte ihm Mitteilungen gemacht hat, 2. in welcher Stimmung sich der Angeklagte befunden hat, 3. im Falle der Bejahung der Frage zu 1: was ihm der Angeklagte mitgeteilt hat. – Zeuge: Ich erkläre, daß mir der Angeklagte Mitteilungen gemacht hat. – Vors.: In welcher Stimmung befand sich der Angeklagte? – Zeuge: Diese Frage kann ich nicht ohne weiteres beantworten. – Vors.: Weshalb nicht? – Zeuge: Ich war 14 Tage mit dem Angeklagten zusammen im Gefängnis. Wenn ich die Frage ohne weiteres beantworte, dann könnte das zu falschen Schlüssen führen. (Lautes Bravo im Zuhörerraum.) – Vors. (mit erhobener Stimme): Das Publikum hat sich jeder Beifalls- und Mißfallsbezeugung zu enthalten. Sollte sich ein solcher Vorgang wiederholen, dann werde ich den Zuhörerraum unverzüglich räumen lassen. (Zum Zeugen gewendet): Wollen Sie also die zweite Frage beantworten? – Zeuge: Im allgemeinen kann ich nur sagen, der Angeklagte war außergewöhnlich aufgeregt. – Vors.: Und was hat Ihnen der Angeklagte mitgeteilt? – Zeuge: Darüber verweigere ich die Aussage. Wir haben uns gegenseitig das Wort gegeben, über unsere Unterhaltung gegen niemanden etwas verlauten zu lassen, ich fühle mich verpflichtet, dies mein Wort zu halten. – Vors.: Hatte auch der Angeklagte die Vermutung, daß Sie zu ihm gesetzt worden seien, um ihn auszuhorchen?

– Zeuge: Wir waren beide von vornherein dieser Überzeugung. – Vors.: Wollen Sie sagen, ob und wie sich der Angeklagte über die ihm vom Staatsanwalt gemachte Mitteilung betreffs des Selbstmordes seiner Frau geäußert hat? – Zeuge: Jawohl, der Angeklagte sagte: Der Staatsanwalt hat mit dem Selbstmord meiner Frau in einer Weise operiert, die ich nur als im höchsten Grade unmoralisch bezeichnen kann. – Vert.: Und was haben Sie weiter mit dem Angeklagten gesprochen? – Zeuge: Wir haben uns viel über Religion, Politik und andere wissenschaftliche Fragen unterhalten. – Vert.: Das interessiert uns nicht. Wollen Sie nicht sagen, was der Angeklagte Ihnen für Mitteilungen gemacht hat? – Zeuge: Nein. – Staatsanwalt: Sie sind gestern abend im Hotel „Erbprinz“ mit der Familie Hau zusammen gewesen? – Zeuge: Ich war gestern abend mit Herrn Rechtsanwalt Vögele im Hotel „Erbprinz“. Mit der Familie Hau war ich nicht zusammen. Ich hörte erst später, daß einige Tische vor uns die Familie Müller gesessen hat. – Rechtsanwalt Vögele bestätigte das und bemerkte: Er habe dem Angeklagten gesagt: er könne das Zwangsverfahren nur dann umgehen, wenn ihm der Angeklagte erlaubt, die Mitteilung preiszugeben. – Vors.: Angeklagter, wollen Sie den Zeugen von seinem Versprechen, nicht auszusagen, entbinden? – Angekl.: Nein. (Große Bewegung im Zuhörerraum.) – Vert.: Dann beantrage ich, das Zwangsverfahren gegen den Zeugen in Anwendung zu bringen. – Vors.: Herr Zeuge, ich frage Sie, ob Sie bei Ihrer Zeugnisverweigerung beharren? – Zeuge: Ich muß erklären, daß ich mich dem Angeklagten gegenüber verpflichtet fühle, mein Zeugnis zu verweigern. – Vors.: Sie haben bereits gesagt, daß der Angeklagte über die Tat selbst sich nicht geäußert hat. – Zeuge: Jawohl. – Vors.: Sie haben alsdann gesagt, Sie haben den Angeklagten gefragt, was ihn veranlaßt habe, noch einmal nach dem Kontinent zu kommen. Auf die Frage, was Hau darauf geantwortet hat, haben Sie die Aussage verweigert. – Zeuge: Jawohl, ich verweigere sie jetzt noch, sowie überhaupt über alle weiteren Mitteilungen, die mir Hau gemacht hat. – Vors.: Nach den gesetzlichen Bestimmungen wird das Gericht, wenn Sie bei Ihrer Weigerung beharren sollten, nicht umhin können, das Zwangsverfahren gegen Sie anzuwenden. – Staatsanwalt Dr. Bleicher: Der Herr Zeuge hat sich wichtig gemacht und sich selbst als Zeuge angeboten, er ist daher auch verpflichtet, Zeugnis abzulegen. Da der Zeuge sich weigert, so beantrage ich zunächst den § 69 Abs. 1, eventuell auch den Abs. 2 gegen ihn in Anwendung zu bringen. – Vert.: Es ist falsch, daß Herr Referendar Lenk sich selbst als Zeuge angeboten hat. Er hat lediglich mit seinem Verteidiger, Herrn Rechtsanwalt Vögele Rücksprache genommen. Herr Rechtsanwalt Vögele hat, angesichts des schweren Falles, sich verpflichtet gefühlt, dies dem Gerichtshof mitzuteilen. Da der Herr Zeuge sich weigert, Zeugnis abzulegen, so beantrage ich, da es sich um das Leben des Angeklagten handelt, den § 69 Abs. 1 und eventuell auch den § 69 Abs. 2 in aller Schärfe gegen ihn in Anwendung zu bringen. – Der Gerichtshof trat schließlich in Beratung. Der Vorsitzende verkündete alsdann: Der Gerichtshof hat beschlossen, den Zeugen Kunstmaler Lenk, weil er ohne gesetzlichen Grund sein Zeugnis verweigert, auf Grund des § 69 Abs. 1 der Strafprozeßordnung zu einer Geldstrafe von 50 M., für die im Nichtbeitreibungsfalle 3 Tage Haft zu substituieren seien, zu verurteilen; von einer Zwangshaft auf Grund des § 69, Abs. 2 der Strafprozeßordnung hat der Gerichtshof vorläufig Abstand genommen. – Vert.: Dann bleibt eine äußerst wichtige Sache in diesem Prozeß unaufgeklärt. – Vors.: Der Gerichtshof hat doch den Zeugen zu einer Strafe verurteilt. – Vert.: Es hätte doch auf alle Fälle durch Anwendung der Zwangshaft der Versuch unternommen werden müssen, den Eigensinn des Zeugen zu brechen, damit er seine Wissenschaft über einen sehr wichtigen Punkt kundgibt. – Vors.: Es entsteht doch die Frage, ob, wenn der Zeuge in Haft genommen worden wäre, er aussagen würde. – Vert.: Der Versuch hätte unternommen werden müssen, jedenfalls bleibt die Tatsache bestehen, daß in Karlsruhe ein Mann, ein Kunstmaler und Referendar, umherläuft, der sich weigert, in einem Prozeß, in dem es sich um Leben und Tod handelt, in einer hochwichtigen Sache eine Aussage zu machen. – Referendar Lenk: Ich muß dem Herrn Verteidiger bemerken, daß ich nicht aus Eigensinn mein Zeugnis verweigere, ich muß daher diesen Vorwurf zurückweisen. Ich bemerke aber außerdem, daß mich auch die Zwangshaft nicht veranlassen würde, von meinem Entschluß abzugehen. – Vors.: Der Gerichtshof hat bei der Beschlußfassung erwogen, daß es in Händen des Angeklagten liegt, den Zeugen zum Sprechen zu bringen; jedenfalls ist der Beschluß gefaßt, und vorläufig ist daran nichts mehr zu ändern.

Nunmehr erhob sich der Angeklagte und bemerkte unter größter allgemeiner Spannung: Ich will nicht, daß der Herr Zeuge meinetwegen bestraft wird, ich will deshalb eine Erklärung abgeben: Ich bin nach dem Kontinent und nach Baden-Baden gereist, um meine Schwägerin Olga noch einmal zu sehen und zu sprechen, ehe ich nach Amerika zurückgehe. Die Eifersuchtsszenen in Paris sind Gegenstand der Erörterung gewesen. Meine Schwägerin Olga hat davon nicht die mindeste Schuld, leider kann ich nicht dasselbe von mir sagen. – Vors.: Das ist ganz eigentümlich. Weshalb sind Sie alsdann zunächst nach Frankfurt gefahren und haben sich dort einen falschen Bart und Perücke bestellt, um sich zu vermummen? – Angekl.: Ich wollte nicht erkannt werden. – Vors.: Sie sind aber auch nach Baden-Baden vermummt gefahren? – Angekl.: Ich habe schon gesagt, ich wollte nicht erkannt werden. – Vors.: Wollten Sie in der vermummten Weise Ihrer Schwägerin Olga entgegentreten? – Angekl. schwieg. – Vors.: Wollten Sie Ihre Schwägerin nur sehen oder auch sprechen? – Angekl.: Auch sprechen. – Vors.: Dann lag doch die Gefahr vor, daß Ihre Schwägerin sich vor Ihnen gefürchtet hätte? – Angekl.: Ich hätte zu rechter Zeit den Bart abgenommen. – Vors.: Deshalb sandten Sie eine Depesche an sich nach London? – Angekl.: Jawohl, ich konnte doch meiner Frau nicht sagen, daß ich nach dem Kontinent bzw. nach Baden-Baden reisen wolle, um noch einmal mit meiner Schwägerin Olga zu sprechen. – Vors.: Was wollten Sie denn mit Ihrer Schwägerin Olga sprechen? – Angekl.: Ich empfand das dringende Bedürfnis, noch einmal meine Schwägerin Olga zu sehen, und mich mit ihr auseinanderzusetzen, um in der Lage zu sein, wieder mit meiner Frau in Frieden zu leben. – Vors.: Dann sind Sie also der Mann gewesen, den Frau v. Reitzenstein beobachtet hat? – Angekl.: Das ist möglich. – Vors.: Auf welche Weise wollten Sie sich Ihrer Schwägerin Olga nähern? – Angekl.: Ich glaubte, ich werde Gelegenheit haben, meine Schwägerin allein sprechen zu können. – Vors.: Haben Sie sich deshalb in der Nähe der Villa Molitor auf die Bank gesetzt? – Angekl.: Jawohl. – Vors.: Sie haben alsdann wohl Ihre Schwiegermutter deshalb auf die Post bestellt, weil Sie der Ansicht waren, Sie hätten infolgedessen Gelegenheit, mit Olga zu sprechen? – Angekl.: Jawohl. – Vors.: Sie geben also zu, Ihre Schwiegermutter unter dem Vorgeben, der Postinspektor Graf zu sein, auf das Postamt bestellt zu haben? – Angekl: Jawohl. – Vors.: Dann können Sie uns auch vielleicht sagen, wer den Schuß abgegeben hat? – Angekl.: Das weiß ich nicht, ich habe nicht schießen hören. – Vors.: Haben Sie nicht geschossen? – Angekl.: Keineswegs. – Vors.: Haben Sie vielleicht die Absicht gehabt, Ihre Schwiegermutter zu erschießen? – Angekl.: Keineswegs. – Vors.: Haben Sie, um schneller in den Besitz der Erbschaft zu kommen, auf Ihre Schwiegermutter geschossen? – Angekl.: Keineswegs. – Vors.: Weshalb sind Sie aber, wenn Ihr Gewissen rein war, mit so großer Eile am selben Abend nach London zurückgereist? – Angekl.: Ich wurde doch allgemein beobachtet, ich sah also ein, daß meine Bemühungen, meine Schwägerin zu sprechen, nutzlos waren. – Vors.: Weshalb haben Sie sich denn nicht früher erklärt, Ihre Untersuchungshaft wäre doch wesentlich abgekürzt worden?

– Angekl.: Ich wollte nicht, daß meine Frau erfährt, daß ich meiner Schwägerin wegen nach Baden-Baden gefahren war. – Vors.: Wenn Sie gesprochen hätten, dann hätten Sie zum mindesten den Selbstmord Ihrer Frau verhindert. – Angekl.: Wenn ich alles so ruhig überlegt hätte wie heute, dann würde ich es getan haben. – Vors.: Als Ihre Frau Sie zum letzten Male im Gefängnis besuchte, dann muß sie aus Ihren Erzählungen offenbar die Überzeugung gewonnen haben, daß sie der Mörder ihrer Mutter seien. Sie hat Ihnen ja auch direkt gesagt, Sie könne das nicht überleben. Weshalb machten Sie nicht wenigstens den Versuch, Ihre Frau von dem Selbstmord zurückzuhalten? – Angekl.: Ich habe ja schon gesagt, daß ich alles aufgeboten habe, um meine Frau vom Selbstmord zurückzuhalten. Meine Frau hat mich im übrigen nicht für den Mörder ihrer Mutter gehalten; sie sagte: Sie könne es nicht überleben, daß unsere gesamten Familienverhältnisse vor aller Öffentlichkeit in der Hauptverhandlung breitgetreten werden. – Vors.: Wie stimmt aber Ihre Handlungsweise zu der Erhebung des Schecks in Wien? – Angekl.: Ich habe bereits gesagt, daß ich den Scheckbetrag in einem Zustande der Bewußtlosigkeit erhoben habe. – Vors.: Aus welchem Grunde sandten Sie das Telegramm aus Paris an Ihre Schwiegermutter? – Angekl.: Ich wollte, daß Olga mit meiner Schwiegermutter so schnell als möglich zurückkehrt, weil durch deren Anwesenheit unser ehelicher Friede gestört war. – Vors.: Dann hätte es doch näher gelegen, an Ihre Schwiegermutter zu telegraphieren: „Laß Olga sofort nach Baden-Baden kommen.“ – Angekl.: Man handelt nicht immer mit ruhiger Überlegung. – Vors.: Weshalb haben Sie hinter dem Rücken Ihrer Frau ihre Mitgift im Betrage von 65 000 M. mit nach Konstantinopel genommen? – Angekl.: Weil ich das Geld zu Spekulationszwecken verwenden wollte, das sollte meine Frau nicht wissen. – Vors.: Wenn Sie nicht den Mut fanden, sich Ihrer Frau mündlich zu offenbaren, dann hätten Sie es doch schriftlich tun können. Sie hätten alsdann jedenfalls den Selbstmord Ihrer Frau verhindert? – Angekl.: Ich befürchtete, ein solcher Brief, der doch erst durch mehrere Hände gehen muß, würde nicht befördert werden. – Vors.: Diese Befürchtung war vollständig grundlos. Es ist auch kaum glaubhaft, daß dieser Umstand Sie von einem solchen Schreiben abgehalten hat. Sie sind von allen Seiten als ein intelligenter, geistbegabter Mensch geschildert worden, Sie sind Universitätsprofessor gewesen und sind Rechtsanwalt, wenn man dies alles erwägt, Angeklagter, so erscheint Ihre ganze Handlungsweise schwer erklärlich. – Angekl. schwieg. – Staatsanwalt: Weshalb haben Sie nicht an Ihre Schwägerin eine Karte geschrieben, in der Sie sie um eine Unterredung ersuchten? Das wäre doch bedeutend besser gewesen, als Ihre Schwiegermutter fälschlich nach dem Postamt zu bestellen? – Angekl.: Ich befand mich in geistig anormalem Zustande. – Vert.: Es ist hervorgehoben worden, daß zwischen meinem und dem Verteidigungssystem des Angeklagten ein Unterschied besteht. Ich bemerke, daß ich nur nach meinen Informationen handeln konnte. Nachdem ich die Verteidigung übernommen hatte, sagte ich zum Angeklagten: Ich kann nicht wissen, ob Sie der Täter sind, das müssen Sie aber wissen. Sie sind Jurist und Rechtsanwalt, Sie werden mithin wissen, was Sie mir für Informationen zu geben haben. Der Angeklagte versetzte: Halten Sie mich meinetwegen für den Täter, ich gebe keine weitere Erklärung. – Alsdann erbat sich Referendar Lenk das Wort. – Vors.: Wollen Sie jetzt Zeugnis ablegen? – Zeuge: Teilweise. – Vors.: Was wollen Sie sagen? – Zeuge: Ich will sagen, daß Hau sich allerdings in einer hochgradigen seelischen Depression befunden hat. Im übrigen stimmen seine heutigen Angaben nicht mit denen, die er mir gemacht hat. Der Angeklagte hat mir Mitteilung gemacht, die einen Schluß auf die Tat zulassen; im übrigen verweigere ich die Aussage. – Es wurde alsdann nochmals Fräulein Olga Molitor hervorgerufen. – Vors.: Sie haben gehört, Fräulein Molitor, was der Angeklagte gesagt hat, was sagen Sie dazu? – Zeugin: Ich hatte bisher keine Ahnung von alledem. – Vors.: Halten Sie es für möglich, daß der Angeklagte von London nach Baden-Baden gekommen ist, lediglich um noch einmal Sie zu sehen und zu sprechen? – Zeugin: Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. – Vors.: Hätten Sie denn den Angeklagten, wenn er sich Ihnen mit einem falschen Bart genähert hätte, erkannt? – Zeugin: Es ist möglich. – Vors.: Wenn der Angeklagte sich Ihnen offenbart hätte, was würden Sie dazu gesagt haben? – Zeugin: Ich hätte ihm gesagt, er solle zu seiner Frau zurückgehen. – Staatsanwalt und Verteidiger erklärten hierauf, auf jede weitere Zeugenvernehmung zu verzichten. – Geh. Hofrat Prof. Dr. Hoche-Freiburg: Der Angeklagte war ein frühreifer Jüngling, der sehr verschlossen war. Er habe, als er fast noch im Knabenalter war, ein sehr ausschweifendes Leben geführt und sich dadurch eine böse Krankheit zugezogen. Er habe später an Kopfschmerz und Schlaflosigkeit gelitten. Andererseits habe er ein ausgezeichnetes Gedächtnis. In der Verhandlung habe er eine staunenswerte Ruhe und Schlagfertigkeit an den Tag gelegt. Dem Angeklagten wäre es vermöge seiner großen Intelligenz und Energie ein leichtes gewesen, etwa vorhandene geistige Abnormitäten zu überwinden. Er könne sein Gutachten dahin zusammenfassen: Der Angeklagte habe sich am 6. November 1906 nicht in einem Zustande der Bewußtlosigkeit oder Geistesstörung befunden, wodurch seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war. – Prof. Dr. Aschaffenburg-Köln: Der Angeklagte habe ihm erklärt, er habe die Tat nicht begangen, es sei ihm nicht einmal bekannt gewesen, daß seine Schwiegermutter tot sei. Er habe kein pathologisches Moment an dem Angeklagten wahrgenommen, dagegen sei der Angeklagte ein durch und durch psychopathischer Mensch. Er komme ebenfalls zu dem Schluß: Der Angeklagte habe sich am 6. November 1906 nicht in einem Zustande der Bewußtlosigkeit oder Geistesstörung befunden, die seine freie Willensbestimmung ausschloß.

Unter allgemeiner Spannung wurde der Diener Paul Wieland als Zeuge in den Saal gerufen. Er war ein schlanker, großer junger Mann von 21 Jahren; er machte einen sehr harmlosen und vertrauenswürdigen Eindruck. – Der Verteidiger protestierte gegen die Vorvereidigung des Zeugen. Wenn der Angeklagte auch sagt: er sei der Meinung, daß Wieland als Täter nicht in Betracht komme, so sei doch ein leiser Verdacht der Täterschaft nicht ausgeschlossen. – Staatsanwalt: Es ist bisher auch nicht der geringste Schimmer eines Verdachts der Täterschaft gegen den Zeugen zutage getreten, es liegt mithin keinerlei Grund zur Aussetzung der Vereidigung vor. – Angekl.: Ich habe gegen die Vereidigung des Zeugen nichts einzuwenden. – Der Gerichtshof beschloß, die Vereidigung auszusetzen. – Der Zeuge erklärte alsdann auf Befragen des Vorsitzenden: Er sei in der Frankfurter Dienerschule ausgebildet worden. Am 20. Oktober 1906 sei er bei Frau Molitor in Stellung getreten. Es könne sein, daß er sich etwas ungeschickt angestellt habe, es sei seine erste Stellung gewesen. Frau Molitor sei deshalb oftmals erzürnt gegen ihn gewesen. Er habe sich aus diesem Anlaß mit Frau Molitor überworfen. Am Sonntag vor dem Morde habe er um Urlaub gebeten unter dem Vorgeben, in die Kirche gehen zu wollen. Er sei aber anstatt dessen zu dem Stellenvermittler Langguth gegangen und habe diesen gebeten, ihm eine andere Stellung zu verschaffen. Er habe zu Langguth gesagt: Der Frau Molitor könne man nichts recht machen. „Sie sei verrückt“, habe er nicht gesagt. Er habe allerdings gesagt: Frau Molitor nehme ihre Diener stets aus der Frankfurter Dienerschule, von anderer Seite erhalte sie überhaupt keine Diener. – Vors.: Waren Sie mit dem Essen zufrieden? – Zeuge: Mit dem Essen war ich sehr zufrieden. – Der Zeuge bekundete im weiteren auf Befragen: Am 6. November 1906, nachmittags gegen halb 6 Uhr, hatte er verschiedene Gepäckstücke nach dem Bahnhof zu tragen. Alsdann habe er verschiedene Einkäufe besorgt. Kurz nach 6 Uhr habe er in der Nähe der Lindenstaffel eine Anzahl Leute stehen sehen. Diener Frank, der ihm begegnete, sagte ihm auf seine Frage: was da los sei: Es sei soeben eine alte Dame aus der Villa Molitor erschossen worden. Um nun schneller an die Mordstätte zu kommen, habe er einen Staketenzaun überstiegen und sich dadurch seine Hosen zerrissen. Er habe sich sehr bald von der Mordstätte entfernt und sei in die Villa gegangen, weil er sich wegen seiner zerrissenen Hosen geschämt habe. – Vors.: Welche Kündigungsfrist war ausgemacht? – Zeuge: Gar keine. – Vors.: Wann gingen Sie ab? – Zeuge: Einige Wochen nach dem Morde, als der Haushalt der Familie Molitor aufgelöst wurde. – Vors.: Haben Sie noch einen Anspruch an die Familie Molitor? – Zeuge: Nein, ich bekam meinen Lohn bis 1. Januar 1907 ausgezahlt und noch 10 M. Weihnachtsgeschenk. – Vors.: Wie verhielt sich der Angeklagte Ihnen gegenüber? – Zeuge: Sehr reserviert. – Vors.: Wissen Sie irgend etwas über den Mord oder den Täter zu sagen? – Zeuge: Nein, es wurde einmal gesagt: „Der Diener sei verhaftet“. Als ich mich aber den Leuten vorstellte, schämten sie sich und liefen davon. (Heiterkeit im Zuhörerraum.) – Vors.: Hatten Sie irgendeinen Haß gegen Frau Molitor? – Zeuge: In keiner Weise. Frau Molitor war ja bisweilen etwas heftig, aber wieder sehr gut. – Vors.: Wie kam es, daß Ihre Vorladung zu dieser Verhandlung als unbestellbar zurückkam? – Zeuge: Ich habe in Potsdam meine genaue Adresse angegeben. Als ich gestern in den Zeitungsberichten las, daß mein Aufenthalt nicht zu ermitteln sei, habe ich meinen Dienstherrn - ich befinde mich auf dem Rittergut Warenbeck bei Kiel in Stellung - gebeten, dem Herrn Staatsanwalt meinen Aufenthalt telegraphisch anzuzeigen. Der Gerichtshof beschloß, den Zeugen zu vereiden. – Freifrau v. Reitzenstein bekundete als Zeugin: Am 6. November 1906 sei sie gegen 5 Uhr 50 Min. nachmittags von ihrer Villa zur Villa Nagel gegangen, um einen Brief in den Briefkasten zu werfen. Als sie auf dem Rückwege fast bis zu ihrer Villa gelangt war, sei sie Frau Molitor mit ihrer Tochter Olga begegnet. Hinter den Damen ging in einiger Entfernung ein Mann mit graumeliertem Vollbart. Der Mann war mittelgroß, nicht so groß wie der Angeklagte. – Auf Befragen des Staatsanwalts bemerkte die Zeugin: Sie wisse nicht, ob der Mann in die Kronprinzenstraße eingebogen oder nach der Lindenstaffel gegangen sei. – Vors.: Kam Ihnen der Mann verdächtig vor? – Zeugin: Nein. – Vors.: Ging der Mann derartig hinter den Damen, daß man auf die Vermutung kommen konnte, er verfolge die Damen? – Zeugin: Nein. – Der Vorsitzende hielt der Zeugin vor, daß sie beim Untersuchungsrichter gesagt habe: es war ein großer Mann. – Zeugin: Ich möchte lieber sagen: es war ein mittelgroßer Mann. Als sie zum Briefkasten ging, sei sie einem großen Mann mit schwarzem Spitzbart in der Kaiser-Wilhelm-Straße in der Nähe der Villa Nagel begegnet. Es war ein Mann von der Größe des Angeklagten. Der Mann, der hinter den Damen Molitor herging, war kleiner als der Angeklagte und hatte einen graumelierten Vollbart. – Der Angeklagte gab zu, der große Mann mit dem schwarzen Spitzbart gewesen zu sein, dem die Zeugin begegnet sei. – Frau Terci: Sie sei kurz vor 6 Uhr abends in der Kaiser-Wilhelm-Straße in der Nähe der Villa Nagel einem großen Mann mit schwarzem Spitzbart begegnet. Der Freifrau von Reitzenstein sei sie nicht begegnet, sie habe sie wenigstens nicht gesehen. – Freifrau v. Reitzenstein bemerkte, sie habe Frau Terci gesehen.

Es gelangten hierauf mehrere Briefe der Frau Hau an den Angeklagten zur Verlesung. In einem Briefe schreibt Frau Hau aus Baden-Baden an ihren in Berncastl weilenden Mann: Olga habe ein Bändchen Gedichte geschrieben, sie könne aber nur schwer einen Verleger dafür finden. – Es sollte im weiteren ein Brief verlesen werden, gegen dessen Vorlesung der Angeklagte protestiert, da er reine Familienangelegenheit enthalte. – Vert.: Ich muß auf Vorlesung des Briefes bestehen; der Angeklagte behauptet: er sei wegen eines Rendezvous mit seiner Schwägerin Olga von London nach dem Kontinent zurückgereist, da muß er sich schon gefallen lassen, daß Briefe, die Familienangelegenheiten enthalten, verlesen werden. In einem der Briefe, die Frau Hau an ihren Mann geschrieben hat, heißt es: „Seitdem Olga Gedichte gemacht hat und keinen Verleger finden kann, stirbt sie an Größenwahn“. – Als weitere derartige Briefe verlesen werden sollten, bemerkte der Angeklagte halblaut zu seinem Verteidiger: Lassen Sie das doch, Herr Doktor, es hat doch keinen Zweck. – R.-A. Dietz: Ob es Zweck hat, überlassen Sie meiner Beurteilung. – In einem ferneren Brief von Frau Hau an ihren Mann teilte die Schreiberin eine Rede mit, die ihr Olga gehalten hat. Olga habe ihr Belehrung erteilt, wie sie ihren Mann behandeln solle. „Du behandelst Deinen Mann ganz falsch. Du mußt Deinen Mann eifersüchtig machen und ihm den Glauben beibringen, daß er sich nicht totsicher auf Deine eheliche Treue verlassen kann, dann wirst Du ihn fester an Dich ketten.“ Frau Hau antwortete in humoristischer Weise und bemerkte: Nach meiner Rückkehr wollen wir so verfahren. In einem ferneren Briefe schrieb Frau Hau an ihren Gatten: Olga ist ein netter, kleiner Käfer, sie ist sehr hübsch und kann sehr interessant sein. – Hierauf wurde das Testament der Frau Hau verlesen. In diesem heißt es: Ich wünsche auf die einfachste, billigste Weise ohne Pfarrer und ohne Blumen in unauffälliger Weise beerdigt zu werden. Ich kann die Schmach, die über unsere Familie gebracht worden ist, nicht überleben, ich muß in den Tod gehen. Ich hinterlasse 10 000 M., außerdem Juwelen, die in der Oldenburger Landesbank in einer verschlossenen Kassette sich befinden. Ich habe ferner ein Siebentel Anteil der Villa in Baden. Meine einzige Erbin ist mein Kind. Wenn mein Mann in Not sein sollte, so soll ihn sein Kind unterstützen. Sollte mein Mann alt und erwerbsunfähig sein, so soll ihm mein Kind eine Rente von 600 M. jährlich aussetzen, vorausgesetzt, daß sie sich in günstiger Vermögenslage befindet. Wenn mein Kind unverheiratet bleibt, so sollen ihr Vermögen meine Geschwister erben. Das beste wäre, das Kind käme in Pension zu meinem Schwager Bachelin. Mein Mann kann nicht Erbe meines Kindes sein, sie kann ihm aber 10 000 M. für eine Lebensversicherungspolice aussetzen, damit mein Mann, wenn er herauskommt, vor Not geschützt ist. – Vors.: Nun, Angeklagter, Sie haben erklärt, Sie sind lediglich deshalb von London nach dem Kontinent zurückgekommen, weil Sie das Bedürfnis empfanden, Ihre Schwägerin Olga noch einmal zu sehen und zu sprechen. Sie haben gesagt: Sie haben mit dieser Erklärung aus Rücksicht auf Ihre Frau zurückgehalten. Weshalb haben Sie aber auch nach dem Tode Ihrer Frau geschwiegen? – Angekl.: Ich hatte die Absicht, die Erklärung abzugeben, und habe den Besuch des Herrn Vorsitzenden erwartet. Wäre der Herr Vorsitzende zu mir in das Gefängnis gekommen, dann hätte ich mich jedenfalls erklärt. – Vors.: Sie hätten sich doch aber auch dem Untersuchungsrichter, Herrn Amtsrichter Dr. Ritter, gegenüber erklären können. – Angekl.: Dem Herrn Untersuchungsrichter gegenüber wollte ich mich nicht erklären. – Vors.: Dann hätten Sie sich mir vorführen lassen können. – Angekl.: Ich erwartete von Tag zu Tag den Besuch des Herrn Vorsitzenden. – Vors.: Weshalb haben Sie alsdann nicht wenigstens bei Beginn der Hauptverhandlung die Erklärung abgegeben? – Angekl.: Bei Beginn der Hauptverhandlung hatte ich meinen Entschluß geändert. – Vors.: Nun frage ich Sie nochmals, haben Sie auf Ihre Schwiegermutter geschossen? – Angekl.: Nein, ich stehe dem Morde vollständig fern. – Vors.: Haben Sie irgendeinen Verdacht? – Angekl.: Nein. – Vors.: Halten Sie es für möglich, daß Ihre Schwägerin Olga geschossen haben könnte? – Angekl.: Das halte ich für ausgeschlossen. – Vors.: Aus welchem Grunde haben Sie auf Ihrer Rückreise nach London zwischen Calais und Dover Bart und Perücke in den Kanal geworfen? – Angekl.: Weil ich sie nicht mit nach London nehmen wollte. – Es wurde alsdann Fräulein Olga Molitor hervorgerufen. – Vors.: Fräulein Molitor, Sie haben bereits gesagt, Sie haben niemanden gesehen, sondern nur Schritte hinter sich gehört. – Zeugin: Jawohl. – Vors.: Ich frage Sie nun, so leid mir das tut, hatten Sie irgendeine Ursache, Ihre Frau Mutter zu beseitigen? – Zeugin: Nicht im entferntesten. – Vors.: Hatte jemand von Ihrem Hauspersonal oder sonst jemand eine Ursache, Ihre Frau Mutter zu beseitigen oder sonst an ihr Rache zu nehmen? – Zeugin: Das halte ich für ausgeschlossen.

Die Schießsachverständigen gaben die Erklärung ab, daß der Schuß aus nächster Nähe abgegeben sein müsse. – Hierauf wurde die Beweisaufnahme für geschlossen erklärt und die den Geschworenen vorzulegende Schuldfrage, die auf vorsätzliche mit Überlegung begangene Tötung lautete, verlesen. Staatsanwalt Dr. Bleicher, der hierauf das Wort zur Schuldfrage nahm, führte aus:

Meine Herren Geschworenen! Wenn wir die Mordtat, die uns 5 Tage lang beschäftigt hat, in einem Zolaschen oder Tolstoischen Roman gelesen hätten, dann würden wir gesagt haben: Das ist furchtbar, aber es ist glücklicherweise nur ein Roman. Es ist ja eine bekannte Sache, die furchtbarsten Dinge spielen sich nicht auf der Bühne, sondern im Leben ab. Genußsucht und Geldgier haben leider schon so manches Verbrechen gezeitigt. Auch im vorliegenden Falle war Genußsucht und Geldgier die Triebfeder und hat ein furchtbares Unglück über zwei hochachtbare Familien gebracht. Die 62 Jahre alte Medizinalrätin Molitor fiel, von der Schußwaffe getroffen, nachdem sie von dem Mörder in tückischster Weise in den Hinterhalt gelockt war. Die Erregung, die über diese furchtbare Tat sich der ganzen Kulturwelt bemächtigte, hatte sich noch nicht gelegt, da kam aus der Schweiz die erschütternde Nachricht, in den Wellen des Pfäffikoner Sees habe sich die Frau des Angeklagten ertränkt, weil sie die Überzeugung erlangt hatte, daß ihr Mann der Mörder ihrer Mutter war. Sie hatte erklärt, sie könne das furchtbare Unglück nicht überleben. Der Angeklagte hatte schon einmal auf ein Mitglied der Familie Molitor, auf seine spätere Frau, geschossen. Es war das sein erstes Verbrechen, wenn auch die Tat mit Einwilligung seiner Frau geschehen war. Der Angeklagte hat in dritter Reihe namenloses Unglück über seinen alten Vater gebracht, der vor Schmerz einen Schlaganfall erlitten hat. Das vierte Unglück hat der Angeklagte über das einzige Kind gebracht, das der Ehe des Angeklagten entsprossen ist. Wenn auch das Kind sich in einem Alter befindet, daß es sein furchtbares Schicksal, das es betroffen, noch nicht versteht, so liegt doch die Befürchtung nahe, daß eine ungeschickte rauhe Hand das Kind über sein Schicksal in späteren Jahren aufklärt. Welch furchtbares Schicksal für das Kind, zu erfahren: Der Vater ein Mörder, die Mutter hat sich selbst den Tod gegeben. Dies sind die vier Verbrechen, deren sich der Angeklagte schuldig gemacht hat. Nach dem Buchstaben des Gesetzes kann der Angeklagte nur wegen des hier zur Anklage stehenden Verbrechens zur Rechenschaft gezogen werden. Wegen der drei weiteren Verbrechen hat sich der Angeklagte nur vor seinem Gewissen und dem Richterstuhle der Moral zu verantworten. Dreiviertel Jahre sind seit jener furchtbaren Bluttat in der idyllischen Bäderstadt Baden-Baden verflossen. Daß die Angelegenheit erst jetzt zur Verhandlung kommt, ist nicht zu beklagen. Wir können jetzt wenigstens ohne Erregung und Leidenschaft an die Beurteilung der Sache herantreten. Ich werde versuchen, Ihnen in möglichst knapper Form den Lebenslauf des Angeklagten zu schildern. Nachdem er in Köln und Trier das Gymnasium besucht und das Abiturienten-Examen gemacht, hat er in Freiburg und Berlin studiert, 1901 ging er auf ärztliches Anraten nach Ajaccio, dies war für ihn verhängnisvoll. In Ajaccio lernte er seine Frau kennen. Da seine Schwiegermutter die eheliche Verbindung nicht zugeben wollte, wußte er seine spätere Frau zu überreden, 2000 M. auf ein Sparkassenbuch zu erheben und mit ihm zu entfliehen. Nachdem das Geld zu Ende war, entschloß er sich, mit seiner Frau zu sterben. Er schoß auf seine Frau mit deren Willen, verwundete sie und fand alsdann nicht den Mut, sich selbst zu erschießen. Er telegraphierte an seine Schwiegermutter und seinen Vater. Beide willigten dann in die Heirat, um die Ehre des Mädchens zu retten. Alsdann begab sich der Angeklagte mit seiner Frau nach Washington, studierte noch 6 Semester und wurde dann als außerordentlicher Professor für römisches Recht an die St. Georg Washington Universität berufen. Sehr bald ging er aber mit dem Generalkonsul Dr. Schönfeld nach Konstantinopel, ohne jedoch geschäftliche Erfolge zu erzielen. Als er nach Washington zurückkehrte, wurde er Rechtsanwalt; in Wirklichkeit phantastischer Spekulant, der sich schon im Geiste als Millionär oder gar als Milliardär sah. Auf diesem Wege strauchelte er. Seine Frau sagte einmal: „Es wäre bedeutend besser gewesen, wenn er Professor geblieben wäre.“ Der Staatsanwalt schilderte alsdann das ausschweifende Leben des Angeklagten in Konstantinopel, die Einlösung des Schecks in Wien usw. Der Angeklagte hatte sein ganzes Vermögen und das seiner Frau fast vollständig verjubelt. Er hatte noch etwa 5000 M. in seinem Besitz. Da kam er mit seiner Frau nach Baden-Baden. Die Frau, die ihm Gastfreundschaft gewährte, unter deren Dach er wohnte, erkor er sich zum Opfer, um in Besitz von Geld zu kommen. Er machte mit seiner Frau und seiner Schwägerin Olga eine Vergnügungsreise nach Paris. Von dort sandte er ein Telegramm mit der Unterschrift seiner Frau nach Baden-Baden, in dem es hieß: „Komme sofort mit nächstem Zuge. Olga sehr krank.“ Da hatte der Angeklagte bereits seinen Mordplan gefaßt. Mit nächstem Zuge sollte Frau Molitor nach Paris kommen. Wäre Frau Molitor mit nächstem Zuge gefahren, dann wäre sie in später Nachtstunde auf dem Ostbahnhofe in Paris eingetroffen. Der Ostbahnhof in Paris liegt gänzlich außerhalb des Weichbildes der Stadt. Wäre Frau Molitor mit dem nächsten Zuge nach Paris gereist, dann wäre sie höchstwahrscheinlich schon in der Hauptstadt Frankreichs ermordet worden. Frau Molitor tat aber dem Angeklagten nicht den Gefallen, mit dem nächsten Zuge nach Paris zu fahren. Von Paris fuhr der Angeklagte mit seiner Frau nach London, um von dort nach Washington zu gehen. Da traf in London ein vom Angeklagten an sich selbst aufgegebenes Telegramm ein: er solle sofort nach dem Kontinent zurückkommen. Er fuhr eiligst ab und ersuchte seine Frau, strengstes Stillschweigen zu bewahren, damit die Konkurrenz von seiner Reise nichts erfahre. Der Staatsanwalt schilderte im weiteren den Aufenthalt des Angeklagten in Frankfurt und alsdann die Bluttat in Baden-Baden. Am Abend des vierten Verhandlungstages da bequemte sich der Angeklagte zu einem sogenannten Geständnis. Er sei lediglich nach dem Kontinent und Baden-Baden gekommen, weil er seine Schwägerin Olga, zu der er eine leidenschaftliche Zuneigung hatte, noch einmal vor seiner Abreise nach Amerika sehen und sprechen wollte. Auf die Frage des Herrn Vorsitzenden, weshalb er diese Erklärung nicht schon früher abgegeben, antwortete er: er habe es seiner Frau wegen nicht getan. Als seine Frau zu ihm ins Gefängnis kam und mit ihm eine Unterredung hatte, da erlangte sie die Überzeugung von der Schuld ihres Mannes und ließ in ihm keinen Zweifel, daß sie in den Tod gehen werde. Der Angeklagte fühlte sich nach alledem nicht veranlaßt, seiner Frau zu sagen: Ich will dir gestehen, ich bin nicht der Mörder deiner Mutter, ich hatte vorübergehend eine Zuneigung zu deiner Schwester Olga. Diese wollte ich noch einmal, ehe ich nach Amerika zurückreiste, sehen und sprechen. Nachdem aber die Frau tot war, da hatte der Angeklagte doch gewiß keine Ursache mehr, länger zu schweigen. Der Angeklagte schwieg aber weiter, auch in der Hauptverhandlung. Erst am vierten Verhandlungstage, nachdem die Komödie Lenk aufgeführt war, fühlte er sich in der Abendstunde endlich veranlaßt, eine Erklärung abzugeben. Der Tod seiner Frau veranlaßte ihn nicht, eine Erklärung abzugeben. Aber nachdem Lenk zu 50 M. verurteilt war, da konnte er es nicht mit ansehen, daß jemand seinetwegen verurteilt wird. Deshalb hielt er sich verpflichtet, die bekannte Erklärung zu machen. Ich frage Sie, meine Herren Geschworenen, ist es schon einmal vorgekommen, daß ein Mensch die Frechheit hat, einem Gerichtshof zuzutrauen, so etwas zu glauben. Der Angeklagte empfindet das Bedürfnis, seine Schwägerin Olga noch einmal zu sehen und zu sprechen. Dann sollte man annehmen, der Angeklagte würde so schnell als möglich nach Baden-Baden reisen. Er reiste aber zunächst nach Frankfurt a. M. Dort blieb er mehrere Tage, besuchte Verwandte und fragte den Portier des Hotels „Englischer Hof“, ob er ihm schöne Weiber nachweisen könne. Das tut ein Mann, der in höchster Leidenschaft für ein hochachtbares Mädchen schwärmt. Ein solcher Mann tritt, nachdem der Schuß gefallen ist, ohne seine Schwägerin gesprochen zu haben, mit größter Eile die Rückreise nach London an und wirft Bart und Perücke in den Kanal. So handelt nicht ein schwärmerischer Liebhaber, so handelt nur ein Mörder. Niemand anders als der Angeklagte hat den Mord begangen. Lediglich der Angeklagte kann in Betracht kommen. Der Staatsanwalt führte diesen Gedanken noch weiter aus und schloß: Sorgen Sie dafür, meine Herren Geschworenen, daß die furchtbare Mordtat nicht ungesühnt bleibt. Ich gebe mich der festen Hoffnung hin, daß Sie die Schuldfrage in vollem Umfange bejahen werden.

Verteidiger Rechtsanwalt Dr. Dietz:

Meine Herren Geschworenen! Ich verkenne nicht den Ernst der Sachlage. Auch ich halte es für wünschenswert, ein solch furchtbares Verbrechen zu sühnen. Allein dies Verbrechen wird zu meinem großen Bedauern ungesühnt bleiben, und zwar einfach deshalb, weil der Täter nicht festgestellt ist. Frl. Olga Molitor hat die Überzeugung geäußert, daß der Mann, der hinter ihnen herging, der Mörder war. Dieser Mann war jedoch nach der Überzeugung der Frau v. Reitzenstein nicht der Angeklagte, sondern ein ganz anderer. Man hat aber zufällig den Angeklagten gegriffen, weil dieser sich vermummt hatte, und zwar in einer Weise, daß alle, die ihn sahen, über ihn lachten. So wie der Angeklagte handelt aber kein Mörder. Der Angeklagte hat vorher ganz offen mehrere Tage in Frankfurt im Hotel „Englischer Hof“ gewohnt und mit vielen Bekannten verkehrt. Er hat sich ganz offen einen falschen Bart und eine Perücke machen lassen und ist in dieser Vermummung nach Baden-Baden gefahren. Sie haben gehört, daß der Angeklagte aller Welt aufgefallen ist. Eine gewisse Leidenschaft macht nicht nur Menschen zu Hyänen, sondern auch Rechtsanwälte zu Eseln. (Heiterkeit im Zuhörerraum.) Und weshalb sollte der Angeklagte den furchtbaren Mord begangen haben? Nur weil er dadurch schneller sich in den Besitz des Erbteils seiner Frau von 75 000 M. setzen wollte? Meine Herren Geschworenen, der Angeklagte war Rechtsanwalt in Washington. Die Verteidigung in einem größeren Prozeß in Amerika hätte dem Angeklagten 75 000 M. eingebracht. Man kann deshalb nicht annehmen, daß der Angeklagte nach dem Kontinent zurückkommen wird, um sich zu vermummen und seine Schwiegermutter zu erschießen, um schneller in den Besitz von 75 000 M. zu kommen. Man hat einen Menschen gegriffen. Man stellt ihn vor Gericht, verurteilt ihn und köpft ihn. Damit ist die Sache erledigt. Das ist doch aber kein gangbarer Weg. So wird in einem Kulturstaat nicht verfahren. Man hat versucht, durch Preßartikel die öffentliche Meinung gegen den Angeklagten zu beeinflussen. Die Presse ist eine Großmacht. Es ist höchst erfreulich, daß die Vertreter der Presse ihre Macht nicht mißbrauchen, daß sie nicht käuflich sind, sondern nach ihrer freien Überzeugung ein Urteil abgeben. Ich erwarte von Ihnen, meine Herren Geschworenen, daß Sie nicht einen Menschen zum Tode verurteilen, dessen Schuld nicht nachgewiesen ist. Die Tatsache ist nicht aus der Welt zu schaffen, daß zwei verdächtige Männer gesehen worden sind. Die Verhandlung erinnert an den Roman Sherlock Holmes. Es ist aber nicht angänglich, einen Menschen zum Tode zu verurteilen, ohne daß man ihm die Tat nachgewiesen hat. Die ganze Handlungsweise des Angeklagten spricht dagegen. Es ist gesagt worden, wenn die Geschworenen einen Freispruch fällen, dann haben sie dem Schwurgericht das Todesurteil gesprochen. Diese Bemerkung kann und darf Sie nicht beeinflussen. Wenn Sie die gesamten Umstände in Betracht ziehen, dann werden Sie, davon bin ich überzeugt, zu einem Nichtschuldig kommen. –

Nach eingehender Rechtsbelehrung zogen sich die Geschworenen in später Nachtstunde zur Beratung zurück. Während der Plädoyers spielten sich vor dem Gerichtsgebäude die ärgsten Skandalszenen ab. Ein vieltausendköpfiges Publikum machte unter Johlen, Pfeifen und Schreien den Versuch, mit Gewalt in den Gerichtssaal, der ohnedies in geradezu beängstigender Weise überfüllt war, zu gelangen. Die zahlreichen Schutzleute und Gendarmen waren bemüht, mit blankgezogenem Säbel das Publikum zurückzudrängen, sie waren aber diesem Ansturm gegenüber machtlos. Sehr bald kamen zwei Kompagnien Infanterie angerückt. Auch das Militär wurde mit Pfeifen, Schreien, Johlen und Steinwürfen empfangen. Der befehligende Hauptmann, der selbst einen Steinwurf erhalten hatte, ließ die Aufruhrparagraphen vorlesen und befahl darauf, die Straße mit aufgepflanztem Bajonett zu säubern. – Nach etwa einstündiger Beratung bejahten die Geschworenen die Schuldfrage wegen Mordes. Der Gerichtshof verurteilte, dem Wahrspruch der Geschworenen entsprechend, den Angeklagten zum Tode, dauerndem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte und zur Tragung der Kosten des Verfahrens. Während der Beratung des Gerichtshofs unterhielt sich der Angeklagte lächelnd mit seinem Verteidiger. Der Angeklagte nahm das Urteil mit staunenswertem Gleichmut entgegen. Er verabschiedete sich durch Händedruck von seinem Verteidiger und ließ sich alsdann ruhig abführen. – Als das auf der Straße stehende Publikum das Urteil erfuhr, machte es von neuem den Versuch, das Gerichtsgebäude zu stürmen. Als ich in später Nachtstunde aus dem Gerichtsgebäude trat, wurde ich von allen Seiten mit der geradezu vorwurfsvollen Frage belästigt, wie es möglich sei, einen Menschen auf Grund bloßer Indizien zum Tode zu verurteilen. Die Aufregung des Publikums, das die Straßen von Karlsruhe füllte, war furchtbar. Die Familie Molitor, insbesondere Frln. Olga Molitor, die bereits am Sonnabend vor dem Urteilsspruch derartig vom Publikum beschimpft wurde, daß sie sich in eine Droschke flüchten mußte, hatte sich am letzten Verhandlungstage beizeiten in Sicherheit gebracht. Frln. Olga Molitor wurde, obwohl nicht der leiseste Verdacht dafür vorhanden war, unbegreiflicherweise von einem verständnislosen Publikum als „Muttermörderin“ bezeichnet. Da Freifrau v. Reitzenstein zwei verdächtige Männer in der Nähe der Mordstätte gesehen haben wollte, wurde der Wahrspruch der Geschworenen vielfach, auch von einem Teil der Presse, als ein Fehlspruch bezeichnet. Einige Preßorgane stellten gegen Olga Molitor ehrenrührige Behauptungen auf. Es kam infolgedessen, insbesondere in Karlsruhe, zu einem umfangreichen gerichtlichen Nachspiel, das mit der Verurteilung der angeklagten Redakteure zu ziemlich hohen Strafen endete. –

Der Verteidiger, Rechtsanwalt Dr. Dietz, hatte gegen das Urteil gegen Hau Revision eingelegt. Der erste Strafsenat des Reichsgerichts erkannte jedoch Ende Oktober 1907 auf Verwerfung der Revision. Ein alsdann vom Verteidiger gestellter Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens wurde vom Karlsruher Landgericht und auch dem Badischen Oberlandesgericht abgelehnt. Der Großherzog von Baden begnadigte schließlich Hau zur lebenslänglichen Zuchthausstrafe. Hau verbüßt diese Strafe im Zuchthause zu Bruchsal.