Die Carnevalstage in Buenos-Ayres

Textdaten
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Autor: Ferdinand Böhm
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Titel: Die Carnevalstage in Buenos-Ayres
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 6, S. 95–96
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[95] Die Carnevalstage in Buenos-Ayres. Es war Mitte März des Jahres 1859, als ich langsam durch die aufgeregten Straßen von Buenos-Ayres wandelte. Die Sonnengluth des jenseitigen Wendekreises neigte sich zu Ende. Ein dröhnender Kanonenschuß und ein tausendstimmiges durch die ganze Stadt wogendes Hurrah verkündete den Beginn des Carnevals. Von allen Seiten ertönte der wilde Ruf: „Agua, agua!“ und von Dächern und Balconen stürzte ein unerschÖpflicher Wasserfall auf die vorüberziehenden Cavaliere. Doch jetzt kommt Hülfe! Große Spritzenwagen rassein herbei. Auf ihnen hocken langbärtige rothe Teufel, die mit gellen Lärmtrompeten, Knarren. Klappern, Blechkasten und schrillen Pfeifen ein höllisches Concert aufführen. Sie halten unter den Balconen und erwidern die herabstürzenden Eimerfluthen mit den Wasserschlangen ihrer gutgezielten Schläuche und dem Schlachtenruf: „Nieder mit den Wäscherinnen!“ Vergebens! Die Wasserstrahlen zerschellen zischend an den aufgespannten Schirmen, hinter denen die schalkhaft verborgenen Nixen sicher zielen und doppelt sicher treffen. Ein Trompetensignal verkündet Waffenstillstand. Welch’ reizende Metamorphose! Confect, Bonbonnièren, mitunter auch Schmuck fliegen mit zierlichen Grüßen zu den Balconen hinauf, von denen sich die schlanken Sennoritas in hellschimmernden Gewändern herabneigen, und Blumensträuße, Kränze und Seidenschleifen regnen lieblich dankend von oben herab. Aber nicht alle werden aufgefangen und an die heißen verlangenden Lippen der Carnevalsteufel gedrückt. Manche fallen daneben, – und eine dichte lauernde Schaar schwarzer, brauner und gelber Buben stürzt raubgierig auf die schimmernde Beute, und erst von überschwemmenden Fluthen gebadet, löst sich der balgende Knäuel wieder auseinander. Andere als Locomotiven oder Dampfschiffe maskirte Spritzen folgen den ersten und wiederholen dasselbe Spiel, bis die Sonne sinkt und ein abermaliger Kanonenschuß den ersten Carnevalstag endet. Maskenschwärme durchschweifen jetzt die nachtkühlen Straßen und Plätze. Nach den rhythmischen Klängen schnarrender Clarinetten, der Harmonica, Flöte, Guitarre und brummender Tambourins marschiren, springen, singen, tanzen und tollen sie gespensterhaft im Mondenschein.

Am zweiten Carnevalstage beginnt der Straßenkampf mit farbigen Eiern, die mit wohlriechendem Wasser gefüllt und mit buntem Wachs geschlossen sind. Von den Dächern antwortet das schwere Geschütz sogenannter Wasserbomben. Die dortigen Zeitungen im Times-Format bieten hierzu ein äußerst zweckmäßiges Material. Man rafft sie im Augenblick des Gebrauchs an den Enden schlauchartig zusammen, taucht sie in’s Wasser und schleudert sie reichlich gefüllt auf die Hüte der Vorübereilenden und Angreifer, auf denen sie dumpf klatschend auseinanderbersten. Die Hauptstraßen sehen des Abends beim Mondschein, von Papierresten überschüttet, wie beschneit aus.

Zahlreicher als am ersten Abend wühlt und wirbelt heute ein phantastischer Hexensabbath, ein toller Narrenjahrmarkt durcheinander. Ich war in die Calle de Lima, eine abgelegene Seitenstraße, eingebogen, um den ankrähenden Fistel-Begrüßungen der Masken einigermaßen auszuweichen, als mich plötzlich vier Frauengestalten flamingoroth, kolibrischillernd umflatterten. Mit sinnverwirrender Beredsamkeit erkundigten sie sich nach meinem Befinden und titulirten mich mit zärtlichen Beinamen. Die eine begrüßte mich als Cousin Don Carlos, die andere als Schwager Don Luis, die dritte als Gevatter Don Emilio, die letzte endlich gar als ihren ungetreuen Don Juan. Auf ihren Scherz eingehend, nannte ich sie Carlota, Luisita, Emilia und querida (geliebte) Juanita. Die größte von ihnen schwenkte um ihr Haupt ein klingelndes Tambourin, das sie eben so meisterhaft handhabte, wie die zweite ihre Castagnetten. Dabei trällerten alle vier ein damals sehr beliebtes Volkslied und umkreisten mich in wildem Reigen. Mit einem starken Tambourinschlage brachen sie plötzlich ab und standen still. „Adios mascarita, adios, adios!“ sagten die drei Flamingos mit tiefen, graciösen Verbeugungen und tänzelten mit wiederbeginnendem Sang und Klang von dannen.

Der Kolibri aber umrankte, wie eine wilde Liane der Parana-Inseln, meinen Hals – ich fühlte eine schlanke, jugendlich volle Gestalt an meiner Brust – ich weiß nicht wie es kam, daß ich mich tiefer neigte – ein flüchtiger Kuß zuckte elektrisch über meine Lippen, und „Adios!“ flüsterte sie, „adios!“ ... Es überlief mich glühend heiß, denn sie hatte meinen Namen genannt; aber wie ein schußerschrecktes Reh entwand sie sich und entwich zu den bereits harrenden Schwestern. Alle vier tauchten schnell in einen fandangotollen vorüberjauchzenden Maskenschwarm. – Fort war sie, die schillernde Sirene!

Am letzten und daher auch schönsten Carnevalstage rasseln elegante, blumen- und flitterbeladene Phaëtons durch alle Straßen. Büffelhosige Neger, tigerbemäntelte Mulatten und straußfederngekrönte, nackte Indianer mit Bogen und pfeilgespicktem Köcher thronen auf dem Bock. Pharaonen, Solimans, Bayards, vor Allem aber gehörnte Siegfrieds und rasende Rolands galoppiren auf edlen Rossen unter die Balcone ihrer harrenden Dulcineen. Galonnirte, gleichfalls berittene Diener folgen ihnen, befrachtet mit verhüllt und unverhüllt prangenden Geschenken, die heute den geliebten Augen einen zärtlich dankbaren Blick entschmeicheln sollen. Heute fällt kein Strauß zu Boden, der nicht hastig aufgehoben, an Brust und [96] Mund, gedrückt, sorgfältig bewahrt würde, denn heute bergen die weichen Blumenkelche außer ihrem Dufte noch manches heiße, längstersehnte Geständniß, manches Rendezvous, manch’ andere tiefgeheime Verheißung. Wie sehnsüchtig blickt die edle, bleiche Sennorita ihrem stolzen Ritter nach und grüßt solange mit wehend weißem Schleier, bis die wallenden Barettfedern an einer Straßenbiegung verschwunden sind.

Nordöstlich von der emporragenden Freiheitsgöttin auf der Plaza Victoria leuchtet eine glänzende Illumination, rauscht eine bacchantische Ballmusik durch die weitoffenen Balconthüren des Teatro Colon. Vor dem Portale drängen und reihen sich dunkle Kutschen mit leuchtenden Laternenaugen. Schimmernde Ballgäste schwanken durch zuschauende Maskengruppen zur Steintreppe und müssen manche schmeichelhafte, manche beißende Kritik anhören. Von hier aus überschwemmt ein kaleidoskopisches Gewühl die mondhelle Plaza. Krähende Pierrots, Harlekins, Sassafrasse, Dulcamaras, Magier, Don Quixotes, Riesen und Zwerge wirbeln gliederzuckend, tarantelwüthig um die Freiheitsgöttin, wie um das goldene Kalb in der Wüste. Weiterhin erregt ein der Vignette des „Punch“ entsprechender Compadrito mit safranrothem, spitzem Frack und falschem Buckel durch burleske Einfälle, Prisennehmen und Niesen ein brausendes Beifallsgelächter. Phantastisch uniformirte Züge der „Comparsas“ marschiren wohlgeordnet mit Sang und Klang die Straßen entlang und bringen befreundeten Familien Serenaden.

Der Mond leuchtete weich und voll über die letzte Carnevalsnacht. Langmäntlige „Serenos“ (Nachtwächter) mit Lampen und Blendlaternen fangen bereits die Verkündigung der zwölften Stunde und verloren sich dann in die tiefen Schatten an den Häusern. Flüchtig leichte Tritte, seidenes Rauschen dicht hinter mir machte mich aufmerksam. Eine hohe verschleierte Gestalt schwebte an mich heran, schob ihren zitternden Arm unter den meinigen und flüsterte fast athemlos. „Caballero, retten Sie, schützen Sie mich! Ich werde verfolgt!“

Ein wunderschönes bleiches Antlitz blickte mich unter dem emporgehobenen schwarzen Schleier mit oceandunklen Augen so ängstlich bittend an, daß an eine Weigerung nicht zu denken war.

„Woher kommen Sie?“ fragte ich.

„Vom Ball!“

„Wer verfolgt Sie?“

„Mein Mann!“

„Warum?“

„Er will mich tödten!“

„Wohin wollen Sie?“

„Zu meinen Eltern!“

„Nach welcher Straße?“

„Der Calle de las Piedras!“

Mit bebender Scheu wandte sie sich um, – sie zitterte heftiger; – auch mir war es, als ob in der Entfernung von etwa zwanzig Schritt eine Gestalt uns eilig folgte, schnell lenkte ich um die nächste Ecke, – eine uns entgegenkommende leere Kutsche wurde hastig von mir beansprucht, – wir stiegen ein, – der Wagen wendete um, da bog in wildem Lauf gleichfalls eine Gestalt um die Ecke, – die Pferde zogen an, – ein Schuß krachte hinter uns, und wie rasend stürmten die scheugewordenen Pferde mit uns von dannen.

Nach zehn Minuten langten wir an und stiegen aus. Noch war Licht im Hause; sie pochte an’s Fenster. „Wer ist da?“ fragte eine Stimme von innen. „Ich bin es, Euere Mercedes! Schnell, schnell, macht auf!“

Ein Negermädchen mit einer flackernden Kerze in der Hand öffnete.

Mit innigem Blick schaute Mercedes mich an und lispelte: „Gott lohn’ es Ihnen.“ Sie reichte mir die schmale kleine Hand und – die Thür schloß sich.

Auf der Schwelle schimmerte eine blutrothe Busenschleife. Ich hatte sie bei ihr gesehen, darum hob ich sie auf und steckte sie sorgfältig in die Brusttasche meines Rockes. „Adios, Du reizende, unglückliche Mercedes!“

Zu aufgeregt, um mich nach Hause zu begeben, lenkte ich meine Schritte hinab zur Landungsbrücke, die auf hohen Pfeilern weit in den Hafen hineinragt. Die dunklen Umrisse der Stadt verschwammen beim Dämmerlicht des Mondes in ferne, traumhaft graue Nebel.

Es schlug Eins! Die La-Platawellen rauschten stärker und warfen mondbeglänzte Schaumrosen an das Ufer und im Norden verschwand eine leuchtende Sternschnuppe in den tiefen Nebeln.

Der Carneval war vorüber. Ein blauer, sonniger, festmüder Aschermittwoch blickte durch die offenen Thüren und Fenster meiner Wohnung.

Da trat vom Markte heimkehrend, einen runden Korb mit Gemüse auf dem Kopfe, die junge, schlanke Mulattin Incarnacion in den Hofraum. Ohne den gefüllten Korb abzusetzen, beide Arme auf die Hüften gestemmt, erzählte sie heftig aufgeregt und mit Ausrufungen des tiefsten Mitgefühls, vor einer Stunde sei ein junges, schönes Weib von ihrem eifersüchtigen Manne in der Calle de las Piedras meuchlings erstochen worden, gerade als sie aus dem Hause ihrer Eltern nach dem Kloster San Juan zur Messe gehen wollte. O Mercedes, Mercedes!

Buenos-Ayres, im August 1868. Ferdinand Böhm.