Deutsche Elemente in Paris

Textdaten
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Autor: Marie Calm
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Titel: Deutsche Elemente in Paris
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aus: Die Gartenlaube, Heft 48, S. 851
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Deutsche Elemente in Paris.

Von Marie Calm.

Sie wollen nach Paris gehen?“ fragte mich ein Herr, als ich ihm meine Absicht, die französische Metropole zu besuchen, mittheilte. „Nach Paris, wo man jeden Fremden, der sich die Stadt ansieht, für einen verkleideten Officier und jeden Deutschen für einen Spion hält?!“

Ich lachte. „Für einen verkleideten Officier wird man mich wohl nicht halten,“ erwiderte ich, „und außerdem gilt der Deutschenhaß und die Deutschenverfolgung wohl mehr der Nation, als dem einzelnen, und besonders der einzelnen Deutschen. So hoffe ich unbehelligt durchzukommen.“

In der That sind die Franzosen immer noch, auch für uns Deutsche, ein höfliches Volk – das heißt, so lange man nicht auf den Krieg und was damit zusammenhängt, zu sprechen kommt.

Daß aber trotz der Höflichkeit die Deutschen in Paris ungern gesehen und gelegentlich verfolgt werden, ist bekannt; gerade diese Verfolgung hat jedoch das deutsche Element dort gekräftigt, hat den dort lebenden Deutschen das Gefühl ihres Deutschthums, ihrer Zusammengehörigkeit erst recht gegeben. Das zeigt sich in den einzelnen Familien wie in den von Deutschen ins Leben gerufenen Anstalten. Durch die Güte des Herrn Pastor von Seydlitz, des Geistlichen der deutschen Gemeinde in La Villette, erhielt ich Zutritt zu einer Anzahl von Familien; überall begrüßten mich nicht nur die Eltern, die oft nach dreißigjährigem Aufenthalt dort noch nicht französisch sprechen, sondern auch die Kinder in deutscher, nicht mit französischen Brocken untermischter Sprache; überall hörte ich die Hoffnung aussprechen, über kurz oder lang in die alte Heimat zurückkehren zu können, und nicht in der Fremde sterben zu müssen!

Das „Heim“ für deutsche Erzieherinnen und Dienstmädchen in Paris.

Was die Anstalten für Deutsche betrifft, so sind dieselben nicht zahlreich. Die Gemeinde ist arm, zum großen Theil auf die Mittel angewiesen, welche ihr vom Heimatlande aus zufließen. Deßhalb besitzt Paris auch nur eine deutsche Kirche (London hat deren sechs aufzuweisen!); der deutsche Gottesdienst wird meistens in französischen Kirchen abgehalten, die man zu dem Zweck für einige Stunden gemiethet hat. Jene eine Kirche aber, in dem Quartier La Villette auf einem mit Bäumen bestandenen Hügel gelegen, weßhalb sie allgemein „die Hügelkirche“ genannt wird, macht durch ihre versteckte Lage gleich den Eindruck, daß die Deutschen sich in Paris nicht breit machen dürfen. Verwundert las ich an einem kleinen Thor inmitten einer kahlen Mauer die mir angegebene Nummer, durchschritt dann einen langen, ziemlich wüsten Hof und erblickte nun erst das hinter den Bäumen verborgene, in leichtem Schweizerstile aufgeführte Gebäude, das indessen durch die beiden Thürmchen einen kirchlichen Charakter erhält. Nur der vordere Theil desselben ist dem Gottesdienst gewidmet; die übrigen Räume dienen der Schule, während die Wohnung des Pfarrers sich in einem Häuschen daneben befindet.

Es berührte mich eigenthümlich, als mir, da ich in Begleitung des Herrn Pastor Frisius an einem Wochentage mich dem Hause näherte, von dem eingefriedeten, mit Bäumen bestandenen Raum vor demselben ein deutsches Kinderlied entgegen schallte. Eine Schar von wohl dreißig Kindern, Knaben und Mädchen von vier bis sieben Jahren, tummelte sich dort unter der Aufsicht einer Kindergärtnerin, und alle die Kleinen eilten beim Anblick des beliebten Geistlichen auf uns zu, mit freundlichem „Tag!“ uns die Händchen zu reichen. Zu meinem Bedauern muß ich gestehen, daß diese Händchen meist recht schmutzig waren, wie auch die Kinder in der Schule zum großen Theil unsauber, blaß und kränklich aussahen. Besonders scheinen Augenkrankheiten unter diesen armen Kleinen zu herrschen; viele mußten sich des Lesens und Schreibens enthalten. Freilich wundert man sich darüber nicht, wenn man sie in ihren Wohnungen aufsucht. Die Eltern dieser Kinder, meist aus den ärmsten Dörfern von Ober-Hessen und -Bayern ausgewandert, bewohnen der Mehrzahl nach in der trostlosen, langen Rue d’Allemagne und den umliegenden Straßen licht- und lustlose, verräucherte Kammern, die, außer dem Geistlichen und dem Arzt, wohl selten der Fuß eines Meuschen aus den „höheren“ Gesellschaftskreisen betritt. Seit dem Kriege ist das Elend unter diesen Leuten noch größer geworden, da ihr Haupterwerb, das Straßenkehren, für welches sie seit 1840 ein Privilegium hatten, ihnen von der Regierung vielfach entzogen worden ist.

Die Hügelkirche in Paris.

Die Schule in der Hügelkirche ist schon 1858 von dem um die deutsche Gemeinde in Paris so hochverdienten Pastor von Bodelschwingh gegründet worden. In Folge des Krieges geschlossen, wurde sie 1876 wieder eröffnet und zählt jetzt etwa 350 Schüler und Schülerinnen, denn Knaben und Mädchen werden dort gemeinschaftlich von zwei Lehrern und einer Lehrerin unterrichtet. Die Anstalt ist keine Freischule; doch beträgt das Schulgeld nur einen halben Franken für den Monat, und auch dieses nur für die ersten drei Kinder einer Familie; die übrigen sind frei.

Daß die Schule ihren Zweck: deutsche Sprache und die Liebe zum Vaterlande unter den Zöglingen zu pflegen, wirklich erreicht, beweist die Gesinnung der Kinder und das verhältnißmäßig gute Deutsch, das dort gesprochen und geschrieben wird.

Vor sechs Jahren hat Herr Pastor Frisius auch eine Schule für die bemittelten Deutschen eröffnet (Rue Faubourg Poissonnière, dicht bei seiner eignen Wohnung). Ich fand dort in einem hübschen, luftigen Lokal eine Anzahl Knaben und Mädchen, die bis zum zwölften Jahre gemeinsam unterrichtet werden.

Neben dem Gründer der Anstalt, welcher den Hauptunterricht selbst ertheilt, unterrichten dort noch zwei Elsässer Danmn und eine Engländerin. Die Zahl der Zöglinge war allerdings sehr klein, da bei der vorgeschrittenen Jahreszeit – Anfang Juni – viele Familien schon auf das Land gezogen waren; auch ist ein zahlreicher Besuch [846] wohl kaum zu erwarten, da, während die armen deutschen Familien sich fast ausschließlich auf das Quartier La Villette koncentriren, die wohlhabenden über die ganze ungeheure Stadt zerstreut sind, und es oft unmöglich ist, die Kinder so weit zur Schule zu schicken.

„Wir haben nämlich,“ erklärte mir eine der Lehrerinnen, „noch keinen Wagen, der, wie das bei anderen Instituten der Fall, die Kinder von Hause abholt und Abends – das Frühstück mitten am Tage wird in der Schule eingenommen – zurückbringt.“

Vielleicht ist das ziemlich hohe Schulgeld: 200 bis 250 Franken für das Jahr, auch Manchem ein Hinderniß.

Die neueste deutsche Anstalt in Paris ist das im Februar dieses Jahres eröffnete und unter dem Protektorat unserer Kronprinzessin stehende „Heim für deutsche Erzieherinnen und Dienstmädchen“. Es war ein heißer Tag, als ich mich vom Louvre aus aufmachte, um nach Batignolles zu fahren. Die Gegend sei etwas abgelegen, hatte man mir gesagt; allein der Omnibus brachte mich in etwa 20 Minuten dorthin, und wie wohl that nach dem Lärm und Gedränge der westlichen Stadt hier die verhältnißmäßige Ruhe und Stille! Da konnte man doch den Straßendamm überschreiten, ohne vorher sein Leben zu versichern, und ganz in der Nähe winkten die grünen Bäume und duftigen Blumenbeete des Parks von Batignolles, zu dem Jedermann freien Eintritt hat. Wie nett, dachte ich, können die Damen des „Heims“ dort während der kühlen Morgenstunden lesen und arbeiten!

Einen wahrhaft anheimelnden Eindruck aber macht das Haus – Ecke der Rue Brochant und Rue Nollet. Ein Ueberbleibsel aus früherer Zeit, wo dieser Stadttheil außerhalb Paris lag und gewissermaßen als Landaufenthalt betrachtet wurde, zeichnet es sich mit seiner mäßigen Höhe, seinem von einem hübschen Gitter eingefaßten und von Ulmen beschatteten Vorhof und seinen grünen, Kühlung verheißenden Jalousien vortheilhaft von den himmelhohen, kahlen, kasernenartigen Gebäuden der Straße ab. Lebhaft konnte ich mir denken, mit welchem Wohlgefühl eine arme abgehetzte, stellensuchende Deutsche, von den heißen, staubigen, lärm- und menschengefüllten Boulevards kommend, diesen schattigen Vorplatz, diese stillen, kühlen, zierlich eingerichteten Zimmer betreten muß, wie freundlich das „Guten Morgen“ des Dienstmädchens, welches uns die Thür öffnete, ihr Ohr berührt, wie sie unter den Genossinnen ihr Herz ausschütten kann und Trost, vielleicht Hilfe erwarten darf. Ja, ein Heim ist es wirklich, mit seiner Sauberkeit und Ordnung, mit seinem Versammlungssaal, den Blumen und deutsche Sprüche schmücken, den behaglichen, netten Schlafzimmern und der treuen Fürsorge seiner Leiterin. In der kurzen Zeit seines Bestehens haben schon über 40 Deutsche von hier aus Stellen gefunden; allerdings mehr Dienstmädchen (Bonnen) als Erzieherinnen. Für diese letzteren, sagte mir die Vorsteherin, seien gute Empfehlungen nützlicher, als das abgelegte Lehrerin-Examen.

Die Lage des Hauses an einer Straßenecke ist sehr günstig für den doppelten Zweck desselben, indem dadurch das Heim für die Dienstmädchen von dem der Erzieherinnen getrennt ist. Natürlich sind auch die Aufnahmebedingungen verschieden. Die Erzieherinnen und Lehrerinnen, die sich durch ihre Papiere ausweisen müssen, haben für Kost und Logis 76 bis 90 Franken monatlich, 22½ bis 25 Franken wöchentlich zu zahlen, je nach den Zimmern; während der Preis für die Dienstmädchen für Wohnung und Kost wöchentlich 10 Franken beträgt, wenn sie ein Bett im Schlafsaal einnehmen, 14 Franken, wenn sie ein kleines Zimmer zu zweit bewohnen. Auch deutsche Damen anderer Stände, welche sich eine Zeitlang in Paris aufzuhalten wünschen, können dort Aufnahme finden gegen ein Kostgeld von 6 Franken für den Tag oder 150 Franken für den Monat.

Seit Kurzem hat eine Elsässerin die Leitung des Heims übernommen, welche, obwohl der deutschen Sprache mächtig, mit den Pensionärinnen des Hauses doch stets französisch spricht und auf Wunsch ihnen auch Unterricht in der Sprache ertheilt. Diese Einrichtung ist gewiß sehr zweckmäßig, da das Erlernen der französischen Sprache meist das Hauptziel der nach Paris gehenden Damen ist, dieselben aber, sobald sie eine Stelle angenommen, dazu nicht immer Gelegenheit finden, da sie dann mit ihren Zöglingen meist deutsch sprechen müssen. In allen diesen Beziehungen wird also die mit so großen Opfern und so vieler Mühe ins Leben gerufene Anstalt ein Segen sein für die deutschen Mädchen, welche das französische Babel aufsuchen, das bisher so Mancher, die sich fremd und schutzlos hineingewagt, den Untergang bereitet hat.

Schließlich möchte ich noch einer deutschen Aufführung gedenken, der ich in Paris beiwohnte. Die Veranstalterin war eine an einen Franzosen verheirathete Deutsche, die seit dem Kriege dort Unterricht in der deutschen Sprache und Litteratur ertheilt. Um den Eltern eine Probe von den Leistungen ihrer zahlreichen Schüler und Schülerinnen zu geben, ließ sie dieselben in einem festlich geschmückten Saal deutsche Dichtungen vortragen, die zum Theil recht hübsch gesprochen, besonders aber gut gespielt wurden. Wirklich reizend war die Aufführung des „Schulmeisters mit dem Alphabet“ (von Julie Thiele), durch 25 kostümirte Kinder dargestellt, deren jedes einen Stand darstellte und demselben entsprechende Verse sprach. Dieser Schulmeister im Sammethabit mit Atlasaufschlägen, in Kniehosen und Schnallenschuhen, mit Allongeperücke und Dreimaster, dieser fünfjährige Amor, dieser allerliebste Bergmann, dieser Conditor mit dem Kuchenkorb auf dem Kopf bis herab zur Winzerin und Zigeunerin: sie alle waren mit einer Zierlichkeit und Eleganz gekleidet, von einer Gewandtheit in ihren Bewegungen und in der Verbeugung, mit der sie an- und abtraten, die man bei unseren Kindern nicht immer finden dürfte. Den Haupteffekt der Aufführung aber bildete der erste Akt aus Kotzebue’s „Kleinstädtern“, durch Knaben und Mädchen von 12 bis 15 Jahren dargestellt; und bewundernswerth wirklich war die Zungenfertigkeit, mit der sie die „Frau Ober-Floß- und Fischmeisterin“, die „Stadt-Accise-Kassaschreiberin“, den „Bau-, Berg- und Weginspektors-Substitut“ hervorsprudelten. Auch hier waren die Kostüme, bei aller Komik, doch immer zierlich und kleidsam und das Spiel fast durchweg gut. Lieb aber war es mir, daß die meisten der anwesenden Papas und Mamas kein Deutsch verstanden: sie möchten sonst die geschilderten antediluvianischen Zustände als die jetzt bei uns herrschenden aufgefaßt und darin Nahrung für ihren Hang, uns lächerlich zu machen, gefunden haben. Es fiel mir auf, daß die Mehrzahl der Zöglinge der sehr beliebten Lehrerin dem männlichen Geschlechte angehörten. „Freilich,“ sagte mir mit blitzenden Augen ein kleiner Bursche, „wir lernen jetzt deutsch – pour notre revanche!“