Textdaten
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Autor: Kurt Tucholsky
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Titel: Die Einsamen
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aus: Das Lächeln der Mona Lisa, S. 243–244
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Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1929
Verlag: Rowohlt
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Erscheinungsort: Berlin
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Originalherkunft:
Quelle: ULB Düsseldorf und Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
Erstdruck in: Vossische Zeitung, 17. Januar 1926
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Die Einsamen

In jeder großen Stadt gibt es einen Ohrenschmalzsalon, einen schön ausgestatteten Laden, in dem Leute mit zwei Gummischläuchen an den Ohren dasitzen und auf etwas horchen.

Das gab es schon vor dem Radio; unten im Keller brodeln die Grammophone und trichtern Musik ins Volk. „8576 Hans, was machst du denn mit deinem Knie –?“ und: „5611 C’est moi qui fais la vaisselle –“. Das ist international. In Paris zum Beispiel sieht es so aus:

Abends gegen acht Uhr, wenn alle ordentlichen Leute essen, weht der Boulevard ein paar Einsame in einen Musikladen. Sie kaufen beim Kustos eilig ihre Marken, setzen sich an die Musiktische und blättern in den Katalogen. Vor ihnen ist ein rechteckiger Spiegel, in dem sehen sie sich. Dann gehts los. Im Spiegel kann ich sie alle auch sehen.

Zuhörende Menschen haben einen starken Willensausdruck in den Augen; es ist, als ob sie bei der Empfängnis, nach dem Rezept Whitemans, dem Fremden etwas Eigenes entgegensetzen, um nicht unterzugehen, – die Frauen sehen meist weicher drein. Da horchen sie.

Manche summen mit und nicken bekräftigend an den Kraftstellen, fröhlich feixend, wenn sie wiedererkennen, was ihnen da vorgemacht wird. In einer englischen Revue gab es einmal eine solche Grammophonszene – immer kam einer herein, setzte sich vor seinen Kasten und summte leise mit; zum Schluß heulte die ganze Bühne. So laut ist es hier nicht. Nur manchmal hört man aus den Schläuchen einen Tenor krähen, einen Alt schmettern, eine Dame sengend zischen. So dringt Musik ins Volk.

Es ist wohl ein Stück metaphysischen Bedürfnisses, daß sie [244] hier sitzen. Wo sollten sie sonst auch bleiben? Zu Hause –? Ich sehe jedes der kleinen möblierten Zimmer, so schwarz, so langweilig, so entsetzlich einsam. Hier kann man ausspannen, sich ein bißchen verlieren, hier ist Zusammenhang, Menschennähe, die ganze musizierende Welt. Neue Schlager und alte Weisen, Orchesterkonzert und rührselige Lieder, Bekräftigung, Trost und Stütze.

Ich für meinen Teil lasse für fünfundzwanzig Centimes Hawain in mich hineinweinen, und bis zur Erschlaffung Jazz, man versteht nachher Politik und Geschäfte viel besser. Tote singen, verstorbene normannische Volkssänger, und wenn ich Aufschluß über das kleine französische Mädchen haben will, dann bestelle ich Lieder aus den Variétés, „Si l’on fait le même chemin“ und „Pars!“, mein Lieblingslied. Hier klingt die Seele eines Volkes, – eines Teils gewiß. Leute kommen und gehen, der Boulevard speit sie aus und verschluckt sie wieder, mit hochgezogenen Augenbrauen sitzen sie alle da, Fremde und Franzosen, und horchen. Auf Musik, auf ihre Zeit, auf sich selbst.