Die Enthüllung des Trepanirten

Textdaten
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Autor: Max Ring
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Titel: Die Enthüllung des Trepanirten
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 14, S. 209–212
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Aus dem Tagebuche eines Arztes Nr. 1
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Aus dem Tagebuche eines Arztes.
1. Die Enthüllung des Trepanirten.


Einer meiner Patienten war ein wohlhabender Gutsbesitzer in der Nähe der Stadt, den ich mit Verschweigung seines eigentlichen Namens „Brand“ nennen will. Derselbe hatte sich erst kurze Zeit in der Gegend niedergelassen und führte ein höchst zurückgezogenes und einsames Leben, da er ein entschiedener Sonderling war und zum Theil deshalb von allen seinen Nachbarn gemieden wurde. Es ließ sich auch in der That nicht leugnen, daß seine ganze Erscheinung einen unheimlichen Eindruck machen mußte. Man denke sich einen großen, mageren Mann mit einem starken Kopf, der über und über mit struppig rothen Haaren bedeckt war, während sein Gesicht durch eine große Narbe entstellt wurde. Diese auffallende Häßlichkeit wurde keineswegs durch sein Benehmen gemildert, da er in seinem ganzen Wesen etwas Rauhes, Eckiges und Menschenscheues hatte. Ich selbst konnte mich des allgemeinen Vorurtheils nicht erwehren, obwohl er mir in der Unterhaltung als ein gebildeter und wohlwollender Mann erschien.

Dieser häßliche, fast widrig zu nennende Gutsbesitzer hatte merkwürdigerweise eine der schönsten und liebenswürdigsten Frauen, denen ich in meinem Leben begegnet bin. Sie war eine jener sanften Blondinen mit goldenen Haaren und blauen Taubenaugen, aus denen die angeborene Herzensgüte strahlte. Ihre Bewegungen waren voll natürlicher Grazie, ihre Sprache klang wie Musik und ein eigenthümlich süßes Lächeln verlieh ihr einen bezaubernden Reiz. Ihr Gatte trug sie, wie ich beobachtete, auf Händen und bewahrte sie wie seinen Augapfel. Ich selbst war öfters Zeuge seiner Unruhe und Verzweiflung gewesen, wenn sie auch nur über das Geringste klagte. Jeder ihrer Wünsche war ihm ein Befehl, und während er gegen alle Welt zurückstoßend und herzlos erschien, zeigte er ihr gegenüber die innigste Liebe, die aufopferndste Hingebung. Auch sie war, so weit ich bemerken konnte, dankbar und voll Anerkennung für seine Zärtlichkeit und zufrieden mit ihrem Loose, obgleich ich mir darüber kein Urtheil zutraute, da das Herz einer Frau selbst dem erfahrensten Arzte ein ewig verschlossenes und unergründliches Räthsel bleibt.

Da sie öfters kränkelte, so wurde ich zu Rathe gezogen, bei welcher Gelegenheit ich sie kennen lernte. Ihre häufigen Leiden waren nervöser Natur, und ich rieth ihr deshalb mehr Bewegung in der freien Luft und Zerstreuung.

„Wo denken Sie hin, lieber Doctor!“ sagte sie mit ihrer sanften Stimme. „Mein Mann liebt die Gesellschaft nicht.“

„Aber ich halte es für nothwendig, daß Sie mit Menschen mehr verkehren. Die Einsamkeit nährt nur Ihre Hypochondrie und steigert Ihre Krankheit. Ich werde deshalb mit Herrn Brand sprechen.“

„Thun Sie das nicht!“ bat die reizende Frau. „Sie werden ihn nur besorgt machen und betrüben.“

Trotzdem ließ ich mich nicht abhalten, meine Pflicht zu thun, indem ich ihm vorstellte, wie nothwendig einige Zerstreuung für die leidende Frau sei.

„Wenn Sie dazu rathen,“ sagte er mit mehr Fassung, als ich ihm zutraute, „so soll es meiner Frau nicht an der nöthigen Gesellschaft fehlen, obgleich ich, offen gestanden, kein Freund derselben bin. Dennoch werde ich das Opfer bringen und mit ihr einige Besuche in der Nachbarschaft machen und auch zuweilen mit ihr in die Stadt fahren.“

Dies geschah auch, wie ich erfuhr, und die Welt war nicht wenig erstaunt, als der menschenscheue Sonderling mit seiner schönen Frau hier und da eine nachträgliche Visite machte und Bekanntschaften in der Umgegend mit den andern Gutsbesitzerfamilien anknüpfte. So angenehm und liebenswürdig man aber seine reizende Gattin fand, so wenig fühlten sich die Leute zu ihm hingezogen, da er auch im persönlichen Verkehr den Eindruck seiner widrigen Erscheinung nicht zu verwischen vermochte. Trotzdem fanden sich einige Familien, mit denen Herr Brand in eine Art von freundschaftlichem Verkehr trat. Zu diesen gehörte vor allen eine verwittwete Generalin von Tannenberg, welche seine nächste Nachbarin war und die eine wirkliche Neigung für die sanfte Frau des Gutsbesitzers faßte und deshalb den ihr keineswegs zusagenden Mann gleichsam mit in den Kauf nahm.

Auch hier bewährte sich die Macht der Gewohnheit, indem die alte, ebenso gutmüthige wie fein gebildete Dame mit der Zeit den abstoßenden Sonderling ganz erträglich fand und sich gern mit ihm unterhielt, da er in der That gut unterrichtet war und es ihm nicht an Geist mangelte. Sie hörte jetzt auch auf, die sanfte Frau zu bedauern, um so mehr, als diese mit der größten Achtung und selbst mit Liebe von ihrem Manne sprach.

Die Generalin besaß einen einzigen Sohn, der als Officier in der Residenz seit Jahren lebte. Sie liebte ihn mit der größten Zärtlichkeit, obgleich der junge Herr ihr durch sein tolles und wüstes Leben schon manche trübe Stunde verursacht hatte. Er galt für einen der schönsten, aber auch der übermüthigsten Roués der Hauptstadt und war wegen seiner galanten Abenteuer allgemein verrufen. Wie ich hörte, war er in Folge eines neuen Streiches nahe daran gewesen, seinen Abschied zu erhalten. Seine Mutter war jedoch nach der Residenz geeilt und hatte durch ihre Fürbitten das ihm drohende Geschick noch abgewendet. Um ihn den schädlichen Einflüssen der Hauptstadt und dem Schauplatze seiner bisherigen Abenteuer zu entziehen, sollte er nach einer andern [210] Garnison versetzt werden, die Zwischenzeit aber auf dem Lande bei seiner Mutter zubringen, zu welchem Zweck ihm ein längerer Urlaub ertheilt worden war.

Auch in dem Hause des Herrn Brand war zu dieser Zeit eine kleine, an sich unbedeutende Veränderung eingetreten. Bei einem meiner wiederholten Besuche fand ich daselbst ein junges Mädchen, das mir als eine entfernte Verwandte und die künftige Gesellschafterin meiner Patientin, welche sich jedoch bedeutend erholt hatte, vorgestellt wurde. Dieselbe hieß Mariane, und die feurige Brunette mit den frischen, rothen Lippen, schwarzen, brennenden Augen und etwas kokettem Wesen bildete in jeder Beziehung den Gegensatz zu der sanften Blondine. Immer heiter, fröhlich und gut aufgelegt, schien sie mir ganz geeignet, einen wohlthätigen Einfluß auf die stille Gutsbesitzerin auszuüben, der sie außerdem in der Wirthschaft zur Seite stand. Ich war förmlich stolz auf die Umwandlungen, welche ich mir zuschrieb, und freute mich, daß es mir gelungen war, den Sonderling geselliger gestimmt zu haben. Auch Frau Brand schien mir Dank deshalb zu wissen, indem sie mit jedem Tage mir ein größeres Vertrauen schenkte und in mir noch mehr den Hausfreund als den Hausarzt schätzte.

Bald erzählte sie mir, was sie bisher nie gethan, von ihrer Vergangenheit und ihren häuslichen Verhältnissen, von ihrer Jugendzeit und wie sie die Bekanntschaft ihres Mannes bei einer Gelegenheit gemacht, welche mir allerdings, wenn auch nicht ihre Liebe, doch ihre hohe Achtung für ihn vollkommen erklärte. Nach ihren Mittheilungen hatte ihr Gatte, der ein bedeutendes Vermögen besaß, ihren Vater vor einem schimpflichen Bankerott, ihre ganze Familie mit den größten Opfern vor dem Untergange bewahrt.

„Ich war damals noch ein Kind,“ fügte sie hinzu, „und wie alle Kinder, legte auch ich einen großen Werth auf äußere Schönheit. Bald aber gewöhnte ich mich an Brand’s Erscheinung, die mir mit der Zeit vollkommen gleichgültig wurde. Je älter ich ward, desto mehr lernte ich seinen Werth, die Güte seines Herzens, die Gediegenheit seines Charakters kennen und verehren. Eine gewisse Traurigkeit, deren Grund ich in seinen bitteren Erfahrungen suchen möchte, erfüllte mich mit Mitleid für ihn, das ja, wie Sie wissen, mit der Liebe nahe verwandt ist. Als er daher mir seine Hand bot, reichte ich ihm die meinige aus innigster Neigung und mit dem Wunsche, ihn so glücklich zu machen, wie er es verdient.“

Trotz dieses offenen und, wie ich glauben durfte, wahrhaftigen Geständnisses, zweifelte ich doch an ihrem Glück, und die folgenden Ereignisse schienen mir nur zu sehr Recht zu geben. Einige Wochen später erhielt ich eine Einladung auf das Gut des Herrn Brand, wo zu meiner größten Verwunderung das in unserer Gegend gebräuchliche Erntefest ebenfalls gefeiert wurde. Unter der Anführung des Amtmanns, eines noch jungen Mannes, bewegte sich der Zug sämmtlicher Knechte und Mägde nach dem Schlosse, um die mit Bändern und Goldflittern geschmückte Krone dem Gutsherrn und seiner Frau zu überreichen. Der Amtmann hielt eine poetische Ansprache an Beide, worauf ein improvisirter Tanz das kleine Fest beschloß.

Unter den anwesenden Gästen bemerkte ich die Generalin mit ihrem Sohn, der allerdings den ihm vorangehenden Ruf vollkommen rechtfertigte. Der Lieutenant war in der That ein ausgezeichnet schöner Mann, ein perfecter Tänzer und mit jener verführerischen Kühnheit ausgestattet, welche den meisten Frauen so gut gefällt. Wie in der Residenz, so fehlte es ihm auch hier nicht an Eroberungen, und besonders war die feurige Mariane von ihm entzückt. Beide tanzten viel und oft zusammen, und das schöne Paar überließ sich einer fast auffallenden Heiterkeit. Auch die Frau des Gutsbesitzers mischte sich, wenn auch seltener, in die frohen Reihen und tanzte einigemal mit dem verführerischen Officier, während ihr Mann finster in einer Ecke stand und mit seinen unheimlichen Blicken sie zu verfolgen und zu bedrohen schien. Nichtsdestoweniger verlief das Fest ohne jede Störung und dauerte bis spät in die Nacht hinein.

Ich selbst konnte nicht bis zum Ende bleiben. Deshalb ersuchte ich den mir bekannten Amtmann, den Wagen für mich anspannen zu lassen, indem ich mich bei ihm wegen der unwillkommenen Störung entschuldigte.

„O,“ entgegnete der junge Mann, „das hat nichts zu sagen. Ich wollte, daß die ganze Geschichte bald ein Ende hätte.“

„Ich dachte, daß Sie sich Gott weiß wie sehr amüsiren.“

„Ein schönes Amüsement!“ brummte der Amtmann. „Das ganze Jahr hat man sich auf das Erntefest gefreut, und nun kommt so ein Kerl und verdirbt einem den ganzen Spaß. Das Weibervolk rennt ja hinter ihm her, als wenn es verzaubert wäre!“

Erst jetzt wurde es mir klar, daß auch der Pächter auf den schönen Lieutenant eifersüchtig war und zwar Marianens wegen, die der junge Mann in sein Herz geschlossen und auf die er wohl ernstere Absichten haben mochte.

Bei meinem nächsten Besuche auf dem Gute fand ich das ganze Haus in einer auffallenden Verstimmung; Herr Brand blickte noch finsterer und unheimlicher, als gewöhnlich, seine Frau hatte einen Rückfall ihres früheren Nervenleidens, und die fröhliche Mariane begegnete mir mit vom Weinen gerötheten Augen. Als ich mit meiner Patientin allein war, erzählte sie mir unaufgefordert, daß es wegen des schönen Lieutenants zu ärgerlichen Auftritten gekommen sei. Derselbe hatte, nach ihren Mittheilungen, mit Mariane ein Verhältniß angeknüpft und das eitle, unerfahrene Mädchen überredet, ihm ein Rendezvous zu geben. Der eifersüchtige Amtmann, der Mariane wirklich leidenschaftlich liebte und ihr auf Schritt und Tritt nachfolgte, hatte das Stelldichein dem Gutsbesitzer verrathen und dieser deshalb den Officier zur Rede gestellt. Beide geriethen bei dieser Gelegenheit so hart aneinander, daß Herr Brand ihm den Besuch seines Hauses verbot und jeden Umgang mit der Familie der Generalin abbrach. Auch der Amtmann war in Folge dieser Vorfälle entlassen worden und Mariane von demselben Geschick bedroht. Nur auf die dringenden Bitten und Vorstellungen seiner sanften, guten Frau hatte Herr Brand ihr verziehen und eingewilligt, sie noch ferner in seinem Hause zu dulden.

Leider gelangte diese Geschichte mit den gewöhnlichen Entstellungen und Uebertreibungen bald in die Oeffentlichkeit und weckte von Neuem das kaum zum Schweigen gebrachte Vorurtheil gegen den häßlichen Brand. Merkwürdigerweise wurde nicht dem übermüthigen Officier, der ein junges, unerfahrenes Mädchen zu verführen gesucht hatte, sondern dem Gutsbesitzer, welcher nur die Ehre seines Hauses wahren wollte, alle Schuld beigemessen. Allgemein glaubte man auch, daß das Verhältniß des Lieutenants mit Mariane nur ein Vorwand wäre, um seine eigene Eifersucht zu verbergen, daß nicht diese, sondern die sanfte Frau das Zerwürfniß mit der Generalin und ihrem Sohn herbeigeführt und Grund zu dieser Trennung gegeben habe. Auch über den Streit selbst waren die verschiedensten Gerüchte verbreitet, wonach Herr Brand die furchtbarsten Drohungen gegen den Lieutenant ausgestoßen und ihm blutige Rache geschworen haben sollte.

Obgleich die Mittheilungen meiner Patientin ganz anders lauteten, war ich doch mehr geneigt, der öffentlichen Stimme Glauben zu schenken, da dieselbe meinen eigenen Beobachtungen entsprach, behielt jedoch meine Ansicht für mich. Im Stillen freute ich mich, daß die Sache ein solches Ende genommen hatte, da Herr Brand keineswegs ein Mann zu sein schien, der in solchen Dingen Spaß verstand, und ich ihm bei seiner mir nur zu bekannten Eifersucht das Schlimmste zutraute.

Eines Tages erhielt ich die Aufforderung, mich schleunigst nach dem Schlosse des Herrn Brand zu verfügen. Zugleich theilte mir der Bote mit, daß sich daselbst ein großes Unglück ereignet habe. Aus seinen verworrenen Reden konnte ich nur entnehmen, daß es sich um eine schwere Verwundung, wo nicht gar um einen Mord handelte. Ich fand das ganze Haus in der größten Zerstörung und Bestürzung, Herrn Brand selbst als Gefangenen, bewacht von einigen Gensd’armen, seine Frau in den heftigsten Krämpfen. Ein bereits anwesender Polizeibeamter forderte mich auf, die Wunden des Lieutenants von Tannenberg zu untersuchen, den man bewußtlos und in seinem Blute schwimmend vor wenigen Stunden, nach Mitternacht, in der Nähe des Schlosses gefunden hatte.

Niemand zweifelte, daß hier ein schweres Verbrechen begangen und kein Anderer als Herr Brand der Thäter sei.

Ausgestreckt auf seinem blutigen Lager, bleich und entstellt, lag der schöne, junge Mann, der mir noch vor wenig Wochen als ein Bild des frischen Lebens und der übermüthigen Jugend erschienen war. Zu seinen Füßen saß seine ebenfalls herbeigerufene Mutter, welche mich mit dem tiefsten Mitleid erfüllte. Ihre feinen [211] Züge verriethen den höchsten Schmerz, während in ihren thränenlosen Augen die unheimliche, düstere Gluth der Rache loderte. Leise näherte ich mich dem Kranken, der nur durch ein schwaches, unterbrochenes Athmen ein kaum bemerkbares Lebenszeichen von sich gab. Bei meiner genaueren Untersuchung entdeckte ich am Kopfe eine Schußwunde; die Kugel mußte nach meinem Dafürhalten in das Gehirn gedrungen sein, weshalb mir die Verletzung tödtlich erschien und keine Hoffnung auf Genesung zuließ.

Der anwesende Polizeibeamte forderte mich auf, mein ärztliches Gutachten, so wie meine Kenntniß von dem ganzen Vorfall zu Protokoll zu geben. Letztere beschränkte sich natürlich nur auf meine Wahrnehmungen und Beobachtungen aus früherer Zeit, wobei ich nicht verschweigen konnte und wollte, was ich über den Streit zwischen dem Lieutenant und dem Angeklagten wußte. Außer mir wurden noch einige Zeugen vernommen, verschiedene Bewohner des Hauses und der Schaffner des Gutes, dessen Aussagen besonders gravirend waren. Derselbe bekundete, daß er, durch das Bellen des Hofhundes geweckt und aufmerksam gemacht, gegen Mitternacht aufgestanden sei, indem er einen Einbruch von Dieben in das Schloß befürchtete. In der Nähe desselben bemerkte er im Mondenschein deutlich eine dunkle, in einen Soldatenmantel gehüllte Gestalt zwischen den Bäumen des Parkes schleichen. Ehe er jedoch sich nähern konnte, war ihm ein Anderer, in dem er den Gutsherrn zu erkennen glaubte, zuvorgekommen. Beide Männer waren bald in einen Kampf verwickelt, ein Schuß drang an sein Ohr und zugleich sank der Erste zu Boden, während sein Gegner zwischen den Gebüschen plötzlich verschwand. Der ganze Vorfall hatte kaum einige Minuten gedauert, und als er jetzt erschrocken hinzueilte, fand er den Lieutenant in seinem Blute. Auf sein Schreien um Hülfe und wiederholtes Pochen öffnete sich die Thür des Schlosses, aus der ihm der Gutsherr, vollkommen angekleidet und mit einem Revolver bewaffnet, entgegentrat. Andere Zeugen bestätigten und verstärkten noch diese Aussage des Schaffners durch ihre Wissenschaft, ohne jedoch etwas Erhebliches aus eigener Beobachtung hinzuzufügen.

Nachdem der Beamte sein vorläufiges Protokoll geschlossen hatte, forderte er den Angeklagten auf, der seine Unschuld wiederholt betheuerte, den bereitstehenden Wagen zu besteigen und ihm nach dem Stadtgefängniß zu folgen. Ich selbst blieb noch zurück, um für die unglückliche Frau und den Verwundeten Sorge zu tragen. Da die Generalin durchaus ihren Sohn nicht länger unter dem verhaßten Dache dulden wollte, so wurde eine Tragbahre herbeigeschafft und der fast sterbende Officier unter meiner Leitung auf diese Weise nach dem Schlosse seiner Mutter transportirt. Seine fernere Behandlung, wenn von einer solchen noch die Rede sein konnte, übernahm der mir befreundete Hausarzt der Generalin.

Alle Welt war von Brand’s Schuld überzeugt, nur nicht seine Frau, welche ihn allein von jedem Verdachte freisprach und ihm in seinem Unglück eine seltene Treue und Opferfähigkeit bewies, so daß ich an ihrer Liebe für ihn und ihrer Unschuld in Bezug auf den Lieutenant nicht länger zweifeln konnte. Sie war, sobald sie sich erholt hatte, in die Stadt gezogen, um ihrem Manne näher zu sein. So oft es ihr gestattet war, besuchte sie ihn in seinem Gefängnisse; auch ließ sie kein Mittel unversucht, um ihn zu befreien. Eine bedeutende Caution, die sie zu diesem Zwecke anbot, wurde jedoch nicht angenommen, da der Untersuchungsrichter das allgemeine Vorurtheil gegen den Angeklagten mehr oder minder zu theilen schien. Unter solchen Verhältnissen ließ sich fast mit Gewißheit annehmen, daß ihn die Geschworenen schuldig finden würden. Für diesen Fall hatte Brand eine lebenslängliche Zuchthausstrafe, wenn nicht gar den schimpflichen Tod durch das Beil des Henkers zu erwarten.

Einige Wochen vor der öffentlichen Schwurgerichtssitzung, in welcher der Fall zur Verhandlung kommen sollte, besuchte mich der Hausarzt der Generalin und machte mir eine interessante Mittheilung über den Zustand des verwundeten Officiers. Dieser war wider Erwarten noch immer am Leben, aber in fortwährender Todesgefahr, weshalb mich mein College aufforderte, den Patienten zu sehen und an einem Consilium über ihn theilzunehmen, zu dem auch ein berühmter Operateur und Wundarzt aus der Residenz berufen war.

Zur festgesetzten Stunde begab ich mich nach dem Schlosse der mir bekannten Generalin, wo ich bereits den Geheimrath und den Hausarzt vorfand. Wir traten in das dunkle Krankenzimmer, um den jetzigen Zustand des Patienten genauer zu untersuchen. Derselbe bot in der That ein eben so trauriges als wunderbares Bild dar, wie es gewiß nur selten dem Arzte vorkommen mag. Das Bewußtsein fehlte fast gänzlich und äußerte sich höchstens in thierischen Trieben; die rechte Seite war vollständig gelähmt, ebenso die Zunge, die nur unverständliche Töne zu lallen vermochte. Der Kranke kannte weder seine Mutter, noch seine übrige Umgebung; er lag den größten Theil des Tages mit halbgeschlossenen Augen in dumpfer Betäubung vor sich hindämmernd. Sein Gesicht war leichenblaß und gedunsen, der Körper im höchsten Grade abgemagert.

Nachdem die Untersuchung beendet war, zogen wir uns in das anstoßende Zimmer zurück, um uns über den eigenthümlichen Fall zu berathen. Es war kein Zweifel, daß die noch im Gehirn steckende Kugel und vielleicht vorhandene Knochensplitter oder Eiteransammlungen einen Druck auf das Organ ausübten und die Lähmung verursachten. Die Hauptfrage war nur die, ob unter diesen Umständen eine so verspätete Operation zu rechtfertigen wäre. Der berühmte Operateur war dafür und erzählte von einigen, wenn auch höchst seltenen Fällen, wo dieselbe unter ähnlichen Verhältnissen geglückt war. Ich selbst stimmte ihm bei und auch der Hausarzt gab schließlich nach, obgleich er anfänglich sich dagegen erklärt hatte.

Es handelte sich nur noch darum, die Einwilligung der verzweifelten und unglücklichen Mutter zu erhalten, der wir nicht die große Gefahr einer solchen Operation verschwiegen.

„Thun Sie,“ sagte diese, „was Sie vor Ihrem Gewissen verantworten können. Besser, daß mein Sohn stirbt und von seinen Qualen erlöst wird, als daß er in diesem traurigen Zustande fortlebt.“

Da der Geheimrath die nöthigen Instrumente zur Hand hatte, so wurde sofort von ihm an die Ausführung gegangen. Bekanntlich gehört die sogenannte Trepanation oder Eröffnung der Schädelhöhle, wenn auch nicht zu den schwierigsten, doch zu den gefährlichsten und mühevollsten Operationen. Es wird dabei mittelst einer Art von kreisförmiger Säge, die man durch einen besonderen hebelartigen Apparat in Bewegung setzt, ein rundes Knochenstück herausgeschnitten, vorsichtig herausgehoben und die darunter befindliche „harte Hirnhaut“ blosgelegt und eingeschnitten. Mit großer Geschicklichkeit vollbrachte der berühmte Operateur diese verschiedenen Manipulationen, wobei ich ihm zu assistiren die Ehre hatte. Während der ganzen Zeit gab der arme Patient keinen Laut, kein Zeichen von Empfindung, so daß er zu seinem Glück ganz gefühllos zu sein und den sonst furchtbaren Schmerz kaum zu spüren schien.

Nach Verlauf einer Viertelstunde, die mir eine Ewigkeit dünkte, war das betreffende Knochenstück in der Größe eines Thalers herausgeschnitten und entfernt, so daß man unter der bläulichen Haut das Gehirn durchschimmern und das Heben und Senken desselben bei jedem Athemzuge des Kranken deutlich bemerken konnte. Ein Schnitt in der Richtung der Wunde, von der sicheren Hand des Operateurs geführt, deckte jetzt den inneren, schmalen Schußcanal auf, in welchem die mit größter Vorsicht eingeleitete Sonde die noch darin verweilende Kugel nachwies. Erst jetzt kam der schwierigste Theil der ganzen Aufgabe, die Entfernung derselben durch die Kugelzange. Wider Erwarten gelang die Auffindung und Herausziehung in überraschend schneller Zeit; einige Knochensplitter, welche ebenfalls die Sonde verrathen hatte, wurden mit derselben Geschicklichkeit glücklich herausgezogen und entfernt. Zugleich fand eine nicht allzubedeutende Entleerung von Eiter und schwarzem halbgeronnenem Blute statt, worauf die Wunde wieder vorsichtig geschlossen und mit dem vorgeschriebenen Verbande bedeckt und geschützt wurde.

Gleich nach der Operation wurde der Kranke in sein Bett zurückgebracht und ihm ein Löffel Wein eingeflößt. Sichtlich zeigte sich bei ihm, trotzdem er sehr erschöpft war, das Wiedererwachen des Bewußtseins; auch schien die Empfindung zurückgekehrt zu sein, da er von Zeit zu Zeit einen tiefen, schmerzlichen Seufzer ausstieß und mit seiner linken Hand nach dem Kopfe griff, um den wahrscheinlich ihm lästigen Verband zu entfernen. Trotzdem hatte der Geheimrath wenig oder gar keine Hoffnung, da das Leiden schon zu lange Zeit gedauert hatte und in Folge des neuen Eingriffs heftiges Wundfieber und drohende Gehirnentzündung zu befürchten standen. Auf Bitten der bekümmerten Mutter blieb [212] der berühmte Arzt, der in der Residenz erwartet wurde, noch bis zum nächsten Morgen, um den Patienten zu beobachten. Da in dem Zustande keine wesentliche Veränderung eingetreten war, so reiste er ab, nachdem er noch einige Anordnungen getroffen und dem Hausarzte mit mir zusammen die fernere Behandlung übertragen hatte.

Einige Tage vergingen in Furcht und Erwartung. Das Wundfieber hatte sich eingestellt, aber im Ganzen einen milderen Verlauf genommen, als wir geglaubt. Als dasselbe geschwunden war, schlug der Kranke zum ersten Mal wieder die sonst immer halb geschlossenen Augen auf. Auch die Sprache war zurückgekehrt und mit ihr allmählich das lang vermißte Bewußtsein.

Wir durften Hoffnung schöpfen, wenn auch die Gefahr noch keineswegs beseitigt schien.

Unterdeß war der Termin für die nächste Schwurgerichtssitzung herangerückt. Noch immer schmachtete der angeklagte Brand in seinem Gefängnisse, obgleich seine Lage sich dadurch einigermaßen günstiger für ihn gestaltet hatte, daß sein Gegner noch am Leben war, wenn auch die Aussicht auf seine Erhaltung und Genesung noch immer bezweifelt werden mußte. Das Gericht hatte von diesem Umstande Notiz genommen und ein Gutachten von mir eingefordert, ob der Kranke zurechnungsfähig und überhaupt befähigt wäre, als Hauptzeuge gegen den Angeklagten vernommen zu werden.

Nach einer genauen Untersuchung und Berathung mit meinem Collegen mußte ich beide Fragen bejahen; in Folge dessen sich der Untersuchungsrichter in meiner Begleitung nach dem Schlosse der Generalin begab, da die Nähe eines ärztlichen Beistandes bei der noch vorhandenen Schwäche des Patienten dringend geboten war. In unserer Gegenwart bereitete die Generalin ihren Sohn vorsichtig auf den Zweck unserer Erscheinung vor. Anfänglich schien er nicht recht zu begreifen, wovon die Rede war, nach und nach aber weckten unsere Fragen sein nur schlummerndes Gedächtniß. Seine Erinnerungen wurden immer lebhafter, seine Antworten klarer und bestimmter. Wir selbst und vor Allen seine Mutter erwarteten mit der höchsten Spannung sein so wichtiges Zeugniß und die Bestätigung unserer Ansicht von der Schuld des Angeklagten.

„Was wollten Sie,“ fragte ihn der Richter nach einigen einleitenden Worten, „in jener Nacht auf dem Schlosse des Herrn Brand? Ich fordere Sie auf, die Wahrheit zu reden, da Sie Ihre Aussage später beschwören müssen.“

„Ich hatte die Absicht einen Besuch zu machen,“ erwiderte der Kranke nach einigem Zögern.

„Ein Besuch um Mitternacht? Wollen Sie nicht näher darauf eingehen?“

„Es handelt sich dabei um die Ehre, um den Ruf einer Frau. Erlassen Sie mir daher ein Geständniß, durch das eine dritte Person compromittirt werden kann.“

„Das Gericht kann Ihren Wunsch nicht erfüllen. Ich muß Sie vielmehr dringend um den Namen dieser Frau und um genaue Angabe ihres Verhältnisses zu derselben ersuchen.“

Einige Augenblicke schwieg der Officier, indem er sichtlich verlegen war und mit sich selbst kämpfte. Wir Alle glaubten im nächsten Augenblick den Namen der Frau Brand aus seinem Munde zu vernehmen, da auf ihr natürlich der meiste Verdacht ruhte.

„Sprich die Wahrheit,“ mahnte ihn die ebenfalls anwesende Generalin. „Du hast keinen Grund, diese Leute, welche meine Freundschaft so schlecht vergolten haben, zu schonen. Wer war die Frau?“

„Mariane!“ murmelte der Kranke in fast unverständlichem Tone.

„Mariane?“ wiederholte der Richter verwundert. „Die Wirthschafterin des Herrn Brand?“

„Dieselbe. Ich hatte mit ihr in jener Nacht ein Rendezvous im Park verabredet, da Herr Brand mir in Folge eines Streites sein Haus verboten hatte.“

„Und hat Sie Herr Brand in seinem Park angetroffen und zur Rede gestellt in jener Nacht?“

„Das war nicht Herr Brand,“ entgegnete der Officier mit der größten Bestimmtheit.

„Erinnern Sie sich,“ bemerkte der Richter, „und bedenken Sie, daß von Ihrer Aussagte die Verurtheilung oder die Freisprechung des Angeklagten abhängt.“

„O, ich weiß, was ich sage, und bin ganz sicher, daß es nicht Herr Brand, sondern ein Anderer war, mit dem ich rang.“

„Ein Anderer? Wer sollte es denn gewesen sein, wenn es Herr Brand nicht war?“

„Der fortgejagte Amtmann. Der Bursche war in Mariane verliebt und lauerte mir auf. Ich hatte ihn noch dazu einige Tage vorher beleidigt und gereizt. Wüthend vor Eifersucht vertrat er mir den Weg, und da ich den Rasenden von mir abhalten wollte, feuerte er sein Terzerol auf mich ab. Ich fühlte nur noch, wie ich zusammensank und mich mein Bewußtsein verließ.“

Der Eindruck dieser Worte, welche durchaus den Stempel der Wahrheit trugen, läßt sich nicht beschreiben. Da der Richter und wir Alle noch immer zweifelten, erbot sich der Kranke jetzt von freien Stücken seine Aussage zu beschwören. Auch erzählte er unaufgefordert die genaueren Umstände, welche sich in jener Nacht ereignet hatten, mit einer wahrhaft staunenswerthen Sicherheit und Kenntniß der Einzelheiten. Mir schienen seine Auslassungen von höchstem psychologischen und physiologischen Interesse, abgesehen von der Wichtigkeit, die sie für den unschuldig Angeklagten hatten. Der Kranke kam mir wie ein Mensch vor, der aus einem tiefen, wochenlangen Schlaf erwacht und die durch den Schlummer unterbrochene Gedankenreihe wieder aufnimmt, als hätte er nur wie gewöhnlich wenige Stunden geschlafen und keine nennenswerthe Störung der Geistesthätigkeit erlitten. Ja, ich glaubte zu bemerken, daß sein Gedächtniß, nachdem es einmal wieder geweckt war, eher an Kraft gewonnen als verloren hatte, wenigstens so weit seine Erinnerungen die Vorgänge jener Nacht betrafen. Gerade die letzten Eindrücke traten nach dieser unfreiwilligen Ruhe des Gehirns um so schärfer hervor, wie wir die am Abend halb gelernte Lection am Morgen weit besser wissen und ohne Anstoß hersagen, nachdem der Geist mehrere Stunden sich ausgeruht hat.

Doch ich will nicht diese seltene pathologische Erscheinung erklären, ebensowenig wie ich die Freude der Frau Brand schildern kann, als ich ihr die Aussage des Officiers mittheilte. Als ich ihr leuchtendes Antlitz, ihre frommen, zum Himmel gerichteten Augen und ihre gefalteten Hände sah, wußte ich, daß sie ihren Mann liebte und daß dieser trotz seiner abstoßenden Häßlichkeit ihre Liebe verdiente. Daß der Gefangene aus seiner Haft entlassen und von dem Gerichte von der Anklage entbunden wurde, bedarf kaum noch der Erwähnung. Die ganze Umgegend bat ihm gleichsam ihr Vorurtheil ab und ließ es nicht an Beweisen der innigsten Theilnahme und Achtung fehlen. Auch die Generalin stattete ihm einen Besuch ab und gab ihm die ihm gebührende Ehrenerklärung, so schmerzlich sie auch der Vorgang berührte, da der Kranke sich nicht wieder erholte und trotz der glücklichen Operation nach wenigen Monaten an allgemeiner Schwäche und Abzehrung starb. Der eigentliche Thäter aber war glücklich nach Amerika entkommen, von wo er einen reuevollen Brief an Herrn Brand und an Mariane schrieb, welche schwer für ihren Leichtsinn büßen mußte.

Max Ring.