Textdaten
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Autor: S.
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Titel: Des Kaisers Einzug
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aus: Die Gartenlaube, Heft 16, S. 275–276
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[272]

Der Einzug des Kaisers in Berlin.
Nach der Natur aufgenommen von Prof. E. Döpler.

[275] Des Kaisers Einzug. (Mit Illustration.) Da es nicht Aufgabe unseres Blattes sein kann, von jedem großen Festtage, an welchem der deutsche Kaiser seinen glanzvollen Einzug in Berlin hielt, nachträglich noch eine Schilderung zu geben, wie sie von allen Blättern des In- und Auslandes schon in der eingehendsten Weise gebracht worden ist, so beschränken wir uns darauf, aus dem uns zugleich mit der Illustration des Professor Döpler zugehenden Artikel eines wohlunterrichteten Mitarbeiters nachfolgende wohl auch heute noch interessante Stellen mitzutheilen:

„Nachdem ich schon an zwei Stunden lang mich durch das Wogen und Treiben in den menschenvollen, flaggen- und fahnengeschmückten Straßen und Plätzen gedrängt hatte, fand ich es an der Zeit, unserem eigentlichen Reporterposten, dem am aristokratischen Westende der Stadt, nahe dem sogenannten Geheimrathsviertel gelegenen Potsdamer Bahnhofe, zuzutrachten. Gegen fünf Uhr sollte der den Kaiser heimführende Extrazug dort einlaufen. Zwar schlug es eben erst Zwei, als wir Beiden, Zeichner und Berichterstatter, auf dem Leipziger Platze standen und die hübsche Schiffsflaggengruppe betrachteten, mit welcher der Admiral der deutschen Flotte, Prinz Adalbert von Preußen, sein Palais seemännisch ausgeziert hatte, allein schon wälzt sich vor, neben und hinter uns eine endlose Völkerwanderung der erwähnten Station zu, so daß wir, eingekeilt wie wir sind, selbst zu dem schneckenartigsten Fortkommen nur mit Mühe und und unter energischem Gebrauche unserer Ellenbogen Raum und Luft gewinnen. Der Zutritt zum Bahnhof war zwar im Grunde nur gegen Eintrittskarten möglich; glückliche Geistesgegenwart aber ließ uns auf den Einfall kommen, Fahrbillets nach Potsdam zu lösen, und deren Besitz erwirkte uns wirklich die Erlaubniß, den Perron des Bahnhofs zu betreten.

Dieser selbst ist bekanntlich bis zum Augenblicke blos eine provisorische, barackenähnliche Schöpfung, so lange der großartige Bau, der ihm definitiv bestimmt ist, noch seiner Vollendung entgegensieht, und diesem provisorischen Zustande des Bahnhofs war es denn auch zweifelsohne hauptsächlich zuzuschreiben, daß sein festlicher Aufputz und Ausschmuck etwas dürftig ausfiel. An den Holzpfeilern der dem Schienenstrange zugewandten Einsteighallen hafteten zwar zahlreiche Wappenschilder, flatterten Mengen von Fahnen und Fähnchen, hingen Bänder und Schleifen und Laubgewinde, Alles aber von Papier, Pappe und Kattun, mit Einem Worte, so wenig kaiserlich und kaiserstädtisch wie immer möglich. Von künstlerischer Erfindung und Anordnung der Decoration – oder auch nur von Fülle und Reichthum der Ornamente zeigte sich keine Spur, wie sich überhaupt bei den verschiedenen Berliner Märzfeierlichkeiten in den äußerlichen Festdecorationen ein bedauerlicher Mangel an Geschmack und schöpferischen Gedanken, besonders aber an einheitlicher Organisation bemerklich machte. Bei allen diesen Festivitäten waren Nüchternheit, Monotonie und Ideenarmuth, ein Operiren jedes Einzelnen auf seine eigene Faust und nach seinem eigenen Belieben und Verständniß der vorherrschende Charakter. Nirgends ließ sich ein Zuratheziehen und planmäßiges Zusammenwirken competenter Kräfte, nur selten ein origineller Einfall, ein glücklicher künstlerischer Wurf wahrnehmen: Inspiration und Schwung fehlten fast durchgängig an der Festzier für den Tag, wie in den Beleuchtungsarrangements für die Nacht, bei welchen letzteren man dem Gase die Hauptrolle überlassen hatte und Krone, Adler und Stern in ermüdender Wiederholung zur Schau stellte. Wenn demungeachtet die Illuminationen einen imposanten Eindruck hervorbrachen, so that dies lediglich die Quantität, nicht die Qualität des Gebotenen, die große Stadt mit ihren großen, geraden, breiten Straßen und weiten Plätzen, auf denen die unabsehbaren Lichterlinien zur vollsten Geltung kamen, und vor Allem die ungeheure Menschenfluth, welche, nach Hunderttausenden zu bemessen, in dem Glanzmeer zuschauend auf und nieder wogte.

Stundenlang neben einem Schienenstrange hin und her zu patrouilliren, alle fünf Minuten von einem der Locomotive entströmenden Dampfstrahle angezischt und von den schrillen Signalpfiffen umgellt, bot nichts Plaisirliches, umsoweniger, wenn man gleich Einem, der kein gutes Gewissen hat, nicht recht frank und frei sich umzublicken wagt und sich immer hinter einer bestimmten Demarcationslinie verschanzen zu müssen glaubt. Indessen mancherlei interessante und ergötzliche Beobachtungen und Episoden helfen uns über die vor uns liegende Zeitwüste hinweg. Da erschien zuerst ein Unicum von Menschengestalt. Mit seiner schwarzweißrothen Binde um den Arm und der ditto Schleife am Hute sah dieser Einzige seiner Art wie ein aus der verklungenen Liederfestperiode in die reale Gegenwart verschlagener deutscher Sangesbruder aus, der sich in den fremdartigen Umgebungen nicht recht geheuer fühlt. Der seltsame Einsiedler war ein Probeexemplar der projectirten Bürgerconstabler, vermuthlich das einzige bis jetzt ordonnanzmäßig in’s Feld gerückte Individuum, dem es in seiner Sonderstellung noch sehr unbehaglich und furchtsamlich zu Muthe zu sein schien und der sich in offenbarer Verlegenheit immer nur die abgeschiedensten Winkel des Bahnhofs zum Schauplatze seiner Thätigteit erkor. Nun, das Publicum, vielleicht schon in Vorahnung, daß ihm am nächsten Morgen auf rothen Anschlagzetteln der polizeipräsidentliche Dank für sein „würdiges und tactvolles Verhalten“ am Kaisereinzugstage gespendet werden würde, war brav und harmlos und krümmte dem blöden Sicherheitsfreiwilligen kein Härchen seines hochblonden Bartes.

Währenddem war es in den vorderen Regionen, da, wo das erwartete Reichsoberhaupt zuerst wieder den Fuß auf den angestammten Berliner Sandboden setzen sollte, von Secunde zu Secunde officieller und farbenprächtiger geworden. Vor den breiten Generalsscharlachstreifen und den dicken goldenen und silbernen Achselschnüren, vor den Kreuz- und Sternenfirmamenten über kriegerischen und nicht kriegerischen Herzen, vor den Dreimastern und den altväterisch hohen goldbelasteten Kragen der Minister und Präsidenten, vor den bauschenden Seidenroben und den Kolossalbouquets ihrer Damen konnte man, wenigstens aus unserer respectvollen Entfernung, das Empfangszelt mit seinen neudeutschen Tricoloren und Draperien, seinen Gedenkschildern „Sedan“ und „Paris“, seiner „Borussia“ und „Germania“ und seinem Blumen- und Blätterschmucke kaum noch erkennen.

Bunter und wechselvoller noch gestaltet sich das Bild draußen vor der Station. Drüben in den hohen Häusern der Flotwellstraße haben sich von oben bis unten alle Fenster in Schaulogen verwandelt, die bis in den [276] hintersten Hintergrund ein eleganter Damenflor garnirt, und einzelne vermessene Jünglinge hat der Enthusiasmus bis auf die Dachfirsten und Schornsteine emporgetrieben; auf dem Platze selbst aber möchte auch das winzigste Borsdorfer Aepfelchen Mühe gehabt haben, durch den dichten Menschenwall bis zur Erde hinab zu gelangen. Schon kommen die abholenden Hofequipagen angerollt, Zwei- und Viergespanne, offene Phaëtons und geschlossene Staatswagen; dabei wird in der ungeheuren Festbegrüßung Alles zum Motiv eines neuen Jubelausbruches und jede Kutsche mit schallendem Hurrah empfangen, wenn sie vor der Hand auch Niemanden bringt als den Rosselenker auf dem Bocke und die beiden Lakaien auf dem Trittbrette. Die schönen Goldbraunen vor dem Wagen, der jetzt in den Platz einbiegt, und den Mann darin mit dem tief in den Nacken hinunter geschobenen blanken Reiterhelm – die kennt ringsum Groß und Klein. „Bismarck! Bismarck hoch!“ erbraust es von tausend Stimmen, und wer von den Knaben auf den Bäumen und Zäunen sich solchen Luxus gestatten kann, der schwingt jauchzend seine Mütze. Noch cordialer und ausgelassener wird eine originelle Soldatenfigur begrüßt, die kurz darauf zu Pferde herantrottet, ein hochbetagter Herr in Kürassieruniform mit einem kleinen vertrockneten runzligen Gesichte, in dem ein fadenscheiniger, borstiger Schnurrbart sich wundersam in die Höhe stülpt. Es ist der absonderliche Gönner sowohl als Günstling sämmtlicher Berliner Straßenjugend männlichen und weiblichen Geschlechts, mit Einem Worte, der berühmte Sprachverderber und etwas minder berühmte Feldmarschall Wrangel. Der joviale Greis, welcher vor Monden schon seine Diamanthochzeit gefeiert, der unverwüstliche Sechsundachtziger, der als Freiwilliger mit in den Krieg zu ziehen begehrte, hat es sich wenigstens nicht nehmen lassen, „seinem“ Kaiser nach echter Ritterweise zu Roß in die Reichshauptstadt zu geleiten.

Und „als wollte das Meer noch ein Meer gebären“, so nimmt es kein Ende mit den zuströmenden Volksmassen, und der Pferde- und Wagen-, Jäger- und Lakaienknäuel erscheint unentwirrbar.

„Hören Sie?“ weckte mich mein kunstfertiger Begleiter aus den Betrachtungen, die ich über die möglichen Unglücksfälle anstellte, welche der morgige Polizeibericht gelegentlich des Kaisereinzugs zu melden haben würde.

Ich hörte vorerst nichts als ein dumpfes Grollen wie von fernem Donner, aber ich sah, wie in die bunte Gruppe der Officiellen am Empfangszelte plötzlich Leben und Bewegung kam, und das Durcheinander sich in Reih und Glied aufrollte. Der große, lang’ erwartete Moment nahte, das dumpfe Grollen ließ sich bald als lauter Hurrahruf unterscheiden, welcher sich draußen von Wächterhäuschen zu Wächterhäuschen wie an einer Telegraphenkette fortpflanzte, und schon begannen die Hochs betäubend in unserer Nähe zu erdröhnen, während in langsamen Stößen eine mit Fahnen und Guirlanden geschmückte Locomotive kam und hinter ihr die ebenso umkränzten Waggons erschienen.

„Der Kaiser! Der Kaiser!“ lief es längs der Schiene durch die Versammlung, und alle Hände legten sich an die Helme und Käppis und alle Hüte flogen von den Köpfen, und drüben aus den Fenstern der Straßen wehte ein weißer Wald von grüßenden Tüchern. Er war angelangt in seinem heimathlichen Berlin, „Wilhelm der Kaiser-König“, und da stand sie am Fenster des Salonwagens, die schöne Kriegergestalt mit dem weißen Barte, an der sich zu weiden selbst Johannes Scherr, der feste Republikaner, seinen Augen nicht wehren mag, und blickte mit freundlichem, doch ernstem Gesicht auf die huldigende Menge, die nicht müde wurde in ihrem Freudegeschrei. Und warum sollte er nicht ernst dreinschaun in einem solchen Momente? Welche Gefühle mußten die Brust des Greises bewegen, dem es beschieden war, am Spätabend seiner Tage das Werk zu krönen, zu welchem Friedrich Wilhelm von Brandenburg, der große Kurfürst, der einzige echtdeutsche Regent in einer der kläglichsten Perioden unseres Vaterlandes, mit starker Hand den Grund gelegt hatte! „Welche Wendung!“ mußte er sich wiederholen, wenn er jenen Sonntag seines Abschiedes mit der Stunde seiner heutigen Rückkehr verglich und der Ueberfülle von Glorie, aber auch der Ueberfülle von Opfern gedacht, welche dazwischen lagen. Hatte er nicht vollen Grund, mit ernstem Antlitz die Heimath wieder zu begrüßen?

Was nun vor und in dem Empfangssalon vorging, wie eine der Fürstlichkeiten nach der andern dem Waggon entstieg, wie der Kaiser von den heimgebliebenen Seinigen willkommen geheißen wurde, wie ihm zwei kleine Mädchen ein Paar Maiblumensträuße überreichten, wie er seine Enkel herzte, die Kinder des Kronprinzen, wie er mit feuchtem Auge die Wittwe seines Bruders umfing, wie er diesem und jenem hohen Officiere und Würdenträger gerührt die Hand drückte, wie er seinen Kanzler mit stummem Danke auf die Wange küßte – von alledem haben Zeichner und Berichterstatter mit eigenen Augen nichts geschaut. Sie brauchen indeß auch nichts davon zu schildern, die Zeitungen haben ja schon genug und übergenug davon erzählt. Wohl aber haben wir Beide gehört, wie der älteste der preußischen Generäle, Papa Wrangel, ein weitschallendes Hoch auf „dem“ deutschen Kaiser ausbrachte, welches nachher das geistige Haupt des neuen Reiches, der nunmehrige Fürst von Bismarck-Schönhausen, mit seiner bis in die fernsten Enden des Bahnhofes dringenden sonoren Stimme wiederholte und das ein schier endloses Echo weckte bis weit auf die Straßen und Canalufer hinaus.

Während alledem aber schritt eine hohe Gestalt, den Mantel fest um die Schultern gezogen, einsam zwischen den Schienen auf und ab, als ginge sie all der Jubel gar nichts an, und schaute so schlicht und harmlos drein, als sei nichts Erhebliches vorgefallen in den letzten großen Monaten. Und die stille Figur, der man ohne den Helm und die Soldatenhülle den Militär kaum angesehen haben würde, war doch der, welcher alle die beispiellosen Siege unserer deutschen Waffen erdacht und angebahnt hatte, – Graf Moltke, der erste Stratege der Neuzeit. Bezeichnend für Art und Sinn des großen Mannes, schien er den Ovationen und Ceremonien drin im Salon aus dem Wege gehen zu wollen.

Doch jetzt hinaus nach dem Platze. Wir kommen eben rechtzeitig, um dicht an der Rampe, wo der Kaiser den Wagen besteigen wird, noch ein enges Plätzchen zu finden. Der leichte, von zwei Rappen gezogene Phaëton, mit dem grünbebuschten Jäger auf dem Bocke neben dem wohlbeleibten Kutscher, saust heran, und im nächsten Augenblicke erscheint der Kaiser an der Thür des Salons, bleibt ein paar Minuten vor dem Wagen stehen, während hinter ihm der blonde Vollbart des Kronprinzen, der Großherzog von Baden, das glattrasirte Gesicht des Prinzen-Admirals, eine Rarität zwischen all den vielen Schnurrbärten, und eine unabsehbare Suite von Officieren und Adjutanten auftauchen, neigt sich grüßend nach allen Seiten auf die begeisterte Volksmenge hinab und nimmt dann neben der Kaiserin im offenen Wagen Platz. Und jetzt bricht von Neuem ein Hurrah los, das Mark und Bein erschüttert, Alles mit fortreißend, weil Jeder fühlt, daß der Jubel in der Größe des Moments seine vollgültige Berechtigung hat und dem innersten Drange des Herzens entquillt.

Soll ich nun beschreiben, wie Carosse um Carosse vorfährt; wie fast bei jeder sich neuer Vivatsturm erhebt; wie das Jauchzen, das Hüteschwenken, das Tücherwehen permanent zu werden drohen, als die wohlbekannten Goldbraunen und der in den Nacken gerückte Kürassierhelm auf dem Haupte des „populärsten Mannes in Europa“ abermals sichtbar werden? Nein – ich meine, des Festjubels ist genug: er hat ja längst in Deutschland seinen Widerhall gefunden; ganz Deutschland hat begriffen, daß der Einzug des ersten Kaisers aus dem Hause der Hohenzollern in die neue Reichshauptstadt in der Mark eine Epoche bezeichnet in der Weltgeschichte.

Welch eine Wendung seit dem Tage von Olmütz und der Schlacht von Bronzell! Möge sie Frieden bedeuten, Freiheit und nationalen Wohlstand!“

S.