Deutsche Musik – Made in Germany

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Autor: Paul Bekker
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Titel: Deutsche Musik – Made in Germany
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aus: Pariser Tageblatt, Jg. 2. 1934, Nr. 160 (21.05.1934), S. 4
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Erscheinungsdatum: 1934
Verlag: Pariser Tageblatt
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Erscheinungsort: Paris
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Deutsche Musik – Made in Germany


In der – heut nur noch sogenannten – deutschen Musikkritik (sie ist naturgemäss ebenso versklavt wie die gesamte Presse) begegnet man neuerdings dauernd der Unterscheidung von „deutscher“ und „nicht-“ oder „undeutscher“ Musik. Damit ist nicht etwa Musik ausländischer Herkunft gemeint. Die Bezeichnung zielt auf gewisse Stileigenschaften inländischer Kompositionen. Man fragt: woran eigentlich erkennt der Kritiker die „Undeutschheit“ einer Musik? Was ist deutsche Musik?

Höhepunkt des deutschen musikalischen Schaffens war unstreitig das 18. Jahrhundert. Bach, Händel,[1] Gluck, Haydn, Mozart, Beethoven sind Erscheinungen von noch heute kaum recht erfassbarem Format. Sämtlich rein deutsche Naturen, repräsentieren sie dieses Deutschtum in reichster Mannigfaltigkeit der Charaktere. Was deutscher Geist in der Musik zu schaffen vermag, ist hier zusammengefasst. Dieser Kreis kann kaum jemals wieder ähnlich erfüllt, niemals überschritten werden.

Das 19. Jahrhundert hat in Richard Wagner noch einen deutschen Musiker von weltgeschichtlicher Bedeutung hervorgebracht. Wir wissen recht gut, wer Wagner war. Der Region jener erhabenen Geister aber bleibt er fern. „Sie sind die Götter, wir sind die Menschen“, hat Brahms einmal gesagt. Das Wort kennzeichnet den geistigen Abstand aller deutschen Musiker des 19. von denen des 18. Jahrhunderts.

Von diesen grössten deutschen Musikern dachte keiner daran, sein Deutschtum bekenntnismässig hervorzuheben. Bach interessierte sich trotz seiner Amtstätigkeit als Kantor und Organist lebhaft für die zeitgenössische italienische und französische Musik. So wenig er als Protestant Bedenken trug, zur Erlangung eines Titels für den katholischen Dresdner Hof eine Messe zu schreiben, so wenig hätte es ihm ausgemacht, fremdsprachige weltliche Werke zu schaffen. Gluck schrieb italienische und französische, Händel und Mozart schrieben italienische Opern, Händel und Haydn dazu englische Oratorien. Mozart protestierte wohl gegen ungerechte Unterdrückung des Deutschen, keineswegs gegen das Fremdländische. Es ist der ernsteste Freimaurertyp der deutschen Musiker. Ueber Beethovens nur der Menschheit zugewandte, durch die Gedankenwelt der grossen Revolution wie durch die Ideen Kants bestimmte Gesinnung erübrigt sich jede Diskussion. „Der gestirnte Himmel über uns, das moralische Gesetz in uns – Kant!“ schrieb er in sein Tagebuch.

Aus dieser absoluten Freiheit der schöpferischen Persönlichkeit erwuchs jene Musik, die den Begriff des deutschen Genius für alle Völker und Zeiten festgestellt hat. Sie vollbringt ihre grössten Leistungen da, wo keinerlei Hemmungen nationalistischer oder religiös konfessioneller Art bestehen, wo nur der Mensch als Mensch gilt. Der deutsche Genius ist universal. Er bedarf der Universalität, um Genius werden zu können.

Das ist nicht bei allen Völkern so. Dem Italiener etwa, auch dem Franzosen tut ein nationaler Einschlag gut und gibt ihm schärfere Bestimmtheit. Den Deutschen verengt er. Sein Geist bedarf der ungemessenen Weite, um sich in voller Kraft ausspannen zu können. Nimmt man sie ihm, so nimmt man ihm damit seinen stärksten Antrieb. Jede Zurückdrängung nationalistischen Denkens innerhalb der Weltgemeinschaft wird deutschen Geist und deutsche Musik nach vorn bringen. Jede anders gerichtete Bewegung wird sie schädigen, wobei die Grade der Schädigung den Graden nationalistischer Erhitzung entsprechen.

Es handelt sich also nicht um eine rein innerdeutsche, sondern um eine zum mindesten europäische Angelegenheit, für die unsere deutsche Musik sozusagen den Barometerstand bezeichnet. Es betrifft daher nicht nur das heutige Deutschland, sondern die ganze Welt, wenn man erkennt, dass dieser Barometerstand kaum je so tief gewesen ist, wie heut. Was deutsch sein im höchsten Sinne der Kunst bedeutet, haben die grossen Musiker des 18. Jahrhunderts in die Sterne geschrieben für alle Zeiten. Sie haben damit nicht etwa gesagt, dass ihre Kompositionsregeln unumstösslich seien. Aber sie haben festgestellt, welcher Geisteshaltung Musik deutschen Ursprunges zur vollkommenen Entfaltung aller ihr eingeschlossenen[2] Kräfte bedarf.

Dieses Vermächtnis wird von den gegenwärtigen Managern der deutschen Musik als ungültig erklärt. Der universell gerichtete, undogmatisch freimaurerische, liberalistisch demokratische Grundwille deutschen Wesens gilt ihnen als minderwertig. Fragen wir ohne jedes Ressentiment: was haben sie dagegen zu setzen? Wie eigentlich ist die Musik beschaffen, die jetzt als deutsch gilt? Sie muss doch ausser Geburts- und Ahnenschein ihres Urhebers irgendwelche objektiv nachweisbaren Eigenschaften haben, die eben „deutsch“ sind, wie andere „undeutsch“.

Versucht man, diese Eigenschaften rein sachlich fachlich zu ermitteln, so stösst man zunächst auf die Grundforderung nach rechtwinklig gebauter Harmonik, wie sie das musikalische Produkt der sonst so verfemten Aufklärungszeit ist.

Wagner vor allem, aber auch die Franzosen und Russen des 19. Jahrhunderts haben an ihrer Auflockerung gearbeitet, ihrer typisch rationalistischen Haltung nach ist sie das Gegenteil der heut amtlich proklamierten Tendenzen. Ihr soll als „deutsche Melodie“ jene Art Plattheit der Linie entsprechen, wie man sie in Reinkultur in der österreichisch-ungarischen Operette trifft. Ergo: man möchte um jeden Preis „volkstümlich“ sein. Dabei zeigt sich in der Musik die gleiche Missdeutung des Begriffes „Volkstümlichkeit“, wie im „Gedankengut“ des Nationalsozialismus überhaupt: Volk als Herdenvieh. Die Tempelhoferfeld-Psychose, der Massenhaftigkeitswahn soll ästhetische Masstäbe geben.

Kinderstuben-Harmonik und Vogelwiesen-Melodik sind die Kennzeichen neuer „deutscher“ Musik. Das ist der Reingehalt jener Urteile, die für die heutige deutsche Musikkritik bezeichnend sind. Beweise einer, dass diese Feststellung falsch ist, aber nicht mit Gefühlsschleimereien von Landschaft und deutschem Herzen, sondern mit musikalischen Tatsachen. Wird ein neuer Hindemith aufgeführt, so suchen sie alle mit possierlicher Emsigkeit die gewonnene „Vereinfachung“ festzustellen. Durch solchen Dreh glauben sie, etwas Gutes sagen zu dürfen. O diese Schäker! Wissen sie nicht um den Unterschied zwischen Einfachheit der Reife und Einfachheit der Gosse?

Die heut in Deutschland gepredigte Volksmässigkeit ist in Wahrheit Artistik übelster Art, Artistik des Nichtkönnens, des schlechten Dilettantismus. Das ist nicht anders möglich bei einer Geistesverfassung, die als Grundlage aller Wissenschaften und Künste ein politisches Massendogma nimmt und glaubt, hieraus die Gesetze jedes Einzelgebietes ableiten zu können – tragische Verkennung der wahrhaften und tiefen Verbundenheit menschlicher Lebensäusserungen. Auf die Musik angewendet: was hier als deutsche Musik fabriziert wird, hat mit Musik ebenso wenig zu tun, wie mit jenem Deutsch, das der Welt durch die grossen Deutschen erkennbar gemacht wurde. Es ist „Made in Germany“-Musik und gehört zu jenem geistigen Abhub Göbbelscher Herkunft, der nicht einmal als Kulturdünger wieder verwertbar sein wird.




Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Haendel
  2. Vorlage: eingschlossenen