Die Cathedrale in Rouen

CCCLXXVII. Hofer’s Haus Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band (1842) von Joseph Meyer
CCCLXXVIII. Die Cathedrale in Rouen
CCCLXXIX. Batalha (das Schlachtenkloster) bei Leiria in Portugal
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DIE CATHEDRALE IN ROUEN

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CCCLXXVIII. Die Cathedrale in Rouen.




Wie der germanische Grundcharakter streng, ernst, ethisch ist, so ist auch der Charakter der deutschen Kunst. Die heitere Naturplastik, welche das Christenthum in der römischen Westwelt aus der classischen Zeit mit herüber genommen hatte, konnten die Germanen, welche diese Welt zertrümmerten, nicht fassen, und Gothen, Langobarden, Franken, ein Herrscherstamm nach dem andern, bildeten sie nach ihrer Weise um. Den deutschen Völkern wurde die christliche Religion nicht als bloßer Formtausch, sondern als Gabe freier, tiefer Ueberzeugung, bei welcher der Verstand einen eben so großen Antheil hatte, als das Gemüth. Der Christusglaube war für sie die That ihrer höchsten religiösen Ahnungen, und als deutsche Kunst die Aufforderung bekam, ihr eine leibliche Gestaltung zu geben und die Seele in den todten Stein zu tragen: da rang sie viele Jahrhunderte lang beharrlich mit dem widerstrebenden Stoffe, bis sie sich zur höchsten Klarheit emporgerungen und im Stande war, nach einem durchgehenden, leitenden Grundgesetz, das dennoch freie Bewegung zuließ, Formen und Verhältnisse in bestimmte Fügung, dabei in steter Wechselbeziehung und immer nach Einheit strebend, bis in’s Einzelnste zu ordnen und zu gliedern. Nun thürmte der Deutsche seine ewigen Münster auf, und Deutsche wurden die Baumeister aller der Völker, wo germanisches Blut zur Herrschaft gelangt war. Auf diese Weise wurde unsere Kunst von der Grenze Laplands bie nach Sizilien, und von Jerusalem und Batalha bis nach Riga verbreitet. Ueberall in den fremden Ländern nahm sie zwar nationale Elemente auf, die aber viel zu schwach waren, die Grundtype zur Unkenntlichkeit zu verwischen. Sie ist in Mailand, in Neapel und Palermo eben so deutlich sichtbar, wie in Nowgorod, im Tempel des heiligen Grabes, in der Cathedrale zu Burgos, im Cölner Dom und in Wien’s Sankt Stephan.

[11] In Frankreich tritt uns, zumal in den nördlichsten Gegenden, wo, in Burgund und in der Normandie, die germanischen Volkselemente am häufigsten verbreitet waren, auch die früheste Entwickelung des germanischen Baustyls in einer Reihe von Monumenten entgegen: denn immer waren es die deutschen Bauhütten (als deren Sitze Straßburg, Cöln, Wien, Zürich etc. etc. glänzten), welche berufen wurden, bei großen Tempelbauten Hand anzulegen, und wenn sie auch, wie oft geschah, die spätere Ausführung inländischen Künstlern und Handwerkern überließen, so gingen doch die Pläne und Grundrisse fast ohne Ausnahme von deutschen Meistern aus.

Der Umstand aber, daß die Ausführung vieler solcher, von deutschen Meistern entworfenen Baupläne minder-geschickten Händen anvertraut wurde, konnte dem meisterlichen Gedeihen der Arbeit selbst nicht förderlich seyn, und diesem Umstand ist es auch wohl hauptsächlich zuzuschreiben, warum an den französischen Monumenten altdeutscher Baukunst die Grundtypen des Styls so häufig in einer gewissen Einseitigkeit und Rohheit hervortreten, so daß dieß gleichsam zu ihrem charakteristischen Merkmal wird. Das harmonische Verschmelzen von Gedanken und Form, welches aus dem lebendigsten innern Verständniß hervorgeht, und bei den besten Bauwerken derselben Periode in Deutschland sich offenbart, fehlt ihnen, und Tiefe, Reichthum und Mannichfaltigkeit im Ornament wird gewöhnlich durch eine überladene Dekoration zu ersetzen gesucht.

Dieses Streben nach äußerer Pracht, welcher die Idee sich unterordnet, ihr gleichsam als Magd dient, ist in einigen Kirchen der Normandie am glänzendsten entwickelt, vor allen aber in dem gefeierten Tempel der Cathedrale zu Rouen. Nirgends sieht man ein so reiches, zierliches, kühnes, phantastisches Spiel der Formen: die Façade zumal, welche unser kostbarer Stahlstich treu darstellt, wird selbst von jener des Mailänder Doms nicht übertroffen.

Die Grundform der Kirche ist das Kreuz. Ihre Länge beträgt 390, die vom Kreuzschiff 162 Fuß; die Höhe des Hauptschiffes ist 84, und die Höhe des Haupt- oder Mittelthurms (dessen oberer Theil mehrmals abbrannte) war 396 Fuß. Ein Deutscher, Namens Ingelrahm (Ingelrame) entwarf, nachdem das Feuer im Jahre 1200 den alten Dom verwüstet hatte, den Plan zum jetzigen Werke, vollendete bis um 1230 die drei westlichen Portale und fing zwei der Thürme zu bauen an. Von Jahrhundert zu Jahrhundert wurde der Bau bis um 1530 fortgesetzt, und obschon man am ursprünglichen Plane Vieles änderte, wegließ oder zusetzte, hat man doch die Hauptformen desselben festgehalten. Schon 1535 durch Brand beschädigt, litt er seitdem mehrmals durch Feuersbrünste, wurde aber stets im alten Styl wieder restaurirt. Nur ein paarmal drängte sich moderner Geschmack durch Altäre, Monumente und Grabmäler ein. Der größte Uebelstand dieser Art ist der Hochaltar selbst, der 1730 an die Stelle des alten, baufällig gewordenen, gesetzt wurde: ein elendes Ding im neuitalienischen Styl und ein würdiges Denkmal des jämmerlichen Fürsten, der im Stande war, mit solchem Werke den Ehrenplatz in dem Gotteshause zu schänden, das der großartige Sinn des mittelalterlichen Bürgerthums aufgeführt hat.

[12] Die großartigste Entfaltung des germanischen Tempel-Bausystems ist in der Façade, die der Stahlstich darstellt, am besten kenntlich. Zwei Hauptthürme bilden die Seiten und die Nebenpfeiler streben als zierliche Thürmchen empor. Drei Portale führen in die Kirche. Ueber dem Hauptportal ist das große Prachtfenster, durch dessen gemalte Scheiben magisches Licht in das Mittelschiff fällt. Alle Verzierung an Außenwänden und Thürmen rankt aufwärts – versinnbildlichend das Streben und die Sehnsucht, die der Erde nicht angehören. Leider sind die Spitzen der Thürme von Blitz und Feuer zerstört; sie bestanden aus freistehenden Rippen, zwischen denen durchbrochenes Rosettenwerk eingesponnen war. Wo endlich die acht Rippen an den äußersten Spitzen zusammenliefen, da breitete eine majestätische Blume in heiliger Kreuzform ihre Blätter gegen den Himmel aus, das Ziel ahnen lassend, welches menschliche Kraft nicht zu erreichen vermochte.

Die statuarische Kunst geht hier schwesterlich mit jener des Steinmetzen Hand in Hand, und nicht blos das Innere hat sie geschmückt, auch auf der Außenwand vom Tempel des ewigen Gottes hat sie eine himmlische Heerschaar versammelt. Die Bildsäulen heiliger Märtyrer und Apostel, der heil. Jungfrau und der Erzengel, sammt der Fürsten des alten Bundes, Moses, der Propheten und Patriarchen, sind in mehrfachen Nischenreihen über einander geordnet, oder getragen von Consolen. Andere reihen sich in den Wölbungen der Portale, und selbst die Giebel sind noch mit Statuen oder Reliefs angefüllt. Eben so nehmen die tabernackelartig gehaltenen Thürmchen der Strebepfeiler Standbilder auf.

Das Innere ist solches Aeußern würdig. Durch die gemalten Fensterscheiben treten, wie in verklärter Lichterscheinung, die Gestalten derjenigen Religion dem Blick entgegen, welche überall das Körperliche zu vergeistigen strebt. Unzählige selbstständige Monumente kleinerer Dimensionen sind in den Kirchenschiffen versammelt und halten dem Beschauer einen ergötzlichen Reichthum bildlicher Darstellung entgegen: so die Altarwerke, die Tabernakel, die Kronleuchter und jene 84 geschnitzten Chorstühle, welche, Kunstwerke des fünfzehnten Jahrhunderts, allein im Stande seyn würden, den weitherkommenden Kunstfreund für seine Mühe und Kosten reichlich zu entschädigen.