Textdaten
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Autor: Kurt Tucholsky
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Titel: Clément Vautel
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aus: Das Lächeln der Mona Lisa, S. 237–242
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1929
Verlag: Rowohlt
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Erscheinungsort: Berlin
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Originalherkunft:
Quelle: ULB Düsseldorf und Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
Erstdruck in: Vossische Zeitung, 30.September 1925
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Clément Vautel

Fremde machen sich häufig falsche Vorstellungen von Ländern, deren Vertreter sie nur bei sich zu Gesicht bekommen haben. Daher die merkwürdige Tatsache, daß es in allen europäischen Staaten Leute gibt, die einen enormen Auslandskredit haben, in ihrem Vaterlande aber nichts gelten, und es sind gar keine Propheten. Wüßten die Deutschen, wen zum Beispiel die Franzosen von Deutschen kennen und schätzen, sie staunten. Und auch die Deutschen sind leicht geneigt, kleine Kreise und noch kleinere Leute für „Frankreich“ zu halten, obgleich sich in Frankreich niemand um die kümmert. Nun kann [238] man immer einen großen Künstler propagieren, auch wenn er unbekannt ist – in der Politik und in der Kulturbeschreibung ists schon gefährlicher. Man muß um die Gewichtsverteilung Bescheid wissen und nicht den Äußerungen von Außenseitern eine Bedeutung beilegen, die ihnen nicht zukommt. Der gebildete André Germain kann in Frankreich schreiben, was er lustig ist – irgendeinen Einfluß hat das überhaupt nicht. Das mag bedauernswert sein, aber er ist so, und man muß es wissen. Wer beeinflußt nun zum Beispiel die große Masse in Frankreich?

Jeden Tag, den Gott scheinen läßt, geht die Sonne in Paris auf, und wenn man sie nicht immer sieht, so liegt das am Wetter. Das „Journal“ aber sieht man immer, und pünktlich wie das himmlische Gestirn erscheint dort, jeden Tag sichtbar, „Mon Film“ von Clément Vautel, ein kleiner Artikel auf der ersten Seite, ein Glößchen, eine Handspanne lang. Jeden Morgen.

Dieser Mann ist der lebendig gewordene Durchschnittsfranzose, aus Belgien. Die Pariser Butterhändler schreiben keine Feuilletons – schrieben sie aber welche, so schrieben sie genau so: vernünftig, nicht überspannt, klar an Verstand und kurz an Verstand, im Umkreis der heimischen Rindsbrühe richtig tippend, und todsicher falsch, wenn das Ziel ein bißchen weiter entfernt liegt. Das ist Herr Vautel, aus Belgien.

Jahraus, jahrein beschäftigt sich „Mon Film“ mit dem, was das kleinbürgerliche Herz bewegt: mit der Steuer, mit der Erhöhung der Fahrpreise, mit den vielen Fremden in Paris, mit der Steuer, mit der schlechten Beleuchtung in manchen Straßen, mit dem letzten Mord, mit der Steuer, mit dem Parlament. Und immer gemäßigt, immer hübsch die Mitte haltend, immer das Nächste scharf ins Auge fassend, pathetisch und pathoslos, immer sinnfällig und fast immer [239] oberflächlich. Diese Artikelchen sind nicht einmal besonders gut geschrieben, aber sie sind platt, da gibt es keine Rätsel, und was die Sache etwa komplizieren würde, wird ausgelassen. Auf diese Weise kann nichts geschehen. Das ist aber auch nicht nötig.

Denn Clément Vautel spricht täglich zu etwa einer Million Leser. Und um das durchführen zu können, muß man tun, was in jenem Gleichnis Buddhas von einem Büßer erzählt wird, der einstmals ein Wagner gewesen war und nun einem ehemaligen Kollegen zusah, wie der ein Rad reparierte. „Möchte ers doch soundso machen!“ dachte der Büßer mit aller Kraft. Und der Schmied am Rad tat so. Da rief der Büßer frohlockend: „Er hobelt mir recht aus dem Herzen!“ Vautel hobelt den Millionen aus dem Herzen.

Um populär zu werden, kann man seine eigene Meinung behalten. Um populär zu bleiben, weniger. Vautel und seine Leser – sie sind ein Herz und eine Seele. Er braucht vielleicht nicht einmal unters Joch zu kriechen: der Mann empfindet so gewinnbringend.

Und peinlich wird die Sache nur, wenn sich der Duval-Koch vermißt, besseren Herrschaften ins Handwerk zu pfuschen. Der Mann hat Nerven wie eine Schildkröte, und wenn er über moderne Kunst schreibt, dann wird einem die Orthographie sauer. Es ist nicht hübsch anzusehen, wie der arrivierte Groß-Schriftsteller jungen Leuten, die noch eine Flamme im Herzen tragen, strafende Klapse austeilt. Aber das tut er wohl nicht nur in seiner Eigenschaft als Zeitungsmann, sondern als Künstler. Denn Clément Vautel schreibt auch Romane.

„Mon Curé chez les Riches“ steht heute, wenns wahr ist, im 335. Tausend. Es ist aber nicht wahr. Denn die Auflagenziffer auf dem französischen Buchdeckel ist erlaubte Reklame. Wie sieht nun so etwas aus –?

[240] „Mon Curé“ hat den Krieg als Krankenträger und Sanitäter mitgemacht, nun sitzt er wieder in seinem Dorf und predigt den Armen. Und zwar in einer Sprache, die ein Teil seiner kirchlichen Vorgesetzten ganz und gar nicht billigt: er spricht etwas, das unserm Kommißjargon entspricht, „l’argot des poilus“, eine sehr ausgebildete und kräftige Sprache. Schickt sich das für einen Geistlichen? Nichts und niemand kann ihn daran hindern. Beschwerden beim Erzbischof, Probepredigt in der Kathedrale, er darf fortfahren. Und wird von den Neureichen, die das alte Schloß des guten Grafen gekauft haben, herangezogen, um den Millionär in seinem Wahlkampf zu unterstützen, was er nur mit halber Kraft tut; der junge Sohn des alten Grafen entführt die Millionärsfrau, einen ehemaligen Star des „Casino de Paris“, der gute Curé holt sie beide zurück, der Millionär wird Deputé, überfährt dem guten Curé seinen guten Hund, der beerdigt den treuen Kameraden feierlich im Garten und fliegt wegen dieses Sakrilegs in ein Kloster. Aus.

Davon ist nicht eine Seite ins Deutsche zu übertragen. Nicht etwa, weil wir kein Schützengrabendeutsch hätten („Meine Herren! Da haben wir vielleicht Fettlebe gemacht –!“), sondern weil die Stabilität des französischen Volkskörpers viel größer ist als die des unseren, weil die Begriffe fester stehen, und was hier im Leben eine Sensation an Kühnheit ist, würde im neuen Deutschland nur ein Achselzucken verursachen. Der Riesenerfolg erklärt sich so:

In diesem Buch wird zunächst auf sämtlichen Drüsen gefingert, die der Mensch hat. Essen, Trinken, Glaubenstreue, Behaglichkeit, Liebe zum Tier, Patriotismus, Kriegserinnerungen, soziale Bewegungen, Spott über die Neureichen, erschütternde Schilderung der alten depossedierten Royalisten, kirchliche Gefühle – und eine Erotik, die viel weiter geht als [241] das gleiche Ingredienz im deutschen Familienroman, weil französische Sprache und Überlieferung eine größere Freiheit gestatten.

Und das Buch ist platt und ohne jeden festen Standpunkt: es entspricht also allen Erfordernissen, die zu einem großen Erfolg nötig sind.

Es ist nicht katholisch, und es ist nicht antikatholisch. Es spielt in gerissener Weise einen sentimentalen Christus gegen den gefrorenen Christus der großen Kathedralen aus, ohne nun etwa wieder ins Urchristentum zu verfallen; die Kirche darf schon Helferin des Kapitals bleiben, aber mit Maß und Ziel, und Wohltun bringt Zinsen; und ein und das andere Mal entwischen dem tüchtigen Autor merkwürdige Selbstbekenntnisse. Von der Predigt des guten, ungehobelten, herzensguten Curé: „Diese flammende und roh zupackende Beredsamkeit ist nicht mehr von unserer Zeit, die die gemächlichen Banalitäten liebt, die vorsichtigen Euphemismen, das Arrangement mit den nun einmal nötigen Heucheleien …“ Und diese Zeit schafft sich ihre Tagesschriftsteller. Die haben Erfolg, wenn sie Bücher schreiben, die noch im letzten Komma für Frauen geschrieben sind … „Mais que voulez-vous? Il faut marcher et même courir avec son temps!“ Und nach Rührungs- und Ehebruchsszenen und ernsten soziologischen Diskussionen, die etwa, während draußen die Internationale gesungen wird, so enden: „Verrückte!“ spricht der sterbende royalistische Graf; „Dummköpfe!“ sagt der republikanisch-liberale Arzt; „Unglückliche!“ murmelt der Curé – nach alledem und in alledem das Porträt eines Schriftstellers, den man sich zum Wahlkampf bestellen kann wie eine Droschke:

„Seit dreißig Jahren und mehr schrieb er für sehr wenig Geld in den Zeitungen, die die Religion, die Familie und vor allem das Privateigentum verteidigten. So, wie er da war, [242] mit seinen verbrauchten Zügen, seinen übernächtigen Augen, seinem Gummikragen und seinem traurigen Gesichtsausdruck, war er der Typus des Zeitungsschreibers, der sein ganzes Leben lang gehungert hatte – bei seiner Arbeit für die Reichen.“ Das ist eine Figur aus diesem Roman. Und Herr Vautel.

Es gibt auch schon eine Fortsetzung: „Mon Curé chez les Pauvres“, und „Madame ne veut pas d’Enfants“ ziert alle Bahnhöfe.

„Mon Curé chez les Riches“ ist dramatisiert und wird allabendlich im alten Theater der Sarah Bernhard gespielt, das an der Place du Châtelet liegt. Und auch hier hat Vautel seinen Erfolg, wie er ihn immer hat, weil er genau ist wie seine Leser und nur gerade um so viel klüger, daß es keinen reizt.

Nicht nur Gerhart Hauptmann repräsentiert die deutsche Literatur, sondern auch die Herren Herzog und Hoecker. Und nicht nur Marcel Prévost repräsentiert die französische Literatur (Exportbräu), und nicht nur Marcel Proust (nicht versandfähig), sondern vor allem die kleinen Leute wie Vautel.

Wenn die französische Literatur ein Haus ist – Proust wohnt in einem Seitenflügel à part; die Akademie in der ersten Etage; Pierre Hamp wäscht in der Küche Geschirr; Valéry Larbaud geht im Vorgarten spazieren; Daudet steckt den Kopf zum Fenster heraus und schreit, daß man glaubt das ganze Haus gehöre ihm allein; Maurras ist Schornsteinfeger und ruft fortwährend: „Feurio!“; Maurice Rostand wohnt nach hinten, und Paul Morand hat eine sturmfreie Bude –: wenn die französische Literatur ein Haus ist, dann sitzt vorn in der Portierloge ein Mann, mit rundem, glattrasiertem Gesicht und breiten Naslöchern, fast wie ein verkrachter Schauspieler anzusehen. Sie klingeln, Sie wollen eintreten, Sie müssen an ihm vorbei. Es ist Clément Vautel, der Nationalconcierge des französischen Volkes.