Seite:Meyers Universum 9. Band 1842.djvu/23

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.

In Frankreich tritt uns, zumal in den nördlichsten Gegenden, wo, in Burgund und in der Normandie, die germanischen Volkselemente am häufigsten verbreitet waren, auch die früheste Entwickelung des germanischen Baustyls in einer Reihe von Monumenten entgegen: denn immer waren es die deutschen Bauhütten (als deren Sitze Straßburg, Cöln, Wien, Zürich etc. etc. glänzten), welche berufen wurden, bei großen Tempelbauten Hand anzulegen, und wenn sie auch, wie oft geschah, die spätere Ausführung inländischen Künstlern und Handwerkern überließen, so gingen doch die Pläne und Grundrisse fast ohne Ausnahme von deutschen Meistern aus.

Der Umstand aber, daß die Ausführung vieler solcher, von deutschen Meistern entworfenen Baupläne minder-geschickten Händen anvertraut wurde, konnte dem meisterlichen Gedeihen der Arbeit selbst nicht förderlich seyn, und diesem Umstand ist es auch wohl hauptsächlich zuzuschreiben, warum an den französischen Monumenten altdeutscher Baukunst die Grundtypen des Styls so häufig in einer gewissen Einseitigkeit und Rohheit hervortreten, so daß dieß gleichsam zu ihrem charakteristischen Merkmal wird. Das harmonische Verschmelzen von Gedanken und Form, welches aus dem lebendigsten innern Verständniß hervorgeht, und bei den besten Bauwerken derselben Periode in Deutschland sich offenbart, fehlt ihnen, und Tiefe, Reichthum und Mannichfaltigkeit im Ornament wird gewöhnlich durch eine überladene Dekoration zu ersetzen gesucht.

Dieses Streben nach äußerer Pracht, welcher die Idee sich unterordnet, ihr gleichsam als Magd dient, ist in einigen Kirchen der Normandie am glänzendsten entwickelt, vor allen aber in dem gefeierten Tempel der Cathedrale zu Rouen. Nirgends sieht man ein so reiches, zierliches, kühnes, phantastisches Spiel der Formen: die Façade zumal, welche unser kostbarer Stahlstich treu darstellt, wird selbst von jener des Mailänder Doms nicht übertroffen.

Die Grundform der Kirche ist das Kreuz. Ihre Länge beträgt 390, die vom Kreuzschiff 162 Fuß; die Höhe des Hauptschiffes ist 84, und die Höhe des Haupt- oder Mittelthurms (dessen oberer Theil mehrmals abbrannte) war 396 Fuß. Ein Deutscher, Namens Ingelrahm (Ingelrame) entwarf, nachdem das Feuer im Jahre 1200 den alten Dom verwüstet hatte, den Plan zum jetzigen Werke, vollendete bis um 1230 die drei westlichen Portale und fing zwei der Thürme zu bauen an. Von Jahrhundert zu Jahrhundert wurde der Bau bis um 1530 fortgesetzt, und obschon man am ursprünglichen Plane Vieles änderte, wegließ oder zusetzte, hat man doch die Hauptformen desselben festgehalten. Schon 1535 durch Brand beschädigt, litt er seitdem mehrmals durch Feuersbrünste, wurde aber stets im alten Styl wieder restaurirt. Nur ein paarmal drängte sich moderner Geschmack durch Altäre, Monumente und Grabmäler ein. Der größte Uebelstand dieser Art ist der Hochaltar selbst, der 1730 an die Stelle des alten, baufällig gewordenen, gesetzt wurde: ein elendes Ding im neuitalienischen Styl und ein würdiges Denkmal des jämmerlichen Fürsten, der im Stande war, mit solchem Werke den Ehrenplatz in dem Gotteshause zu schänden, das der großartige Sinn des mittelalterlichen Bürgerthums aufgeführt hat.