Textdaten
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Autor: August Schrader
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Titel: Die Doppelgängerin
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 23–25, S. 293–296, 309–312, 321–324
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[293]
Die Doppelgängerin.
Von August Schrader


I.
Der Freund.

Das glänzendste Fest der römisch-katholischen Kirche ist das Frohnleichnamsfest. Brüssel bietet an diesem Tage einen wahrhaft magischen Anblick: die Straßen sind sorgfältig von Staub gesäubert und mit Blumen bestreut, die Balkons und Fenster der Häuser mit Kränzen, Guirlanden und Teppichen reich geschmückt, sind mit Zuschauern angefüllt, daß sie den Logen eines Theaters gleichen; in der Mitte der Straße bilden die Garden für die herannahende Prozession eine Gasse, und hinter dem Rücken der Krieger wogt das Volk, sonntäglich geschmückt, in dichtem Gedränge. Wie fest gebannt stehen die Neugierigen an ihrem Platze, den die Meisten schon vor Aufgang der Sonne eingenommen haben, um ihn desto sicherer zu erlangen.

Um neun Uhr erschüttert ein Kanonenschuß die Luft. Ein allgemeines Gemurmel der Zufriedenheit läßt sich vernehmen, denn dieses Zeichen kündigt an, daß die große Prozession die Kirche St. Gudula verläßt, um sich unter dem Geläute aller Glocken langsam durch die Stadt zu bewegen. Bald hört man die Musik und die frommen Gesänge, der Duft des Weihrauchs mischt sich mit dem Wohlgeruche der Blumen, und bei dem ehrfurchtsvollen Schweigen der Menge erscheint im strahlenden Ornate die hohe Geistlichkeit, gefolgt von Dominikanern, Kapuzinern und Karmelitern.

Der imposante Zug bewegt sich dem großen Marktplatze zu, wo vor dem alten Rathhause, das mit grünen Zweigen und Kränzen bedeckt ist, sich ein Altar erhebt. Unter den neugierigen Zuschauern, die in der Nähe dieses Altars Posto gefaßt, bemerken wir einen jungen Mann, der sich nicht nur durch sein Aeußeres, sondern auch durch sein freieres Benehmen von den Andächtigen seiner Umgebung unterscheidet. Er trägt einen höchst eleganten schwarzen Anzug, und verräth den Stutzer vom feinsten Geschmack. Da er den feinen Filzhut in der Hand trägt, bemerkt man sein sorgfältig coiffirtes braunes Haar, das sich in einem Toupet über der hohen Stirn erhebt. Sein schönes Gesicht mit einem schwarzen krausen Barte über der Oberlippe ist von der Hitze geröthet. Während alle andern Personen ehrfurchtsvoll des herannahenden Schauspiels harren, hat er sein goldenes Lorgnon an die Augen gesetzt, und prüft, mit der Ungezwungenheit eines Kenners, den Zug weiß gekleideter junger Mädchen, die Blumen streuend der Prozession vorangehen, und sich dann in Gruppen um den Altar stellen. Vier von ihnen tragen einen prachtvollen Teppich, den sie auf den Stufen ausbreiten.

„Adam!“ flüsterte er einem Manne zu, der neben ihm stand.

Adam hörte nicht sogleich, denn seine ganze Aufmerksamkeit war auf die vier Mädchen gerichtet, die sich knieend auf den Ecken des Teppichs niedergelassen, und die kleinen weißen Hände betend zusammengelegt hatten. Sie bildeten eine unaussprechlich reizende Gruppe. Es schien fast, als ob man die lieblichsten Geschöpfe zu diesem frommen Amte auserlesen hätte.

„Adam, Adam!“ rief lauter der junge Mann.

„Gnädiger Herr?“ fuhr wie erschreckt der Angeredete auf.

„Kennst Du das junge Mädchen, das links neben der ersten Stufe auf dem Teppich kniet?“

„Vielleicht!“

„Was soll das heißen?“

„Daß ich erfahren kann, wer sie ist, wenn ich mich jetzt in der Person täuschen sollte.“

„Du erhältst einen Friedrichsd’or, wenn Du sichere Nachricht bringst, und wirst sofort aus dem Dienste gejagt, wenn Du Dich als einen ungeschickten Teufel zeigst. Geh, ich gebe Dir Frist bis diesen Abend.“

Adam, ein kleiner hagerer Mann in einem blauen Livréerocke, lächelte so zuversichtlich, als ob er sagen wollte: halten Sie den Lohn bereit, ich werde ihn gewiß verdienen. Dann verschwand er im Gedränge, um gleich darauf in der Nähe des jungen Mädchens wiederzuerscheinen. Die Blicke des jungen Herrn ruhten unverwandt auf der lieblichen Erscheinung, und wahrlich, das Mädchen war völlig geeignet, die Aufmerksamkeit im hohen Grade zu fesseln. Bei dem Klange der Glocken, den Tönen der Musik und Gesänge, die sich mehr und mehr näherten, bei dem leisen Gemurmel der Betenden glich sie einem Seraph, der zur Verherrlichung des Festes vom Himmel herabgesendet. Ihr Haar, schwarz wie Ebenholz, fiel in schweren Locken auf die Schultern herab; ihre Stirn, weiß wie der zarteste Alabaster, schien das heitere Sonnenlicht widerzustrahlen, die schönen edel geschweiften Brauen schienen von der Hand eines Malers künstlich erschaffen zu sein; die gesenkten Augenlider mit den schwarzen Wimpern verhüllten einen feuchten, von himmlischer Bewegung erfüllten Blick; die kleine edel geschnittene Nase gab ihrem anmuthigen Profil jenen Charakter antiker Schönheit, den man nur selten noch auf der Erde findet. Ein ruhiges, kaum merkliches Lächeln, das zwar von der Seele ausgegangen, aber die Lippen noch nicht erreicht hat, verlieh dem rosigen Munde einen unbeschreiblichen Ausdruck von Keuschheit, Frömmigkeit und Milde. Das kleine runde Kinn gab diesem reifenden Gesichte die höchste Vollendung. Der mattweiße schlanke [294] Hals trug das liebliche Köpfchen mit natürlicher, ungezwungener Grazie. Der jugendliche, elastische Körper war von einem weißen Mousselinkleide eingehüllt, dessen weite Falten bis zu den Fußspitzen hinabgingen. Die zarte Taille umschlang ein Gürtel von weißem Schmelz, in dem ein schwarzer Rosenkranz mit einem goldnen Kreuze hing. Mehr als ein Beobachter bewunderte diese seltene, und dabei so bescheidene Schönheit.

Die Ankunft der Prozession veränderte die Scene. Die Zuschauer wurden zurückgedrängt, die Garden bildeten einen Kreis um den Altar, und eine kurze Messe begann. Der weite Marktplatz mit der unabsehbaren Volksmenge, die stets neuen Zufluß aus den Straßen erhielt, ward zur Kirche. Unser Beobachter hatte das Mädchen aus dem Gesichte verloren, dessen Schönheit er als eine engelgleiche anerkennen mußte. Für die Festlichkeit hatte er ferner keinen Sinn, und mit Ungeduld harrte er des Augenblicks, der ihm eine Veränderung seines Platzes erlauben würde. Endlich setzte sich die Prozession wieder in Bewegung, aber dem Stutzer war es unmöglich, einen Platz zu gewinnen, von wo er den Gegenstand seiner Bewunderung erblicken konnte. Grollend zog er sich aus dem Menschenstrome zurück, und schlug den Weg nach dem großen Parke ein, um während eines einsamen Spazierganges an die wunderbare Erscheinung zu denken. Er sollte nicht lange allein bleiben, denn in einem der schattigen Laubgänge trat ihm ein Spaziergänger entgegen, ein junger Elegant, der ihn mit der lebhaftesten Freude begrüßte.

„Sie hier, Graf, und um diese Zeit?" rief er aus.

„Wundern Sie sich darüber, Herr von Dermont? Der Tag ist schön, und da das Getöse in der Stadt mir lästig ist – –"

„Man sprach schon davon, daß Sie Ihre Reise nach Scheveningen angetreten hätten.“

„Wer sprach davon?“

„Es war nur eine Vermuthung, die ich gerechtfertigt fand, da die Marquise von Beaulieu schon vorgestern nach dem Orte abgereist ist, wo sie sich von den anstrengenden Freuden des verflossenen Winters zu erholen pflegt. Ach mein Bester, die reizende Wittwe ist der Reise in ein Bad werth! Ich beneide Sie um die Liaison mit der geist- und geldreichen Frau!“

„Sie sind sehr offenherzig, Dermont!“

„Mein Gott, alle Welt spricht darüber! Und, verhehlen Sie es nicht, die Eifersucht des Lords, der bei jeder Gelegenheit mit seinen Pfunden prahlt, ist für Sie ein großer Triumph.“

„Lassen wir das!“ sagte lächelnd der Graf. „Ich halte es für keinen Sieg, dem Lord Darnley vorgezogen zu werden. Er ist mehr einfältig als anmaßend –“

„Wie alle Leute, die ihren Reichthum nicht erworben haben. Verstand und Bildung sitzen bei ihnen in der Kasse!“ rief Dermont. „Uebrigens hegt der Lord eine ernste Leidenschaft für die schöne Marquise, und es sollt mich wundern, wenn er ihr nicht in das Bad folgte, um dort seine eifrigen Bewerbungen fortzusetzen. Seien Sie auf der Hut, Graf, der edle Lord könnte Ihnen gefährlich werden!“

„Ich lasse es darauf ankommen, mein Freund!“ sagte lächelnd der Graf Montlosier. „Vor der Hand werde ich noch in Brüssel bleiben, mag der Lord reisen oder nicht.“

Die beiden Männer gingen Arm in Arm durch den Park. Sie waren die einzigen Spaziergänger an dem sonst so belebten Platze, da die ganze Bevölkerung der Hauptstadt der Prozession folgte. George von Montlosier hörte das Geplauder seines lebhaften Freundes schweigend und theilnahmlos mit an, denn seine Gedanken waren immer noch bei dem reizenden Blumenmädchen, dessen Madonnenköpfchen einen tiefen Eindruck auf ihn ausgeübt hatte. Während des Gesprächs sah Dermont oft nach der Uhr, und unmerklich hatte er den Weg nach der Allee eingeschlagen, die für Reiter und Wagen eingerichtet war.

„Bekennen Sie es, Dermont,“ sagte George, „Sie hat eine bestimmte Absicht um diese Zeit in den Park geführt. Wollen Sie allein sein – ich ziehe mich zurück.“

„Sie haben es errathen, Graf! Aber es ist mir lieb, Sie gefunden zu haben. Sie sind mein Freund, und Ihnen darf ich wohl anvertrauen, daß ich diesen Morgen kein müßiger Spaziergänger bin. Hören Sie eine wunderliche Geschichte, die ich vor vierzehn Tagen hier im Parke erlebt habe.“

„Sind Sie verliebt, Dermont?“ fragte George lächelnd.

„Ich glaube.“

„Seit dem Bruche mit der koketten Mathilde hatten Sie den Frauen ewigen Haß, selbst Verachtung geschworen."

„In der ersten Aufregung hätte ich noch mehr gethan; ich verhehle nicht, daß ich mich damals in einer Verfassung befand, die mir das Leben verhaßt machte, und wäre mir dieses Abenteuer nicht begegnet, wer wüßte, was ich gethan hätte. Fast scheint es, als ob mir das Schicksal einen reichen Ersatz zugedacht hat.“

„Nun, so erzählen Sie!“

„Das Zerwürfniß mit der stolzen Mathilde hatte mir meine heitere Laune völlig zerstört, und ich zog mich aus allen Cirkeln zurück, die das übermüthige Geschöpf zu besuchen pflegte; ich wollte selbst den Schein meiden, als ob ich eine Annäherung suchte. Der Gedanke, daß eine andere Neigung der Grund ihres seltsamen Betragens sein könne, daß man mich gewissermaßen bei Seite geschoben habe, erfüllte mich mit einem unbeschreiblichen Grolle, und ich muß gestehen, daß das Gefühl gekränkten Stolzes mich mehr quälte, als das erlittene Unglück in der Liebe. Um jene Zeit nun sprach ich mich über die Frauen im Allgemeinen aus, wie Sie wissen. Fast muß ich annehmen, als ob sich Gott Amor, den ich lästerte, dafür rächen wollte. An einem heitern Frühlingstage durchstrich ich einsam den Park. Ich kam in die Eremitage, die dort unten tief im Gebüsche versteckt liegt. Erschöpft warf ich mich auf die Bank, die in dem kleinen anmuthigen Raume stand. Durch die farbigen Fenster fiel ein mattes, melancholisches Licht herein, das, vereint mit der Stille der Umgebung, meine düstere Stimmung vermehrte. Ich gefiel mir in dieser Situation, und gab, um mit den Worten eines bekannten Diplomaten zu reden, meinen Gedanken eine besondere Audienz. Da fiel mein Blick auf ein Buch, das neben mir aus der Bank lag. Ich öffnete es und fand: les avantures de Télémaque von Fenelon. Es war eine von den eleganten pariser Taschenausgaben. Ohne weiter an die Person zu denken, die es zurückgelassen, begann ich zu lesen. Die Lektüre interessirte mich, und ich weiß nicht, wie lange ich ihr nachgehangen, als ich plötzlich das Knistern von Schritten und das Rauschen eines Frauenkleides vernahm. Ich sah auf, und eine Dame stand vor mir, deren Schönheit mich blendete wie ein elektrisches Licht. George, es war kein irdisches Wesen, das war ein Engel, eine Göttin. Welch eine Anmuth in dem reizenden, blühenden Gesichte, welche Eleganz in den herrlichen Formen, welche die Blüthe der Jugend schmückte! Sie trug ein Kleid von himmelblauer Seide, einen weißen Shawl und einen weißen Hut mit Federn. George, ich war so geblendet, daß ich nicht daran dachte, sie könne gekommen sein, um das Buch zu holen, und ich vergaß, es ihr anzubieten. Schweigend erhob ich mich und grüßte.“

„Verzeihung, mein Herr, begann eine zarte, kindliche Stimme, Verzeihung, wenn ich störe – ich vermisse ein Buch, das ich ohne Zweifel hier vergessen habe.

„Dann lächelte sie, als sie meine Zerstreuung bemerkte. Himmel, was war das für ein Lächeln! Welche Korallen schimmerten dabei durch den Purpur der feinen Lippen! Welche Grübchen zeigten sich auf den engelgleichen Wangen!“

„Dermont,“ rief der Graf, „mir scheint, Mathilde ist vergessen! Sie sprechen in Ihrer Begeisterung nur von dem Engel – was thaten Sie?“

„Ich überreichte das Buch, indem ich eine Entschuldigung stammelte.“

„Und die Dame?“

„Sie nahm es, und dankte durch eine graziöse Verbeugung. Die reizende Leserin des Telemaque wollte sich nun entfernen. Der Gedanke, daß ich sie vielleicht nie wiedersehen würde, gab mir den Muth, eine Unterredung anzuknüpfen, und sie ging mit einer Leichtigkeit und Gewandtheit darauf ein, daß ich bald meine Fassung wiedererlangt hatte und ruhig die bezaubernde Schönheit bewundern konnte. So begleitete ich sie aus der Eremitage in den Park. Aus ihrem Wesen sowohl wie aus ihrer Unterhaltung ging hervor, daß sie der höhern Sphäre angehörte, und dabei sprach sie mit einer Naivität, die ihrer Schönheit einen wunderbaren Nimbus verlieh.“

„O, sie muß wohl ihre Naivität bewahrt haben, da sie den Telemaque lesen konnte!“ rief der Graf mit einem Anfluge von Ironie. „Ueber das kindliche Gemüth!“

„Spotten Sie nicht, Graf!“ sagte Dermont ernst. „Unsere Salondamen, die von modernen Romanen sprechen, die sie lesen, von Corneille, Raçine, Goethe und Schiller, die sie nicht lesen, [295] diese Damen, behaupte ich, kokettiren nur mit der Bildung, während hier wirklich ein Schatz von Kenntnissen vorhanden ist.“

„Also eine gelehrte Dame!“

„Auch das nicht. Sagen Sie, eine denkende, eine fühlende Dame.“

„Und zu allen diesen Ansichten sind Sie durch die kurze Unterredung gekommen?“

„Hören Sie weiter, und bilden Sie sich nicht vorschnell ein Urtheil, vielleicht schildert meine Begeisterung falsch oder mit zu grellen Farben. Ich begleitete sie also durch den einsamen Theil des Parks, dessen Schlangenwege ihr bekannt sein mußten, denn sie führte mich zu der Fontaine. Hier trat uns eine elegant gekleidete, bejahrte Frau entgegen, die auf meine Begleiterin gewartet hatte. Die beiden Damen grüßten sehr artig, dann verließen sie mich. Ich glaubte zu bemerken, daß die jüngere tief erröthete, als ich bei dem Abschiedsgruße einen bedeutungsvollen Blick auf sie warf. Es würde verletzend gewesen sein, wenn ich meine Begleitung hätte fortsetzen wollen. Ich blieb bei der Fontaine, und sah den Damen nach, bis sie in der nächsten Krümmung des Wegs verschwanden. Graf, erlassen Sie mir die Beschreibung des Eindrucks, den das göttliche Geschöpf auf mich ausgeübt hatte. Welch’ ein Contrast lag zwischen ihr und Mathilde! Mir war, als ob ich jetzt erst eine wahrhaft schöne Frau gesehen hätte. Träumend ging ich zur Hauptallee zurück. Da fuhr ein eleganter offener Wagen an mir vorüber – die beiden Damen saßen darin. Unwillkürlich blieb ich stehen und zog ehrerbietig den Hut. Mein Engel aus der Eremitage nickte so freundlich mit dem Kopfe, als ob er mir nicht genug für den kleinen Dienst danken konnte, den ich ihm geleistet hatte. Dies Alles hielt ich für ein günstiges Zeichen, und ich beschloß, der Schönen nachzuforschen. Am folgenden Tage war ich um dieselbe Stunde wieder in dem Parke. Leise schlich ich mich zu der Eremitage und lauschte durch eins der goldgelben Fenster. Meine Ahnung hatte mich nicht getäuscht – die Schöne saß wieder auf der Bank und las im Telemaque.“

„War sie allein?“

„Nein. Ihr gegenüber saß die bejahrte Frau und schlief. Heute war die Leserin einfach in Weiß gekleidet, und da sie den Hut neben sich gelegt, konnte ich den Kopf deutlich beobachten. Das gelbe Licht, das das Fenster erschuf, hatte einen Heiligenschein um das Madonnenhaupt gezogen.“

„Dermont, ich erlasse Ihnen die Beschreibung – fahren Sie fort.“

„Trotzdem mir das Herz gewaltig pochte, hielt ich es dennoch für einen Raub an mir selbst, wenn ich das Anschauen dieses überirdischen Tableaus unterbrechen wollte. Tausend Gedanken durchkreuzten meinen brennenden Kopf, und ich war selbst eitel genug zu glauben, daß die Leserin meinetwegen ihren Platz heute wieder gewählt habe. Einer Dame wie ihr, sagte ich mir, kann es sicher nicht an einem Garten fehlen, in dem sie, ohne sich der Störung auszusetzen, sich der Lectüre des Telemaque hingeben kann. Warum wählt sie diese Eremitage, die jeder Spaziergänger betreten kann?“

„So hätte auch ich philosophirt!“ meinte lächelnd der Graf. „Und haben Sie sich getäuscht?“

„Urtheilen Sie. Nach zehn Minuten erwachte die Schläferin, die Leserin setzte ihren Hut auf, erhob sich, und ließ zu meinem Erstaunen das Buch auf der Bank zurück.“

„Glauben Sie, daß man Ihre Anwesenheit bemerkt hat?“

„Nein, denn ich näherte mich sehr leise, und so lange ich lauschte, hat die Leserin keinen Blick von dem Buche abgewendet. Trotzdem aber nahm ich an, daß sie von einer Absicht geleitet ward, und in dieser Voraussetzung trat ich ihr an der Treppe der Eremitage keck entgegen. Ihr ganzes Gesicht flammte auf, als sie mich erblickte. Nachdem wir einige Schritte gegangen waren, fragte die Aeltere. „„Wo hast Du das Buch?““ – „„Mein Gott, ich habe es schon wieder vergessen!“ rief sie in einer grenzenlosen Verwirrung, und wollte zurückkehren. Sie können sich denken, daß ich ihr zuvor kam und den Telemaque mit einer Miene zurückbrachte, die durchaus meine Ansicht über die Vergeßlichkeit nicht verrieth. Wir sprachen von Fenelon, von der klassischen und von der modernen Literatur, und die unbekannte Schöne legte Ansichten an den Tag, die mich mit Erstaunen erfüllten. So hatte Mathilde nie gesprochen. Und dabei war sie sich so wenig der Macht ihrer Reize bewußt, daß sie nur schüchtern ihre geistreichen Behauptungen aufzustellen wagte. An der Fontaine nahm sie in derselben Weise Abschied, wie Tags zuvor. Ich ging nach der Hauptallee, und dort sah ich ihren Wagen wieder vorüberrollen. Wir grüßten wie das erste Mal. Mathilde war vergessen, aber um meine Ruhe war es geschehen. Die beiden folgenden Tage hatte sich regnerisches Wetter eingestellt, ich ging zur Eremitage, fand aber meine Schöne nicht. Es kam wieder gutes Wetter, aber die Leserin blieb aus. Ich bekenne, daß ich eine qualvolle Zeit durchlebte. Zu Fuß und zu Pferde durchstrich ich die Straßen und Promenaden, ich besuchte das Theater – nirgends fand ich eine Spur von meiner Unbekannten. Auf meinen Wanderungen trug ich ein Billet bei mir, das ich ihr zustecken wollte, im Falle ich sie an einem Orte wiederfinden sollte, wo ich mich ihr nur flüchtig nähern konnte. In diesem Billet bat ich sie um eine Unterredung in der Eremitage; aber leider ist es mir noch nicht gelungen, das Papier an die Leserin zu befördern, deren Namen ich nicht einmal kenne.“

„Und Sie haben sie bis jetzt auch nicht wieder gesehen?“ fragte der Graf.

„Gesehen, aber nicht gesprochen. Täglich, kurz vor zwölf Uhr, fährt sie mit ihrer alten Begleiterin durch den Park, und ich hoffe, daß sie auch heute wieder kommen wird. Die Besuche in der Eremitage hat sie eingestellt. Vorigen Sonntag war ich zu Pferde hier. Ich folgte dem Wagen, der im raschen Trabe fuhr, natürlich in einiger Entfernung, um kein Aufsehen zu erregen. Die elegante Droschke verließ die Stadt, bog in eine Straße blühender Hecken, und hielt vor einem kleinen reizenden Landhause. In dem Augenblicke, als ich vorüberritt, stieg sie aus, ich grüßte und sie dankte. So stehen die Sachen, und vergebens warte ich auf die Gelegenheit, um eine Annäherung zu bewirken; dann aber soll mich Nichts abhalten, mich unumwunden zu erklären.“

Die beiden Männer setzten in der großen Allee ihren Spaziergang fort, es schlug zwölf, aber kein Wagen war zu sehen. Der Graf theilte dem Freunde die Erscheinung des Blumenmädchens mit und schilderte den Eindruck, den sie auf ihn gemacht hatte.

„Das ist seltsam!“ rief Dermont. „So schmachten wir Beide für unbekannte Schönheiten! Aber Sie sind glücklicher als ich, die Marquise wird den Eindruck bald verwischen, während ich –“

„Während Sie hoffen dürfen, Ihr Ziel zu erreichen. Nach der Beschreibung ist Ihre Schöne eine Dame von Stand und Bildung – wer wird mein Blumenmädchen sein?“

Dermont ward nachdenkend, denn die Zeit war so weit vorgerückt, daß er auf das Wiedersehen seiner Schönen für heute verzichten mußte. Am Ausgange des Parks trennten sich die Freunde. Der Graf schlug den Weg nach St. Gudula ein, um die Rückkehr der Prozession zu erwarten. Ohne Mühe gelangte er in das Gotteshaus, denn die große Menge hatte sich bereits verlaufen. In der Vorhalle trat ihm Adam entgegen. Er zog ihn bei Seite und flüsterte:

„Was hast Du erfahren?“

„Bis jetzt nichts, aber es sind alle Einleitungen getroffen, daß ich Ihnen diesen Abend sichere Nachricht geben kann.“

„Wo befindet sich das Mädchen?“

„Folgen Sie mir!“

Adam führte seinen Herrn, der vor Ungeduld brannte, in das Innere der Kirche. Vor einem der Seitenaltäre lag das Blumenmädchen auf den Knien und betete. Zwar hatte sie ihm den Rücken zugewendet, aber an den edeln Formen, an dem von Locken umflossenen Madonnenköpfchen, an der ganzen Haltung des anmuthigen Körpers erkannte er sie auf den ersten Blick wieder. George nahm einen Platz ein, der ihm erlaubte, das Gesicht der Betenden zu beobachten. Es lag etwas unaussprechlich Heiliges in der Erscheinung des jungen Mädchens, das den zur romantischen Schwärmerei geneigten Grafen mit einem ihm bis jetzt noch unbekannten Gefühle erfüllte. Er hatte manche Schönheit gesehen, aber keine, die so rührend zum Herzen sprach, wie diese. Plötzlich bemerkte das junge Mädchen, daß es beobachtet wurde. Verwirrt blickte sie zu Boden und entblätterte eine Rose, die sie in den zarten, wie aus Wachs geformten Fingern hielt. Sie hatte ohne Zweifel denselben Mann wieder erkannt, dessen besonderer Aufmerksamkeit sie auf dem Marktplatze ausgesetzt gewesen war. Noch eine Minute blieb sie in ihrer Stellung, dann erhob sie sich und schwebte wie eine Lichtgestalt die Bogenhalle entlang. Mechanisch folgte der [296] Graf, als ob er durch eine wunderbare Macht dazu gezwungen würde. Die Schöne wählte einen Seitenausgang, und hier stand eine Magd, die ihr einen leichten Mantel und einen runden Strohhut reichte. Während sie sich damit bekleidete, entstand ein Gedränge von Landleuten und Arbeitern an der Thür, denn die Messe war zu Ende. Auch der Graf ward mit fortgerissen, und in der Vorhalle, wo sich Aller Hände nach dem Weihbecken ausstreckten, entstand ein so arges Getümmel, daß mehrere Frauenstimmen laut um Vorsicht baten. George sah, wie das arme Blumenmädchen sich zwischen einem Dutzend jener rohen Fabrikarbeiter befand, die selbst die Heiligkeit des Ortes nicht abhielt, dem zarten Wesen verletzende Aufmerksamkeit zu erweisen; es entstand ein lautes Gemurmel, und jeder wollte der Ritter des schönen Mädchens sein. Mit kräftigen Armen bahnte sich der Graf einen Weg, und schon im nächsten Augenblicke hatte er die Bedrängte erreicht. Wie eine Schutzwehr stellte er sich vor das zitternde Mädchen.

„Zurück!" rief er befehlend.

Murrend und höhnisch lachend gingen die bärtigen, rauhen Gesichter an ihm vorüber. Keiner wagte es ferner, die Hand auszustrecken. Der Strom verlief sich, und bald war George mit seiner Beschützten allein in der Vorhalle. Mit dem Anstande eines Cavaliers ergriff er das Weihbecken und präsentirte es dem jungen Mädchen. Zitternd benetzte sie die kleine Hand mit dem geweihten Wasser und besprengte Gesicht und Brust, indem sie sich fromm bekreuzte. Aber wie sie zitterte auch der junge Mann, denn er hatte ihr in das große himmelblaue Auge gesehen, dessen wunderbarer Blick ihm tief in die Seele drang. Erröthend verneigte sie sich, um ihren Dank abzustatten. In diesem Augenblicke erschien die Magd, der sie leise Auftrag gab, einen Fiaker zu holen.

„Ich bedauere das Mißgeschick, das Ihnen die Feier des Festes trübte“, sagte George höflich. „Der Pöbel umwogt noch die Kirche – ich bitte um die Erlaubniß, Sie bis zum Wagen begleiten zu dürfen.“

„Die Verlegenheit zwingt mich, Ihre Gefälligkeit zu mißbrauchen!“ flüsterte sie verwirrt.

„Wie glücklich preise ich mich, daß es mir vergönnt war, Ihnen einen kleinen Dienst zu leisten.“

Sie legte ihren Arm in den dargebotenen des Grafen. Beide traten aus der Kirche auf den Platz. In einiger Entfernung stand die Magd und unterhandelte mit einem Fiaker. Der Graf war gewandt in der Unterhaltung mit Frauen; hier aber hatte sich eine seltsame Befangenheit seiner bemächtigt. Trotzdem ihre einfache Toilette und der Dienst, den sie bei der Prozession geleistet, eine gewöhnliche bürgerliche Herkunft verriethen, so lag dennoch in ihrem ganzen Wesen ein wunderbares Etwas, das mit ihrer äußern Erscheinung im Widerspruche stand. Die wenigen Worte, die sie gesprochen, bekundeten einen Takt, der nur Damen von hoher Bildung eigen zu sein pflegt. Schweigend hatte man den Fiaker erreicht. Das Blumenmädchen zog leise den Arm zurück und dankte noch einmal durch eine graziöse Verneigung. George faßte Muth, bemächtigte sich zart ihrer niedlichen Hand, die von keinem Handschuhe bedeckt ward, und drückte einen Kuß darauf, ohne daß sie versuchte, es zu verhindern. Dann sprang sie leicht in den Wagen, und die Magd setzte sich zu ihr. In dem Augenblicke, als George den Schlag schloß, bemerkte er, daß Adam sich neben den Kutscher auf den Bock schwang. Zufrieden mit der List des schlauen Dieners sah er dem davoneilenden Wagen einige Augenblicke nach, dann trat er den Weg zu seiner Wohnung an.

Die exotischen Gefühle seiner Brust wurden auf kurze Zeit durch einen Brief verscheucht, den er auf seinem Tische vorfand. Folgende Zeilen waren es, die den poetischen Liebhaber an die traurige Prosa des Lebens erinnerten:

„Herr Graf!
„Dringende Familienverhältnisse zwingen mich, morgen früh Brüssel zu verlassen. Da ich nicht weiß, wann oder ob ich überhaupt zurückkehre, werden Sie es begreiflich finde, daß ich Ihren Wechsel über zehntausend Francs, der schon seit acht Monaten abgelaufen ist, nicht mit mir nehmen kann. Demnach sehe ich mich genöthigt, meine Nachsicht abzukürzen und Sie zu bitten, bewußten Wechsel heute noch einzulösen, Mein Rechtsanwalt, den Sie kennen, ist beauftragt, Ihnen das Papier gegen Zahlung auszuliefern. Nur die Rücksicht auf Ihre Ehre konnte mich abhalten, das Papier gewissen andern Händen zu übergeben. Einer weitern Andeutung bedarf es wohl nicht, um Sie an die Erfüllung Ihrer Pflicht zu mahnen. Daß Sie sich der vielleicht zu ergreifenden strengen Maßregel durch die Flucht entziehen, fürchte ich nicht, Ihre gräfliche Ehre, die ich bisher so großmüthig schonte, bürgt mir dafür.
Lord Darnley.“ 

Der Graf erbleichte, und das Papier zitterte in seiner Hand. Der Wechsel mußte bezahlt werden, denn nicht nur seine Ehre, auch seine persönliche Sicherheit schwebte in Gefahr. Wir erinnern den Leser an Dermont’s Andeutungen über den Lord, der in dem Grafen seinen begünstigten Rivalen bei der Marquise von Beaulieu erblickte. George war ein armer Graf, außer einer kleinen Rente, die ihm nur ein bescheidenes Leben erlaubte, hatte er keine Einkünfte. Die Marquise, eine junge kokette Wittwe von großem Vermögen liebte George, und wenn er diese Liebe auch nicht so heiß erwiederte, so hatte er dennoch das zärtliche Verhältniß unterhalten, weil bei seinen beschränkten Vermögensverhältnissen eine Heirath mit ihr wünschenswerth erscheinen mußte. Anfangs hatte ihn die Eitelkeit zu einer Annäherung an die Wittwe getrieben, die man allgemein feierte, und später, als er sich in dem Besitze ihrer Gunst sah, war seine Liebe nicht frei von Eigennutz geblieben. Der freundschaftliche Umgang mit dem Lord, der um diese Zeit in Brüssel erschien, hatte ihm Gelegenheit zu der Anleihe geboten, und er hatte sie benutzt, weil ihn seine Schulden drängten, die durch den Besuch der höchsten aristokratische Zirkel, in denen sich die Marquise bewegte, entstanden waren. George selbst hatte den Lord bei der Marquise eingeführt, der Engländer schwärmte für die Königin der Salons, und als er sah, daß der arme Freund den Sieg davon trug, war die erste Spannung getreten, die sich vergrößerte, da der Lord nicht selten mit seiner Niederlage geneckt wurde. Er prahlte nun mit seinem enormen Vermögen, und suchte durch Verschwendung zu imponiren. Je höher der Graf in der Gunst der Marquise stieg, je tiefer setzte ihn der Stolz des gekränkten Lords herab. Die Wechselangelegenheit blieb zwar Geheimniß, aber die Feindschaft Darnley’s trat immer offener hervor. George, dem ein gewisser Grad von Leichtsinn nicht abzusprechen war, hatte auf eine Befriedigung seiner Gläubiger durch die Heirath gerechnet, deren Beschleunigung nur von ihm abhing, da ihn die Marquise mit einer überspannten Zärtlichkeit liebte. Daß Darnley, der ihn haßte, mit aller Strenge verfahren würde, ließ sich nicht bezweifeln, und welch ein Triumph mußte es für den Engländer sein, wenn er seinen Nebenbuhler in das Schuldgefängniß führen lassen konnte. Die Marquise war abgereist, und wäre sie auch noch in Brüssel gewesen, hätte er es wagen dürfen, Geld von ihr zu fordern? Würde er sich von ihr nicht völlig abhängig gemacht haben? Und jetzt, wo er ein Mädchen gesehen, für das er in Bewunderung und Liebe erglühte?

Der Schlag mußte abgewendet werden; aber woher sollte er in so kurzer Zeit die erforderliche Summe nehmen? Da fiel ihm Dermont ein, der zwar ebenfalls nicht reich war, aber stets so sparsam lebte und in dem Rufe eines pünktlichen Mannes stand, daß er gewiß helfen konnte. Er eilte nach seiner Wohnung und traf ihn an. In wenig Worten theilte er ihm die Angelegenheit mit.

„Sie sind mein Freund, Dermont,“ schloß er, „und da Sie mir diesen Morgen das Geheimniß Ihres Herzens anvertraut haben, nehme ich keinen Anstand, mit Ihnen meine Ehrensache zu berathen.“

Dermont reichte ihm lächelnd die Hand.

„Es wäre eine Schande für unsern Adel“, sagte er, „wollten wir dem Engländer gestatten, daß er die Macht seines Geldes und seines Hasses eins der Mitglieder desselben fühlen ließe. Sie sind mein Freund, Graf, und da ich weiß, daß Sie dereinst zurückzahlen können, so verwende ich meinen Credit, um Ihnen heute noch die Summe zu schaffen. Ehe zwei Stunden verflossen, werde ich in Ihrer Wohnung sein.“

[309] Der Freund hielt Wort: um fünf Uhr hatte George seinen Wechsel eingelöst. Er eilte in den Park zu der Eremitage, wo er den armen verliebten Dermont, seiner unbekannten Schönen harrend, träumend antraf.

„Möchten Sie so glücklich in der Liebe sein, wie ich es wünsche!“ rief er aus. „Sie haben meine Ehre gerettet und mich vor einer Gefangenschaft bewahrt, die mir gerade jetzt eine Höllenpein gewesen wäre. Meine Dankbarkeit, Dermont, kennt keine Grenzen, ich bin fähig, Ihnen selbst meine Marquise abzutreten –“

„Graf,“ unterbrach ihn Dermont, „Sie gehen zu weit! Frau von Beaulieu ist Ihre Zukunft, und ich müßte wahrlich eine arge Wucherseele sein, wollte ich auf solche Zinsen rechnen.“

George schwieg bestürzt, denn er erinnerte sich, daß ihm Ehre und Freundschaft die Pflicht auferlegten, das Verhältniß mit der reichen Wittwe aufrecht zu erhalten. Er wußte ja, Dermont hatte ihm ein Opfer gebracht, dessen Schwere ihn erdrücken würde, wenn er es allein tragen mußte. Eine Hälfte war nur dadurch zu erlangen, daß er sich sobald als möglich verheiratete. In einer schmerzlichen Stimmung, die der Gedanke an das seltsame und reizende Blumenmädchen erzeugt, verließ er den Freund. Dermont blieb zurück, er gab die Hoffnung nicht auf, daß seine Schöne ihr Lieblingsplätzchen in der Eremitage aufsuchen würde.

In seiner Wohnung trat dem Grafen Adam entgegen.

„Herr Graf, Sie haben Glück gemacht bei der Schönen.“

„Wie?“

„Hier ist ein Billet von ihr.“

George erbrach hastig das zierliche Briefchen. Er las folgende Zeilen:

„Mein Herr!“

„Es war mir unmöglich, Ihnen beim Scheiden durch Worte den Dank auszusprechen, den ich Ihnen für den geleisteten Dienst schulde. Sie vergrößerten meine Schuld durch die Begleitung Ihres Dieners, denn nur seinem Beistande verdanke ich es, daß ich vor einem großen Unfalle bewahrt wurde. Gerührt ergreife ich die Feder, um Ihnen meinen herzlichen Dank auszusprechen. In diesem Augenblicke bin ich unfähig, mehr zu schreiben, und bitte, aus dem Berichte Ihres wackern Dieners zu ermessen, wie groß meine Verpflichtung gegen Sie ist. Der Frohnleichnamstag dieses Jahres wird mir unvergeßlich bleiben.   Amely.“

„Mit dem Briefe händigte sie mir drei Goldstücke ein,“ fügte Adam hinzu.

Der Graf war erstaunt über das reiche Geschenk eines dem Anscheine nach einfachen Mädchens.

„Die Schreiberin spricht von einem Unfalle – was ist geschehen?“

„Schon bei der Abfahrt hatte ich die Bemerkung gemacht, daß unser Kutscher, wahrscheinlich zur Feier des Fronleichnamsfestes, ein wenig betrunken war. Er hieb wie rasend auf sein Pferd, nachdem ich ihm einen Franc in die Hand gedrückt. Durch dieses Geschenk wollte ich mir die Erlaubniß erkaufen, neben ihm zu sitzen, er aber hielt es für eine Aufforderung, rasch zu fahren. Die Sache ging gut, bis wir an das Thor kamen, wo ein Altar mit einer weißen Fahne stand. Ein leichter Wind ließ die Fahne flattern, das durch die Peitschenhiebe aufgeregte Pferd wird scheu, der betrunkene Kutscher wird toll, er will seine ungehorsame Bestie bestrafen, Hieb fällt auf Hieb und wir fliegen über Stock und Stein davon. Ich wollte dem wüthenden Pferdebändiger die Zügel abnehmen – umsonst, ohne Bewußtsein hieb er auf das flüchtige Pferd. In reißender Schnelle passirten wir Gräben und Steinhaufen, und mehr als einmal schwebte der Wagen in Gefahr, umzustürzen. Die in Todesangst schwebenden Frauen jammerten laut und riefen um Hülfe, und wahrlich, die Gefahr war nicht klein, denn vor uns zeigte sich ein Teich. Ich gab dem Kutscher einen derben Faustschlag in das Gesicht, daß er zurücktaumelte, ergriff die Zügel, und brachte das Pferd, dicht am Ufer des Teichs, zum Stehen. Eine Menge Leute, die das Schauspiel mit angesehen, versammelten sich nun. Alle stürmten mit Drohungen und Verwünschungen auf den Kutscher ein, der ein so großes Unglück hätte anrichten können. Man wollte ihn arretiren lassen. Ohne mich um den Tumult weiter zu kümmern, führte ich die leichenblassen Frauen fort. Die jüngere bezeichnete mir ein freundliches Landhaus in der Nähe als ihre Wohnung. Sie war so angegriffen, daß sie sich an meinen Arm hängen mußte. In dem Hause fragte sie mich, wer ich wäre. Ich bin der Diener des Herrn, der Sie aus der Kirche geleitete; auf seinen Befehl mußte ich den Wagen begleiten, er wollte die Gewißheit haben, daß Sie glücklich zu Hause angelangt wären.“

„Fragte sie nicht nach meinem Stande und Namen?“

„Nein; aber sie sagte mit Thränen in den schönen Augen: die Aufmerksamkeit Ihres Herrn hat mich vor einem großen Unglücke, vielleicht vor dem Tode gerettet. Warten Sie, mein lieber Freund, ich gebe Ihnen ein Billet mit, um Ihrem Herrn zu danken. Dann kam die Magd, gab mir drei Louisd’or und das Briefchen. Ich ging, nachdem ich mir das Haus genau gemerkt hatte. Das junge Mädchen ist so von Dankbarkeit gegen Sie durchdrungen, daß sie es gewiß hoch aufnehmen wird, wenn Sie sich morgen [310] nach ihrem Befinden erkundigen. Der Zufall hat so vortrefflich mitgespielt, daß wir es nicht besser wünschen können.“

Die reizende Amely schwebte dem Grafen wie eine himmlische Erscheinung vor. Er zitterte bei dem Gedanken, daß ein Zufall dieses Meisterwerk der Schöpfung zerstört haben könnte. In seiner Liebe zu der Marquise war er nicht vollkommen glücklich gewesen, das zärtliche Verhältniß war durch Umstände erschaffen, an denen mehr die Eitelkeit als das Herz Theil hatte. Die junge Wittwe hatte seine Bewunderung erregt, seinen Sinnen geschmeichelt – jetzt fand er in einer Sphäre, die der seinigen fern lag, ein Wesen, das für ihn etwas unaussprechlich Heiliges und Geweihtes besaß. Es eröffnete sich ihm eine Gefühlswelt, die er bis dahin nicht gekannt hatte. Ein Versprechen band ihn noch nicht an die Marquise, und er glaubte kein Verbrechen zu begehen, wenn er den günstigen Umstand benützte, das Wesen näher kennen zu lernen, das einen so seltsamen Eindruck auf ihn ausgeübt. Es ist ja möglich, führte er zur Entschuldigung an, daß der Nimbus, der sie aus der Ferne gesehen umgiebt, in der Nähe schwindet.

Gegen Abend des folgenden Tages ließ er sich nach dem Landhause führen, das in einem von einer blühenden Hecke umschlossenen Garten lag. Alles war einfach und geschmackvoll, und verrieth wohlhabende Besitzer. Durch die Blätter einer Laube unfern des Hauses schimmerte ein weißes Frauengewand. Der Abend war schön, und George konnte wohl annehmen, daß er die Gesuchte im Freien antreffen würde. Er ging der Laube zu. Bei seinem Eintritte erhob sich Amely, die eine Stickerei vor sich hielt. In einer reizenden Verwirrung empfing sie den Besuch, den sie sofort erkannte. George zitterte, als er ihre Hand an seine Lippen drückte.

„Die Besorgniß um ihr Wohl mag mich entschuldigen, wenn ich mich, der Fremde, selbst bei Ihnen einführe. Ich preise den Zufall, der mich so glücklich machte, mittelbar einen Unfall abzuwenden – –“

„Der leicht traurige Folgen hätte haben können, wenn Ihre Aufmerksamkeit mich ohne Begleitung gelassen. Gestatten Sie mir, daß ich noch einmal meinen Dank ausspreche –“

„So schmeichelhaft es für mich ist, Sie mir verpflichtet zu sehen, so wenig Ansprüche mache ich auf Ihren Dank. Hätte ich noch tausendmal mehr gethan, so würde ich den schönsten Lohn darin finden, daß Sie im Stande sind, mich heute zu empfangen.“

Sie verneigte sich und flüsterte lächelnd:

„Dann spreche ich mit Freuden die Versicherung aus, daß ich mit dem Schrecken davon gekommen bin.“

Amely bot ihrem Gaste einen Sessel an. In der nun folgenden Unterhaltung entwickelte die junge Dame eine geistige Liebenswürdigkeit, die der ihrer äußern Erscheinung völlig entsprach. Das war Anmuth, natürliche Grazie und und Naivetät! George war wie geblendet, so daß er seine Gewandtheit in dem Umgange mit Frauen beeinträchtigt fühlte. Er suchte nach ihren Familienverhältnissen zu forschen; sie kam ihm offenherzig mit der Erklärung entgegen:

„Meine Mutter, mit der ich allein dieses Haus bewohne, lebt von einer bescheidenen Rente, die indeß immer noch groß genug ist, unsern Ansprüchen zu genügen. Die alte Frau ist streng gottesfürchtig, und wenn Sie mich bei der Prozession ein kleines Amt bekleiden sahen, so erfülle ich ein Gelübde, das ich einst gethan, als meine gute Mutter schwer krank darnieder lag. Sie hängt mit zärtlicher Liebe an mir, und mehr als einmal hat sie nach meinem großmüthigen Beschützer gefragt. Aber was konnte ich ihr sagen?“

„Sagen Sie ihr, daß der Graf von Montlosier die Schönheit und Frömmigkeit ihrer Tochter bewundert!“ rief George, seiner kaum noch mächtig.

Amely’s Hand erzitterte, die er in der seinigen hielt. Als ob sich ihrer eine jähe Bestürzung bemächtigt, duldete sie unwillkürlich, daß der junge Mann seine Lippen auf ihre Fingerspitzen drückte.

„Herr Graf,“ sagte sie nach einer Pause, „der Abend ist angebrochen. Meine Mutter ist seit einiger Zeit leidend; kann sie Ihnen auch heute ihren Dank nicht aussprechen, so hofft sie auf eine spätere Gelegenheit – –“

„Sie gestatten mir, daß ich meinen Besuch wiederhole?“

„Besuchen Sie meine Mutter!“ flüsterte sie kaum hörbar.

„Und Sie –?“

„Ich werde den Frohnleichnamstag nie vergessen!“

Sie grüßte und verließ die Laube, in der bereits eine tiefe Dämmerung herrschte. George sah der weißen Gestalt nach, die flüchtig wie ein Schatten dem Hause zu schwebte und in der geöffneten Thür verschwand. Er begriff, daß Amely nicht anders handeln konnte. Sinnend verließ er den Garten. Draußen stand Adam, der ihn anredete.

„Geh, erwarte mich zu Hause!“ befahl er dem Diener.

„Wo werden Sie speisen, gnädiger Herr?“

„Sorge für Thee – fort!“

Adam schlug den Weg nach der Stadt ein. George begann einen Spaziergang zwischen den Gartenhecken. Alle seine Gedanken waren mit Amely beschäftigt, denn aus der kurzen Unterhaltung hatte er die Erkenntniß geschöpft, daß kein blendender Nimbus sie umgab, daß sie vielmehr alle Eigenschaften besaß, um dauernd zu fesseln. George hatte früher über ernste Leidenschaften gelächelt, und die Schwärmerei Dermont’s für seine unbekannte Leserin war ihm wie eine romantische Schwäche erschienen; jetzt befand er sich selbst in einer Verfassung, die allen jenen Ansichten Hohn sprach. Vergebens suchte er den empfangenen Eindruck durch die Erinnerung an seine traurigen Vermögenszustände zu paralysiren, vergebens rekapitulirte er die Siege bei der Marquise, um die sich die ganze aristokratische Männerwelt bewarb – der berechnende Verstand erlag dem Herzen, das hartnäckig die reizende Amely nicht aufgeben wollte. An den Stamm einer Linde gelehnt, betrachtete er das freundliche Landhaus, in dessen erstem Stocke sich Licht zeigte.

„Welch ein Glück müßte es sein, mit ihr unter diesem friedlichen Dache ein ruhiges Leben zu führen!“ flüsterte er vor sich hin. „Die wahre Liebe ist sich selbst genug, sie allein bietet dauernde Freuden, während das glänzende Leben der großen Welt nur einen flüchtigen Sinnenreiz gewährt! Hier empfindet man die Poesie der Liebe; dort wird sie durch Leidenschaften, von äußern Umständen erzeugt, vertrieben – sie sinkt zu einer glänzenden, aber kalten Prosa herab.“

Das Geräusch von Schritten weckte den Grafen aus seinen Träumereien. Zwischen den Hecken erschien die Gestalt eines Mannes, der sich langsam dem Orte näherte, wo George im Schatten der Linde stand. Er verhielt sich ruhig, um den Mann vorüber gehen zu lassen. Aber der Fremde, in einen leichten Mantel gehüllt, blieb stehen und betrachtete das Landhaus, an dessen erleuchtetem Fenster in diesem Augenblicke Amely erschien, um einen Rosenstock zu tränken, der auf einem Blumenbrette stand. Bei dem Lichte, das aus dem Zimmer hervordrang, ließ sich die reizende Gestalt des jungen Mädchens deutlich erkennen. Zugleich hörte man ihre Stimme, denn sie unterhielt sich mit einer Person, die sich in dem Zimmer befand. Nachdem sie ihr Geschäft vollbracht, schloß sie das Fenster, und gleich darauf erlosch das Licht.

Der Mann im Mantel verblieb regungslos an seinem Platze, und unverwandt hafteten sein Blicke auf dem Landhause. George begann zu zittern, denn es war nicht schwer zu begreifen, daß den Spaziergänger eine bestimmte Absicht leitete, und daß sein Ziel das Landhaus sein mußte. Die Eifersucht mit allen ihren Qualen erwachte in der Brust des armen George, und dieses bittere Gefühl belehrte ihn, daß er für das Blumenmädchen eine ernste Leidenschaft hegte. Da wandte sich plötzlich der gefürchtete Nebenbuhler, und schritt der Linde zu, ohne Zweifel in der Absicht, von dem verborgenen Plätzchen aus seine Beobachtungen fortzusetzen. Der Graf trat ihm entgegen.

„George!“

„Dermont!“ rief bestürzt der Graf.

„Still, Freund, still! Man hört jedes Wort, und dort –“

„Wer wohnt in dem Landhause?“ flüsterte George mit gepreßter Stimme.

„Meine Leserin aus der Eremitage.“

„O Himmel!“ rief George unwillkürlich.

Dermont starrte den Freund an. Bei dem Mondenlichte konnte er den Schrecken bemerken, der sich in seinem bleichen Gesichte aussprach.

„Sie hier, Graf?“ fragte Dermont, den eine Ahnung durchbebte, denn er erinnerte sich, daß ihm George von dem tiefen Eindrucke erzählte, den ein Mädchen auf ihn ausgeübt hatte. „Was führt Sie um diese Stunde in diese einsame Gegend? Ich glaubte Sie auf der Reise nach Scheveningen!“ fügte er in einem Tone hinzu, der fast vorwurfsvoll klang.

Der Graf ergriff hastig den Arm des Freundes und zog ihn mit sich fort. Als Beide das Landhaus hinter sich hatten, blieb George stehen.

[311] „Dermont“ begann er, „wir sind Freunde, Ihr letzter Dienst, den Sie mir leisteten, hat das Band der Freundschaft so innig um uns geschlungen, daß ich es für eine Infamie halte, irgend ein Geheimniß vor Ihnen zu bergen. Ich preise den Zufall, der uns hier zusammenführte, denn er giebt Anlaß zu Erörterungen, die vielleicht dann erst stattgefunden hätten, wenn es zu spät gewesen wäre.“

„Mein Gott, George, eine Ahnung steigt in mir auf, die mich zittern macht!“ flüsterte Dermont.

„Zittern Sie nicht, Freund, ich kenne meine Pflicht. Antworten Sie mir offen: lieben Sie die Dame ernstlich, die Sie in der Eremitage des Parks kennen gelernt haben?“

„Ich bekenne offen, daß sie das Glück oder Unglück meines Lebens ausmachen wird!“

„Und Sie wissen genau, daß sie in jenem Hause wohnt?“

„Gewiß, denn ich sah sie, als sie die Blumen tränkte.“

„Dermont, Sie lieben ein himmlisches Wesen! Gelingt es Ihnen, Amely’s Gegenliebe zu erringen, so werden Sie so glücklich werden, als Sie es zu sein verdienen.“

„George, Sie kennen die junge Dame?“

„Ich suchte sie kennen zu lernen, denn Amely ist das Blumenmädchen, von dem ich Ihnen erzählt habe, daß es mich mit Begeisterung erfüllt. Aber noch kann ich das kaum erwachte Gefühl bekämpfen, und die Marquise soll mir helfen, Ihnen einen Freundschaftsdienst als ein redlicher Freund zu vergelten. Bewerben Sie sich um Amely, diese Nacht noch reise ich ab, und wenn ich zurückkehre, stelle ich Ihnen meine Gattin vor. Leben Sie wohl, Dermont, und – viel Glück in der Liebe!“

Hastig schloß der Graf den Freund in die Arme, dann eilte er davon.

„George, George!“ rief Dermont.

Aber der Graf hörte nicht, er verschwand zwischen den Hecken.

„Das ist ein seltener Freund!“ murmelte Dermont bewegt vor sich hin. „Leider muß ich sein großmüthiges Opfer annehmen, wenn ich der Leidenschaft zu meiner Schönen nicht erliegen will.

Der junge Mann ging nach dem Landhause zurück. Ein alter Mann stand im Begriffe, das Gitter in der Hecke zu schließen.

„Valentin, bist Du es?“ flüsterte der junge Mann.

„Ja, Herr. Es ist die höchste Zeit, daß Sie kommen, denn ich muß nun schließen„ Zehn Uhr ist vorüber.“

„Wo ist das Fräulein?“

„Sie macht mit ihrer Mutter, wie jeden Abend vor dem Schlafengehen, eine Promenade durch den Garten, und darum darf die Thür nicht offen bleiben.“

„Nimm dieses Goldstück.“

„Wo ist der Brief?“

„Hier. Du wirst ihn besorgen, wie wir gestern verabredet haben. Morgen Abend hole ich mir Antwort.“

„Versäumen Sie den Augenblick nicht, wo ich das Gitter schließe. Ziehen Sie sich zurück, denn ich sehe die beiden Damen den Weg kommen, der hierher führt.“

Valentin schloß geräuschvoll die Thür. Dermont eilte nach der Stadt zurück. Am nächsten Morgen war sein erster Weg der zu George. Der Graf hatte, wie er versprochen, vor Sonnenaufgang seine Reise angetreten.



II.
Die Geliebte.

Das holländische Bad Scheveningen hatte für diesen Sommer kaum Raum genug, um alle Gäste aufzunehmen, die dort Erholung und Zerstreuung suchten. Bei seiner Ankunft mußte George ein Dachstübchen in einem der Wirthshäuser bewohnen. Unempfänglich für das äußerliche Leben, fügte er sich gern dieser Unbequemlichkeit, ihm war es gleich, ob er in einem glänzenden Saale oder in einer engen Kammer um das Mißgeschick seines Herzens trauern konnte. Von dem Umgange mit der blendenden Marquise hoffte er Heilung seines kranken Gemüths, er wollte sich den Freuden der großen Welt rückhaltlos hingeben. Nachdem er am nächsten Morgen eine sorgfältige Toilette gemacht, stattete er der Marquise von Beaulieu, die ein reizendes Landhaus bewohnte, seinen Besuch ab. Die junge Wittwe hatte sich bereits durch ein Seebad erfrischt und saß beim Frühstück. Sie empfing den Geliebten nicht mit der gewohnten Herzlichkeit, und George schrieb dies seiner um acht Tage verzögerten Ankunft zu.

„Henriette, was ist Ihnen?“ fragte er besorgt.

„Lieber Graf, erwarten Sie, daß ich Ihnen wie ein jubelndes Kind entgegen fliege, wenn ich sehe, daß alle meine Aufmerksamkeiten mit Kälte angenommen werden?“ fragte sie mit jenem ausdruckslosen aristokratischen Lächeln, das den ausgesprochenen Hohn mildern sollte. „Sie kennen den Grund meiner frühen Badereise, Sie wissen, daß es für mich nichts Langweiligeres auf der Welt giebt als ein Seebad – und dennoch wagen Sie, mir volle acht Tage den Umgang zu entziehen, der allein mich für das Opfer einer solchen Reise entschädigen kann. Es giebt keinen hinreichenden Entschuldigungsgrund!“

„Verzeihung, Henriette!“

„Ich wiederhole es, es giebt keinen, weder meinem Herzen noch der Welt gegenüber, die an diesen Umstand bereits ihre Mutmaßungen geknüpft hat.“

Schmollend warf sich die Wittwe in den Sopha. George betrachtete sinnend die Frau, von der seine Zukunft abhing. Sie war vierundzwanzig Jahre alt, schön und reich, also mit Eigenschaften ausgerüstet, die sie einem Manne wünschenswert erscheinen ließen, aber wie wenig war sie mit Amely zu vergleichen! Die Schönheit der Marquise blendete die Sinne – das Herz blieb kalt. Der Gedanke an Dermont gab ihm den Muth, eine Lüge auszusprechen. Er ließ sich auf ein Knie nieder und ergriff die schneeweiße Hand der jungen Frau, indem er sie an seine Lippen drückte.

„Sie verdammen mich, ehe Sie mich gehört haben, Henriette. Ihre Liebe macht mich stolz und glücklich, und indem ich sie erwiedere, folge ich dem Drange meines Herzens.“

„Wahrhaftig, George?“ fragte sie mit einem Blicke, der deutlich ihre Leidenschaft für den Grafen verrieth und die Geneigtheit, ihm zu verzeihen.

„Ich habe auf Anordnung meines Arztes die Reise aufgeschoben.“

„Mein armer Freund!“ rief sie in einem plötzlich veränderten Tone.

„Einige Tage der Ruhe haben mich wieder hergestellt.“

Henriette sah ihn einen Augenblick an, dann küßte sie ihm die Stirn.

„Mein Gott, es ist wahr – Sie sind bleich und eine Melancholie spricht sich in Ihrem ganzen Wesen aus, die mich auf eine körperliche Indisposition schließen läßt. Armer George, Scheveningen und meine Fürsorge werden Sie heilen. Wie fühlen Sie sich? Hat die Reise Sie angestrengt? Haben Sie irgend einen Wunsch, so sprechen Sie ihn aus – –“

„Henriette, ich habe einen Wunsch!“

„O, zögern Sie nicht!“ rief sie eifrig.

„Haben Sie Nachsicht, wenn dem Reconvalescenten das muntere Wesen gebricht, das er bisher zeigte. Bald werde ich völlig genesen sein, und wenn wir im Herbste nach Brüssel zurückkehren –“

„So öffnen Sie den Freunden Ihre Säle, um ihnen die Gattin entgegenzuführen. Also, George, verfügen Sie von diesem Augenblicke an über die Morgengabe Ihrer Braut!“

Der junge Graf drückte die schöne Frau an seine Brust. Henriette’s lebhafte Laune war wiedergekehrt, und während des Frühstückes unterhielt sie den Geliebten mit der Aufzählung der im Bade anwesenden Gäste. Lord Darnley's erwähnte sie nicht, obgleich George wußte, daß er sich in Scheveningen befand.

„Und nun, mein Freund, werde ich den Beweis liefern, daß ich für Sie gesorgt habe.“

Mit diesen Worten verließ sie den Tisch und klingelte der Kammerfrau. Nach zwei Minuten hatte sie Hut und Shawl angelegt.

„Herr Graf,“ sagte sie mit einer graziösen Verbeugung, „Ihren Arm!“

Beide verließen das Landhaus. Henriette schlug einen Seitenpfad ein der von der Hauptallee zu einem Gebüsche führte. Zwischen den Bäumen erhob sich eines jener holländischen Bauernhäuser, die sich durch eine fest übertriebene Reinlichkeit auszeichnen. Das lange, ein Stock hohe Gebäude schien hellbraun lackirt zu sein. Die Jalousien an den glänzenden Fenstern waren mit grüner Oelfarbe angestrichen. Ueber der Thür wölbte sich eine dichte Epheulaube. [312] Aus einem der Fenster sah ein alter Holländer, der gemüthlich seine Thonpfeife rauchte.

„Termöhlen,“ rief Henriette, „hier bringe ich Euch den Gast!“

Der Holländer verschwand, um gleich darauf in der Thür zu erscheinen. Freundlich grüßend empfing er das Paar, und führte es denn die weißgescheuerte Treppe hinan. Eine musterhafte Ordnung herrschte auf dem bäuerlichen Vorsaale. Der Greis öffnete eine Thür, und man trat in ein Zimmer, das mit künstlichem Luxus ausgestattet war. Wäre die niedere Decke nicht gewesen, nichts hätte an ein holländisches Bauerhaus erinnert. Henriette öffnete ein Fenster. Es bot sich eine prachtvolle Aussicht über das Meere, dessen Ufer in kurzer Entfernung begann. Dann zog sie den Geliebten zu dem gegenüberliegenden Fenster, das sie öffnete. Ein reizender Garten breitete sich aus bis zu einem eleganten Landhause.

„Dort sind meine Zimmer!“ flüsterte Henriette lächelnd. „Wir können unbeobachtet eine Correspondence unterhalten. Sie sehen, daß ich bei der Wahl Ihrer Wohnung ein wenig eigennützig verfahren bin.“

„Henriette, wie soll ich Ihnen danken!“

„Dadurch, daß Sie Ihre Genesung beschleunigen, und – die Morgengabe Ihrer Frau nicht vergessen.“

Der Graf unterdrückte einen Seufzer, lächelte und küßte die Hand der Marquise, dieselbe Hand, die ihn so künstlich für das ganze Leben gefangen genommen hätte. Wäre sein Herz frei gewesen, er hätte sich glücklich preisen müssen. Denselben Tag noch bezog er das Haus Termöhlen’s, eines Schiffers, der einige Boote zur See hatte. Die folgende Zeit verfloß dem Grafen im Dienste der Marquise. Man sah Beide täglich in den Promenaden und pries das Glück des Grafen, der Erwählte der reichen und schönen Wittwe zu sein. George fand einige Zerstreuung in den Lustbarkeiten, die der belebte Badeort bot, und selbst Henriette, die sich bemühte, seine Melancholie zu verscheuchen, gewann in seinen Augen an Liebenswürdigkeit. Um diese Zeit näherte sich Lord Darnley der Marquise wieder, und wenn sie auch mit dem Takte der fein gebildeten Dame seine Aufmerksamkeiten empfing, so feierte George dennoch den Triumph, sich von dem englischen Krösus, der ihm vor kurzer Zeit noch mit dem Schuldgefängniß gedroht, beneidet zu sehen. Der Lord erinnerte ihn an Dermont, und Dermont mahnte ihn an die Pflicht, die er der Freundschaft zu erfüllen hatte. Trotzdem aber wich das Bild Amely’s nicht aus seiner Seele, und jemehr er sich Mühe gab, sie zu vergessen, jemehr mußte er um ihren Verlust trauern.

Der Monat Juni war verflossen. Da schrieb ihm Dermont von Brüssel aus, daß er seine angebetete Leserin fast täglich spreche und in seinen Bewerbungen glücklich zu sein glaube. Er wußte keine Worte zu finden, um dem Freunde seinen Dank und sein Glück auszusprechen. Amely schilderte er als einen Engel, der in menschlicher Gestalt zur Erde herabgestiegen sei. Dieser Brief erschwerte dem armen George die Bemühungen, seinen vorigen Gemüthszustand wieder herzustellen, so daß er nur eine geringe Genugthuung in den Zärtlichkeiten Henriette’s fand, die stets auf neue Zerstreuungen für ihren Geliebten sann. So hatte sie einst eine Spazierfahrt auf dem Meere veranstaltet. Vater Termöhlen rüstete ein leichtes Boot dazu aus, und er selbst übernahm die Führung desselben. In der Gesellschaft, die dazu eingeladen war, befand sich auch Lord Darnley. Gegen Abend bestieg man das elegant und bequem ausgerüstete Boot, und damit Nichts fehle, hatte der Holländer auch für Erfrischungen gesorgt, die seine Tochter den Gästen präsentirte. Margarethe befand sich im Hintertheile des Boots neben ihrem Vater, der das Steuerruder in der Hand hielt. Sie trug die Kleidung der reichen Holländerinnen: eine weiße Mütze mit Goldspangen, die sich eng den Schläfen anschmiegten, ein schwarzes Sammetmieder mit kleinen silbernen Knöpfen und ein Röckchen von blauem Thibet. Den niedlichen Fuß bekleideten schneeweiße Strümpfe und leichte Zeugschuhe.

Die Fahrt begann bei klarem, wolkenlosen Hímmel. Das Boot schaukelte wie ein Schwan auf dem ruhigen Meere. George und Henriette saßen auf einer Bank im Vordertheile, umgeben von der aus sechs Personen bestehenden Gesellschaft. Ein junger Franzose sang Barcarolen zur Guitarre, in deren Refrain die ganze Gesellschaft mit einstimmte. Die Natur begünstigte das Unternehmen, und eine heitere Laune hatte sich Aller bemächtigt, selbst von George war die Melancholie gewichen, und Henriette, die wie eine Königin strahlte, erfreute sich der zärtlichsten Aufmerksamkeiten ihres Geliebten.

„Ein reizendes Kind!“ flüsterte der Lord seinem Nachbar zu, indem er auf Margarethe deutete, die in einem großen Korbe die Speisen und Getränke ordnete.

„Man nennt sie die Perle von Scheveningen,“ war die Antwort; „ich habe sie bereits im vorigen Jahre gesehen. Vater Termöhlen ist stolz auf dieses Kleinod.“

„Eine pikante Holländerin!“ murmelte Darnley. „Schade, daß sie eine Bäuerin ist.“

„Ah, mein Freund, darauf ist sie stolz! Diese Holländer sind bizarre Menschen. Ich wette, daß dem Alten ein Edelmann nicht zu gut ist für sein Mädchen. Man erzählt, daß ein junger reicher Bauer sich das Leben genommen, weil ihn Margarethe verschmäht hat. Daß sie heute die Gäste bedient, ist eine Eitelkeit des Vaters der unsere Bewunderung provociren will. Bemerken Sie, wie wohlgefällig er sie betrachtet?“

„Mein Kind,“ rief der Lord, „reiche uns Erfrischungen!“

Margarethe warf einen Blick auf ihren Vater, als ob sie dessen Erlaubniß einholen wollte. Vater Termöhlen zog seine Uhr, betrachtete einen Augenblick das Zifferblatt und sagte dann: „Es ist Zeit, bediene die Gäste!“

„Und wenn es nach Eurer Uhr noch nicht an der Zeit wäre?“ fragte Darnley verwundert.

„Dann würden Sie noch ein wenig warten müssen!“ antwortete der Alte mit der größten Ruhe, und indem er dem Ruder einen leichten Stoß versetzte.

„Scheint es doch, als ob uns der gute Mann tyrannisiren will!“

„Die Schiffsordnung will es so, Mylord!“ sagte der Greis mit derselben Ruhe. Dann winkte er seiner Tochter, und Margarethe trat mit einem großen Präsentirteller heran.

Jetzt erst richtete sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf die niedliche Holländerin. Erröthend versah sie die Obliegenheiten des ihr zugetheilten Amtes. Zuerst bediente sie die Damen. Henriette vermochte kaum ihr Erstaunen zu unterdrücken, als sie ein Glas Eis von der lieblichen Dienerin empfing. Jetzt trat sie dem Grafen näher, und forderte ihn durch eine leichte Verneigung auf, von den Delikatessen zu wählen. Aber George verstand diese Aufforderung nicht, starren Blicks sah er das junge Mädchen an, er schien seine Umgebung darüber zu vergessen.

„Graf, was ist Ihnen?“ fragte Henriette, die vor Zorn am ganzen Körper zitterte. „Das Schwanken des Bootes greift Ihre Nerven an.“

George raffte sich gewaltsam zusammen. Bebend ergriff er einen Teller, der mit den Stücken des zerlegten Huhns gefüllt war. Die ganze Gesellschaft brach in ein lautes Lachen aus, als man sah, wie der zerstreute George sich des ganzen Geflügelvorrathes bemächtigte, anstatt mit der Gabel ein Stück davon zu nehmen.

„Die Seelust hat dem Grafen Appetit gemacht!“ rief Darnley höhnend, der diese Gelegenheit benutzte, um seinem lang gehegten Grolle Luft zu machen. „Die hübsche Bäuerin hat Vorrath. Ach, mein Kind, hierher, uns will es besser geziemen, über Dein schmuckes Gesicht zu staunen!“

Mit diesen Worten umschlang er die Taille Margarethe’s und zog sie, als ob er Rücksicht für die Marquise nähme, nach dem Hintertheile des Bootes zurück. George begriff, daß er eine große Unvorsichtigkeit begangen, indem er den Eindruck verrathen, den eine Aehnlichkeit Margarethe’s mit Amely hervorgebracht. Zornig über sich selbst, warf er den Teller in das Meer.

„George, was beginnen Sie?“ flüsterte ihm Henriette zu, die sich ihrer Situation schämte. „Sie machen sich zum Gegenstande des Gelächters.“

„Das hübsche Kind ist gefährlich!“ rief der Lord. „Aus Rücksicht für die Frau Marquise, setzt uns an das Land, Alter!“

[321] „Mylord, Sie sind ein Unverschämter!“ fuhr George auf.

„Herr Graf, erinnern Sie sich, daß ich nachsichtig bin, wenn es sich um eine Wechselschuld handelt. Beleidigungen lasse ich durch meine Jockei’s rächen.“

Der Graf erbleichte vor Zorn, einen Augenblick saß er wie erstarrt auf seinem Platze, die Lippen zitterten und die Hände ballten sich krampfhaft zusammen. Dann erhob er sich und versetzte dem Lord eine laut schallende Ohrfeige.

„Auch diese?“ fragte er mit vor Wuth bebender Stimme.

„Auch diese!“ antwortete nach einer Pause der Lord. „eine englische Hetzpeitsche ist geschmeidig genug, um einen brutalen Abenteurer zu züchtigen. Die Damen werden es mir Dank wissen, daß ich sie nicht zu Zeugen einer Dressur mache. Nach dem Lande!“ befahl er dem Steuermann.

Ein peinliches Schweigen herrschte in dem Boote, das seinen Lauf nach dem Strande zurücknahm. Die Marquise verhüllte ihr Gesicht; George stand aufrecht, den Rücken der Gesellschaft zugewendet. Margarethe saß neben ihrem Vater, sie hielt ihre weiße Schürze vor die Augen und schien still zu weinen. Lord Darnley lächelte ruhig vor sich hin, und richtete von Zeit zu Zeit einige Worte an seinen Nachbar. Vater Termöhlen beeilte sich, das Land zu erreichen, das man nach einer Viertelstunde schon betrat, da der Wind günstig war. George reichte der Marquise den Arm. Zögernd nahm sie ihn an. Die Gesellschaft trennte sich nach einer kurzen und kalten Begrüßung. An der Treppe des Landhauses schied George von Henrietten.

„Wann geben Sie mir Aufklärung?“ fragte sie pikirt.

„Sobald ich kann.“

„Warum nicht neute noch?“

„Henriette, fordern Sie wirklich, daß ich mich gegen Sie vertheidige?“

„Das wäre zu viel! Denken Sie zunächst an den Lord, er hat Ihnen mit seinen Jockei’s gedroht. Sorgen Sie dafür, daß ich nicht compromittirt werde.“

„Das heißt?“

„Reisen Sie nicht ab, ohne ein Rendez-vous mit dem Lord gehabt zu haben.“

Sie grüßte und verschwand in dem Hause. George ging nachdenkend seiner Wohnung zu. Er erwartete, daß ihm der Lord eine Herausforderung zum Duelle senden würde, es war ihm lieb, sein Leben den Chancen eines Zweikampfs auszusetzen. „Das also war die Liebe der Marquise!“ dachte er. „Aus Eitelkeit will sie mir angehören, und nicht aus Neigung. Ihr Stolz ist gekränkt durch diesen Auftritt – Dermont, ich kann das Opfer nicht bringen, es ist zu groß!“

Denselben Abend noch schrieb er einen langen Brief an den Freund in Brüssel, worin er ihm ein anderes Arrangement der Schuldangelegenheit vorschlug, als das ursprünglich projektirte durch die Heirath mit der Marquise. Den folgenden Tag verbrachte er in seinem Zimmer, aber es kam kein Bote von dem Lord. Und was hatte er im Grunde genommen dabei verloren? Der Engländer hatte auf der Stelle seinen Lohn für die Verhöhnung empfangen – wollte er die Schmach der empfangenen Ohrfeige ungerächt lassen, so blieb dies seinem eigenen Urtheile unterstellt. Die Aehnlichkeit Margarethen’s mit Amely, die er so großmüthig dem Freunde abgetreten, lag ihm jetzt mehr am Herzen, als der im Boote stattgehabte Auftritt und seine Folgen. Gegen Abend besuchte er zum ersten Male den Garten hinter dem Hause. Seine Hoffnung, Margarethen zu sehen, sollte in Erfüllung gehen, denn er traf sie auf einer von Hollunder überhangenen Bank. Wie gestern, trug sie auch heute die reiche holländische Kleidung. Sie war beschäftigt, die Namen von Blumen auf kleine Täfelchen zu schreiben.

Als George herantrat und sie grüßte, fuhr sie erschreckt zusammen. Aber auch der junge Mann erzitterte, als er in das wunderliebliche Gesicht sah, das Zug für Zug Amely anzugehören schien. Es fehlten nur die schwarzen Locken, um das Bild des reizenden Blumenmädchens zu vervollständigen. Schüchtern blieb sie neben dem Tische stehen und erwartete seine Anrede.

„Margarethe,“ begann George, „Sie waren gestern Zeugin eines Scene, die ich Ihretwegen wünschte, daß sie nicht vorgefallen wäre.“

„Meinetwegen?“ flüsterte sie, indem sie das Auge aufschlug.

George war seiner kaum noch mächtig, denn derselbe Blick war ihm jetzt begegnet, der einst aus Amely’s Auge tief in sein Herz gedrungen war. Mit übermenschlicher Anstrengung erhielt er seine Fassung aufrecht.

„Ja, Ihretwegen,“ fuhr er mit bewegter Stimme fort, „denn die Beleidigungen des übermüthigen Engländers trafen auch zum Theil Sie. Verzeihen Sie, daß ich meiner so wenig Herr war, um Sie vor dem Ausbruche jener stolzen, vornehmen Leute zu wahren.“

„Herr Graf, ich bin der Ansicht meines Vaters, “ antwortete sie leise. „Es giebt Dinge, die ein Kluger nicht bemerkt.“

„O, Ihr Vater hat Recht! Es giebt aber auch wieder Dinge, die ein Kluger scharf in’s Auge faßt. Dazu rechne ich das Benehmen [322] der Dame, die Sie neben mir im Boote erblickten. Ist sie Ihnen bekannt?“

„Die Frau Marquise von Beaulieu – ich sah sie schon im vorigen Jahre.“

„Margarethe, die Frau hatte mich verblendet, und als ich Sie erblickte –“

„Mich?“ fragte sie zitternd.

„Ja, Sie rissen eine Wunde in meinem Herzen auf, die ich hier im Bade zu heilen hoffte."

„Mein Gott, ich bin ein Landmädchen!" stammelte sie, und eine flammende Röthe verbreitete sich über ihr ganzes Gesicht.

„Margarethe, haben Sie eine Schwester?“

„Nein!“

Der Graf ergriff ihre Hand. Er fühlte, wie sie heftig zitterte.

„Margarethe,“ fuhr er fort, „es giebt in Brüssel ein Mädchen, das Ihre Doppelgängerin sein muß, wenn nicht – Sie selbst! Erklären Sie sich nun meine Bestürzung, als ich Sie in dem Boote erblickte? Jenes Mädchen ist für mich verloren, obgleich sie mein Ideal auf dieser Welt, obgleich sie die Gottheit ist, zu der ich bete. Mein Verhältniß zu der Marquise ward durch Umstände bedingt, die ich – –“

„Margarethe, Margarethe!“ rief die Stimme des alten Termöhlen aus dem Hause.

„Verzeihung, Herr Graf, ich muß fort!“ stammelte das bestürzte Mädchen.

Sie entwand ihre Hand der seinigen, und flatterte wie ein bunter Schmetterling durch die Wege des Gartens, gehorsam dem väterlichen Befehle. Das war ein seltsames Spiel der Natur, ein Wunder, wenn beide Erscheinungen sich nicht als eine Person zeigten. Und wie war dies möglich? Wie konnte die Bäuerin mit der hochgebildeten Städterin, die den Telemaque las, identisch sein? George war es gleichviel, er fühlte, daß Margarethe im Stande war, ihm Amely zu ersetzen. Und so ward die Holländerin die gefährlichste Feindin der Marquise. Gedankenvoll blieb er auf der Bank unter dem Hollunderbusche. Nach einer halben Stunde erschien Vater Termöhlen, der an diesem Orte sein Abendpfeifchen zu rauchen pflegte. Der Holländer ließ sich ohne Umstände neben dem Grafen nieder. Es fiel George nicht schwer, das Gespräch auf Margarethen zu lenken, und Vater Termöhlen ging mit sichtlichem Wohlbehagen darauf ein.

„Ja, Herr Graf,“ sagte er, dichte Rauchwolken aus seiner Pfeife emporblasend, „das Mädchen ist meine einzige Freude auf dieser Welt. Ich habe mich tüchtig abgemüht im Leben, aber der Gedanke an mein Kind hat mir jede Arbeit versüßt.“

„Wie kommt es,“ fragte George, „daß ich sie gestern zum ersten Male gesehen, und ich wohne doch schon so lange in Ihrem Hause.“

„Das ist sehr einfach: weil Margarethe vorgestern erst angekommen ist.“

„Wie, sie war nicht immer in Scheveningen?“ fragte George in großer Spannung.

„Seit zwei Jahren befindet sie sich in einer Pension in Leiden. Jetzt ist ihre Erziehung vollendet, und sie wird nun bei mir bleiben.“

„In Leiden war Margarethe?“ wiederholte der Graf.

„Gewiß! Sie wundern sich wohl, daß ein Schiffer aus Scheveningen seiner Tochter eine städtische Erziehung geben läßt? Ach, darüber habe ich schon manchen Spott hören müssen; aber was kümmert mich die Welt? Ja, Herr Graf, wie Sie mich hier sehen, habe ich schon traurige Erfahrungen gemacht. Es giebt nach meiner Ansciht nichts Abgeschmackteres auf der Welt, als einen Menschen, der reich, aber so dumm ist, daß er nicht weiß, was er mit seinem Vermögen anfangen soll. Wer die schöne Gottesgabe nicht ordentlich anwenden kann, verdient sie auch nicht. Man sehe nur die Bauern in unserem Dorfe an: die Kerls sind fast alle steinreich, aber sie führen ein jammervolles Leben. Warum? Weil ihnen die Aufklärung fehlt. Der Sohn wird wie der Vater, der Enkel wie der Sohn, und so geht das Ding fort, während das Vermögen sich von Jahr zu Jahr mehrt. Und fällt es so einem dummen Teufel einmal ein, seinem Stolze zu folgen und in einen etwas höher gelegenen Kreis überzugreifen, so wird er geprellt wie ein Fuchs. Ich mache keinen Hehl daraus, daß ich in diesem letzten Falle gewesen bin.“

„Sie, Vater Termöhlen?“

„Ja, ich, wie Sie mich hier sehen!“ sagte der Greis, indem er den Gast mit großen Augen ansah. „Der gestrige Vorfall in meinem Boote hat mich abermals belehrt, daß meine Ansicht vom Leben die richtige ist. Der Engländer hatte zwei Ohrfeigen verdient, das ist auch so ein Bursche, der mehr Geld als Verstand besitzt. Doch lassen wir das, bleiben wir bei der Sache, das heißt bei mir. Wie Sie mich hier sehen, war ich der einzige Sohn meiner Aeltern, die mir dieses Grundstück und ein hübsches Vermögen hinterließen. Als sie starben, war ich ein reicher Mann, aber ein dummer, aufgeblasener Teufel. Da lernte ich in Amsterdam die Tochter eines bankerotten Kaufmanns kennen, sie war schön, gebildet, ich bewarb mich um ihre Hand, und sie nahm den reichen Schiffsrheder zum Manne. In der ersten Zeit ging das Ding sehr gut, und als uns der Himmel unsere Margarethe schenkte, da schien es, als ob wir ganz glücklich sein sollten. Aber nach und nach trat eine Veränderung ein, denn wir genügten einander nicht mehr. Die Frau war eine hochtrabende Dame und der Mann ein dummer Schiffsrheder, der bei jeder Gelegenheit auf seinen Geldsack klopfte. Es entstanden Mißhelligkeiten, Zank und Streit, und das Ende vom Liede war eine freiwillige Trennung, die nicht schwer werden konnte, da beide Eheleute Protestanten waren. Meine Geschiedene erhielt eine jährliche Rente und ich behielt meine Tochter. Da haben Sie die Bescheerung, mein Herr! Nun war ich klug geworden, aber zu spät. Margarethe, dachte ich, ist ein reiches Mädchen, und damit sie ihr Vermögen genießen kann, muß sie eine demselben entsprechende Bildung erhalten, dann wird ihr auch ein Mann nicht fehlen, mit dem sie glücklich lebt. So ist sie nun drei Jahre in der Pension gewesen, und sie hat alle meine Hoffnungen erfüllt. Gestern machte sie die Spazierfahrt mit, damit sie den Ton der vornehmen Gesellschaft keinen lernen sollte – mir scheint, sie hat ihn kennen gelernt, und danach mag sie sich richten. Ich bin nicht stolz, Herr Graf, aber einen reichen, aufgeblasenen Bauer kann ich nicht leiden. Dieses Jahr noch verkaufe ich meine Grundstücke und ziehe in die Stadt. Das Uebrige, hoffe ich, wird sich finden. Ja, hätte mein Vater für mich gesorgt, wie ich für mein Kind gesorgt habe, ich hätte eine zufriedene Ehe führen können.“

„Sie haben Recht,“ murmelte George, „die materiellen Mittel müssen mit der Bildung harmoniren. Es ist eben so schlimm, wenn die Verhältnisse umgekehrt sind. Der Gebildete empfindet den Mangel doppelt.“

Der Holländer hatte still vor sich hingelächelt. Plötzlich hob er den Kopf empor und flüsterte:

„Ich glaube, das Wettermädel hat schon eine Liebschaft! Wenn ich nur dahinter kommen könnte, wen sie auf dem Rohre hat. Es muß wohl so ein Herrchen sein, das sie in Leiden kennen gelernt hat. Nun, ich habe nichts dagegen, wenn er der gebildeten Klasse angehört und sonst ein anständiger Mensch ist. Aber einen Bauer oder Schiffer – daraus wird nichts! Die Freude soll meine Geschiedene nicht erleben, daß Margarethe, weil ich sie erzogen habe, eine Bäuerin bleibt. Von morgen an darf sie mir die Landkleider nicht mehr tragen! Ich will ihr gleich meinen Willen zu erkennen geben, damit sie sich darnach richten kann!“

Der sonderbare Alte stand auf und entfernte sich, ohne zu grüßen. George machte einen Spaziergang am Ufer des Meeres. Am folgenden Morgen überschlug er seine Kasse; sie war so schlecht bestellt, daß er bestürzt die Feder niederlegte. Ihm blieb nicht einmal soviel, um die Rückreise nach Brüssel zu bewerkstelligen. Was sollte er beginnen? Eine Annäherung an Henriette, die ohne Zweifel darauf gerechnet hatte, hielt er für eben so unmöglich als ein längeres Verbleiben in seiner gegenwärtigen Lage. Ein bitteres Gefühl bemächtigte sich seiner, als er bedachte, wie dringend ihm die kokette Marquise ihre Morgengabe empfohlen hatte. Sie kannte seine Abhängigkeit von ihrem Vermögen. George war der Verzweiflung nahe, als er nun noch seiner Verpflichtung gegen Dermont gedachte. Lange überlegte er, und gegen Abend hatte er einen Beschluß gefaßt, den er auf der Stelle zur Ausführung brachte. Den ersten Anlaß dazu hatte die Unterredung mit Vater Termöhlen gegeben. Er ging in den Garten zu dem Hollunderbusche, und dort traf er Margarethen, wie er gehofft hatte. Sie trug heute einfache Bauernkleider, die ihr reizend standen. Nachdem er sich zu ihr auf die Bank gesetzt, ergriff er ihre Hand.

„Margarethe,“ begann er, „ich bitte um die Erlaubniß, unser gestern angefangenes Gespräch fortzusetzen. Von Ihnen hängt das Glück meines Lebens ab.“

[323] „Von mir?“ fragte sie verwirrt. „Sie treiben einen argen Scherz mit mir. Doch, lassen Sie hören, was kann ich für Sie thun?“

„Meine Fragen unumwunden beantworten.“

„So fragen Sie!“

„Sie kommen so eben aus der Pension in Leiden?“

„Ja!“ flüsterte sie verlegen.

„Auf die Grundsätze Ihres Vaters gestützt, die Sie ohne Zweifel kennen, wage ich die Frage, ist Ihr Herz noch frei von einer Neigung zu einem Manne?“

Wie mitleidig lächelte Margarethe, während eine hohe Röthe auf ihren Wangen erschien; dann fragte sie:

„Welches Interesse können Sie dabei haben?“

„Das größte von der Welt, Margarethe! Ich finde in Ihnen die Geliebte wieder, die ich verloren, an der meine ganze Seele hängt. Fast möchte ich an ein Wunder glauben, wenn ich Ihnen in das Auge schaue, wenn ich Ihre Züge sehe und Ihre Stimme höre! Mir ist, als ob ich Sie seit lange kenne, als ob ich nie eine andere geliebt habe!“

„Das ist allerdings ein Wunder, Herr Graf! Aber Sie vergessen die Frau Marquise –“

„Ich habe nie eine wahre Zuneigung für sie[WS 1] empfunden. Ich wiederhole es, daß ich der Freundschaft ein Opfer brachte, indem ich eine Liaison mit der Marquise einging.“

„Aber, wenn nun meine Doppelgängerin wieder erschiene, wenn ein zweites Wunder geschähe und Ihnen gestattet wäre, um sie zu werben – was würde mit mir geschehen, die es gewagt hat, ihre Stelle einzunehmen?“

„Margarethe!“

„Sie verzeihen, Herr Graf, daß ich Alles reiflich erwäge, ehe ich in dieser wichtigen Sache eine entscheidende Antwort ertheile. Ich wage viel!“ fügte sie mit einem himmlischen Lächeln hinzu. „Aber Sie wagen noch mehr.“

„Sie können es wagen!“ rief George begeistert. „Indem Sie Alles vereinigen, was meine Liebe nur fordern kann, bleibt mir kein Wunsch mehr! Bei Ihnen ist ja Alles vergessen, denn ich finde in Ihnen die erste und letzte Geliebte. Erklären Sie sich nun mein sonderbares Benehmen in dem Boote? Mag es Ihnen Bürgschaft dafür sein, daß ich die Wahrheit gesagt habe. Margarethe, entscheiden Sie über mein Schicksal! Gestatten Sie mir, daß ich mit Ihrem Vater sprechen darf.“

„Bravo, Herr Graf!“ rief in diesem Augenblicke die Stimme der Marquise, die hinter dem Fliederstrauche hervortrat. „Die Bäuerin paßt für den Edelmann, der seinen Rang vergißt. Werben Sie nur, der alte überspannte Schiffer wird den gräflichen Schwiegersohn nicht abweisen. Reichen Sie mir Ihren Arm, Mylord; ich bin Ihnen zu Danke verpflichtet, daß Sie mir die Augen über einen Unwürdigen geöffnet haben.“

Lord Darnley trat heran, und bot der Marquise höhnisch lächelnd den Arm. Zugleich sagte er:

„Der Herr Graf von Monlosier ist hier nicht minder an seinem Platze als in dem Schuldgefängnisse. Die niedliche Margarethe ist gut genug, um die Schulden eines Edelmannes zu bezahlen. Ah, der Herr Graf ist ein Spekulant! Vielleicht erinnert er sich des armen Dermont, wenn er die holländische Mitgift einkassirt hat!“

Die Marquise und der Lord gingen durch den Garten dem Landhause zu. Man hörte noch einige Zeit ihr lautes Lachen. George saß bleich und bestürzt neben Margarethen. Die schamlose Frechheit des Engländers hatte ihn völlig niedergeschmettert. Plötzlich fühlte er seine Hand ergriffen; als er aufsah, stand Margarethe vor ihm. In ihren Augen erglänzten Thränen, als sie mit bebender Stimme zu ihm sagte:

„Herr Graf, in einer Stunde erwarte ich Sie bei meinem Vater – ich gehe, um mit ihm Rücksprache zu nehmen. Werden Sie diese kurze Zeit das Gefühl bekämpfen können, das die erlittene Kränkung angeregt hat?“

„Sie wollen es, Margarethe?“

„Ich bitte Sie darum!“ sagte sie mit einem schmerzlichen Lächeln, und indem sie seine Hand sanft drückte.

„Wohlan, in einer Stunde sehen Sie mich bei Ihrem Vater!“

Margarethe ging dem Wohnhause zu. Einige Minuten später befand sich George in seinem Zimmer. Wir übergehen die peinliche Stunde, die er unter tausend Gedanken und Zweifeln verbrachte. Die große Uhr auf der Hausflur kündete summend die neunte Stunde an, als er die Thür der Wohnstube öffnete. Vater Termöhlen, sein Abendpfeifchen schmauchend, ging langsam auf und ab. Durch die blanken Fenster schimmerte das letzte Abendroth.

„Ich habe Sie erwartet, Herr Graf!“ sagte ernst der Greis. „Ihre Hand, und sehen Sie mir offen in das Gesicht. Was halten Sie von meiner Tochter?“

„Daß sie ein liebenswürdiges Mädchen, ein Engel ist!“ sagte George in einem Tone, der seine volle Ueberzeugung verrieth.

„Gut, wir sprechen als Männer, und darum glaube ich Ihnen. Wie stehen Sie mit der Marquise?“

„Ich habe sie nie geliebt; jetzt verachte ich das kokette Weib!“

„Auch gut! Ich habe es vorhin herausgebracht, wen meine Tochter auf dem Rohre hat. Und was glauben Sie wohl, wen?“

„Nun?“ fragte George in großer Spannung.

„Den Grafen von Montlosier! Ah, mein Bester, reißen Sie nur die Augen nicht so weit auf – mein Mädchen lügt nicht, es sagt stets die Wahrheit.“

„Vater Termöhlen!“

„Ruhig, ruhig, Herr Graf! Die Herzensangelegenheit mögen Sie mit ihr selbst besorgen; für jetzt habe ich, wie Sie mich hier sehen, noch etwas zu ordnen. Margarethe soll nicht nur einen Grafen heirathen, sie soll auch als Gräfin leben. Wieviel braucht sie wohl jährlich dazu?“

„O, mein Gott, sprechen wir doch in diesem ernsten Augenblicke nicht von Angelegenheiten – “

„Die zur Sache gehören. Es muß Alles festgestellt werden. Wenn Sie nicht fordern, so muß ich bieten. Wie Sie mich hier sehen, gebe ich meiner Tochter eine runde Summe von einer halben Million Gulden mit. Kann ein gräfliches Ehepaar davon leben? Heraus mit der Sprache! Wenn das nicht angeht, können Sie meine Tochter nicht bekommen, denn über eine größere Summe zu verfügen, ist mir nicht möglich. Element, auf einen Grafen hatte ich nicht gerechnet!“

„Margarethe ist mir lieb und werth wie ich sie bekomme! Ich liebe sie, und darin beruht mein ganzes Glück!“

„Gut, wiederholen Sie ihr das selbst! Margarethe!“ rief der Alte, indem er eine Seitenthüre öffnete. „Bist du fertig, so komm heraus, der Herr Graf ist da!“

Einen Augenblick verschwand der alte Holländer, dann erschien er wieder, seine Tochter an der Hand führend.

„Amely! Amely!“ rief George.

Das reizende Blumenmädchen in weißem Kleide und in schwarzen Locken stand vor ihm. Wie berauscht sank er zu ihren Füßen nieder und drückte ihre Hände an sein klopfendes Herz. Dann plötzlich stand er auf und starrte bestürzt die Jungfrau an.

„Großer Gott,“ flüsterte er, „ich darf wohl Margarethen, aber nicht Amely lieben! Ein gräßliches Geschick macht mich zum Verräther an dem Freunde – “

„Dem Sie leichtsinnig ein Versprechen gegeben, das Sie zu meinem Glücke nicht erfüllen können!“ flüsterte Amely. „Der Zufall machte mich zur Zeugin des letzten Gesprächs, das Sie mit dem Freunde hatten – Ich befand mich in dem Garten und war nur durch eine Hecke von Ihnen getrennt. Damals achtete ich den Mann schon, dem ich zu so hohem Danke verpflichtet war – als ich seine hochherzigen Gesinnungen kennen lernte, mußte ich ihn auch lieben. Dermont näherte sich später mir, und ich habe ihm bereits Aufklärung gegeben. Sie sind Ihres Versprechens gegen den Freund entbunden, Herr Graf. Auf den Antrag, den Sie Margarethen gestellt, antwortet Ihnen Amely.“

Sie trat ihm entgegen und reichte ihm die Hand. George zog sie sanft an seine Brust und küßte ihre weiße Stirn.

„Element, was ist denn das?“ rief Termöhlen, der bisher in stummer Verwunderung zugehört hatte. „Wovon sprecht Ihr denn? Habt Ihr Euch denn hier nicht zum ersten Male gesehen?“

Margarethe trat zu dem Greise und legte ihr glühendes Gesicht an seine Brust.

„Vater,“ flüsterte sie, „bist Du ganz zufrieden mit Deiner Tochter? Entspricht sie allen Erwartungen, die Du von mir gehegt hast?“

„Element, das will ich meinen!“ rief der Alte stolz und gerührt, indem er die Stirn des jungen Mädchens küßte. „Man möchte glauben, Du wärst eine geborene Gräfin.“

„Dann, Vater, zürne meiner Mutter nicht mehr – ihrer [324] sorgfältigen Erziehung verdanke ich größtentheils, was ich bin. Sie wollte ihr Vergehen gegen Dich ausgleichen, indem sie meine Erziehung zur Aufgabe ihres Lebens machte. Und meiner Kindesliebe verzeihst Du an diesem glücklichen Tage, daß ich ein kleines Geheimniß vor Dir hatte: ich war nicht in Leiden, ich war in der Pension bei meiner Mutter, die meinetwegen Brüssel zum Aufenthaltsorte gewählt hat.“

„Mädchen! Mädchen! Das ist ein Betrug –“

„Bin ich nicht die Tochter der armen Frau? Gott wird es mir nicht zur Sünde anrechnen, daß ich dem Drange meines Herzens gefolgt bin. Vater, Du kannst ihr nicht immer zürnen!“

Man sah, wie der Greis mit der Rührung kämpfte, die sich seiner bei dem Anblicke des reizenden Mädchens bemächtigte, das mit gefalteten Händen vor ihm stand und ihn bittend ansah.

„Vater Termöhlen,“ rief der Graf, „wenn Ihnen der Himmel eine solche Vermittlerin sendet, können Sie Ihren Dank nicht anders bethätigen, als daß Sie den Bitten dieses Engels Gehör geben.“

„Laßt mich, laßt mich, ich weiß was ich zu thun habe!“ rief der Alte, dem die Thränen über die braunen Wangen rannen. „Nehmen Sie Ihre Frau hin, Herr Graf, und sagen Sie der dort in Brüssel, daß sie zu Margarethe’s Hochzeit kommen könne!“

Dann verließ er hastig das Zimmer. Die beiden jungen Leute sanken sich einander in die Arme.

„Nun bist Du im Besitze Deines Blumenmädchens, George!“ flüsterte sie.

„Und zugleich im Besitze des höchsten Glücks, das ich kaum zu fassen wagte. Ich würde stolz auf den Neid der Welt sein, wenn Dermont – –“

„Beklage ihn nicht, er ist mit Mathilde wieder ausgesöhnt. Ein Zufall setzte mich von dem unglückseligen Mißverständnisse in Kenntniß, das den Bruch herbeigeführt – Dermont heirathet seine Mathilde, die mir eine Freundin geworden ist und das Geheimniß meines Herzens kennt.“

Am nächsten Morgen zeigten sich die beiden Verlobten in den Promenaden von Scheveningen. Sie begegneten Henrietten, die der Lord Darnley führte. Die stolze Frau erzitterte als sie die junge elegante Dame an George’s Seite erblickte. Einige Tage später erzählten sich die Badegäste, daß die Marquise von Beaulieu in einem Anfalle von Wuth sich mit dem Lord verlobt habe und nach England abgereist sei.

Vater Termöhlen hielt Wort: er stattete seine Tochter mit einer halben Million aus und begleitete das junge Paar nach Brüssel, wo er sich mit seiner geschiedenen Gattin wieder aussöhnte.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Sie