Die Ermordung des Gymnasiasten Ernst Winter in Konitz

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Autor: Hugo Friedländer
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Titel: Die Ermordung des Gymnasiasten Ernst Winter in Konitz
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aus: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 3, Seite 75–136
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Erscheinungsdatum: 1911
Verlag: Hermann Barsdorf
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Google-USA*, Commons
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Die Ermordung des Gymnasiasten Ernst Winter in Konitz.

Die im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts stattgefundene Judenverfolgung hatte in den verschiedensten Städten Pommerns zu argen Ausschreitungen gegen das Leben und das Eigentum der Juden geführt. Die Wohnungen und Läden der Juden wurden teilweise vom Mob arg beschädigt und geplündert, die Juden auf den Straßen schwer mißhandelt. Im Januar 1881 brannte an einem Freitag Vormittag in Neustettin die Synagoge ab. Da wenige Tage vorher der Berliner antisemitische Agitator Dr. Ernst Henrici in Neustettin eine Hetzrede gegen die Juden gehalten hatte, wurde von jüdischer Seite der Vermutung Ausdruck gegeben: die Antisemiten haben aus Haß gegen die Juden den Tempel in Brand gesteckt. Die Antisemiten behaupteten dagegen: die Juden haben ihr Gotteshaus selbst in Brand gesteckt, um einmal die Schuld den Christen in die Schuhe zu schieben und andererseits, um durch Erhalt der Versicherungssumme in die Lage zu kommen, ein neues, schöneres Gotteshaus bauen zu lassen. Es wurden in der Tat fünf Juden wegen vorsätzlicher Brandstiftung bzw. Beihilfe, zum Teil auch, weil sie von dem Verbrechen, von dem sie zu einer Zeit, in welcher die Verhütung noch möglich war, glaubhafte Kenntnis erhalten hatten, die Anzeige unterlassen haben, angeklagt. Das Kösliner Schwurgericht verurteilte im Oktober 1883 vier Angeklagte zu hohen Strafen. Infolge eines formalen Verstoßes gegen die Strafprozeßordnung hob auf Antrag des Verteidigers Justizrats Dr. Sello (Berlin) das Reichsgericht das Urteil auf und verwies die Sache zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht Konitz. Dort wurden nach nochmaliger siebentägiger Verhandlung sämtliche Angeklagte freigesprochen. – Das freisprechende Urteil wurde in Neustettin mit einem Krawall beantwortet. Ganz besonders wurden die freigesprochenen Angeklagten, als sie von Konitz nach Neustettin zurückkehrten, vom Neustettiner Pöbel arg behelligt. Während bei der ersten Verhandlung in Köslin mehrfach antisemitische Kundgebungen laut wurden, es ertönten sogar laute Hepp-Hepp-Rufe von der Straße während der Verhandlung in den Gerichtssaal, war bei der im Februar 1884 in Konitz stattgefundenen zweiten Verhandlung von Antisemitismus keine Spur zu entdecken. Nachdem das Ritualmordmärchen in dem im Juli 1892 vor dem Schwurgericht zu Cleve stattgefundenen Xantener Knabenmordprozeß aufs gründlichste widerlegt war, (vgl. Bd. 1. p. 67ff.) hielt man allgemein diese aus dem finstersten Mittelalter stammende Blutbeschuldigung für vollständig abgetan. Da plötzlich, am Dienstag, den 13. März 1900, wurde in Konitz in einem in nächster Nähe der Synagoge befindlichen Bach, genannt der „Mönchssee“, an der „Spüle“ ein angeblich vollständig blutleerer menschlicher Rumpf, in Zeitungspapier eingehüllt, gefunden. Kopf, Hände und Beine fehlten. Letztere waren von den Knien ab kunstgerecht abgeschnitten. Es war begreiflich, daß dieser Fund in dem damals 12 000 Einwohner zählenden westpreußischen Kreisstädtchen das größte Aufsehen erregte. Der Befund des Leichnams ließ auf eine jugendliche männliche Person schließen. Es wurde auch sehr bald festgestellt, daß es sich um den Rumpf des seit einigen Tagen vermißten Obertertianers Ernst Winter handelte. Winter, der Sohn eines Bauunternehmers aus Prechlau bei Konitz, war, obwohl bereits 18½ Jahre alt, erst in Obertertia. Er hatte nämlich schon einmal das Gymnasium verlassen und 3½ Jahre das Zimmerhandwerk erlernt. Diese Beschäftigung muß ihm wohl nicht behagt haben, denn er kehrte schließlich auf das Gymnasium zurück. Der Photographie nach zu urteilen, muß er ein häßliches Gesicht gehabt haben. Er wurde jedoch als Mensch von selten stattlichem Wuchs und auffallend schönem, kräftigem Körperbau geschildert. Er soll, obwohl noch Schüler und erst 18½ Jahre alt, ein sehr ausschweifendes Leben geführt haben. Es entstand daher der Verdacht: Winter sei von einem beleidigten Gatten, Vater, Bruder oder Bräutigam, oder auch von einem eifersüchtigen Liebhaber in einer gewissen Situation betroffen und, vielleicht wider Willen, derartig geschlagen worden, daß er den Tod erlitten habe. Daß Winter in solcher Situation den Tod erlitten hatte, dafür sprachen mit voller Deutlichkeit die in dem Hemd des Ermordeten vorgefundenen Spermaflecke. Es wurde auch der Vermutung Ausdruck gegeben: Winter sei in der erwähnten Situation von einem Zuhälter erschlagen und beraubt worden. In dem Gymnasialstädtchen Konitz soll die Zahl der Dirnen und Zuhälter verhältnismäßig sehr groß gewesen sein. Da, wie die verschiedenen Strafprozesse gelehrt haben, die Zuhälter auf ihre Dirnen ungemein eifersüchtig sind und auch Uhr, Kette und das Portemonnaie des Ermordeten mit 2 Mark Inhalt fehlten, war es nicht ausgeschlossen, daß ein Zuhälter, einerseits aus Eifersucht und andererseits, um Uhr, Kette und Portemonnaie zu rauben, den jungen Mann totgeschlagen und um die Spuren des Verbrechens zu verwischen, den Leichnam zerstückelt und die einzelnen Körperteile an verschiedene Orte geschafft hatte. Hände und Füße des Ermordeten wurden auch sehr bald, zumeist auf Kirchhöfen gefunden. Die große Mehrheit der Konitzer Bevölkerung glaubte aber nicht an einen Totschlag, aus Rache oder Eifersucht, sondern es wurde sofort behauptet: Ernst Winter sei von den Juden geschlachtet worden, da diese zu dem nahe bevorstehenden jüdischen Passahfest zu ihren Osterkuchen (Mazzes) Christenblut brauchen. Als Beweis wurde die Auffindung des Rumpfes in unmittelbarer Nähe der Synagoge und der Umstand angeführt, daß in der Nähe des Mönchsees der jüdische Schlächter Lewy wohne, und daß der älteste Sohn dieses Schlächters, Namens Moritz, als der Rumpf gefunden wurde, an den Mönchsee gelaufen sei und höhnisch gelacht habe. Diese Argumente reichten hin, um nicht nur in Konitz, sondern in einer ganzen Reihe von Städten West- und Ostpreußens und Pommerns eine

Judenverfolgung

zu entfachen, wie sie in diesem Umfange und in dieser Art seit den Zeiten des Mittelalters in Deutschland nicht dagewesen ist. Eine ganze Anzahl regelrechter Judenkrawalle wurden inszeniert. Die Läden und Wohnungen der Juden wurden demoliert und geplündert, die Juden auf offener Straße beschimpft und aufs ärgste mißhandelt. Ja sogar die Synagoge in Konitz wurde demoliert, die Altardecken, die Gold- und Silbergeräte und Leuchter wurden geraubt, die Thorarollen aus der Bundeslade herausgerissen und zerschnitten. Eines Tages wurde der Welt die Kunde mitgeteilt,

die Synagoge in Konitz stehe in Flammen.

Die Erregung der Konitzer Bevölkerung wurde noch durch eine Anzahl antisemitischer Agitatoren, die in das west- preußische Gymnasialstädtchen geeilt waren, bis zur Siedehitze geschürt. Ein sogenanntes Untersuchungskomitee, bestehend aus Berliner und Konitzer antisemitischen Agitatoren, bildete sich. Es wurde eine hohe Belohnung für Entdeckung des Mörders ausgesetzt, die Belohnung wurde von der Regierung allmählich auf 32 000 Mark erhöht. Diese hohe Summe lockte eine Anzahl Leute nach Konitz. Herumziehende Gaukler, Wahrsager, Kartenleger und Kartenlegerinnen kamen ins Städtchen gezogen, um durch allerlei Hokuspokus die Persönlichkeit des Mörders zu ermitteln. Die „Kunst“ dieser Leute hatte auch das Ergebnis, daß ein Jude aus rituellen Gründen der Mörder sein müsse. Den wirklichen Täter konnten sie aber weder mittels Karten, noch durch Entzünden einer Spiritusflamme, noch aus den Handlinien und auch nicht durch anderen Blödsinn feststellen. Trotzdem hatten diese Gaukler einen ungemein großen Zulauf, denn die erregte, abergläubische Bevölkerung bediente sich aller Mittel, um den verruchten Mörder zu entdecken. Die Gaukler hatten sogar die Frechheit, ihre Hilfe den Berliner Kriminalbeamten, die auf Befehl des Ministers des Innern zwecks Ermittelung des Mörders nach Konitz geschickt waren, gegen Bezahlung anzubieten. In Konitz wohnte zur Zeit ein jüdischer Zahnarzt. Eines Tages erschien bei diesem ein Mann mit dem Ersuchen, ihm seine Zähne zwecks Plombierens nachzusehen. Der Zahnarzt sagte dem Mann: ein Zahn sei krank, der müßte entfernt werden. Der Mann erwiderte: er habe heute keine Lust, sich einer, wenn auch, mittels Lachgas bewirkten, schmerzlosen Zahnoperation zu unterziehen, er werde in einigen Tagen wieder kommen. Der Mann war aber nur von seinem Wohnort Landsberg a. W., nach Konitz gekommen und hatte den Zahnarzt aufgesucht, weil er in diesem den Mörder des Winter vermutete. Sofort nach seinem Weggange erstattete er bei der Polizei gegen den Zahnarzt Anzeige wegen Mordes mit ungefähr folgender Begründung: „Ich halte den Zahnarzt für den Mörder des Winter. Einmal ist der Zahnarzt Jude und andererseits ist festgestellt, daß der ermordete Winter schlechte Zähne hatte. Er hat vielleicht den Zahnarzt aufgesucht und dieser hat ihm, ebenso wie mir, vorgeschlagen, sich einer Zahnoperation zu unterwerfen, die mittels Betäubung vorgenommen wurde. Auf diese Art konnte der Mord mit Leichtigkeit ausgeführt werden. Bereits am folgenden Morgen in aller Frühe, es war noch dunkel auf den Straßen, wurde der damals noch unverheiratete Zahnarzt unsanft aus dem Schlafe geklopft. Sechs Polizeibeamte, unter Führung eines Polizeikommissars traten mit brennenden Laternen beim Zahnarzt ein und erklärten ihn wegen Mordverdachts für verhaftet. Selbstverständlich wurde sofort eine umfassende Haussuchung vorgenommen, die aber nicht das geringste Ergebnis hatte. Nach einigen Tagen wurde, da auch nicht die leiseste Spur für die Täterschaft des Zahnarztes festgestellt werden konnte, letzterer wieder in Freiheit gesetzt. – Aber auch eine Anzahl Privatdetektivs und sonstige existenzlose Leute, sogenannte Journalisten, schlugen in Konitz schleunigst ihren Wohnsitz auf, um den Mörder zu entdecken und sich die hohe Belohnung zu verdienen. Um sich den Lebensunterhalt zu verschaffen, korrespondierten diese Leute über die Verhältnisse des Städtchens, das damals geradezu in den Mittelpunkt der Welt gerückt war, für alle möglichen Zeitungen. Die einzige, in Konitz erscheinende Zeitung, das antisemitische „Konitzer Tageblatt“ trug auch nicht wenig zur Verhetzung der Bevölkerung bei. Die Verhetzung nahm einen derartigen Grad an, daß die christlichen Schüler selbst auf dem Gymnasium den Verkehr mit ihren jüdischen Mitschülern mieden und sich offen weigerten, mit ihnen auf derselben Bank zu sitzen. Einige Gymnasiallehrer, die dieser Verhetzung Vorschub geleistet hatten, mußten, da der öffentliche Frieden aufs ärgste gefährdet war, an ein anderes Gymnasium versetzt werden. Die Juden in Konitz und weitester Umgebung wurden vollständig gesellschaftlich geächtet und geschäftlich boykottiert. Alle Juden, die es möglich machen konnten, veräußerten ihr Besitztum und kehrten Konitz den Rücken. Das Geschäft sank unter Null. Geschäftsreisende ließen sich in Konitz und den Nachbarstädten nicht mehr sehen. Da die Straßenkrawalle sich wiederholten und einen immer heftigeren Charakter annahmen, so traf

auf persönlichen Befehl des Kaisers

eine Kompagnie Soldaten aus Graudenz in Konitz ein. Das Militär wurde in allen Städten, das es zu passieren hatte, mit dem Rufe: „Judenschutztruppe“ empfangen. In Konitz vermochte das Militär erst, als es mit gefälltem Bajonett vorging, die Ruhe wieder herzustellen. Selbst einem Geheimen Regierungsrat, den der Minister des Innern nach Konitz gesandt hatte, gelang es nicht, die krawallierende Menge zu beruhigen. Auf Anordnung des Ministers des Innern war Kriminalkommissar Wehn, jetzt Kriminalpolizei-Inspektor, später Kriminalpolizei-Inspektor Braun, Kriminalpolizei-Inspektor Klatt und die Kriminalkommissare v. Kracht und v. Bäckmann, sowie eine Anzahl Kriminalschutzleute, sämtlich vom Berliner Polizeipräsidium, nach Konitz gesandt worden. Allen diesen Beamten gelang es aber nicht, die Persönlichkeit des Mörders festzustellen. Am Karfreitag, mittags gegen 1 Uhr wurde in der Nähe des außerhalb der Stadt belegenen Schützenhauses der Kopf des ermordeten Winter aufgefunden. Ein alter, kurzsichtiger Gerichtskastellan namens Fiedler behauptete: er habe am Karfreitag vormittag den jüdischen Handelsmann Israelski mit einem großen Sack auf dem Rücken beim Gerichtsgebäude vorüber nach dem Wege zum Schützenhaus gehen sehen. Die Form des Sackinhalts ließ darauf schließen, daß der Sack einen menschlichen Kopf geborgen habe. Israelski sei nach einiger Zeit mit leerem Sack und beschmutzten Stiefeln zurückgekommen. Israelski bestritt aufs Entschiedenste, zu dem Winterschen Morde in irgendwelcher Beziehung gestanden zu haben. Er trage eines Fußleidens wegen überhaupt keine Stiefel. Eine bei Israelski vorgenommene Haussuchung förderte nicht das geringste zutage. Auch Stiefel wurden bei Israelski nicht gefunden. Obwohl die Behauptungen Fiedlers von niemandem bestätigt werden konnten, wurde Israelski wegen Begünstigung des unbekannten Mörders, auf Grund des Paragraphen 257 des Strafgesetzbuches, angeklagt. Er hatte sich am 8. September 1900 vor der Strafkammer des Konitzer Landgerichts zu verantworten. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte Landgerichtsdirektor Böhnke. Die Anklagebehörde vertrat der Erste Staatsanwalt Settegast. Die Verteidigung führten Rechtsanwalt Maschke (Konitz) und Justizrat Dr. v. Gordon (Berlin). Zu der Verhandlung erschien auch der Vater des ermordeten Gymnasiasten Winter als Zeuge. – Erster Staatsanwalt: Es ist Ihnen ein anonymer Brief zugegangen, in dem Ihnen 50 000 Mark geboten wurden? Wie verhält es sich damit? – Zeuge: Das ist richtig, der Brief war in Hammerstein aufgegeben worden und es hieß darin im Anschluß an die Meldung, daß das Verfahren gegen den Schlächtermeister Hoffmann eingestellt sei: „Wir haben nun schon 200 000 Mark weggeworfen und bieten Ihnen jetzt 50 000 Mark, wenn Sie in den „Geselligen“ (Graudenz) ein Inserat folgenden Inhalts einrücken: „Winter schweigt!“ Wir Juden haben es getan, wir haben nicht anders gekonnt, das ist unser Trost.“ – Verteidiger Justizrat Dr. v. Gordon: Wo ist der Brief hingekommen? – Zeuge: Ich habe ihn dem Herrn Schrader gegeben, der ihn dem Abgeordneten Liebermann von Sonnenberg übermitteln wollte. Ich sollte den Brief heute zurückbekommen, um ihn hier vorlegen zu können. Leider ist er mir bisher nicht zurückgegeben worden. – Sanitätsrat Dr. Müller bekundete als Sachverständiger: Der Kopf und die einzelnen Körperteile des Ermordeten waren vollständig blutleer. Der Tod müsse infolge Verblutung erfolgt sein, die durch einen Querschnitt durch den Hals herbeigeführt wurde. Der Kopf sah bei der Auffindung vollständig frisch aus und war auch völlig geruchlos. Die Sektion ergab, daß die Speiseröhre und auch die Rachenhöhle mit Mageninhalt vollgestopft war. Demnach muß dem tödlichen Schnitte ein Würgungsakt voraufgegangen sein. Auf Befragen des Justizrats Dr. v. Gordon erklärte der Sachverständige, die Verblutung müsse bei Lebzeiten, nicht bei der Zerstückelung der Leiche eingetreten sein. Auch die übrigen Leichenteile seien frisch und geruchlos gewesen, etwa als wenn sie im Keller aufbewahrt worden seien. Auf Befragen des Ersten Staatsanwalts erklärte der Sachverständige, zwei andere Sachverständige haben erklärt, daß die Zerstückelung von sachkundiger Hand vorgenommen worden sei. Dafür spreche die Auslösung der Schenkel, die wie bei Tieren vorgenommen war. – Der zweite Sachverständige, Gerichtsarzt Privatdozent Dr. Puppe (Berlin), bekundete: Bei der Untersuchung waren die Lungen an der Schnittfläche braunrot, während anämische Lungen blaß sind. Diese Färbung der Lunge spricht gegen Verblutung. Die Blutleere ist nur in inneren Organen erkennbar, diese fehlen aber außer den Lungen. Da der Körper zerschnitten ist, konnte sich das Blut auch nach dem Tode entleeren, umsomehr, als der Körper mit Wasser in Verbindung gekommen ist. Auch die Herzklappen, die inneren Wände der Arterien und die Venen des Oberschenkels waren braunrot; ferner spricht gegen Verblutung das Fehlen der Suffusion an der Schnittfläche. – Vors.: Sie meinen, daß der Tod absolut durch Erstickung herbeigeführt worden ist? – Sachverständiger: Nein, es ist nur wahrscheinlich. Aber die für die Verblutung sprechenden Gründe erscheinen unsicher und zweifelhaft. Der Sachverständige hielt es in seinen weiteren Ausführungen für möglich und wahrscheinlich, daß der Kopf mit der Schnittfläche im Wasser gelegen habe und, da der Moorboden bekanntlich desinfizierende und konservierende Eigenschaften besitze, auf diese Art so gut erhalten sei. Die weitere Beweisaufnahme förderte nicht das Mindeste für die Schuld des Angeklagten zutage. Der Erste Staatsanwalt hielt trotzdem die Schuld des Angeklagten für erwiesen und beantragte fünf Jahre Gefängnis. – Verteidiger Justizrat Dr. v. Gordon: Wenn der Angeklagte schuldig wäre, so würde keine Strafe hoch genug gegen ihn sein, denn er hätte, indem er den Täter der Strafe zu entziehen suchte, unsägliches Unglück, das über viele andere gekommen, verschuldet. Der Angeklagte ist aber nicht schuldig; ich erwarte daher zuversichtlich seine Freisprechung. Das Eigentümliche an diesem Verfahren ist, daß man keinen Anhalt für den Täter hat. Nach Einsicht der Akten muß jeder ruhig und objektiv Urteilende zugeben, daß sich nach keiner Seite hin Anhaltspunkte für einen Verdacht ergeben haben. Nach dem Gutachten des Dr. Puppe erscheint der Erstickungstod sehr wahrscheinlich. Diese Beurteilung der Todesursache erscheint für die weitere Verfolgung von höchster Bedeutung. Sollten aber beim Gericht Zweifel über die sich gegenüberstehenden Gutachten bestehen, so würde es sich empfehlen, ein Obergutachten des Medizinalkollegiums einzuholen. Wäre der Tod durch Verblutung eingetreten, so würde es sich vielleicht um einen israelitischen systematischen Mord handeln, den mehrere Personen ausgeübt haben müßten. Anders liegt es beim Erstickungstod, dann wäre mit allen Möglichkeiten zu rechnen. Es wäre möglich, daß Winter in irgend einer Situation überrascht wäre, oder daß er aus Fahrlässigkeit bei irgend einem Scherz oder einer Liebelei unter dem Kissen erstickt sei. Es muß entschieden bestritten werden, daß dem Staatsanwalt der Beweis gelungen sei, daß überhaupt eine strafbare Handlung den Tod Winters verursacht hat. Auch der Versuch, ein Motiv für die Handlungsweise des Angeklagten nachzuweisen, ist der Anklage mißlungen. Zur Zeit, als der Kopf gefunden wurde, waren schon Tausende Mark Belohnung ausgeboten. Also das Motiv des Eigennutzes schwebt ganz in der Luft. Es liegt hier ein Maximum von Unwahrscheinlichkeiten vor, die gegen jeden anderen ebenso belastend angewendet werden könnten. Aus vollster Überzeugung beantrage ich daher die Freisprechung des Angeklagten. Die Freisprechung fällt wie ein reifer Apfel vom Baum. Ich möchte nur wünschen und hoffen, daß die Bevölkerung auf Grund des heutigen Beweisergebnisses den Mann, der wieder in ihre Mitte tritt, nicht als Mörder oder Mordgesellen betrachtet. – Nach nur kurzer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende folgendes Urteil: Das Gericht hat sich dem Gutachten des Sanitätsrats Müller angeschlossen, welches im wesentlichen mit dem Gutachten der Berliner Gerichtsärzte Mittenzweig und Störmer übereinstimmt. Diese drei Herren standen unter dem frischen Eindruck der Sektion, ohne daß das Gericht damit den wissenschaftlichen Einwendungen des heute gehörten anderen Herrn Sachverständigen zu nahe treten will. Auf Grund dieser drei Gutachten hat das Gericht zu keiner festen Annahme über die Todesursache kommen können, denn die Herren sprechen auch nur von Wahrscheinlichkeiten. Bezüglich des Angeklagten ist als erwiesen anzusehen, was der Zeuge Fiedler ausgesagt hat, der Israelski mit einem runden Gegenstand im Sack vorbeigehen gesehen hat. Fiedler hat ihn aber nicht weiter gehen sehen, als bis zur Ecke. Es erscheint nicht nachgewiesen, wohin er weiter gegangen ist. Die Aussagen der anderen Zeugen sind zu unsicher gewesen. Das Gericht ist zu der Überzeugung gelangt, daß der Kopf nicht längere Zeit im Graben gelegen haben kann, es fehlt eben jeder Anhalt dafür, was der Angeklagte im Sack gehabt hat. Das Gericht hat ferner nicht als erwiesen angesehen, daß ein Schächtschnitt vorliegt. Das Gericht ist zu der Überzeugung gelangt: es ist nicht erwiesen, daß der Angeklagte Israelski dem nicht ermittelten Täter Beihilfe geleistet hat. Er war daher freizusprechen und die Kosten des Verfahrens der Staatskasse aufzuerlegen. – Anfang Oktober 1900 hatte sich der siebzehnjährige Präparand Richard Speisiger vor der Konitzer Strafkammer wegen wissentlichen Meineids zu verantworten. Speisiger war ein Freund des ermordeten Winter. Er war beschuldigt bezüglich des Verkehrs des Winter wissentlich eine Unwahrheit beschworen zu haben. In diesem Prozeß wurde von mehreren als Zeugen vernommenen Gymnasiasten bekundet: Winter habe ihnen viel über seinen unzüchtigen Verkehr erzählt und ihnen noch kurz vor seinem Tode mitgeteilt, daß er mit drei jungen Mädchen fortdauernd intimen Verkehr unterhalte. Er habe aber noch mit anderen Frauen intimen Verkehr, so daß er bisweilen schachmatt sei. – Zwecks weiterer Feststellung des von dem Ermordeten unterhaltenen unzüchtigen Verkehrs wurde am zweiten Verhandlungstage den ganzen Vormittag wegen Gefährdung der öffentlichen Sittlichkeit die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Auch die Vertreter der Presse mußten den Saal verlassen. In dieser unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattgefundenen Verhandlung wurden mehrere unter sittenpolizeilicher Kontrolle stehende Dirnen vernommen. – In der öffentlichen Verhandlung bekundete eine Reihe Zeugen: der Fleischergeselle Moritz Lewy, genannt der „Pincenez-Lewy“, weil er sogar das Vieh mit dem Pincenez auf der Nase durch die Stadt trieb, sei augenscheinlich mit dem ermordeten Winter befreundet gewesen, denn er sei mehrfach mit Winter auf der Straße plaudernd gesehen worden. Moritz Lewy bekundete, als ihm der Vorsitzende die Zeugenaussagen vorhielt: Er kenne viele Gymnasiasten, mit denen er sich unterhalte, ohne ihren Namen zu wissen. Dasselbe werde wohl auch bezüglich des Winter der Fall sein. Es sei sehr leicht möglich, daß er wiederholt mit Winter gesprochen und auch mit ihm zusammengegangen sei, ohne seinen Namen zu kennen. Er erinnere sich wenigstens nicht, Winter gekannt zu haben. – Vors.: Sie haben bei dem Untersuchungsrichter mit voller Entschiedenheit in Abrede gestellt, daß Sie Winter gekannt haben? – Der Zeuge schwieg. Der Gerichtshof beschloß die Aussage des Zeugen Moritz Lewy protokollieren zu lassen. Lewy wurde darauf vereidigt und auf Antrag des Ersten Staatsanwalts wegen Verdachts des wissentlichen Meineids im Gerichtssaale verhaftet. – Im Plaidoyer bemerkte der Erste Staatsanwalt: Die nichtöffentliche Verhandlung hat ergeben, daß der ermordete Winter, obwohl noch Gymnasiast und erst 18½ Jahre alt, mit den verworfensten Dirnen intimen Verkehr unterhalten hat. Der Erste Staatsanwalt erachtete im weiteren die Schuld des Angeklagten Speisiger in drei Fällen für erwiesen und beantragte 2 Jahre 6 Monate Gefängnis. Der Gerichtshof sprach jedoch den Angeklagten wegen mangelnder Beweise frei. – Sehr bald darauf folgten mehrere Prozesse wegen Landfriedensbruchs, sowie wegen Auflaufs und Widerstands gegen die Staatsgewalt. Alle diese Straftaten waren aus Anlaß des Winterschen Mordes in Konitz und verschiedenen Nachbarstädten unternommen worden. – Am 25. Oktober begann vor dem Schwurgericht des Konitzer Landgerichts ein sehr umfangreicher Prozeß wegen wissentlichen Meineids 1) gegen den Gasanstaltsarbeiter Bernhard Maßloff, 2) dessen Ehefrau, geborene Roß, 3) Gesindevermieterin Anna Roß, 4) Frau Auguste Berg geborene Roß. Maßloff hatte vor dem Untersuchungsrichter beschworen: Er sei am Sonntag, den 11. März 1900, abends gegen 10 Uhr die Danzigerstraße entlang gegangen, um sich nach seiner außerhalb von Konitz belegenen Behausung zu begeben. Als er aus seiner Schnupftabakflasche eine Prise nehmen wollte, sei ihm der Propfen von der Schnupftabaksflasche zur Erde gefallen. Er habe sich gebückt, um den Pfropfen aufzuheben. Bei dieser Gelegenheit sei sein Blick in ein Kellerfenster gefallen. Er habe gesehen, daß mehrere Männer dort in einer Weise wie Schlächter hantierten. Gleichzeitig habe er winseln und stöhnen, sowie ein „Gebabber“ und Gurgeltöne vernommen. Obwohl er nicht wußte, wer in diesem Hause wohnte, sei er um die Ecke in die Rähmestraße gegangen. Dort habe er sich auf die Lauer gelegt. Nach etwa dreiviertel Stunden sei ein alter Jude aus dem Keller gekommen. Bald darauf seien noch zwei junge Juden, die ein schweres langes Paket trugen, aus dem Keller gestiegen. Der alte Jude und die zwei jungen Juden haben das schwere Paket nach dem Mönchsee getragen und dort hineingeworfen. Die Schwiegermutter des Maßloff, Frau Roß hatte vor dem Untersuchungsrichter bekundet: Ein Knecht habe dieselben Beobachtungen wie ihr Schwiegersohn Maßloff gemacht. Frau Berg und Frau Roß hatten außerdem beim Untersuchungsrichter bekundet: Sie hätten am Sonntag vor dem Morde verschiedene Beobachtungen in der Lewyschen Wohnung gemacht. Frau Lewy und ihre Schwester, die sogenannte „Lappen Lewy“ seien sehr aufgeregt gewesen. Diese haben auch Gespräche geführt, die sich auf die Ermordung des Gymnasiasten Winter bezogen. Außerdem haben sie in der Lewyschen Wohnung die Wintersche Uhrkette und ein dem Ermordeten gehörendes weißes Taschentuch, gezeichnet E. W. liegen sehen. Frau Maßloff hatte verschiedene Angaben ihres Mannes eidlich bestätigt. Da alle diese Angaben den Stempel der Unwahrheit an der Stirn trugen, wurde gegen die vier Personen Anklage wegen wissentlichen Meineids erhoben. Den Vorsitz in dieser Verhandlung, der auch ein Vertreter des Justizministeriums und zum Teil die antisemitischen Reichstagsabgeordneten Liebermann von Sonnenberg und Pastor a. D. Krösell beiwohnten, führte Landgerichtsdirektor Schwedowitz. Die Anklage vertraten der Oberstaatsanwalt am Oberlandesgericht zu Marienwerder Dr. Lantz und der Erste Staatsanwalt Settegast. Die Verteidigung führten und zwar als Offizialverteidiger die Konitzer Rechtsanwälte Dr. Hunrath, Zielowski, Gebauer und Vogel. Die Vernehmung des Hauptangeklagten Maßloff gestaltete sich ungefähr folgendermaßen: Ich wiederhole, daß ich die von mir angegebenen Vorgänge in dem Lewyschen Keller genau gesehen und auch beobachtet habe, wie die drei Männer das Paket wegtrugen. – Vors.: Wann hatten Sie etwas von dem Verschwinden des Ernst Winter erfahren? – Angekl.: Am Dienstag, den 17. März. Ich war damals arbeitslos und fragte in der Gasanstalt wegen Arbeit nach. Währenddem kam ein Junge auf den Hof und sagte: Es sei ein Rumpf im Mönchssee gefunden worden, der jedenfalls der des vermißten Ernst Winter sei. – Vors.: Wann haben Sie nun Ihre Wahrnehmungen gemacht, die Sie in der Voruntersuchung eidlich bekundet haben? – Angekl.: An dem Sonntag vorher abends. – Vors.: An diesem Tage war Winter verschwunden? – Angekl.: Ja. – Vors.: Was haben Sie nun an diesem Sonntag gemacht? – Angekl.: Gegen 7 Uhr Abends besuchte ich meinen Schwager Berg. Wir gingen dann zusammen in einen Gasthof, wo ich 3 bis 4 Glas Bier und auch einige Schnäpse trank; ich war aber vollständig nüchtern, als wir zurückgingen, um noch bei Berg Karten zu spielen. Hier trank ich noch einen Rum und ging dann gegen 10 Uhr Abends weg. Als ich die Danziger Straße entlang ging, wollte ich eine Prise nehmen. Dabei fiel mir der Pfropfen des Schnupftabakfläschchens auf die Erde und ich bückte mich, um ihn zu suchen. Währenddem kam ich mit dem Kopf einem Kellerfenster nahe und hörte dahinter ein Gemurmel. Auch sah ich einen Lichtschimmer durch die Ritze des verhängten Fensters scheinen. Das machte mich stutzig und aufmerksam. – Vors.: Das war doch aber nichts Auffälliges? Solchen Lichtschimmer sieht man doch öfter? – Angekl.: Es war doch aber schon nach 10 Uhr, auch war das mehr wie ein Gemurmel, es klang wie eine Art Geheul: Hoh! Hoh! Oh! Oh! – Vors.: Angeklagter Maßloff, überlegen Sie sich genau, was Sie hier sagen. Sie haben sich früher wiederholt widersprochen bei der Erzählung dieser Sachen. – Angekl.: Das ist keine Lüge, das ist die Wahrheit. – Vors.: Sie haben in der Voruntersuchung vor dem Landrichter Dr. Zimmermann ausgesagt, Sie hätten bei Bergs nicht bloß einen Rum, sondern außerdem 3 Schnäpse getrunken. Es kommt sehr darauf an, ob Sie vielleicht an jenem Abend betrunken waren. - Angekl.: Ich war vollständig nüchtern. – Vors.: Weiter haben Sie in der Voruntersuchung ausdrücklich gesagt: Meine frühere Aussage, daß ich durch den Lichtschimmer auf die Vorgänge im Keller aufmerksam geworden sei, ist falsch. – Angekl.: Jawohl, aber ich habe den Lichtschimmer deutlich gesehen. – Vors.: Was haben Sie dann getan? – Angekl.: Ich horchte am zweiten Fenster. – Vors.: Haben Sie sich dabei niedergebeugt? Überlegen Sie sich das genau. – Angekl.: Ich bin niedergekniet und habe mich auf die linke Hand gestützt. Dann brachte ich mein Ohr in die nächste Nähe des Fensters und hörte darauf ein dumpfes Gebabber aus dem Keller kommen. – Vors.: Von dem angeblichen Geheul haben Sie bisher nie etwas gesagt. – Angekl.: O ja doch. Ich habe gesagt: Es war so ein Gegurgel, als ob jemand Luft fehlte, weil er gewürgt wurde. – Vors.: Können Sie uns genau den Zeitpunkt angeben, wann das gewesen ist? – Angekl.: Jawohl, nach 10 Uhr. Ich hörte das Gegurgel dreimal. – Vors.: Was dachten Sie sich nun? – Angekl.: Ich dachte, daß ein Schlächter da unten etwas abschlachtet. – Vors.: Worauf stützten Sie Ihre Hand? Überlegen Sie es sich, es ist das sehr wesentlich. – Angekl.: Auf Steine. – Vors.: Wie war das Fenster beschaffen? – Angekl.: Zwischen den Fenstern und der Straße war ein Luftschacht. – Vors.: Dann mußten Sie Ihre Hand also doch auf die Stäbe über diesem Luftschacht legen? – Angekl.: So nahe war ich ja nicht am Fenster. – Vors.: Wenn man wo horcht, so bringt man das Ohr doch möglichst nahe heran. – Angekl.: Ich glaube auch, es war ein Eisengitter vor dem Fenster angebracht. – Vors.: Es ist auffallend, daß Sie, trotzdem Sie in der Stadt ziemlich fremd waren, mit einem Male so neugierig horchten, was da hinter dem Kellerfenster vor sich ging. – Angekl.: Ich mußte doch neugierig werden, als ich, während ich den Pfropfen suchte, plötzlich das Gebabber hörte. Ich sagte mir dann, daß ich doch noch genauer nachsehen müßte, was da eigentlich los wäre. Also war ich neugierig und ging um die Ecke herum an das Hinterhaus. – Vors.: Nun kannten Sie aber als Fremder gar nicht die Anlage und Bauart der Häuser, auch nicht ihre Bewohner? – Angekl. Nein. – Vors.: Es ist also auffallend, daß Sie mit dem Gedanken um die Ecke gegangen sein wollen, in dem Hinterhaus nachzusehen, ob Sie dort etwas erfahren könnten, während sie doch keinen Schimmer hatten, wie tief das Haus eigentlich geht und wo das Hinterhaus herauskommen würde? Wie konnten Sie wissen, daß an diesem Hinterhaus eine Hintertür war? Das ist doch etwas ganz Auffallendes. – Angekl.: Ich war doch schon einige Wochen in der Stadt. – Vors.: Sie wußten also, daß die Häuser in der Danziger Straße Hintertore hatten? – Angekl.: Das gerade nicht. Es fiel mir auch erst an der Ecke ein, als ich die Hinterfront der anderen Häuser sah. – Vors.: Sie müssen doch also zugeben, daß es auffallend ist, wenn Sie als Fremder von hinten herum zu erfahren suchen, was Sie von vorn beobachtet haben wollen. – Angeklagter schwieg. – Vors.: Es ist doch auch auffallend, daß Sie als fremder Mensch, auf dem Nachhauseweg begriffen, lediglich aus Neugierde in eine finstere Hintergasse sich hineinwagten. Sie kannten die Örtlichkeit doch nicht? – Angekl. Nein, ich bin suchend an den Torwegen entlang gegangen. Am ersten Torweg war nichts zu hören, am zweiten oder dritten hörte ich dann plötzlich wieder solches Gespreche und ein paarmal auch wieder das Gegurgel. – Der Angeklagte erzählte auf weiteres Befragen: Er habe an der Hinterfront in der Mauer-Straße an einem Torwege wiederum Gespräche und dieselben gurgelnden Laute wie vorher gehört. Er bückte sich zur Erde und sah durch einen Spalt der Türe in einen Hof; hierbei sah er erst einen Mann und bald darauf noch zwei Männer mit Licht auf den Hof kommen. In einem der Männer habe er den alten Fleischermeister Lewy erkannt, während ihm die beiden anderen unbekannt waren. Die drei Leute zogen sich in den inneren Hofraum zurück. Er habe schließlich gesehen, daß drei Männer ein langes, schweres Paket in der Richtung nach der Synagoge zu trugen. Im weiteren Verlauf wurden Maßloff vom Vorsitzenden eine Anzahl Widersprüche vorgehalten. – Frau Roß: Sie sei Sonntag, den 11. März, abends gegen 7 Uhr in der Lewyschen Wohnung gewesen. Sie habe dort verdächtige Geräusche und Winseln gehört. Außerdem habe sie ein Taschentuch mit E. W. gezeichnet in der Lewyschen Wohnung liegen sehen. In einem Laken, das sich bei der Lewyschen Wäsche befand, klebten schwarze Haare und Fleischfasern. Als sie Dienstag, den 13. März, zu Lewys kam, habe Frau Lewy gesagt: „Solch ein Mord! Solch ein Mord! Dem Mörder müßte jedes Glied einzeln gebrochen werden.“ Am folgenden Tage sei sie wieder zu Frau Lewy gegangen und habe diese gefragt: Sie könne ihr kein Dienstmädchen besorgen, weil der Mord in ihrer (der Lewyschen) Wohnung passiert sei. Darauf habe Frau Lewy erwidert: „Der Mord kommt bei Gott niemals heraus, denn die jüdische Gemeinde ist sehr reich.“ Ferner erzählte Frau Roß auf Befragen des Vorsitzenden: Am 1. Osterfeiertage sei ein Knecht zu ihr gekommen, von dem sie aber, da er keine Papiere bei sich hatte, keinen Vermerk in ihr Buch machte. Dieser Knecht habe ihr erzählt, daß er am 11. März den Zug verpaßt habe; er sei nachts zur Stadt zurückgegangen und dort habe er die Leute gesehen, welche ein Paket nach dem See trugen. – Frau Berg bestätigte im wesentlichen die Angaben ihrer Mutter, der Frau Roß. Sie sei, ebenso wie ihre Mutter, Sonntag, den 22. April, vom Oberlehrer Hofrichter und Zahnarzt Maibauer vernommen worden. – Frau Maßloff bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Sie habe in der Lewyschen Wohnung eine Uhrkette und die Photographie von Winter gesehen. Seit dem Morde habe es in ihrer Wohnung „gespukt“, sie seien deshalb ausgezogen. (Allgemeine Heiterkeit.) – Professor Dr. Paszotta, der Leiter des meteorologischen Instituts in Konitz, bekundete: In der Nacht vom 11. zum 12. März waren 3 Grad Kälte. Der Mond stand über dem Mönchsee so tief, daß die hintere Straße ohne Schatten war, dagegen konnte der Mond nicht in die Höfe der Häuser an der Danzigerstraße hineinscheinen. Maßloff hatte behauptet, daß im Hofe von Lewy Mondschein war. – Gerichtsarzt, Sanitätsrat Dr. Mittenzweig bekundete: Die Abgabe des Gutachtens ist erschwert, weil die Leichenteile einige Zeit im Wasser und dann noch 15 Tage im Spiritus gelegen haben, und weil man es nicht mit einem ganzen Leichnam, sondern nur mit einzelnen Teilen zu tun hatte. Bei der Nachobduktion ist auch festgestellt, daß Spiritus in die Gewebe geraten, wodurch die Auslaugung noch besonders befördert worden ist. Als wahrscheinliche Todesursache ist Verblutung anzunehmen, doch sind auch Symptome dafür vorhanden, daß Erstickung eingetreten ist. Diese Symptome bestanden darin, daß durch Einatmung Blut in die Lungen eingedrungen, welches bei Ausführung des Halsschnittes in die Luftwege geraten ist. Ich habe mich bezüglich des Schächtschnittes auf dem Berliner Viehhofe eingehend informiert. Ich war bei mehreren Schächtungen zugegen und fand, daß das eine ganz einfache Prozedur ist, die beinahe elegant ausgeführt wird. Der an der Leiche vom Winter vorgefundene Halsschnitt ist niemals ein Schächtschnitt gewesen, wenn auch die Höhe etwa übereinstimmt. Die weitere Frage, ob der Schnitt von vorn oder von hinten geführt wurde, läßt sich mit Sicherheit nicht beantworten. Der Tod ist mutmaßlich zwischen 1 und 7 Uhr nachmittags eingetreten. Auf eine Frage des Oberstaatsanwalts gibt der Sachverständige an, daß der Tod binnen 2 Minuten nach dem Schnitte erfolgt sein muß, und daß der Ermordete nach dem Schnitte ebensowenig noch Laute von sich geben konnte wie ein Tier nach dem Schächtschnitt. Die Zerlegung, die durchaus kunstgerecht ausgeführt war, konnte in etwa einer Stunde ausgeführt sein. – Gerichtsarzt, Medizinalrat Dr. Störmer (Berlin): Er neige der Ansicht zu, daß Winter sich verblutet habe. Der Halsschnitt sei augenscheinlich erst ausgeführt worden, als Winter infolge einer Erstickung sich bereits im Todeskampf befunden habe. Er könne dem Kollegen Mittenzweig nicht beistimmen, daß die Erstickungssyptome durch das Einatmen des Blutes in die Lungen zu erklären seien. Jedenfalls liege kein typischer Verblutungstod vor, denn die Leiche enthielt mehr Blut, als bei einem normalen Verblutungstode zulässig sei. Von Blutleere könne keine Rede sein. Der Tod müsse zwischen 1 und 7 Uhr nachmittags eingetreten sein, wenn nachgewiesen sei, daß Winter seit der Mittagsmahlzeit nichts mehr gegessen habe. Überhaupt lassen sich bei der Eigenart des Falles vollkommen sichere Behauptungen gar nicht aufstellen, sondern nur Wahrscheinlichkeitsdiagnosen, weil einige der wichtigsten Körperteile, wie Magen, Leber, Milz und Gedärme fehlen. Der Schnitt in das Zwerchfell sei durch die Absicht, die Leber zu entfernen, auf das Natürlichste zu erklären. – Gerichtsarzt, Privatdozent Dr. Puppe (Berlin): Es sei mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß der Tod durch Erstickung eingetreten sei, den Tod durch Verblutung halte er für ausgeschlossen. Auffallend sei, obwohl die Leichenteile so lange im Wasser und alsdann in Spiritus gelegen haben, der immer noch große Bestand an Blut in sämtlichen Geweben. Er sei auch der Ansicht, daß der Tod zwischen 1 bis 7 Uhr nachmittags erfolgt sei. – Eine Anzahl Nachbarn und Bewohner des Lewyschen Hauses bekundeten: Sie seien am Sonntag, den 11. März, den ganzen Nachmittag zu Hause gewesen und haben nichts Auffälliges wahrgenommen. Ein Stöhnen und Winseln hätten sie zweifellos gehört. Alle diese Zeugen bekundeten, daß sie Ernst Winter niemals im Lewyschen Hause gesehen haben. – Fleischermeister Adolf Lewy bekundete: Wenn ihm am 11. März ein Stück Fleisch von 5 bis 6 Pfund abhanden gekommen wäre, dann hätte er es zweifellos gemerkt, es sei ihm aber bestimmt kein Stück Fleisch abhanden gekommen. Maßloff hatte nämlich behauptet, er habe an jenem Abend in dem Lewyschen Hofe nicht nur Beobachtungen gemacht, sondern auch ein Stück Fleisch gestohlen. – Es verdient erwähnt zu werden, daß der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Schwedowitz zu sämtlichen jüdischen Zeugen sagte: Sie seien berechtigt, ihre Aussage zu verweigern, wenn sie befürchteten, sich dadurch einer strafrechtlichen Verfolgung auszusetzen. Christlichen Zeugen wurde diese Vorhaltung nicht gemacht. Sehr eingehend wurde über das Alibi des Fleischermeisters Adolf Lewy am Nachmittag und Abend des 11. März verhandelt. Die Geschworenen fragten alle christlichen Alibizeugen bezüglich Lewy, ob sie von letzterem beeinflußt worden seien. Diese Frage wurde von allen Zeugen verneint. – Im Laufe der Verhandlung erschien eine Frau Wiriorra als Zeugin: Im Dezember 1899 oder im Januar 1900 sei sie eines Tages als einzige Kundin im Laden von Matthäus Meyer gewesen. Zunächst seien nur Frau und Fräulein Meyer im Laden gewesen. Sehr bald darauf seien Herr Meyer und ein fremder Mann in den Laden getreten. Sie gingen in den Hintergrund des Ladens. Alsdann habe Frau Meyer sie (Zeugin) gefragt, ob sie Ernst Winter kenne, und als sie dies bejahte, habe Frau Meyer gemeint: das sei nicht gut. Fräulein Meyer habe hinzugefügt: „Mama, was geht denn dich das an.“ Sie habe sich gedacht, daß es sich bei der ganzen Sache um eine Überraschung für Tuchlers, etwa um einen gemeinsamen Gesang, oder so etwas gehandelt habe. – Witwe Hellwig: Sie sei vor längerer Zeit einmal bei Matthäus Meyer im Laden gewesen. Meyer sei mit Frau und Tochter und einem fremden Juden aus einem Hinterzimmer gekommen. Der Fremde ging fort. Sie (Zeugin) habe gefragt, ob dieser Mann die Abgaben haben wollte. Da sagte Matthäus Meyer: „Abgaben gerade nicht, ich werde ihm schon so viel geben, daß er zufrieden ist.“ Frau Meyer sagte, es sei eine Verschwörung gegen einen jungen Herrn. Frau und Fräulein Meyer fragten sie, ob sie den Winter kenne, und eine von ihnen meinte dann: „Da kommt er“, und als sie hinsehen wollte, da hieß es, er sei es nicht. Meyers haben sie dann nach ihrer Religion befragt. Hellwig habe geantwortet, sie sei katholisch. Da sagten Meyers, das wäre gut; denn Winter sei evangelisch. Frau Hellwig fragte, was Winter verschuldet habe, ob er jemand umgebracht habe; darauf sagten die Meyerschen: „Nein.“ Frau Meyer sagte noch, sie brauchten das Blut nicht zur Mazze, auch nicht zum Händewaschen oder so etwas, sondern nur zum Glück. – Besitzer Hellwig (Sohn der Vorzeugin): Am 29. November 1899 kam er zu Matthäus Meyer. Der Laden war leer. Da kam aus der Hinterstube erst ein fremder Mann, anscheinend ein Jude, dann Meyer, seine Frau und seine Tochter. Der Mann versteckte sein Gesicht. – Die Familie war anscheinend sehr aufgeregt. Frau Meyer sagte auf die Frage, was der fremde Mann wolle: Abgaben gerade nicht, aber wir werden ihn schon zufrieden stellen, wir ziehen nach Berlin. Es ist eine Unterschreibung wegen einer Verschwörung gegen einen jungen Herrn. Er (Zeuge) fragte, ob sie den jungen Herrn umbringen oder verklagen wollten. Frau Meyer sagte: Umbringen wollen wir ihn nicht, aber ihm etwas antun. Dann sagte Herr Meyer etwas, was er nicht verstand. Fräulein Meyer sagte zu ihm: Wenn er den Winter kenne, so möchte er ihm doch sagen, daß er sich vorsehen solle und lieber von Konitz weg auf ein anderes Gymnasium gehen.

Der Vorsitzende hielt dem Zeugen vor, daß er bei jeder Vernehmung immer mehr sage, heute aber zum ersten Male etwas von Lewy erzählte. – Hellwig: Was ich sage, ist wahr. Ich bin von Meyer zu Lewy gegangen. Es war Sonntag Vormittag, ich bin vorn in den Laden gegangen. Lewy sagte: ich solle hinterkommen, er schärfte gerade ein großes Schlachtmesser. Ich sagte: ich komme nicht nach hinten. Da hörte ich, wie Lewy zu seiner Frau und Söhnen sagte: „Brauchen Blut, Christenblut, gute Gelegenheit, Gomisten spazieren.“ – Vors.: Sie meinen wohl „Gymnasiasten“? Zeuge: Ja. (Heiterkeit.) – Oberstaatsanwalt: Was haben Sie sich bei dieser Äußerung Lewys gedacht? – Zeuge: Gar nichts. – Oberstaatsanwalt: Ich kann mir auch nichts dabei denken. – Der Vorsitzende stellte fest, daß der Zeuge ebenso wie seine Mutter die ganze Aussage wie am Schnürchen hergesagt habe und fragte, wie die Aussage in die Zeitung gekommen sei. Der Zeuge erzählte, daß er in das Gasthaus gekommen sei. Dort sei ein fremder Mann gewesen. Über das Gespräch mit diesem könne er keine Auskunft geben, ebensowenig über ein zweites Gespräch, das er mit zwei fremden Herren hatte, die ihn in der Wohnung besuchten. Der Zeuge erzählte ferner, er sei einmal auf dem Hofe des Getreidehändlers Caminer gewesen, auf dem sich noch einige andere Leute befanden. Caminer habe zu ihm gesagt: Sie sehen doch so frisch und jung aus, Sie haben wohl viel Blut, Sie sind gut dazu. – Ich fragte: wozu? Caminer schwieg, und als ich noch einmal fragte: wozu denn? sagte Caminer: Dieses Jahr ist das Blut sehr teuer, es kostet eine halbe Million Mark. Alsdann sei der junge Caminer gekommen und habe zu ihm (Zeugen) gesagt: er solle keine Angst haben, sein Vater habe nur mit ihm gescherzt. – Oberstaatsanwalt: Dieser Zeuge ist meiner Meinung nach überhaupt nicht ernst zu nehmen. – Einige Tage darauf erschien Redakteur John (Berlin) nebst Frau als Zeugen. Sie bekundeten: Zeuge Hellwig sei derartig abergläubisch, daß er einmal mit vollem Ernst behauptet habe, er habe aus einem Schornstein den leibhaftigen Teufel herauskommen sehen. (Große allgemeine Heiterkeit.) Hellwig und auch seine Mutter glauben auch, daß es Hexen gebe. Hellwig gab als möglich zu, die von John bekundete Äußerung getan zu haben. – Eine Anzahl Polizeibeamte, die bei Lewy sofort nach Auffindung des Winterschen Leichnams Haussuchung gehalten haben, bekundeten: Sie haben das ganze Haus von oben bis unten auf das genaueste untersucht, alle Wände und Fußböden beklopft, sie haben aber nicht eine Spur entdecken können, die darauf hätte schließen lassen, daß im Hause ein Mensch ermordet worden sei. – Polizeikommissar Block: Er habe dreimal bei Lewy und einmal in der Synagoge Haussuchung gehalten. Diese Untersuchungen geschahen auf das sorgfältigste. Er war auch im Lewyschen Keller; dessen gesamter Zustand war derart, daß man sah, es konnte dort lange nichts geschehen sein. Alles war schmutzig und mit Spinnweben bedeckt, die Eisenteile waren verrostet. Auch die Lewysche Räucherkammer habe er durchsucht, und ebenso den gesamten Papiervorrat nach Nummern der „Täglichen Rundschau“. (In einen Bogen der „Tägl. Rundschau“ war der Kopf Winters eingewickelt.) Es war aber alles umsonst, nicht die geringste Spur wurde gefunden. Im Keller konnten Vorhänge an den Fenstern nicht angebracht sein, weil sonst die Spinnweben hätten zerrissen sein müssen. Spuren von Nägeln, die zur Befestigung der Vorhänge hätten dienen können, waren auch nicht zu finden. Er erachte es für ausgeschlossen, daß Vorhänge an den Fenstern des Lewyschen Kellers gewesen seien. – Kriminalkommissar Wehn (Berlin): Ich kam am 25. März nach Konitz. Nachdem ich sämtliche Mitglieder der Lewyschen Familie vernommen hatte, bat mich der alte Lewy selbst, die ganze Wohnung genau zu durchsuchen. Ich tat dies, ohne das Geringste zu entdecken. Bei einer späteren Haussuchung habe ich den Kriminalschutzmann Beyer hinzugezogen, aber auch diese Haussuchung war ergebnislos. – Der Vorsitzende unterbrach die Vernehmung dieses Zeugen und teilte mit: Der Gerichtshof habe beschlossen, sofort eine Untersuchung der Lewyschen Räucherkammer durch Stadtbaumeister Hampel, Kommissar Block, den früheren, Kommissar Krischt und einen Schornsteinfegermeister vornehmen zu lassen. – Alsdann fuhr Kriminalkommissar Wehn fort: Ich fand eine Aussage vom Maßloff vom 24. März vor, der ich aber keinen Wert beilegte. Damals hatte Maßloff nur gesagt, daß ihm die hellen Fenster aufgefallen seien. Maßloff, der in Konitz fremd war, kann den Eingang zu dem Lewyschen Hause gar nicht gefunden haben. Dann bin ich abends mit Beyer in den Hof gegangen; Polizeiinspektor Braun blieb mit Maßloff vor der Tür. Maßloff mußte sich hinlegen, konnte aber nichts sehen. Ich nahm nun eine Lampe, wir gingen in den Keller und traten heraus. Braun fragte, wieviel Personen aus dem Keller kämen; Maßloff wußte bei mehrmaligen Versuchen die Zahl der Personen, die dort herauskamen, nicht richtig anzugeben. Bezüglich der Angaben der Frau Roß habe ich festgestellt, daß man nicht, wie sie behauptet, eine Person sehen kann, die aus dem Keller kommt. Übrigens haben alle Nachforschungen nach dem Taschentuch, der Nummer der „Täglichen Rundschau“, der Photographie und der Uhrkette bei Lewy stets ein negatives Resultat ergeben. Die vorgefundenen Ketten hatten keine Ähnlichkeit mit der Winterschen. Lewy war jederzeit bemüht, alle dunklen Punkte aufzuklären. Als er zwei Pakete zurückerhielt und die Polizei das Papier beschlagnahmen wollte, schaffte Lewy selbst das Papier herbei, welches noch die Postnummer trug. Auf Befragen des Verteidigers, Rechtsanwaltes Hunrath, erklärte Kommissar Wehn: Inspektor Braun habe ihm vollkommen beigepflichtet, daß es sich bei den Aussagen von Maßloff und der Roß um ein gewaltiges Lügengewebe handle. Er habe die Untersuchung mit voller Objektivität geführt, und auch bei Juden wiederholte Nachforschungen vorgenommen. – Alsdann äußerte sich Stadtbaumeister Hampel über die beschlossene Untersuchung der Lewyschen Räucherkammer: Ich fand nichts Verdächtiges, eine kleine Ausbesserung ist anscheinend vor 14 Tagen gemacht worden. Schornsteinfegermeister Czewladowski bestätigte diese Bekundung. Fleischermeister Lewy bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Er habe in der Räucherkammer eine Stelle ausbessern lassen, weil es bei Fräulein Kroll geraucht habe. – Kriminalpolizeiinspektor Braun (Berlin): Er sei gerade an dem Tage nach Konitz gekommen, als der Lokalaugenschein bei Lewy infolge der Aussagen Maßloffs stattfand. Am Abend habe er Lokaltermin bei Licht abgehalten. Zuerst sprach Maßloff von einer Spalte in der Tür von oben nach unten. Als er aber dort war und keine Spalte fand, meinte Maßloff; es sei unten eine Ritze gewesen, durch die er gesehen habe. Bei dem vorgenommenen Versuch sah er wohl Licht, konnte aber die Personen nicht unterscheiden und wußte auch nicht anzugeben, wieviel dort waren. Er (Zeuge) habe dann selbst den Versuch gemacht, konnte aber auch nichts sehen. – Oberlehrer Dr. Hofrichter, der wegen seiner prononzierten Stellungnahme versetzt worden war, bekundete als Zeuge: Er habe die angeklagte Frau Roß wiederholt vernommen und habe die Überzeugung gewonnen, daß die Geschichte von dem Knecht auf Erfindung beruhe. – Floßmeister Steinke (Prechlau): Im Oktober 1899 habe er bei dem Fleischermeister Eisenstädt Fleisch gekauft. Dabei sei die Rede auf den Gymnasiasten Winter gekommen. Eisenstädt habe gesagt: „Der Gymnasiast Winter ist gut zum Schlachten.“ Er (Zeuge) habe geantwortet: Dazu ist der junge Mann doch zu schade. „I was, weshalb zu schade“, habe Eisenstädt gesagt. Er (Zeuge) habe erwidert: Es ist doch zu wenig Fleisch dabei. Eisenstädt erwiderte: „Wenigstens gibt es Blut“. Obwohl er (Zeuge) sich dabei nichts gedacht, habe er den alten Winter gefragt: Ist denn Ihr Sohn mit Eisenstädt verfeindet? Eines Tages habe er in der Bahnhofstraße in Konitz das Gespräch von zwei Juden belauscht, die sich über Israelski unterhielten. Einer sagte: Nu, es wird alles bezahlt, Der andere Jude habe erwidert: Die Sache hat sich verschlechtert. Vors.: Wann fand diese Unterhaltung statt? Zeuge: Mitte Mai d. Js. – Fleischermeister Eisenstädt bezeichnete mit großer Entschiedenheit die Bekundungen Steinkes als vollständig erfunden. Eine Gegenüberstellung des Steinke mit Eisenstädt führte zu keinem Ergebnis. Eisenstädt bemerkte: Es ist traurig, daß bei dieser angeblichen Unterhaltung ein dritter nicht zugegen war, sonst würde Steinke so etwas nicht behaupten. – Frau Kaufmann Meyer: Sie habe Ernst Winter weder der Person noch dem Namen nach gekannt, sie könne daher nicht Äußerungen getan haben, wie Frau Wiwiorra behauptet. Sie erinnere sich nicht, daß ein Mann mit einer Liste bei ihnen im Laden gewesen sei. Frau Wiwiorra und Frau Meyer wurden einander gegenübergestellt. Beide blieben bei ihren Aussagen. Der Vorsitzende fragte Frau Wiwiorra, ob ihr das nicht alles bloß eingeredet worden sei. Die Zeugin verneinte dies. – Fräulein Rosa Meyer: Der Ausverkauf im Meyerschen Laden sei am 10. Januar beendet gewesen. Die nicht verkauften Warenbestände wurden am Dienstag nach der Wohnung geschafft. Ernst Winter sei ihr einmal von ihrer Schwester gezeigt worden. Daß im Laden bei irgend einem Gespräche in ihrer Gegenwart einmal von Ernst Winter gesprochen wurde, müsse sie entschieden bestreiten. Frau Wiwiorra wiederholte ihre Behauptungen. – Kaufmann Matheus Meyer: Er habe Ernst Winter nicht gekannt. Erst nach dem Morde habe ihm eine seiner Töchter erzählt, daß sie Winter einmal gesehen habe. Die Angaben der Frau Wiwiorra seien unwahr. Daß zuweilen Leute zu ihm kamen um für irgend einen Zweck Beiträge zu holen, sei selbstverständlich. – Es erschien darauf als Zeugin Frau Borchardt. – Vors.: Ist der Name Winter einmal in Ihrer Gegenwart im Meyerschen Laden genannt worden? – Zeugin: Nein. – Vors.: Nein? – Zeugin: Ja. – Vors.: Ja? – Zeugin: Nein, – Vors.: Also nein? – Was haben Sie sonst gehört? – Zeugin: Einmal hörte ich im Meyerschen Laden eine Tochter sagen: Papa, du sollst nicht unterschreiben, das ist Mord. Welche Tochter das gewesen ist, kann ich nicht sagen. – Rosa Meyer erklärte, daß sie zuweilen auch bei geringfügigen Anlässen die Redensart gebraucht habe: Das ist ja mehr wie Mord. In einem solchen Zusammenhang wie Frau Borchardt erzähle, sei das aber nicht geschehen. – Frau Borchardt: Nach dem Morde sei ihr das Gespräch eingefallen, sie sei auf Anraten zur Polizei gegangen. Da sie aber das Datum nicht gewußt, habe der Beamte gesagt, dann wissen Sie wohl überhaupt nichts; sie habe darauf nein geantwortet und danach habe sie der Beamte überhaupt nicht mehr gefragt. – Kriminalkommissar Wehn: Ich habe die Frau, nachdem sie vernommen war, gefragt: Ist Ihre Aussage wahr oder unwahr? Darauf hat die Frau die Augen niedergeschlagen und geantwortet: Unwahr. Bei dieser Vernehmung war noch ein Polizeibeamter zugegen, wer es war, weiß ich aber augenblicklich nicht. – Schneidermeister Beyer: Ich habe einmal im Meyerschen Laden ein sehr lebhaftes Gespräch mit angehört. Dabei hörte ich den Namen Ernst Winter von Jenny Meyer nennen. Vors.: In welchem Zusammenhang geschah das? – Zeuge: Das weiß ich nicht. Vors.: Sie erklärten früher, Fräulein Meyer hätte gesagt: Was willst du von Winter? – Zeuge: Ja, das war später. – Vors.: Was sagte der Vater darauf? – Zeuge: Das weiß ich nicht. – Vors.: Am 7. Juni haben Sie gesagt, er hätte geantwortet: Was kümmert es dich, wir ziehen nach Berlin, schweig doch still. – Zeuge: Das war später. Ich fragte, was das für ein Winter wäre, und darauf sagte Meyer, daß er ein Gymnasiast sei. Auf meine Frage, ob er aus Baldenburg sei, sagte Meyer: „Nein, aus Prechlau.“ Der Vorsitzende hielt dem Zeugen vor, daß er früher die obige Äußerung Meyers gleich in den Anfang des Gespräches verlegt habe. – Waschfrau Schiller: Alex Prinz, der allgemein der „dumme Alex“ genannt werde, habe ihr erzählt: die drei Kantoren, Hamburger aus Schlochau, Heymann (Konitz) und der Elbinger Kantor haben zusammen Ernst Winter geschlachtet. Der Mord sei bei Lewy im Keller geschehen. Geld habe Winter nicht gehabt, aber Blut, das bringe hunderttausend Taler ein. Das Blut wird verpackt und an Rothschild geschickt, da bekommen alle Juden der ganzen Welt etwas davon ab. Christenblut in die Mazzes getan, bringt großes Glück. Als der Kopf des Winter gefunden wurde, sagte Alex Prinz: Den hat Israelski weggetragen, der wird aber nichts verraten und wenn er zehn Jahre im Gefängnis sitzen müßte. – Auf Befragen des Vorsitzenden bemerkte die Zeugin: Sie halte Alex Prinz für ganz vernünftig, er habe sich zum Wasserholen sehr geschickt angestellt. Alex habe ihr einmal einen Zettel gezeigt, auf dem 36 Gebrüder standen. Sie habe sich verpflichtet gefühlt, alle diese Dinge dem Schlächtermeister Hoffmann zu erzählen. Alex habe auch erzählt: er sei in der Synagoge furchtbar verhauen worden. – Es wurde alsdann Alex Prinz als Zeuge aufgerufen. Der Zeuge, ein mittelgroßer, etwa 20jähriger Mensch, machte vollständig den Eindruck eines Blödsinnigen. Seine Vereidigung wurde ausgesetzt. Er bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden: Man habe ihn bei Jeleniewski betrunken gemacht und ihm gesagt: er solle erzählen, daß Lewy und Heymann den Mord begangen haben. Er wisse aber nicht, wer Winter ermordet habe. Es sei auch unwahr, daß er in der Synagoge verhauen worden sei. – Geschworener, Oberlehrer Meyer: Sind Sie in der Synagoge zu persönlichen Dienstleistungen herangezogen worden? Zeuge: Nein. – Der Zeuge Prinz bemerkte im weiteren auf Befragen des Vorsitzenden: Frau Schiller habe ihm einmal die Karten gelegt. Die Karten haben besagt: Wenn man auch nichts gesehen hat und man sagt es vor Gericht aus, dann kriegt man ein paar tausend Mark. – Kreisarzt, Sanitätsrat Dr. Müller bezeichnete den Zeugen als schwachsinnig. – Der Gerichtshof beschloß, den Zeugen nicht zu vereidigen, da ihm die erforderliche Einsicht für die Bedeutung des Eides abgehe. – Kaufmann Preppel: Er sei am 11. März nachts gegen 12 Uhr aus Tuchel gekommen. Mit einem Kollegen sei er vom Georgsplatz aus die Danziger-, Mauer-, und Rähmestraße entlang gegangen. Es sei ganz heller Mondschein gewesen. Wenn Maßloff in der Rähmestraße gelegen hätte, würde er ihn unbedingt gesehen haben. Er sei auch dem Knecht, von dem die Angeklagte Roß sprach, nicht begegnet. – Zeuge.: Nun Maßloff was sagen Sie dazu? – Maßloff: Was ich gesagt habe, ist wahr. – Zeuge.: Behaupten Sie, daß der Zeuge die Unwahrheit sagt? Maßloff schwieg. – Journalist Max Wienecke (Berlin): Er sei zugegen gewesen, als der Verleger der „Staatsbürger Zeitung“ Wilhelm Bruhn (Berlin), Maßloff im Hotel Kühn vernommen habe. Er (Wienecke) habe zu Maßloff gesagt: Haben die Juden im Lewyschen Keller hebräisch gesprochen? Ja, ja, sie haben hebräisch gesprochen, habe Maßloff geantwortet: Er (Zeuge) habe überhaupt die Wahrnehmung gemacht, daß in Konitz ungeheuer viel gelogen werde. – Krankenhausarzt Dr. Lukowitz: Eisenstädt sei im März im Krankenhause gewesen, da er sich eine Blutvergiftung zugezogen hatte. Er hatte ihm am Montag, den 12. März Nachturlaub erteilt. Jedenfalls wäre Eisenstädt nicht im Stande gewesen, den Mord zu begehen, da er die rechte Hand in der Binde trug. – Krankenschwester Feliese bekundet: Eisenstädt sei in der Nacht vom 11. zum 12. März nicht im Krankenhause gewesen. Eine zweite Krankenschwester bestätigte das. Die Zeuginnen blieben bei dieser Behauptung, obwohl ihnen der Vorsitzende vorhielt: eine ganze Anzahl Zeugen haben bekundet: Eisenstädt habe in der Nacht vom 12. zum 13. März Nachturlaub gehabt, und sei am Montag, den 12. März in Schlochau gewesen. – Kriminalinspektor Braun: Er habe am 15. Mai nochmals mit dem Angeklagten Maßloff einen Lokaltermin abgehalten. Maßloff konnte nichts sehen. Auch bei Lampenschein konnte er die Personen nicht genau erkennen. Er habe den Zeitungsverleger Bruhn gesagt, daß die Angaben Maßloffs unglaubwürdig seien. Darauf habe Bruhn bemerkt: Die Polizeibeamten seien zu einseitig, weil sie die Sache nicht vom politischen Standpunkte aus betrachteten. Er (Braun) habe darauf erwidert: Er habe den Mörder zu suchen und nicht Politik zu treiben. Bruhn habe darauf bemerkt: Es handelt sich um eine eminent politische Angelegenheit. Er (Braun) habe den Lewyschen Keller aufs Gründlichste untersucht, aber keine verdächtige Spur gefunden. Die Spinnengewebe waren so dick, daß kein Nagel und kein Brett, also auch kein Vorhang an den Kellerfenstern gewesen sein konnte. Die Recherchen waren furchtbar schwierig, weil die Bevölkerung ungemein aufgeregt war. Entweder hörte man: „Ich sage nur gegen die Juden aus“, oder „Lassen Sie mich in Ruhe, ich will von der Sache nichts wissen“. In seinem Bericht vom 25. Mai habe er gesagt: Die alles christliche Gefühl verhöhnenden Beschuldigungen gegen die Juden wegen Ritualmordes müßten aus der Diskussion ausscheiden. Damals habe er auch gesagt, daß das Material gegen Hoffmann erdrückend sei. – Auf Befragen eines Verteidigers bemerkte Inspektor Braun, daß ihm das Material über den Ritualmord sowohl von jüdischer wie von antisemitischer Seite bekannt sei. Das Paket mit den Leichenteilen war nicht schwer; es hatte auch nicht zwei sondern vier Zipfel, und man konnte es sehr leicht fortbringen, wenn man es unter dem Arme trug. Er (Zeuge) ist auch heute noch der Meinung, daß es sich gar nicht um Mord, sondern um Totschlag handele. Bezüglich der Auffassung, der Mord hätte in der Synagoge geschehen sein können, habe er nicht das geringste belastende Moment gefunden. Er sei im Orient unter den schlimmsten Juden groß geworden, er habe aber niemals das geringste Moment für einen Ritualmord kennen gelernt. – Im weiteren Verlauf fragte der Erste Staatsanwalt den Kriminalkommissar Wehn, ob er auch andere Spuren verfolgt habe, die sich gegen Juden richten. – Kommissar Wehn: Er habe die eingehendsten Ermittelungen nach allen Richtungen angestellt. Auch in der ganzen Umgegend von Konitz seien die sorgfältigsten Ermittelungen angestellt worden, jede Spur sei aufs genaueste geprüft worden. Eine zeitlang habe sich der Hauptverdacht gegen den Schächter Fuchs gerichtet, auch hier wurden alle Spuren verfolgt, aber nicht etwa in der Annahme, daß es sich um einen Ritualmord handle, sondern um die Spur nach jeder Richtung hin zu verfolgen. Die Grundlosigkeit des Verdachtes nach dieser Richtung hin habe sich indessen bald ergeben. Es seien ferner alle jüdischen Schächter in Konitz, ja sogar alle jüdischen Einwohner beobachtet worden. Überall habe sich aber die Grundlosigkeit jedes Verdachtes herausgestellt. – Frau Prill: Die Angeklagte Roß habe ihr einmal erzählt: Als sie am Sonntag, den 11. März in der Lewyschen Wohnung gesessen habe, sei ihr etwas auf den Schoß gefallen. Dadurch habe sich Winter bei ihr gemeldet, denn in diesem Augenblick sei er ermordet worden. (Große allgemeine Heiterkeit.). – Frau Reichert: Die Angeklagte Berg habe ihr vor Ostern erzählt, daß sie die Wäsche für Lewy besorgt habe. Sie habe dabei einmal ein Laken gefunden, welches merkwürdige[WS 1] „Fusseln“ hatte, entweder waren es Haare oder Wollfusseln. Bei der Wäsche dieses Lakens sei es ihr ganz merkwürdig gewesen, sie habe solch Gruseln dabei verspürt und geglaubt, daß dies das Mordlaken gewesen sei. Von einem Taschentuch habe sie nichts gesagt. Auf ihre (der Zeugin) Frage habe die Berg ausdrücklich erklärt, daß keine Blutflecken auf dem Laken gewesen seien. Von Maßloff habe Frau Berg nur mitgeteilt, daß er das Licht gesehen habe. – Kriminalinspektor Klatt (Berlin): Irgendwelche Tatsachen, die einen Verdacht gegen Personen jüdischen Glaubens rechtfertigen konnten, habe er trotz sorgfältigster Nachforschung nicht entdecken können. Er hätte auch niemals einen Antrag auf Verhaftung auch nur eines Mitgliedes der Familie Lewy gestellt. – Am 13. Verhandlungstage begannen die Plaidoyers. Erster Staatsanwalt Settegast: Ein grauenvoller Mord hat die allgemeine Aufmerksamkeit in hohem Maße erregt. Leider ist es bisher allen Bemühungen von Behörden und Beamten nicht gelungen, den Mörder ausfindig zu machen. Die sogenannte Volksmeinung hat die Behörden nach einer bestimmten Richtung hin zu drängen sich bemüht, aber die mit der Ermittelung und Untersuchung betrauten Beamten haben trotz der eifrigsten und unparteilichsten Prüfung nach dieser Richtung hin nichts zu ermitteln vermocht. Die Beweise waren nicht ausreichend, um daraufhin irgend einen bestimmten Verdacht begründen zu können. Bei dem heutigen Prozesse steht aber nicht der eigentliche Mord im Mittelpunkt, es handelt sich hier nicht darum, die Frage zu entscheiden, ob Ritualmord oder nicht, es handelt sich auch nicht um den oder die Täter, die das Verbrechen an Winter verübt haben. Es handelt sich heute ausschließlich um das Verbrechen des Meineides, dessen die Angeklagten sich schuldig gemacht haben. Was den Mord Winters anbelangt, so ist es heute nur möglich, sich auf die Tatsachen zu stützen, welche für das Verschwinden Winters noch vorhanden sind und auf die Tatsachen, soweit sie sich auf die Auffindung der Leiche beziehen. Winter ist eines gewaltsamen Todes gestorben, das haben die Aussagen und Gutachten der Gerichtsärzte bewiesen. Die erste Annahme ging dahin, daß Winter in den Wohnräumen einer Dirne ums Leben gekommen sei. Dann lenkte sich der Verdacht auf den Fleischermeister Hoffmann. Hier waren indessen die Beweise nicht ausreichend. Darauf richtete sich der Verdacht gegen Lewy. Zehn Tage nach dem Morde erschien Maßloff auf der Polizei, um dort seine Wahrnehmungen zu bekunden. Alle Nachforschungen bei Lewy ergaben aber ein negatives Resultat und absolut nichts Belastendes. Erst am 18. April, also 25 Tage nach dem Morde, erschien Frau Roß und erzählte von den Wahrnehmungen, die ein Knecht gemacht haben wollte. Daraufhin trat das „Nebenuntersuchungs-Komitee“ in Tätigkeit und machte allerlei Anzeigen, die dazu führten, daß die Angeklagten mehrfach eidlich vernommen wurden. Der Erste Staatsanwalt ging alsdann des Näheren auf die bekannten Aussagen Maßloffs und der anderen Angeklagten ein. Er wies dabei auf die verschiedenen Widersprüche hin, die sich zwischen den Aussagen der Angeklagten vom 28. April resp. 2. Mai und denen vom 8. Juni ergaben. Die Geschworenen sollen jetzt nur entscheiden, ob die Anklage berechtigt ist oder nicht. Maßloff hat unbedingt am 2. Mai einen Meineid geschworen. Amtsrichter Pankau hatte ihn eindringlich gewarnt und trotzdem hat Maßloff höchst wichtige Dinge verschwiegen, das Gleiche gilt von Frau Roß, die schon früher vernommen wurde, und von Frau Maßloff und Frau Berg. Alle diese haben am 28. April von den wichtigen angeblichen Wahrnehmungen Maßloffs nichts ausgesagt. Aber auch die letzten Aussagen der Angeklagten müssen unwahr sein. Maßloff hat die Häuser nicht gekannt; wie sollte er wissen, daß in der Nebenstraße die Geräusche genauer zu hören waren? Höchst unglaubwürdig ist es auch, daß sich jemand so lange, wie er, aus Neugierde in der Kälte auf die Erde legt. Wäre seine Neugierde wirklich so groß gewesen, so hätte er sicherlich versucht, viel mehr zu erlauschen. Unglaubwürdig ist es auch, daß er als einzelner Mensch sich auf den Hof gewagt haben würde, wenn die Sache, wie er sie geschildert, so unheimlich gewesen wäre. Unglaubwürdig und unwahrscheinlich ist auch die Erzählung der Frau Roß. Auch ihre Aussagen haben zahlreiche Widersprüche ergeben, und der Augenschein widerspricht den Angaben Maßloffs. Maßloff selbst widerspricht sich in einem fort. Die Zeugenaussagen haben auch ergeben, daß Maßloff bei seinen Erzählungen, dritten Personen gegenüber, widersprechende Angaben gemacht hat. Die Erzählung des Angeklagten dem Polizeisergeanten Nasilewsky gegenüber läßt sich weder mit den Mitteilungen, die er dem Direktor Aschke gemacht hat, noch mit seinen polizeilichen eidlichen Bekundungen in Einklang bringen. Bezeichnend ist ja auch, daß Frau Roß, die ihren Schwiegersohn doch kennen muß, ihn für lügenhaft hält. Unvereinbar sind auch die Aussagen der Frau Roß mit den Aussagen der Frau Rutz, der Frau Hirsch und der Familie Jeliniewsky. Durch die Aussagen dieser Zeugen ist festgestellt, daß Frau Roß bereits vor Ostern von dem Knechte gesprochen hat. Die Aussagen der Handlungsgehilfen Puppel und Kuntzig beweisen, daß Maßloff unmöglich seine Wahrnehmungen hat machen können. Der Pfarrer Bönig hat zwar erklärt, daß ihn noch keines seiner Pfarrkinder belogen hat, wenn es freiwillig zu ihm kam; Maßloff ist aber nicht freiwillig zum Pfarrer gekommen, sondern ist auf Veranlassung der Kriminalbeamten geholt worden. Der Angeklagte hat vor Ostern gebeichtet, hat dann aber am 2. Mai unter allen Umständen falsche Angaben gemacht. Bei den Aussagen der Frau Roß ist von Wichtigkeit die Erzählung ihres Besuches bei Lewy, wobei sie das Wimmern gehört haben will, ferner auch die Geschichte von dem Knecht. Bei dieser letzteren Sache hat sie nachgewiesenermaßen die verschiedensten sich widersprechenden Angaben gemacht, es ist auch trotz der größten Anstrengungen nicht gelungen, diesen Knecht ausfindig zu machen. Es ist unmöglich, daß jener Knecht und Maßloff die gleichen Wahrnehmungen gemacht haben können. Außerdem soll dann ja noch ein Dritter, der Schlosser Berg, die gleiche Beobachtung gemacht haben. So verdienen denn weder die Angaben von der Roß noch von Maßloff Glauben, und nun ziehe man in Betracht, daß Frau Roß behauptet hat, um 7 Uhr bei Lewys gewesen zu sein und dort Helene Lewy getroffen zu haben. Tatsächlich hat dieser Besuch aber erst um 9 Uhr stattgefunden, wie dies durch einen weitläufigen Beweis festgestellt worden ist. Frau Maßloff hat ausgesagt, dort die Uhrkette und die Photographie Winters gesehen zu haben. Diese Aussagen sind höchst unglaubwürdig; die Photographie sollte offenbar beweisen, daß Lewy mit Winter in sehr intimem Verkehr stand, und daß der letztere an Moritz sein Bild geschenkt hat. Es ist jedoch festgestellt, daß vor dem Tode Winters keinerlei Photographie des letzteren, außer dem Klassenbilde existiert hat Frau Berg hat sodann über das Taschentuch ausgesagt, daß es mit E. W. gezeichnet gewesen sei; bei sofortiger Nachsuchung ließ sich jenes Taschentuch jedoch nicht finden, und die Angaben der Frauen Roß und Berg sind betreffs der Zeichnung auf dem Taschentuch so verschieden, daß man annehmen muß, dieses Taschentuch hat niemals existiert. Den Aussagen der Angeklagten steht das Zeugnis der Familie Lewy gegenüber, das unterstützt wird durch eine sehr große Anzahl von Zeugen. Frau Roß will um 7 Uhr, Maßloff um 10 Uhr Wimmern gehört haben. Winter mußte aber schon um 7 Uhr tot sein. Es haben überdies alle Zeugen ausgesagt, daß die Familie Lewy durchaus harmlos ist; dahingegen bezeichnete der Untersuchungsrichter Maßloff und Frau Roß für völlig unglaubwürdig. Unerheblich sind die Angelegenheiten Israelski und Eisenstädt, sowie der Fall Matheus Meyer; sie stehen in gar keinem direkten Zusammenhang mit den Beschuldigungen gegen Lewy. Alle Angaben der Angeklagten sind augenscheinlich erfunden zu dem Zwecke, die ausgesetzte Belohnung zu verdienen. Es haben sämtliche Angeklagte offensichtlich einen Meineid geleistet. – Der Erste Staatsanwalt beantragte schließlich: alle vier Angeklagten des Meineides für schuldig zu erklären. – Oberstaatsanwalt Dr. Lautz: Die Angeklagten haben Behauptungen aufgestellt, die nur dann Sinn haben, wenn man annimmt, daß der Gymnasiast Winter im Lewyschen Hause getötet worden ist. Ist hingegen die Familie Lewy an diesem Tode unschuldig, so sind die Angeklagten schuldig. Nun müssen auch Zeugenaussagen nachgeprüft werden. Es sind nicht immer zwei Aussagen, die sich widersprechen, so zu verstehen, daß die eine bewußt falsch ist. Keineswegs! Im Falle Eisenstädt sind beispielsweise beide Aussagen augenscheinlich nach bestem Wissen gemacht, trotzdem sie sich widersprechen. Die Aussagen Hugo Lewys müssen als zutreffend erachtet werden. Eine besondere Kategorie von Zeugenaussagen sind jene, bei denen vom Blutgebrauch der Juden die Rede ist. Diese Angaben sind sorgfältig zu kontrollieren, obwohl die Zeugen selbst von der Wahrheit dessen, was sie angegeben haben, überzeugt sein werden. Zieht man die Tat selbst in Betracht, so ergibt sich folgendes: Winter kann sein Leben eingebüßt haben durch Mord, durch Totschlag oder durch fahrlässige Körperverletzung. Mord kann komplottmäßig begangen werden, die Motive sind alsdann entweder die gewöhnlichen, oder ganz außergewöhnliche, und es ist ja auch bei den Verhandlungen wiederholt von rituellen Gründen gesprochen worden. Was den Ritualmord anbetrifft, so ist im Prozeß zu Xanten eingehend und nach allen Richtungen über dieses Thema gesprochen worden. Bekannt ist es zunächst, daß in den jüdischen Religionslehren kein Wort über den Ritualmord steht; auch Kardinal-Fürstbischof Kopp teilt diese Überzeugung der gelehrten Welt. Hatte man zunächst die Idee, daß fremde Juden die Tat verübt haben könnten, so ließ sich hierfür kein Beweis erbringen. Freilich gab es in Konitz jüdische Personen, die für die Tat hätten in Betracht kommen können. Aber obgleich alle Spuren auf das genaueste verfolgt worden sind, und obgleich auch ganz geringfügige Momente hierbei nicht außer acht gelassen wurden, so gibt es doch gar keinen Anhalt dafür, daß die Familie Lewy mit irgend jemand von diesen Leuten in Verkehr getreten ist. – Der Oberstaatsanwalt ging alsdann die Bekundungen einzelner Zeugen durch. Wenn Rosa Siwanowski, die schon während ihrer Schulzeit auf Abwege geraten ist, erzählte, daß auch sie Angst vor den Juden hatte, und daß man ihr Blut habe abzapfen wollen, so kann man hierauf doch unmöglich etwas geben. Wenn der Knecht Leskowski von seinen angeblichen Beobachtungen bei Lewys am 11. März erzählt, wie er alle möglichen Äußerungen gehört haben will, so die Worte: „Leine, Leine, Fessel, Fessel, Mönchsee, viel zu tun, zu weiß, zu weiß,“ so sind doch auch diese Angaben nicht ernst zu nehmen. Die Vorgänge im Laden der Familie Meyer müssen gleichfalls als unwahr erscheinen, und dies um so mehr, da sie zu drei verschiedenen Zeiten stattgefunden haben sollten, und die Familie doch wahrlich keine Veranlassung hatte, sich mit dem Blut des 18jährigen Gymnasiasten zu besudeln. Wenn man dies alles nachprüft, so wird man finden, daß man den Versuch als mißglückt erachten muß, die hiesigen Juden mit einem Ritualmord in Verbindung zu bringen. Gegen die Familie Lewy insbesondere liegt nicht das geringste vor. Nicht das geringste Belastende konnte gegen diese Personen bewiesen werden, und dafür gebe es gewiß nicht den geringsten Anhalt, daß sie an einem Komplot beteiligt gewesen seien. Wollte man nun ein anderes Motiv bei irgend einem Mitgliede der Familie Lewy annehmen, so ist auch hierfür keine tatsächliche Unterlage vorhanden. Ernst Winter ist spätestens um 7 Uhr gestorben, bis dahin haben aber alle Mitglieder der Familie Lewy ihr Alibi nachgewiesen. Was nach 7 Uhr vorgegangen sein soll, ist hierbei zunächst ganz nebensächlich; aber auch über 7 Uhr hinaus haben die Familienmitglieder ihr Alibi nachgewiesen; und auch während der Nacht ist von sämtlichen Hausbewohnern und von den Nachbarn nichts Verdächtiges wahrgenommen worden. Nicht der geringste Schimmer eines Beweises hat sich also erbringen lassen, daß Winter im Lewyschen Keller getötet worden ist. Wenn ich nun frage, wie ist gerade die Familie Lewy in den Verdacht des Mordes oder des Totschlages gekommen, so scheint das nicht blos an der Örtlichkeit des Lewyschen Grundstückes zu liegen, sondern ich führe es vor allem zurück auf das Gefasel des Zeugen Prinz, des „dummen Alex“. Hierdurch hat sich die Bevölkerung beeinflussen lassen. Dabei ist es für den vorliegenden Fall ganz gleichgültig, ob Moritz Lewy einen Meineid geschworen hat oder nicht. Und auch der Fall Israelski kommt nicht in Betracht: Ob Israelski den Kopf des Winter hinausgetragen hat, beweist nichts gegen die Familie Lewy, und hätte die Familie Lewy, die Pferd und Wagen zur Verfügung haben, es nötig gehabt, den Leichnam zu zerstückeln, wenn sie ihn zu Wagen viel leichter haben wegschaffen und irgendwo vergraben können? Ich bin der festen Überzeugung, daß ein Mitglied der Familie Lewy mit dem Morde nichts zu tun hat, und daß der gestern von diesen geleistete Eid ein richtiger Eid gewesen ist. Der Oberstaatsanwalt schloß sich im weiteren Verlauf seiner Rede den Ausführungen des Ersten Staatsanwaltes an und beantragte das Schuldig bezüglich aller vier Angeklagten wegen Meineids, da schwere Widersprüche vorliegen und da für ihre Behauptungen kein Beweis erbracht worden sei. – Verteidiger, Rechtsanwalt Vogel: Es ist bedauerlich, daß man in der jetzigen Schwurgerichtsperiode nicht über den oder die Mörder des Ernst Winter zu Gericht sitzen kann. Statt dessen verhandelt man über Landfriedensbrüche und Meineide. Trotz der Bemühungen aller Behörden ist es nicht gelungen, Licht in das Dunkel der Tat zu bringen. Auch jetzt ist ein positives Ergebnis nicht erzielt worden. Aber der Meinung möchte ich doch Ausdruck geben, daß die Familie Lewy der Tat dringend verdächtig erscheint. Gleichwohl gebe ich zu, daß positive Unterlagen für diese Behauptungen nicht vorhanden sind. Immerhin kann ich mich der Beweisführung der Staatsanwaltschaft bezüglich der Familie Lewy ganz und gar nicht anschließen. Es muß die Tat in unmittelbarer Nähe des Mönch-Sees geschehen sein und von sachkundiger Seite ist augenscheinlich die Zerstückelung des Leichnams erfolgt. So kommt denn als Täter entweder Hoffmann oder Lewy in Betracht. Wenn Fleischermeister Hoffmann den Winter bei irgend einer Gelegenheit überrascht und im Jähzorn niedergeschlagen hätte, so wäre er der Mann gewesen, sich den Gerichten zu stellen und seinen Jähzorn zu büßen. Das ist nicht geschehen, also ist Hoffmann nicht der Täter, und dann bleibt nur das Haus Lewy übrig. Und warum hat Moritz Lewy den Verkehr mit Winter bestritten? Das ist verdächtig. Ebenso verdächtig ist die Tatsache, daß in der Nacht vom 11. zum 12. März im Lewyschen Keller Licht gebrannt hat. Den Alibibeweis des Fleischermeisters Lewy und seiner Söhne am 11. März halte ich zwar für durchaus erbracht, das beweist aber nichts. Ich und meine Mitverteidiger sind nicht der Ansicht, daß Lewy oder einer seiner Söhne an der Mordtat persönlich beteiligt sind, aber Lewy hat das Lokal für den Mord hergegeben. Gewiß bleibt alsdann noch immer dunkel, wie Winter in den Lewyschen Keller gelockt worden ist. Die Behauptung, die jüdische Religion predige den Mord zum Zwecke der Blutentziehung, halte ich auch für ein Märchen. Aber es können innerhalb der Judenschaft sittlich verkommene Mitglieder vorhanden sein oder solche, die infolge falscher Auslegung der religiösen Gesetze einen Ritualmord begehen. Das ist der Untergrund für die vorliegende Tat. Es liegt hier nicht nur die Möglichkeit, sondern die Wahrscheinlichkeit eines Ritualmordes vor. Darauf weist die Blutleere des Körpers hin. Der Verteidiger behandelte alsdann des längeren die Fälle Eisenstädt und Matheus Meyer. Auch der „dumme Alex“ erscheine ihm als ein Zeuge dafür, daß die Juden die Mörder seien, denn Kinder und Narren sagen die Wahrheit. Der Verteidigung kommt es darauf an, festzustellen: Ist ein Ritualmord ausgeschlossen oder ist die Möglichkeit nahe gerückt, daß ein solcher verübt worden sein kann? Die Möglichkeit ist vorhanden, und weiteres zu behaupten, wünscht auch die Verteidigung nicht. Daß sich die Angeklagten bei ihren verschiedenen Vernehmungen mehrfach in Widersprüche verwickelt haben, muß zugegeben werden. Aber im allgemeinen sind ihre Angaben doch richtig, und dies trifft auch auf den Angeklagten Maßloff zu, dessen Widersprüche nur nebensächliche Punkte betreffen. Der Verteidiger ersuchte die Geschworenen, bei der Beurteilung der Schuldfrage bezüglich des Maßloff über die kleinen Widersprüche hinwegzusehen. Daß Maßloff zuerst den Gang der drei Männner nach dem Mönchsee verschwiegen habe, sei erklärlich durch die Furcht, wegen des Fleischdiebstahls zur Rechenschaft gezogen zu werden. Er beantrage, Maßloff freizusprechen. – Verteidiger Rechtsanwalt Zielewski. Er beantrage die Schuldfrage bezüglich der Frau Maßloff zu verneinen. Frau Maßloff habe zunächst beschworen, was sie von ihrem Manne über dessen angebliche Beobachtungen erfahren habe. Wenn diese Beobachtungen von ihrem Manne falsch wiedergegeben sein sollten, so habe Anna Maßloff doch geglaubt, sie für richtig halten zu müssen. Sie habe sie sich ganz bewußt allmählich zu eigen gemacht und dann an ihnen festgehalten. Was die Bekundungen der Angeklagten bezüglich des Taschentuches und des Winterschen Bildes, das sie bei Lewys gesehen haben wolle, anbelange, so halte er diese Angaben für durchaus wahrheitsgetreu. Daß der Mord an Ernst Winter von fremden Juden begangen worden sei, dafür spreche, daß von den Konitzer Juden eine Reihe von Tatsachen bestritten werden, die in der jetzigen Verhandlung sich als einigermaßen richtig erwiesen haben. Der Verteidiger suchte alsdann nachzuweisen, daß Anfang März eine größere Anzahl fremder Juden in Konitz von mehreren Leuten bemerkt worden seien. Belastend für die Juden sei auch die Bekundung des Zeugen Prinz, des „dummen Alex“, auf die doch mehr Wert zu legen sei, als es seitens der Staatsanwaltschaft geschehe. Ebenso muß dem Fall Eisenstädt ein größeres Gewicht beigemessen werden. Eisenstädt sei in der Nacht vom 11. zum 12. März nicht im Krankenhause gewesen, die beiden Krankenschwestern können sich nicht irren. Der Verteidiger schilderte hierauf nochmals eingehend die angeblichen Vorgänge im Matheus Meyerschen Laden und den von einigen Zeugen behaupteten Verkehr Winters mit Moritz Lewy. Dies alles weise darauf hin, daß der Mord im Lewyschen Keller vollbracht worden sei. Wenn auch die Familie Lewy nicht am Morde selbst beteiligt sein möge, so könne sie doch aus religiösen Gründen ihren Keller für das Verbrechen hergegeben haben. – Verteidiger Rechtsanwalt Heyer suchte den Nachweis zu führen, daß von seiten der Behörden in der Winterschen Mordsache Fehler gemacht worden, und daß insbesondere die Haussuchungen nicht sachgemäß vorgenommen worden seien. Auch er halte die Familie Lewy nicht für glaubwürdig. Der Alibibeweis der Familie Lewy am 11. März sei allerdings geführt, aber wenn dieser Alibibeweis auch ausreiche, um von den Lewys den Verdacht der Täterschaft zu nehmen, so bleibe doch die Möglichkeit bestehen, daß der Lewysche Keller zur Tat hergegeben worden sei und daß die Lewys alsdann bei der Beiseiteschaffung der Leichenteile mitgewirkt haben. Er beantrage die Freisprechung der Angeklagten Berg. – Oberstaatsanwalt Dr. Lautz: Der erste Verteidiger ist mit mir darin einig, daß weder der alte Lewy noch einer seiner Söhne den Mord an Ernst Winter verübt habe. Daß Lewy seinen Keller zum Zwecke des Mordes anderen Leuten zur Verfügung gestellt oder vermietet haben sollte, ist ganz unbewiesen, und wird meiner Ansicht nach auch nur herangezogen, um eine Erklärung dafür zu finden, daß im Keller irgend etwas geschehen sein kann. Es fehlt aber jeder Beweis hierfür. Es ist unmöglich, anzunehmen, daß sich fremde Leute gerade den Lewyschen Keller zu einer solchen Tat ausgesucht haben. Der Lewysche Keller wäre hierzu der ungeeignetste Raum, den man sich denken kann. Vorn an der Danziger Straße gehen fortwährend Leute vorüber, und auf der anderen Seite ist das, was im Keller vorgeht, sehr leicht von den Nachbarsleuten zu beobachten. Tatsache ist ferner, daß Lewy, wenn auch nicht in glänzenden, so doch in durchaus geordneten Verhältnissen sich befindet. Welchen Grund hätte er also haben sollen, sich wegen einer Geldentschädigung der Gefahr einer schweren Strafe auszusetzen? Den Mord kann zwar ebensogut ein Jude wie ein Christ begangen haben. Seien Sie versichert, daß die Staatsbehörde, wenn irgendein greifbarer Verdacht vorgelegen hätte, mit vollster Energie vorgegangen wäre; aber auch heute noch fehlt es an jedem begründeten Verdacht. Der Beweis für das Vorhandensein eines Judenkomplottes ist vollständig mißglückt. Alle Versuche der Verteidiger, den Nachweis zu führen, daß fremde Juden sich an solchem Komplott beteiligt hätten, sind mißlungen. Aber nehmen wir selbst an, es hätte solch ein Komplott bestanden, es wären fremde Juden gewesen, die Winter ermorden wollten – was hätten dann die hiesigen Juden für einen Anlaß zu Geldsammlungen gehabt, wie sie bei Matheus Meyer vorgekommen sein sollen? Und wer sind schließlich die Kronzeugen gegen Lewy? Die Prostituierte Simanowski, der „dumme Alex“, der Viehtreiber Lankowski und die beiden doch recht beschränkten Hellwigs Mutter und Sohn? Wenn ferner Eisenstädt wirklich in der Nacht vom 11. zum 12. März nicht im Krankenhause war, so ist damit doch noch lange nicht bewiesen, daß er gerade im Lewyschen Keller gewesen sein muß. Auch das Verhalten von Moritz Lewy beweist nicht, daß er etwa derjenige gewesen sein muß, der den Winter in den Keller gelockt hat. Ob Moritz Lewy einen Meineid geleistet hat, ist augenblicklich Gegenstand der Untersuchung. Aber er kann gedacht haben, sage ich, ich habe Ernst Winter gekannt, so stecke ich in der Geschichte drin und riskiere, daß ich morgen eingesperrt werde. Zum Schluß wies der Oberstaatsanwalt noch darauf hin, daß einige der Zeugen, auf deren Aussage hin Lewy belastet erscheint, wie z. B. Lübke und der Nachtwächter Ruß, vollständig unglaubwürdig seien. – Erster Staatsanwalt Settegast: Es sei ja nicht ausgeschlossen, daß ein fanatischer Jude den Mord an Winter begangen habe. Aber man könne doch nicht annehmen, daß eine ganze Reihe anderer Juden schon ein Vierteljahr und längere Zeit vorher davon Kenntnis gehabt haben. Durch die ärztlichen Gutachten, insbesondere durch das des Dr. Puppe sei erwiesen, daß der Leichnam des Winter nicht blutleer gewesen sei. Ein Verteidiger habe von einem erheblichen Verdachte gesprochen, der auf das gesamte Judentum gefallen sei, daß Juden Mitwisser oder Teilnehmer an dem Morde gewesen seien. Die Verhandlung habe nicht den geringsten Anhalt dafür ergeben. Er bestreite, daß das Judentum so entartet sei. – Der Vorsitzende erteilte darauf den Geschworenen die Rechtsbelehrung und bemerkte zum Schluß: Nunmehr will ich nur noch den Wunsch aussprechen, daß es Ihnen, meine Herren Geschworenen, mit Gottes Hilfe gelingen möge, die der materiellen Wahrheit entsprechende Entscheidung zu fällen, damit der alte Wahrspruch preußischer Richter – denn auch Sie, meine Herren Geschworenen, sind Richter, Sie haben den Richtereid geleistet – Anerkennung findet: daß der preußische Richter stets ohne Ansehen der Person seine Entscheidung trifft, daß auf seine Entscheidung die sozialen, religiösen und politischen Gegensätze keinerlei Einfluß ausüben, daß bei jeder seiner Amtshandlungen der preußische Richter sich stets bewußt ist, daß er selber dereinst vor dem höchsten Richter wird Rechenschaft ablegen müssen, wie er gerichtet hat. – Nach anderthalbstündiger Beratung bejahten die Geschworenen die Schuldfragen betreffs Maßloffs vor dem Amtsgericht. Maßloff konnte aber, wenn er die Wahrheit gesagt, strafrechtliche Verfolgung befürchten. Wegen des Eides vor dem Landgericht haben die Geschworenen die Schuldfragen verneint. Betreffs der Angeklagten Roß bejahten die Geschworenen beide Schuldfragen. Bei der ersten Schuldfrage konnte sie eine strafrechtliche Verfolgung befürchten. Die Schuldfragen betreffs der Frauen Maßloff und Berg wurden verneint. – Hierauf beantragte der Erste Staatsanwalt, mit Rücksicht auf die hohe Bedeutung und Wichtigkeit der Sache, die die Angeklagten gekannt, und mit Rücksicht auf die große Frivolität, die vielleicht verschuldet habe, daß die Behörden irregeführt und der Mörder noch nicht entdeckt sei, gegen Maßloff vier Jahre, gegen Frau Roß neun Jahre Zuchthaus. Gegen Maßloff fünf Jahre, gegen Frau Roß zehn Jahre Ehrverlust und gegen Frau Roß dauernde Eidesunfähigkeit. – Nach längerer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende Landgerichtsdirektor Schwedowitz: Dem Spruche der Geschworenen entsprechend, hat der Gerichtshof den Angeklagten Maßloff zu einem Jahre Zuchthaus, die Angeklagte Roß zu 2½ Jahren Zuchthaus, 3 Jahren Ehrverlust und dauernder Eidesunfähigkeit verurteilt und die Frauen Maßloff und Berg freigesprochen. – Mitte Februar 1901 hatte sich Moritz Lewy vor dem Schwurgericht des Landgerichts Konitz wegen wissentlichen Meineids zu verantworten. Den Vorsitz des Gerichtshofes führte wiederum Landgerichtsdirektor Schwedowitz. Die Anklage vertrat der inzwischen neu ernannte Erste Staatsanwalt Dr. Schweigger. Die Verteidigung führten Rechtsanwalt Hugo Sonnenfeld (Berlin) und Rechtsanwalt Appelbaum (Konitz). Eine große Anzahl Zeugen bekundete: Sie haben Winter mit Moritz Lewy ofmals zusammen gehen und plaudern sehen. Andere Zeugen, und zwar die intimsten Freunde des ermordeten Winter bekundeten: Sie haben einen Verkehr zwischen Moritz Lewy und Winter niemals wahrgenommen. Von einigen Zeugen wurde bekundet, daß Winter anderen Gymnasiasten zum Verwechseln ähnlich gesehen habe. – Im Laufe der Verhandlung, die volle vier Tage in Anspruch nahm, erklärte Kriminalkommissar Wehn (Berlin): Moritz Lewy habe für Sonntag, den 11. März sein Alibi vollständig einwandsfrei nachgewiesen. Die Behauptung, Lewy habe kurz nach dem Morde ein Paket fortgeschafft, in dem sich Leichenteile befunden haben, sei unwahr. Es sei festgestellt, daß das Paket Kalbfleisch enthielt, das Lewy bei einer Kundin abgeliefert habe. – Am Abend des dritten Verhandlungstages bemerkte der Verteidiger Rechtsanwalt Appelbaum: Ich beantrage die Vernehmung des hier anwesenden Journalisten Zimmer. Der Vorsitzende ersuchte Zimmer, zunächst hinauszugehen. Rechtsanwalt Appelbaum: Herr Zimmer ist vom 18. September[WS 2] bis zum Speisigerprozeß (5.–6. Oktober) vielfach bei mir gewesen mit der ausdrücklichen Erklärung, er wolle seine Dienste den Juden gegen Entgelt anbieten, und zwar besonders in der Lewyaffäre. Er erklärte: In der ganzen Stadt werde gearbeitet, um Moritz Lewy meineidig zu machen und er wolle sich jetzt gegen Bezahlung auf unsere Seite stellen. Ich verwies ihn auf seine Antezedenzien und fragte ihn, welche Dienste er als bekannter Antisemit leisten könne. Darauf übergab er mir ein Exposé, das er schon in der Tasche trug. Er sagte, er habe Mittel in der Hand, um zu verhindern, daß Moritz Lewy etwas geschehe. Wenn seine Dienste nicht akzeptiert werden sollten, sei Lewy verloren. Am 30. September, kurz vor dem Speisigerprozeß, war er wieder bei mir und sagte, jetzt würde er auch nicht mehr für 20 000 Mark für die Juden arbeiten, Moritz Lewys Schicksal sei besiegelt. Am 7. Oktober, einem Sonntag, am Tage nach der Verhaftung Lewys, kam er wieder zu mir. Er triumphierte und sagte: Nun sehen Sie, es ist gekommen, wie ich vorausgesehen habe. Der Verteidiger ersuchte, Zimmer über diese Punkte befragen zu dürfen und bat den Ersten Staatsanwalt um sein Einverständnis, daß er den Zeugen, wie es bei Wienecke geschehen, in ein Kreuzverhör nehmen dürfe. – Erster Staatsanwalt: Kreuzverhör? Ich kenne kein Kreuzverhör, in der ganzen Strafprozeßordnung kommt das Wort nicht vor. – Rechtsanwalt Sonnenfeld: Aber doch in der Wissenschaft kennt man es. – Vors.: In der Wissenschaft allerdings. – Staatsanwalt: Ich lehne es ab. – Unter allgemeiner Spannung wurde hierauf Redakteur Zimmer, Bürgermeister und Amtsanwalt a. D., in den Saal gerufen. Der Vorsitzende ließ sich das Exposé geben und übernahm die Vernehmung des Zeugen selbst. – Vors.: Erinnern Sie sich, während des Speisigerprozesses bei Rechtsanwalt Appelbaum gewesen zu sein? – Zimmer: Ja. – Vors.: Was veranlaßte sie dazu? – Zimmer: Ich glaube, der jüdische Handelsmann Gerber sagte mir, ich möchte doch einmal hingehen. – Vors.: Wie kam Gerber dazu, Sie verfolgen doch antisemitische Interessen? – Zimmer: Ich nahm an, daß ich für die Gegenpartei arbeiten sollte. – Vors.: War das vor dem Speisigerprozeß? – Zimmer: Ich kann mich nicht erinnern. – Vors.: Sagten Sie Herrn Appelbaum, daß Sie im Auftrage Gerbers kommen? – Zimmer: Es ist möglich, ich weiß es nicht mehr. – Vors.: Wenn Sie sagten, Sie kämen auf dessen Veranlassung, konnten Sie doch abwarten, daß Ihnen Vorschläge gemacht werden, andernfalls mußten Sie sie machen. Haben Sie nun selbst Vorschläge gemacht? – Zimmer: Ich weiß es wirklich nicht. – Vors.: Haben Sie vielleicht vorgeschlagen, für jüdische Zeitungen zu schreiben? – Zimmer: Ich glaube, ich sagte, ich wolle mich an den von jüdischer Seite angestellten Ermittelungen beteiligen. – Vors.: Haben Sie der Staatsanwaltschaft oder Polizei auch Ihre Dienste angeboten? – Zimmer: Nein! – Vors.: Sie wollten also nach einer bestimmten Richtung wirken? – Zimmer: Eigentlich unparteiisch. – Vors.: Obwohl Sie der Überzeugung waren, daß der Mörder nur unter den Juden zu suchen sei, wollten Sie christliche Spuren verfolgen? – Zimmer: Eigentlich nein, ich hatte meine Ansicht nicht geändert, und glaubte meiner Herzenssache, daß der Mörder unter den Juden sei, auch so frönen zu können. – Vors. Welche Vorschläge machten Sie Rechtsanwalt Appelbaum? – Zimmer: Daß ich in der Ermittelung der Täter mitwirken wolle. Ich glaube, ich nannte auch einige Spuren. – Vors. Christliche natürlich, trotzdem Sie die Überzeugung hatten, die Täter seien unter den Juden zu suchen? – Zimmer: Ich übergab meine Dispositionen. Der Worte erinnere ich mich nicht. – Vors.: Haben Sie sich nicht über den Stand der Ermittelungen gegen Moritz Lewy geäußert? – Zimmer: Das ist möglich. – Vors.: Was sagte Rechtsanwalt Appelbaum? – Zimmer: Er wollte nach Berlin schreiben, ob man meine Dienste wolle. – Vors.: Direkt abgelehnt wurde Ihr Angebot nicht? – Zimmer: Nein. – Rechtsanwalt Appelbaum: Herr Zimmer war am 19. September bei mir. – Zimmer: Als ich nach etwa einer Woche wiederkam, sagte Herr Appelbaum, er wundre sich, daß die Herren aus Berlin noch keinen Bescheid gegeben hätten, er bat mich wiederzukommen. Ich kann mich an die Daten nicht mehr genau erinnern. Am Tage nach dem Speisigerprozeß ging ich auf Veranlassung Gerbers wieder zu Rechtsanwalt Appelbaum. Dort stand ein dunkler Mann, den mir Rechtsanwalt Appelbaum als Jakoby aus Tuchel vorstellte, der später hier wegen Meineids verurteilt worden ist. Er sagte, es wäre ein trauriger Fall; ein stiller, ruhiger Mann, der von vier jungen Leuten des Meineids beschuldigt werde. Er fragte, ob ich nicht nachforschen möchte nach dem Leumund und ob Mißverständnisse vorliegen. Da der Mann einen guten Eindruck auf mich machte, so erklärte ich mich dazu bereit. – Vors.: Trotzdem sie Antisemit sind, machte der alte Herr einen so guten Eindruck auf Sie, daß Sie in Tuchel Ermittelungen anstellten? – Zimmer: Ja; er machte auf mich einen sehr würdigen Eindruck, ich hielt ihn für unschuldig und halte ihn auch heute noch für unschuldig. – Vors.: Wurde auch vom Fall Lewy gesprochen? – Zimmer: Dessen erinnere ich mich nicht genau. Vert. Rechtsanwalt Appelbaum: Haben Sie mir nicht gesagt, daß Sie gerade in bezug auf die Lewysache Dienste zu leisten bereit seien? – Fragte ich nicht, welche Garantien Sie mir bieten? Darauf sagten Sie, trotzdem Sie Antisemit seien, hätten Sie immer nach der andern Richtung gearbeitet? Sie sprachen von Ihren Ermittelungen gegen Weichel, Plath, Hoffmann und andere, und daß da noch verschiedene Spuren zu ermitteln seien? – Zeuge: Ich kann mich nicht genau der Worte erinnern. – Rechtsanwalt Appelbaum ersuchte, dem Zeugen folgenden Brief vom 26. September 1900 vorzuhalten:

„Sehr geehrter Herr Rechtsanwalt! Ich möchte heute mittag nach Berlin fahren. Verkennen Sie nicht den Ernst der Situation. Ich bitte mir die nötigen Adressen und Mittel zur Verfügung zu stellen. Es gehen wieder tolleSachen in der Stadt vor. Z.

Vors.: Was wollten Sie mit dem Brief? – Zeuge: Ich meinte verschiedene Spuren. – Rechtsanwalt Appelbaum: Haben Sie mir nicht mündlich dasselbe erklärt. Gegen Lewy gingen tolle Sachen vor? – Zimmer: Ich glaube nicht, speziell den Fall Lewy erwähnt zu haben. – Vors.: Was wollten Sie eigentlich in Berlin? – Zimmer: Ich machte kein Hehl daraus, daß der Lehrer Weichel von dem Morde etwas wissen müsse. – Vors.: Was hat das mit Berlin zu tun? – Zimmer: Weichel war in Berlin. Ich habe ihn niemals für den Mittäter oder Mithelfer gehalten, aber ich glaube, daß er etwas davon weiß. – Rechtsanwalt Appelbaum: Habe ich Ihnen nicht eine Depesche vorgelegt, daß die Herren in Berlin es ablehnen, mit Ihnen zu tun zu haben. – Zeuge: Ja, ich glaube. – Rechtsanwalt Appelbaum: Das war am 30. September. Darauf sagten Sie: Jetzt ist das auch zu spät. Nicht für 20 000 Mark arbeite ich für Sie. Moritz’ Schicksal ist besiegelt? – Zimmer: Dessen erinnere ich mich nicht. – Rechtsanwalt Appelbaum: Den Sonntag darauf kamen Sie wieder, da war auch Jakoby da, damals triumphierten Sie? – Zimmer: Dessen erinnere ich mich. – Rechtsanwalt Appelbaum: Damals sagten Sie: Na, Herr Rechtsanwalt, habe ich es Ihnen nicht so gesagt? – Zimmer: Ja, das ist möglich. – Rechtsanwalt Appelbaum: Ich fragte Sie darauf, wenn wir Ihre Dienste angenommen hätten, würden Sie es dann haben verhindern können? Erinnern Sie sich dessen? – Zimmer: Nein, ich kann mich nicht erinnern. – Rechtsanwalt Appelbaum: Dann will ich es Ihnen sagen, Sie erwiderten: Ja, Sie hätten es verhindern können. – Zimmer: Ja, im Publikum wußte man, daß es mit Lewy schlecht stehe. – Vors.: So; jetzt erinnern Sie sich auf einmal. – Staatsanwalt: Waren Sie im vorigen Jahre in der Redaktion des Konitzer Tageblattes? – Ja; zweimal kurze Zeit. – Staatsanwalt: Hat das Blatt nicht unter Ihrer Leitung eine erhebliche Schwenkung nach der scharfen antisemitischen Richtung gemacht? – Zimmer: Es war schon antisemitisch, aber während meiner zweiten Redaktionstätigkeit wurde es noch schärfer, jedoch lediglich mit Rücksicht auf das neue liberale Konkurrenzblatt, das geschah alles mit Einverständnis der Besitzer. – Staatsanwalt: Auch nach dem 1. Januar waren Sie der Z.-Korrespondent des Konitzer Tageblatts? – Zimmer: Ja. – Staatsanwalt: Sind Sie auch der Z.-Korrespondent der Staatsbürger-Zeitung? – Zimmer zögerte. – Staatsanwalt: Das liegt doch auf der Hand, die Artikel stimmen ja überein. Sie scheinen auch der M.- und R.-Korrespondent zu sein. Sehen Sie, ich habe das ganz genau verfolgt. Sind Sie auch der Verfasser all jener scharf antisemitisch geschriebenen Artikel, welche sich gegen die Behörden, meinen Amtsvorgänger, das Berliner Polizeipräsidium anläßlich der Mordaffäre richten? – Zimmer: Ich bin immer sehr vorsichtig gewesen. – Staatsanwalt: Haben Sie auch im August und September für die Staatsbürger-Zeitung Artikel gegen die Behörden geschrieben? – Zimmer: Ich glaube, damals hatte sich das Verhältnis etwas gelockert. – Staatsanwalt: Es kommt mir darauf an, festzustellen, ob Sie zur selben Zeit, als Sie Appelbaum Ihre Dienste anboten, auch antisemitische Artikel schrieben? – Zimmer: Ich glaube nicht. – Staatsanwalt: Wollen Sie das auf die Gefahr hin, daß ich Ihnen das nachweise, aufrecht erhalten? – Zimmer: Ich nehme an, daß es nicht geschehen ist. – Staatsanwalt: Sie mußten doch Ihren Unterhalt bestreiten? – Zimmer: Ich schrieb für die „Deutsche Wacht“ Berichte. Ich habe meine Überzeugung nie geändert. – Staatsanwalt: Ihre innere Überzeugung ist antisemitisch, Ihre andere philosemitisch. (Heiterkeit). – Vert. Rechtsanwalt – Appelbaum: Vielleicht erinnern Sie sich jetzt, daß Sie mir wörtlich antworteten: Unbedingt hätte ich es verhindern können; die Zeugen sind durch mich beschafft worden; ich ging bei Rechtsanwalt Gebauer ein und aus und hätte nur sagen brauchen, daß die Zeugen nichts wußten, und es war einfach erledigt? – Vors.: Haben Sie das gesagt? – Zimmer: Ich kann mich nicht erinnern? – Vors.: Ist es aber möglich? – Zimmer: Ich erinnere mich nicht, nehme es aber nicht an. – Rechtsanwalt Sonnenfeld: Ist es richtig, daß Sie Ihr antisemitisches Material dem „Kleinen Journal“ angeboten haben? – Zimmer: Das war nur eine persönliche Frage, welche den Verleger Bruhn und ein Verhältnis zur Staatsbürger-Zeitung betraf. – Vert. Rechtsanwalt Sonnenfeld: Ist das von der Redaktion angenommen oder abgelehnt worden? – Zimmer: Abgelehnt. – Vors.: Haben Sie auch Beziehungen zu Herrn Schiller gehabt? – Zimmer (sehr verlegen): Ja. – Vors.: Nach welcher Richtung arbeitet der? – Zimmer: Er erklärte, es sei ihm egal, er wolle nur Spuren entdecken. Ich ließ mich von ihm für einen Monat engagieren. – Vors.: Welche Spuren wurden denn verfolgt? – Zimmer: Ich sollte mein Augenmerk auch auf christliche Spuren lenken. – Vors.: Waren Sie mit Schiller auch tätig bezüglich des Fleischergesellen Welke? – Zimmer: Nein, das war später. – Auf Befragen des Verteidigers Rechtsanwalt Sonnenfeld bekundete Kriminalkommissar Wehn: Gymnasialdirektor Tomaszewski habe eine Umfrage unter den Schülern gehalten, ob sie Winter mit Lewy zusammen gesehen haben. Sämtliche Schüler haben sich verneinend geäußert. – Oberlehrer Dr. Stöwer: Er kenne den Angeklagten seit fünf Jahren als Mitglied des Turnvereins. Er habe nichts Nachteiliges über den Angeklagten gehört, im Gegenteil, er sei bis zu dem Augenblick, in dem die antisemitische Strömung einsetzte, sehr beliebt gewesen. – Nach beendeter Beweisaufnahme führte Erster Staatsanwalt Dr. Schweigger etwa folgendes aus: Meine Herren Geschworenen! „Das ist der Fluch der bösen Tat, daß sie fortzeugend Böses muß gebären.“ So schrieb vor einigen Tagen eine hiesige Zeitung, so sage auch ich. Seit in dem Mönchsee Leichenteile gefunden wurden, die zur Gewißheit führten, daß ein blühender, junger Mann durch eine entsetzliche Tat ums Leben gekommen ist, ist die hiesige Stadt in zwei Teile zerrissen; ist unsägliches Unglück über die Stadt gekommen. Wieviel Tränen sind geflossen? Der Schrei nach Sühne dieses Verbrechens, dieser Entrüstungschrei findet bei mir ein vollständiges Echo. Ob es aber jemals gelingen wird, dieses Dunkel zu lüften, das weiß nur Gott. Wir armseligen Menschen können nichts weiter, als unsere Schuldigkeit tun. In dieser Beziehung ist von meiner Seite nichts versäumt worden. Und ich werde mein ganzes Können aufbieten, um die Sache aufzuklären. Vielleicht gelingt es noch mit Gottes Hilfe, diese unglückliche Stadt von dem furchtbaren Banne zu befreien. Wenn ein Staatsanwalt etwas ausspricht, dann muß er es auch beweisen können. Ich kann nicht beweisen, daß der Angeklagte am Morde beteiligt war. Deshalb kann ich diese Behauptung auch nicht aussprechen. Ich ersuche Sie deshalb, alles Beiwerk beiseite zu lassen und lediglich zu prüfen, ob der Angeklagte einen Meineid geleistet hat. Wenn ich die furchtbare Beschuldigung erhebe: der Angeklagte habe dreimal einen Meineid geleistet, so sage ich: der Grund bei ihm war die Furcht, daß er, wenn er die Wahrheit sagte, dann in den Verdacht des Mordes geriet. Zunächst hat der Angeklagte vollständig bestritten, Winter gekannt zu haben. Als ihm mehrere Zeugen gegenübergestellt wurden, gab er die Möglichkeit zu, Winter gekannt zu haben, er könne sich aber dessen nicht erinnern. Als immer mehr Zeugen auftraten, die den Verkehr bekundeten, gab er die Möglichkeit zu, mit Winter gesprochen, zusammengestanden zu haben, zusammengegangen zu sein und sich mit ihm gegrüßt zu haben. Mit solchen Möglichkeiten durfte der Angeklagte nicht operieren. Das ist dreiste Lüge, das ist wissentlicher Meineid. Ich habe mich gefragt, wie kam ein achtzehnjähriger Gymnasiast zu dem Verkehr mit einem achtundzwanzigjährigen jüdischen Fleischergesellen. Das Bindeglied zwischen beiden war Anna Hoffmann, der beide den Hof machten. Anna Hoffmann ist eine sehr schöne Erscheinung, so daß das schon verständlich ist. Es ist frivol, daß Zeitungen einen unzüchtigen Verkehr behaupteten. Durch die eingehendste Untersuchung ist festgestellt worden, daß der Verkehr Winters mit Anna Hoffmann vollständig harmlos war. Von der Verteidigung ist eine Reihe Zeugen geladen worden, die den Verkehr des Angeklagten mit Winter nicht wahrgenommen haben. Das ist doch aber kein Beweis. Sie können doch nicht sagen, ob der Verkehr nicht stattgefunden hat. Wir haben so viele Zeugen hier gehabt, die mit vollster Bestimmtheit den Verkehr wahrgenommen haben. Eine Anzahl Detektives, die sich Freunde der Wahrheit nannten, wie Wienecke, Schiller, Rauch, sind in jüdischem Sinne bemüht gewesen, diese Zeugen durch Traktieren und andere Mittel zu beeinflussen. Ich bin ein unparteiischer Mann und nehme Zimmer nicht aus. Es ist das der Mann, der innerlich antisemitische, andererseits philosemitische Gesinnung hegte; der mit der rechten Hand die schärfsten antisemitischen Artikel schrieb; der die Behörden in schroffster Weise angriff, und der mit der linken Hand das Geld von Juden nehmen wollte, um im Sinne der Juden tätig zu sein. Solche Leute, die keinen Funken Ehre besitzen, erschweren die Untersuchung. Wir brauchen die Hilfe solcher Leute nicht. Das sind nur Schlachtenbummler. Hinaus mit diesen Leuten, die diese unglückliche Stadt als melkende Kuh betrachten. Die Aussagen für den Schuldbeweis sind so reichhaltig, daß man eine Anzahl Zeugen preisgeben kann. Insbesondere gebe ich preis die Zeugen Lübke und Tochter, Mai, Pruß usw. Es bleiben aber jedenfalls 25 Zeugen, an deren Glaubwürdigkeit nicht zu rütteln ist. Man hat versucht, mit Photographien und Doppelgängern zu operieren. Dieser Beweis ist vollständig mißglückt. Das Ergebnis der Beweisaufnahmeläßt gar keinen Zweifel, daß der Angeklagte Winter gekannt und mit ihm verkehrt hat. Ich ersuche Sie also, die Hauptschuldfrage und die Unterfragen: daß der Angeklagte durch die Wahrheitsbekundung strafrechtliche Verfolgung befürchten konnte, zu bejahen. Ich habe bereits bemerkt: ich habe keinen Beweis dafür, daß der Angeklagte am Morde beteiligt war. Hätte ich irgendeine Unterlage dafür, so würde ich noch heute die Anklage erheben. Da aber ein solcher Beweis fehlt, so ersuche ich lediglich die Schuldfrage im Auge zu behalten. – Es ist gesagt worden: der Angeklagte wird auf alle Fälle verurteilt, weil er Jude ist. Das ist eine schwere Beleidigung gegen die christliche Bevölkerung. Mögen draußen die Parteileidenschaften toben, im preußischen Gerichtssaale findet sie keinerlei Stätte. Hier gibt es weder Juden, noch Christen, noch Mohammedaner, noch Heiden, sondern nur Angeklagte. Andererseits ist es unverständlich, daß gegen die Behörde der Vorwurf erhoben wurde, die Behörden hätten Furcht, einzuschreiten, weil die Juden dadurch bloßgestellt würden. Meine Herren! Ein preußischer Staatsanwalt kennt keine Furcht! Die Frage ist nicht, wessen Glaubens oder Standes ist jemand, sondern: ist seine Schuld nachgewiesen. Noch waltet in Preußen Gerechtigkeit; noch hat die Justitia die Binde vor den Augen. Wehe, wenn sie die Binde einmal lüftete, um zu sehen, welchen Glaubens oder Standes der Angeklagte ist, um danach das Urteil zu fällen! Wir haben alle mit hoher Genugtuung das zweihundertjährige Jubiläum des Königshauses gefeiert, das Preußen zu solchem Ruhm, Wohlstand und Macht gebracht hat. Das ist hauptsächlich erreicht worden, weil die Grundlage des preußischen Staates Gerechtigkeit ist. Noch ist diese Grundlage unerschüttert. Der erste preußische König hat den Schwarzen Adlerorden mit der Inschrift „Suum cuique“ begründet. Dieser Grundsatz muß Sie auch bei Abgabe Ihres Wahrspruches leiten. Jedem das Seine. Dem Unschuldigen die Freiheit, dem Verbrecher das Zuchthaus. Gehen Sie an die Beantwortung der Schuldfragen mit dem Mute und der Entschlossenheit, wie es deutschen Männern geziemt. Sie sollen den Angeklagten nicht verurteilen, weil er Jude ist. Das wäre auch gegen den Willen unseres Heilands; es wäre eine Verletzung der christlichen Religionsgrundsätze. Verurteilen Sie den Angeklagten, weil er sich vergangen hat an den Grundsätzen der christlichen Gesetzgebung, aber auch an den Vorschriften seiner eigenen Religion, die ebenfalls vorschreibt: „Du sollst nicht falsches Zeugnis ablegen wider deinen Nächsten.“ – Verteidiger Rechtsanwalt Appelbaum (Konitz): Meine Herren Geschworenen! Der Herr Erste Staatsanwalt sagte: „Hier im Gerichtssaale finden die Parteileidenschaften keine Stätte.“ Ich stimme dem vollständig bei. Allein außerhalb des Gerichtssaales tobten die Parteileidenschaften furchtbar. Sofort nach der Auffindung der Leichenteile wurde behauptet, die Juden hätten einen Ritualmord begangen. Sogleich war man bemüht, Material zu beschaffen, um zu beweisen, daß zwischen Winter und dem Angeklagten ein Verkehr bestanden habe. Unter diesen Parteileidenschaften wurde das Material gesammelt. Wenn in einer Bevölkerung die Meinung verbreitet ist, daß die Minderheit verbrecherische Neigungen habe, dann wird auch das Urteil getrübt. Es ist doch anzunehmen, daß viele Zeugen unter einer gewissen Suggestion ausgesagt haben. Wenn ein Zeuge aufgetreten wäre, der gesagt hätte: „Ich habe mit Lewy und Winter zusammengestanden und gesprochen,“ wenn ein solcher Zeuge aufgetreten wäre, dann wären alle anderen Zeugen überflüssig. Aber ein solcher Zeuge ist trotz aller Bemühungen nicht beschafft worden. Der Herr Erste Staatsanwalt sagte: „Zeugen, die nichts gesehen haben, beweisen nichts.“ Ich behaupte, dieser negative Beweis ist mit einer solchen Bestimmtheit geführt worden, daß er zum positiven Beweise wurde. Wenn die besten Freunde beider den Verkehr nicht wahrgenommen haben, dann ist der Verkehr möglich, aber nicht wahrscheinlich. Aber sogar die Familie Hoffmann, die beide kannte und dem Angeklagten sogar feindlich gesinnt ist, hat niemals den Verkehr wahrgenommen. Man sollte doch annehmen, daß zwei Liebhaber eines Mädchen sich auch einmal getroffen hätten. Endlich hat die Nachbarschaft von dem Verkehr nichts wahrgenommen. Der Angeklagte war von der Volksmeinung des Mordes verdächtigt worden. Er konnte sich nur vor der Verhaftung dadurch schützen, daß er sich in allen Dingen streng an die Wahrheit halten mußte. Er mußte wissen, daß er, sobald er nur einmal von der Wahrheit abweicht, sofort verhaftet wird. Der Angeklagte hatte also alle Veranlassung, auch betreffs des Verkehrs mit Winter streng bei der Wahrheit zu bleiben. Ist es denn unmöglich, daß der Angeklagte mit Winter sich unterhalten, zusammengegangen und zusammengestanden und ihn dennoch nicht gekannt hat? Die Gymnasiasten in Konitz kannten jedenfalls alle den „Pincenez Lewy“, ob aber auch letzterer alle Gymnasiasten, insbesondere alle diejenigen kannte, mit denen er sich von Zeit zu Zeit unterhielt, ist doch eine andere Frage. Nehmen Sie einmal an, ein Fremder fragt mich auf der Straße nach einem Hause. Ich begleite den Fremden, da mein Weg mich an dem Hause vorüberführt. Ich unterhalte mich mit dem Manne, wir bleiben sogar noch auf der Straße in lebhafter Unterhaltung stehen und verabschieden uns alsdann, indem wir uns die Hand schütteln. Nun passiert dem Fremden etwas Schlimmes. Hunderte, ja tausende von Leuten beschwören: Rechtsanwalt Appelbaum muß den Mann kennen, denn er ist mit ihm plaudernd zusammengegangen und hat ihm zum Abschied noch die Hand gereicht. Und doch ist mir nicht einmal der Name des Fremden bekannt. Der Angeklagte kannte jedenfalls Winter vom Ansehen, er wußte, daß er Gymnasiast ist, aber seinen Namen kannte er nicht. Da doch hier zum mindesten Zweifel über die Schuld des Angeklagten obwalten, so gebe ich mich der festen Überzeugung hin, Sie werden die Schuldfragen verneinen. – Verteidiger Rechtsanwalt Sonnenfeld (Berlin): Meine Herren Geschworenen! Der Herr Erste Staatsanwalt ist sehr richtig auf das Motiv eingegangen: daß, wenn der Angeklagte einen Meineid geschworen, er diesen aus Furcht, wegen Mordes verfolgt zu werden, geleistet hat, das ist sicher. Es genügt, wenn jemand eine, wenn auch vollständig grundlose Befürchtung hat. Aber nachdem ihn der Kriminalkommissar Wehn eindringlich ermahnt hat, wenn es wahr sei, den Verkehr doch zuzugeben, muß man annehmen, daß der Angeklagte die Wahrheit beschworen hat. – Der Verteidiger ging alsdann des Näheren auf die Zeugenaussagen ein. Viele Zeugen haben unter dem Einfluß der öffentlichen Meinung gestanden. Der Herr Erste Staatsanwalt hat der Verteidigung vorgeworfen, daß sie sich die Photographie von Kroll verschafft hat. Ich mache dem Herrn Staatsanwalt den Vorwurf, daß er sich ein solches Bild im Interesse der Aufklärung nicht schon längst beschaffte. Bei dem ersten Bilde habe ich gesagt: das genügt nicht, denn der Photographierte darauf ist ohne Hut. Ich habe nicht nach Doppelgängern gesucht; aber Pflicht der Staatsanwaltschaft wäre es gewesen, festzustellen, ob eine Verwechslung möglich sei. Ich erinnere nur an die Gehrkeschen Eheleute, die im Hoffmannschen Hause wohnten. Diese kannten Winter ganz genau und sagten mit vollster Bestimmtheit: „Wir haben am 11. März, abends acht Uhr, Winter in der Danziger Straße gesehen. Diese durchaus ehrenwerten Leute hätten geschworen, wenn ihnen nicht ein Landmesser vorgestellt worden wäre, den sie für Winter gehalten haben. Solche Verwechslungen sind doch nicht aus der Welt zu schaffen. Wenn zwei Photographien nebeneinander gehalten werden, kann man die Ähnlichkeit nicht finden. Trotzdem kann man Leute, deren Gesichtszüge und Größe verschieden und die betreffs Gangart und anderer äußerer Umstände voneinander abweichen, verwechseln. Ein hinreichend positiver Beweis, daß ein Verkehr nicht stattgefunden hat, ist doch der, daß die besten Freunde, die Hoffmanns, die Nachbarschaft, Professor Prätorius und Oberlehrer Dr. Stöwer, denen der Verkehr nicht entgehen konnte, einen solchen nicht wahrgenommen haben. Die Berliner Polizeibeamten haben die Wahrheitsliebe des Angeklagten festgestellt. Ich erinnere daran, was alles gegen die Familie Lewy behauptet worden ist. Übriggeblieben ist nur die gegenwärtige Anklage, weil sie schwer zu widerlegen ist. Ein berühmter Rechtslehrer, Professor Berner, sagt in seinem Lehrbuche: „Der Richter bei Meineidsprozessen muß besonders vorsichtig sein, da es dabei sehr auf das Gedächtnis und die Gedankenschlüsse ankommt.“ Also selbst wenn Sie der Auffassung des Staatsanwalts beitreten, müssen Sie doch freisprechen, wenn Sie nicht auch überzeugt sind, daß der Angeklagte trotz schlechter Augen Winter persönlich gekannt und an der Photographie erkennen mußte. Ich habe die Überzeugung, Sie werden dem Herrn Ersten Staatsanwalt beipflichten: wenn auch draußen noch so sehr die Parteileidenschaften toben, Sie werden unparteiisch ohne Ansehen der Person Ihres Richteramtes walten. Selbst wenn Sie zu dem Ergebnis kommen, daß dem Angeklagten ein größerer Verkehr mit Winter nachgewiesen sei, dann können Sie ihn doch nicht wegen wissentlichen Meineides verurteilen, dann müssen Sie sich erst fragen, ob sich der Angeklagte dessen bewußt gewesen sein muß, daß er den Namen Winter nicht gekannt habe. Sie müssen feststellen, ob Lewy die Fähigkeit besitzen mußte, sich darüber klar zu werden, daß das bekannte Bild, dieses alte Bild, einen Mann seines Verkehrs darstellt. Wenn Sie nicht zu dieser Überzeugung kommen, dann müssen Sie meinen Klienten freisprechen. Ich habe das Vertrauen zu Ihnen, meine Herren Geschworenen, daß Sie ihn freisprechen werden. Ich weiß, Sie haben nicht vergessen des Herrn Ersten Staatsanwalts Mahnung, daß Sie nur nach den Eindrücken urteilen dürfen, welche Sie hier im Gerichtssaal empfangen haben. Ich vertraue, daß Sie nicht Ihr Urteil von dem Standpunkt fällen werden: Es rast der See und will sein Opfer haben! Nicht was draußen vorgeht, außerhalb dieses Saales, wird von Einfluß auf Sie sein, sondern hier handelt es sich für Sie nur darum, daß jeder von Ihnen, sehr geehrte Herren, sich sagt: „Ich habe mein Richteramt auszuüben, frei von allen Rücksichten auf die Stürme und Kämpfe im öffentlichen Leben, ich habe das Recht zu suchen, frei von jeder Erregung; ich habe dem Angeklagten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen!“ Meine Herren, ich bin dessen sicher, Sie werden das Nichtschuldig aussprechen, Sie werden meinen Klienten freisprechen. – Staatsanwalt Dr. Schweiger: Die Herren Verteidiger haben mich mißverstanden. Ich habe nicht gesagt, ich habe wegen Mordes gegen den Angeklagten nicht den geringsten Beweis, sondern ich habe gesagt: Zurzeit habe ich nicht ein genügendes Belastungsmaterial, um gegen den Angeklagten wegen Mordes die Anklage zu erheben. Die Verteidigung hat auf Verhetzungen gegen die jüdische Bevölkerung hingewiesen. Ich erwidere, daß von Zeitungen, die im jüdischen Sinne redigiert werden, ebenso gegen die christliche Bevölkerung gehetzt wird. Ich erinnere nur an die Verhetzungen gegen die Familie Hoffmann, gegen einen hochachtbaren Beamten und gegen einen hiesigen Lehrer. Der Erste Staatsanwalt ging hierauf nochmals auf die Beweisaufnahme ein und schloß: Der Verteidiger sagte: „Kann man vom Angeklagten mehr Gewissenhaftigkeit verlangen, als er bewiesen hat?“ Gewiß, ich verlange mehr. Ich verlange, daß er die Wahrheit sagt, und wenn er dies tun wollte, dann mußte er sagen: „Ich habe Winter gekannt.“ Ich habe die Überzeugung, Sie werden den Angeklagten schuldig sprechen; denn Recht muß doch Recht bleiben. – Verteidiger Rechtsanwalt Appelbaum: Da der Herr Erste Staatsanwalt den Vorwurf erhoben hat, daß von jüdischer Seite auch gegen die christliche Bevölkerung gehetzt worden sei, beantrage ich, den Brief zu verlesen, den ich hier dem Gericht überreiche, und dazu den Journalisten Zimmer zu vernehmen. – Vors.: Der Herr Erste Staatsanwalt hat nur von jüdischen Zeitungen gesprochen. – Verteidiger Rechtsanwalt Appelbaum: Das ist aber nicht Gegenstand der Verhandlungen gewesen. Ich wundere mich, daß der Herr Vorsitzende das zugelassen hat. – Vors.: Ich muß diesen Vorwurf zurückweisen. Es ist Gegenstand der Hauptverhandlung gewesen. – Verteidiger Rechtsanwalt Appelbaum: Mit Rücksicht auf den Korrespondenten verzichte ich auf die Vorlesung des Briefes. Nachdem aber der Erste Staatsanwalt den Vorwurf erhoben hat, daß gegen die christliche Bevölkerung gehetzt worden sei, muß ich bemerken: Ich konnte seit langer Zeit beweisen, daß die Hetze gegen die genannten christlichen Familien nicht von Juden, sondern von ausgesprochenen Antisemiten ausgegangen ist. Ich habe aber trotzdem das Material nicht verwertet, sondern ruhig zugesehen, wie Zimmer in der „Staatsbürger-Zeitung“ und dem „Konitzer Tageblatt“ gegen die Juden unter antisemitischen Deckmantel weiter hetzte. Es hat mir gestern in der Seele leid getan, daß ich durch die beantragte Vernehmung Zimmers gewissermaßen dessen Existenz vernichtete. Es ist aber die Pflicht des Verteidigers, das Interesse des Angeklagten wahrzunehmen. Es ist mir bekannt, daß Zimmer in der Familie Hoffmann als Freund verkehrte und trotzdem den Verdacht gegen die Familie Hoffmann erhoben hat. Verteidiger Rechtsanwalt Sonnenfeld richtete hierauf an den Ersten Staatsanwalt die Frage, ob er Auskunft geben wolle darüber, daß die Einleitung des Verfahrens gegen Hoffmann und andere christliche Familien auf Veranlassung von Juden geschehen sei. – Erster Staatsanwalt Dr. Schweigger: Ich verweigere hierüber die Auskunft. – Verteidiger Rechtsanwalt Sonnenfeld: Dann beantrage ich, den Kriminalinspektor Braun aus Berlin hierüber zu vernehmen. – Da Braun beim Aufrufe nicht zugegen war, stellte Verteidiger Rechtsanwalt Sonnenfeld an den Ersten Staatsanwalt die Frage, ob er zugebe, daß der mehrfach genannte Stephan auch einige Zeit in seinen Diensten gestanden habe. – Erster Staatsanwalt Dr. Schweigger: Ich nehme keinen Anstand, zu erklären, daß Stephan die Behörde auf eine neue Spur aufmerksam machte, die ohne dessen Mithilfe nicht verfolgt werden konnte, deshalb war Stephan kurze Zeit im Einverständnis mit der Berliner Behörde in meinen Diensten. – Verteidiger Rechtsanwalt Sonnenfeld: Das genügt mir. Ich war erstaunt, daß der Erste Staatsanwalt jetzt besonders betonte: die Unschuld des Angeklagten am Morde sei nicht nachgewiesen, aber er habe nicht hinreichendes Material, um die Anklage wegen Mordes gegen den Angeklagten zu erheben. Es ist das eine ungewollte Stimmungsmacherei. Sie hat aber dieselbe Wirkung wie eine gewollte und erinnert an den Standpunkt des Staatsanwalts, der sagte: „Solange mir der Angeklagte nicht den Beweis liefert, daß er ein anständiger Mensch ist, halte ich ihn für einen Spitzbuben.“ Der Nachweis, daß der Verdacht des Mordes gegen die Familie Lewy vorliegt, ist doch nicht geführt. Deshalb hätte der Erste Staatsanwalt so etwas nicht sagen dürfen. – Der Verteidiger ging hierauf nochmals auf die Beweisaufnahme ein und schloß: Meine Herren Geschworenen! Ich habe die Überzeugung, daß Sie sich durch keine Bemerkung in Ihrem Urteile beeinflussen lassen und die Schuldfragen verneinen werden. – Vors.: Angeklagter, haben Sie noch etwas anzuführen? – Angeklagter: Ich ersuche die Herren Geschworenen, die Schuldfragen zu verneinen. Ich habe die Wahrheit beschworen, so wahr mir Gott helfe. (Gelächter im Publikum.) Der Vorsitzende erteilte alsdann den Geschworenen die vorgeschriebene Rechtsbelehrung und schloß: Mögen Sie nun mit Gottes Hilfe den richtigen Spruch finden. Es ist Ihnen bekannt, daß es die Pflicht des Richters ist, und, meine Herren, Sie sind auch Richter, Sie haben den Richtereid geleistet, ohne Ansehen der Person, der sozialen, politischen oder Glaubensangehörigkeit des Angeklagten zu urteilen. Seien Sie auch eingedenk, daß Sie über Ihre Handlungen dem ewigen Richter Rechenschaft schulden. – Nach halbstündiger Beratung traten die Geschworenen wieder ein. Unter gespannter Aufmerksamkeit des Publikums verkündete der Obmann Kaufmann Paul Werner, Konitz: Die Geschworenen haben die drei Schuldfragen wegen wissentlichen Meineids und die Unterfrage: ob der Angeklagte durch Bekundung der Wahrheit strafrechtliche Verfolgung befürchten konnte, bejaht. Der Erste Staatsanwalt beantragte hierauf fünf Jahre Zuchthaus, fünf Jahre Ehrverlust und dauernde Eidesunfähigkeit. Verteidiger Rechtsanwalt Sonnenfeld bat, unter Hinweis auf die vielen Verfolgungen, die die Familie Lewy zu erdulden hatte, um eine mildere Strafe. Der Angeklagte bat weinend um Milde, da er unschuldig sei. Nach kurzer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende Landgerichtsdirektor Schwedowitz: Der Gerichtshof hat auf vier Jahre Zuchthaus, vier Jahre Ehrverlust und dauernde Eidesunfähigkeit erkannt, und dem Angeklagten die Kosten des Verfahrens auferlegt. Der Angeklagte ist abzuführen. Bei der Abführung wurde dem Verurteilten zugerufen: „Adieu Moritz!“ „Viel zu wenig!“ „Hättest müssen zwanzig Jahre bekommen!“ – Im Juni 1901 wurde noch der Privatdetektiv Schiller vom Schwurgericht des Landgerichts Konitz wegen Verleitung zum Meineid zu einer längeren Zuchthausstrafe verurteilt. Damit hatten die Prozesse in Konitz aus Anlaß der Ermordung des Gymnasiasten Winter ihr Ende erreicht. Der Täter dieses furchtbaren Verbrechens ist bisher nicht entdeckt worden.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: merwürdige
  2. Vorlage: Sepember