Textdaten
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Autor: Dr. med. O. M.
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Titel: Die Asyle für Geisteskranke
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 31, S. 494-495
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[494] Die Asyle für Geisteskranke. In allen cultivirten Ländern hat die Humanität, vorzugsweise im Laufe der letzten Jahrzehnde, zahlreiche Heil- und Bewahranstalten für Kranke und Unglückliche in das Leben gerufen, die durch ihr segensreiches Wirken unserm Zeitalter zur Zierde gereichen und beweisen, daß auf gleiche Weise mit dem geistigen Fortschritte auch der humane gefördert ist. Neben den stolzen der Wissenschaft und Kunst gewidmeten Gebäuden hat sich auch die Humanität ihre Tempel gebaut, und der Schutz und die Pflege von Waisen, Blinden, Taubstummen etc. ist in der Gegenwart ein wichtiger Gegenstand der Fürsorge von Behörden und Vereinen geworden.

Vorzugsweise jedoch haben die humanen Bestrebungen der Neuzeit sich einer Classe von Leidenden angenommen, die noch vor Kurzem meist unter den allertraurigsten Verhältnissen ihr unglückliches Loos zu tragen gezwungen waren, der Geisteskranken. – Gerade diese, die Hülfsbedürftigsten aller Kranken, sind am längsten vernachlässigt und waren, anstatt zur Hülfe und zum Mitgefühl bei Andern anzuregen, Gegenstand des Spottes und des Abscheues. Man hätte doch denken sollen, daß die Mutter, welche der Verlust eines geliebten Kindes schwermüthig gemacht, daß der Mann, welchen übermäßige geistige Anstrengung des klaren Denkens beraubt halte, kurz, daß alle diese Kranken von jeher Gegenstand allseitiger Theilnahme hätten sein müssen. Es ist nicht so gewesen; man hat in dem Geisteskranken nicht den Kranken, sondern eher einen Verbrecher gesehen, man hat, befangen von abenteuerlichen Vorurtheilen, sie in abscheulichen Räumen verkommen lassen und, anstatt sie durch ärztliche Hülfe zu heilen und zu pflegen, durch strafende Strenge und schlechte Behandlung zum Aeußersten getrieben.

Erst in der Neuzeit ist es in dieser Beziehung besser geworden; gewissermaßen, als ob man das Versäumte wieder hätte gut machen wollen, sind in fast allen deutschen Landen zahlreiche Asyle für diese Kranken entstanden, die, zum Theil mit wahrhaft fürstlicher Pracht ausgestattet, ihnen ein Unterkommen bieten, wo sie, entfernt von dem Leben und Treiben der Welt, entzogen dem Spotte des Unverstandes, ihrer Gesundheit leben können, die viele von ihnen wieder erlangen und an ihren Beruf in den Kreis ihrer Familie zurückkehren, oder wo sie, wenn eine Heilung nicht mehr möglich ist, in Ruhe und im Genusse der möglichsten Freiheit ihre Tage beschließen.

Zwar entsprechen noch bei Weitem nicht alle Anstalten den Anforderungen, welche man an sie stellen kann, doch mehr und mehr bemühen sich die guten Anstalten, das zu werden, was sie sein sollen, wirkliche Asyle für diese Kranken, in welchen sie neben Pflege und freundlicher [495] Theilnahme eine für ihre Krankheit zweckmäßige ärztliche Behandlung finden, in welchen sie die möglichste Freiheit genießen, in welchen sie es fühlen, daß freundliche Menschenliebe es gut mit ihnen meint, in welchen sie, soweit es geht, gern sein können und an welche sie nach ihrem Austritte dankbare Anhänglichkeit fesselt. Damit ein solches Ziel erreicht werden kann, ist es Pflicht, weitere Kreise darüber zu belehren, was eine gut eingerichtete Irrenanstalt ist, damit allgemeines Vertrauen die Bemühungen der Aerzte unterstützt und man nicht mehr wähnt, daß Zwang und Strafen den Kranken in der Anstalt erwarten.

Es verlangt die Behandlung der Geistes- und Gemüthsstörungen, da sie sich meist sehr allmählich im Laufe von Monaten und Jahren entwickeln, ganz besonders günstige Bedingungen, wenn es der ärztlichen Kunst gelingen soll, ihrer Herr zu werden. Der Kranke muß aus seinen häuslichen Verhältnissen, in denen er immer wieder neue Nahrung für seine krankhaften Empfindungen und Vorstellungen sucht und findet, längere Zeit entfernt bleiben, die Kräfte seines Nervensystems müssen mit allen Mitteln der ärztlichen Kunst und Diätetik gehoben werden, wenn auch das geistige Leben sich wieder ordnen und regeln soll.

Die zur wirksamen Durchführung aller nothwendigen Anforderungen eingerichteten Anstalten enthalten deshalb Alles, was zur Cur und Pflege der in ihnen befindlichen Kranken erforderlich ist; es ist aus diesem Grunde die oberste Leitung in den Händen des Arztes. Freundliche, helle, gut gelüftete Krankenzimmer treten in ihnen an die Stelle der feuchten und abschreckenden Räume der alten Aufbewahrungshäuser; man erlaubt den Kranken möglichst den Genuß der freien Natur, man verschafft ihnen jegliche ihrem Stande und ihrer früheren Lebensweise entsprechende Annehmlichkeiten. Aufmerksame, ihres Dienstes kundige Wärter beaufsichtigen die Kranken, die, sobald ihr Zustand es erlaubt, zum Theil mit leichten ländlichen Arbeiten, zum Theil in den Werkstätten beschäftigt werden, während die Kranken der höheren Stände durch Gymnastik, Promenaden, Musik, Lectüre, Billard sich Bewegung oder Ableitung von ihrer krankhaften Geistesrichtung verschaffen müssen.

An die Stelle des Zwanges und der Strenge, mit der man früher die Kranken beherrschen zu müssen glaubte, trat mehr und mehr möglichste Schonung und freundliche Theilnahme. Aus den guten Anstalten sind fast alle Zwangsmittel verbannt, die ärztliche Kunst sucht durch innerliche Mittel, durch stundenlang fortgesetzte warme Bäder in Fällen großer Aufregung zu beruhigen, in einem verdunkelten Zimmer den Lichtreiz und jede von außen kommende Erregung abzuhalten, und die dann noch nöthigen Zwangsmittel beschränken sich darauf, den Kranken vor sich selbst oder seine nächste Umgebung vor ihm zu schützen. Im Allgemeinen nimmt unter einer solchen Behandlung die ganze Krankheit einen bei Weitem milderen Verlauf an, die Anstalten der Neuzeit kennen kaum noch die Schreckensgestalten früherer Zeit, und selbst unter Hunderten von solchen Kranken giebt es immer nur einzelne, die andauernd lärmen oder toben.

Der Leser wird ans dem eben Gesagten sich eine ohngefähre Vorstellung von der gegenwärtigen ärztlichen Behandlung solcher Krankheiten gebildet haben; sie ist im Wesentlichen eine körperlich stärkende, und mit der beginnenden Genesung eine geistig ableitende und anregende. Durch die erstere wird der Kranke für die letztere empfänglich gemacht, und mit der wiedergewonnenen Selbstbeherrschung tritt auch eine weitere Zugänglichkeit für die Rathschläge des Arztes und die Trostgründe der Angehörigen ein. Der Kranke kehrt allmählich zu sich zurück oder erwacht wie aus einem Traume, mit dem sein ganzer Zustand die größte Aehnlichkeit bat, um allmählich dann völlig zu genesen. Zur Befestigung der Gesundheit ist dann meist noch ein einige Monate dauernder Aufenthalt in der Anstalt nöthig, während dessen dem Kranken Gelegenheit geboten werden muß, sich wieder an den Verkehr mit Gesunden zu gewöhnen, um allmählich wieder in das Leben eingeführt werden zu können.

Trotz zahlreicher Heilungen von Kranken trifft man noch recht häufig die Meinung ausgesprochen, daß Geistesstörungen im Allgemeinen der ärztlichen Hülfe unzugänglich und unheilbar seien. Es ist dieses durchaus nicht der Fall, da zeitige, zweckmäßige ärztliche Hülfe in Asylen für solche Kranke in mehr als der Hälfte aller frischen Erkrankungen Genesung herbeiführt. Mit der längeren Dauer der Krankheit nimmt hingegen die Aussicht auf Heilung sehr schnell ab, so daß, wenn die Krankheit bereits Jahre gedauert hat, es nur selten noch gelingt, dieselbe zu heilen. – Es wurden, um ein Beispiel in Betreff der Resultate der Behandlung anzuführen, von 1039 während der vier Jahre von 1856 - 60 in die Heilanstalt zu Illenau aufgenommenen Kranken 437 geheilt; es konnten 252 als gebessert zu den Angehörigen zurückkehren, 121 Kranke starben, und 191 mußten als ungeheilt in die Pflegeanstalt übergeben werden.

Derartige Resultate dürften lohnend genug erscheinen, um die Bemühungen der Humanität für die Geistesgestörten zu rechtfertigen und die kostspielige Einrichtung besonderer der Behandlung und Pflege dieser Kranken gewidmeter Anstalten zu motiviren. Für ihr segensreiches Gedeihen besonders wichtig ist es aber, daß über den Zweck und die Einrichtung der Asyle für Geisteskranke sich weitere Kreise ein richtigen Urtheil bilden, daß man in ihnen nicht mehr mittelalterliche Tollhäuser, sondern gut eingerichtete Krankenanstalten erblicke, aus denen alljährlich in Deutschland allein viele Tausende unglücklicher kranker Menschen genesen zu den Ihrigen zurückkehren.

Geistesstörungen sind nicht etwa ganz besondere oder gar unheilbare Krankheiten; sie sind Nerven-Hirnkrankheiten, die allerdings mehr, als manche andere, Schonung und aufmerksame Behandlung erheischen. Wie der körperliche Gesundheitszustand, so zeigt auch das geistige Leben seine täglichen Schwankungen zwischen Kraft und Ermüdung und kann durch ungünstige geistige Einflüsse dauernd gehemmt und gestört werden. Ein solcher Kranker ist deshalb kein anderer, als jeder Nervenkranke; er trägt ebenso wenig Schuld an seinem Leiden, wie dieser, und selbst der gesündeste Mensch kann ebenso wie körperlich so auch geistig erkranken, wenn die Bedingungen zur Entwickelung einer geistigen Störung vorhanden sind. – Zur Heilung der Geisteskrankheiten ist aber, nochmals sei es gesagt, die sofortige Entfernung des Kranken aus seiner Umgebung und der Aufenthalt desselben in einer guten Irrenanstalt durchaus unentbehrlich.

Dr. med. O. M.