Der verhängnißvolle Schatten

Textdaten
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Autor: Ernst Willkomm
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Titel: Der verhängnißvolle Schatten
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 49–52, S. 665–668, 681–684, 693–696, 709–711
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Der verhängnißvolle Schatten.

Nach schriftlichen Mittheilungen von Ernst Willkomm.

I.

Die Familie Hornburg war reich begütert. Außer dem alten Schlosse, das aus der Feudalzeit herstammte, und früher einem jetzt ausgestorbenen Grafengeschlecht gehört hatte, besaß sie noch verschiedene einträgliche Meiereien, große, gut bestandene Waldungen, Eisen- und Kohlenwerke, und endlich eine Reihe von Bretschneidemühlen, deren Anlage der starke Gebirgsfluß mit seinem natürlichen Gefälle überaus begünstigte. Der ältere Hornburg, der in hohem Alter verstarb, hinterließ drei Kinder, zwei Söhne und eine Tochter. Diese und den jüngeren Sohn, Ottwald, hatte ihm seine zweite Frau, eine Dame von altem, aber verarmten Adel, geboren. Der ältere Sohn, Cesar, war der Sprößling seiner ersten Frau, einer Bürgerlichen von großem Vermögen.

Beim Tode des alten Herrn fand sich leider kein Testament vor, und obwohl die Halbgeschwister sich immer, so viel man wußte, gut vertragen hatten bei Lebzeiten des etwas wunderlichen Vaters, trat doch jetzt alsbald eine Spannung ein, die sich mehr und mehr verschlimmerte. Die Geschwister konnten sich über die ihnen zugefallene Erbschaft nicht einigen. Cesar war herrsch- und habsüchtig, und da ihm von seiner früh verstorbenen Mutter ein bedeutendes Vermögen zugefallen, er also an sich schon der Bevorzugtere war, so ließ er jetzt den weniger besitzenden Halbgeschwistern diese seine Überlegenheit in recht unangenehmer Weise fühlen.

Den Besitz des Schlosses, dem der verstorbene Hornburg einen modernen Anbau schon vor seiner zweiten Verheirathung angefügt hatte, machten die jüngeren Geschwister dem Bruder nicht streitig, wohl aber beanspruchten sie, wozu sie jedenfalls berechtigt waren, ein paar der einträglichen Meiereien mit den dazu gehörigen fruchtbaren Feldern, Wiesen und Waldungen. Cesar jedoch behauptete, ihm als dem ältesten Bruder gehörten von Rechtswegen alle Besitzungen des verstorbenen Vaters ohne Ausnahme, und er wäre schon sehr generös und freigebig, wenn er jedem seiner Halbgeschwister außer einer Baarsumme noch eine der am Bergflusse gelegenen Schneidemühlen nebst einigem schlecht cultivirten Ackerland gäbe. Auch dazu könne ihn Niemand zwingen, er wolle es jedoch thun aus geschwisterlicher Liebe und damit man keine Veranlassung habe, ihn habsüchtig zu schelten.

Die jüngeren Geschwister konnten begreiflicher Weise auf diesen Vorschlag nicht eingehen, wenn sie sich nicht selbst enterben wollten. Bitten und Vorstellungen fruchteten indeß bei dem hartnäckigen Cesar eben so wenig, als Drohungen, und so kam es denn schon wenige Monate nach dem Tode des Vaters zwischen den Geschwistern zum unheilbaren Bruch. Ottwald und seine Schwester Cornelie verließen grollend das Schloß, zogen in die nur eine Stunde entfernte Stadt, und übergaben hier ihre Angelegenheiten einem gewandten und anerkannt gewissenhaften Rechtsanwalt.

Es begann nun ein Proceß, der große Summen verschlang und die streitenden Geschwister gewaltig gegen einander erbitterte. Cesar gerieth jedoch bald in Nachtheil, denn obwohl sein Rechtsbeistand ein Mann von seltenem Scharfsinn war, fiel doch schon das erste richterliche Erkenntniß gegen ihn aus. Cesar aber ließ sich dadurch nicht irre machen. Er appellirte und der Proceß erneuerte sich vor der zweiten Instanz. Die jüngeren Geschwister befanden sich in keiner beneidenswerthen Lage. Sie konnten, wenn das Gericht anderer Ansicht war, gänzlich verarmen, und mußten sich noch bedanken, wenn dann der hartherzige und siegreiche Halbbruder ihnen aus Gnade einen dürftigen Jahrgehalt aussetzte.

Es kam indeß anders. Cesar verlor auch in zweiter Instanz den Proceß, ward in sämmtliche Kosten verurtheilt, und angehalten, gewisse liegende Gründe, Waldungen, Feldmarken etc., die genau bezeichnet wurden, seinen jüngeren Geschwistern herauszugeben.

Nach diesem Spruch rieth dem höchlichst ergrimmten Cesar sein Rechtsbeistand, die Streitsache fallen zu lassen, sich zu fügen, und mit den Geschwistern sich zu versöhnen. Er erklärte dem Streitsüchtigen, daß eine abermalige Appellation kein glücklicheres Ende nehmen könne und daß er deshalb auch gar nicht geneigt sei, ihn fernerhin zu vertreten. Cesar Hornburg nahm diese Erklärung sehr mißmuthig auf. Er bat sich Bedenkzeit aus, wandte sich während derselben an verschiedene Rechtsgelehrte, um deren Ansicht zu hören, erhielt aber von Allen fast dieselbe Antwort.

Da beschloß Cesar, sich mit den Geschwistern zu vergleichen, um doch nicht streng dem Ausspruche des Gerichts nachkommen zu müssen. Er schrieb in versöhnendem Tone an Bruder und Schwester, lud sie ein, zu ihm zu kommen, und schloß mit der Versicherung, daß er fortan wieder als Bruder in Freundschaft mit ihnen leben und alles Vorgefallene vergessen wolle.

Ottwald und Cornelie antworteten in gleichem Tone. Sie waren längst des Streites herzlich überdrüssig, und hatten während des Processes genug leiden müssen. Mit freundlichen Worten zeigten sie dem Bruder an, daß sie seiner Einladung ungesäumt folgen würden.

Dieser glücklichen Wendung und unerwarteten Sinnesänderung freuten sich auch die verschiedenen Pachter der Mühlen- und Kohlenwerke, die oft von dem stets verdrießlichen Cesar sehr barsch, [666] ja zuweilen sogar hart behandelt worden waren. Sie beglückwünschten Alle den Schloßherrn, als sie Kunde von seinem Entschlusse erhielten. Cesar ließ dies zwar geschehen, er sah aber gar nicht froh dazu. So recht aus dein Herzen mochte der Schritt, den er zu thun Willens war, doch wohl nicht kommen.

„Mir ist’s dennoch lieb, daß der Streit aufhört,“ sprach Caspar, der gegenwärtige Inhaber des schönen Mühlenwesens, das dem alten Schlosse gerade gegenüber lag, nur getrennt von dem hier felsigen Uferbett, zu seiner Frau. Man konnte aus dem Mühlhause bequem in die Fenster des Schlosses sehen, und einander sogar zurufen. „Wir bekommen jetzt einen andern Herrn, mit dem sich’s gewiß viel leichter umgehen läßt. Herr Ottwald Hornburg war immer sehr leutselig und weitaus nicht so interessirt, wie sein älterer Herr Bruder. Er ist mehr nach dem seligen Herrn Vater geschlagen, der seinen Leuten auch eher etwas schenkte, als abknappte. Erhält also Herr Ottwald oder seine Schwester die Mühle, was kaum zu bezweifeln ist, so bekommen wir bessere Tage, und um die Zukunft brauchen wir uns nicht weiter zu sorgen.“

Cesar Hornburg empfing seine Halbgeschwister mit größter Zuvorkommenheit. Er hatte in der alterthümlichen Halle des alten Schlosses, wo der verstorbene Schloßherr vor Aufführung des mit demselben verbundenen Neubaues stets zu speisen pflegte, ein solennes Festmahl anrichten, und die lebensgroßen Portraits sowohl des Vaters, wie beider ihm vorangegangener Frauen mit Immergrünguirlanden umwinden lassen. Da er nicht verheiratet war, überließ er sowohl die Ausschmückung der Halle wie die Einrichtung der Zimmer für die Geschwister seinen Untergebenen, mit denen er auf keinem vertrauten Fuße stand. Daher liebten diese auch den Schloßherrn nicht. Sie nannten ihn hart und geizig, beschwerten sich über seinen Stolz und bezichtigten ihn der Herzlosigkeit. Veranlassung zu letzterer Behauptung gab wohl die nicht selten an wirkliche Unbarmherzigkeit grenzende harte Behandlung seines Viehes. Indeß konnte dies bei dem reizbaren und zum Jähzorn geneigten Manne auch Folge der düsteren Gemüthsstimmung sein, in die er durch die unglückliche Wendung des begonnenen Processes versetzt worden war.

Die Geschwister, froh, mit dem Bruder wieder in Frieden und Eintracht leben zu können, brachten Cesar ein offenes Herz entgegen. Schon vor ihrer Abreise waren sie mit einander übereingekommen, sich in jeder Hinsicht nachgiebig zu zeigen, und dem Bruder deshalb einige Grundstücke und Waldungen, die ihm besonders lieb waren, zu lassen, obwohl sie dieselben als ihnen zugehörig beanspruchen konnten.

Bei Tafel forderte Cesar die Geschwister mehr denn einmal auf, die Vergangenheit zu vergessen, und künftighin einträchtig zu leben. Die ausgebreiteten Risse und Pläne, auf denen das Areal der umfangreichen Herrschaft mit allen Pertinenzien, welche zum Theil der Vater erst durch Kauf erworben hatte, genau verzeichnet waren, wurden wiederholt betrachtet und geprüft, und die schon bereit gehaltenen Urkunden von sämmtlichen Geschwistern unterzeichnet. Noch ehe der Abend heran kam, war alles rein Geschäftliche beendigt. Ottwald sowohl wie Cornelie verzichteten aus freiem Entschlusse auf ein paar hoch im Gebirge gelegene Meiereien, die Cesar ihrer wunderbar schönen Aussicht wegen sehr liebte. Zwar weigerte sich der Bruder anfangs, das Geschenk der Geschwister anzunehmen, nach einigem Zureden aber fügte er sich deren Willen, und man konnte wohl bemerken, daß er es sehr gern that.

Cornelie verweilte nur einen Tag im Schlosse, dann eilte sie wieder nach der Stadt, wo sie mit ihrem rechten Bruder volle zwei Jahre in ziemlich drückenden Verhältnissen gelebt hatte. Es gab jetzt noch mancherlei zu ordnen, auch mußten Einkäufe gemacht werden, um sich wohnlich in den verödeten Häusern einrichten zu können. Bis dies geschehen war, worüber leicht ein paar Monate vergehen konnten, sollten nach Corneliens Rückkehr die beiden jüngeren Geschwister in den besten Zimmern des alten Schlosses als Cesar’s Gäste wohnen, während der neue Bau dem älteren Bruder und dessen Hausgesinde allein verblieb.

Das Leben der beiden Brüder gestaltete sich nunmehr sehr vertraulich. Es war die Zeit der Ernte, wo es alle Hände voll zu thun gab. Um nun rascher die Einheimsung beschaffen und die Arbeiter besser überwachen zu können, theilten sich die Brüder in die zu beaufsichtigenden Fluren. Gewöhnlich verließen sie schon früh am Morgen zu Pferde das Schloß, blieben während des ganzen Tages abwesend, und kehrten erst nach Sonnenuntergang wieder zurück. Dann arbeiteten sie noch eine Stunde zusammen, und trennten sich erst, wenn sie zur Ruhe gehen wollten, in bestem Einvernehmen.

Gegen das Ende der Ernte verwandte Ottwald seine jetzt nicht mehr sehr in Anspruch genommene Zeit auf die ihm und der Schwester zugefallenen Baulichkeiten. Hier gab es mancherlei Anordnungen zu treffen; auch mußte er Rücksprache mit den Pächtern nehmen, um zu erfahren, ob sein Vortheil ein Fortbestehen des Contractes oder eine Abänderung desselben erheische. Oberhalb der dem Schlosse gegenüber gelegenen Schneidemühle, wo sein Vater ein ganz allerliebstes Jagdhaus im schweizerischen Styl hatte erbauen lassen, wollte Ottwald künftig seine Sommerresidenz aufschlagen. Das Haus lag ihm sehr bequem, weil er alle seine Besitzungen und größtentheils auch die seiner Schwester von der rund um das Haus laufenden Gallerie übersehen konnte. Für den Winter aber blieben getroffener Abrede gemäß sämmtliche Geschwister in dem geräumigen Schlosse.




II.

Beide Brüder waren leidenschaftliche Jäger, und da sie in ihren ausgedehnten Waldungen einen beträchtlichen Wildstand besaßen, konnten sie dem Vergnügen des Waidwerks nach Lust und Belieben nachgehen. Kaum war die Ernte gänzlich eingebracht, so geschah dies auch. Es verging selten ein Tag, wo die im vollkommensten Frieden lebenden Brüder nicht die Büchse ergriffen und sich in den Wald verloren. Gewöhnlich jagten sie gemeinschaftlich, manchmal aber zog es Jeder vor, nur sein eigenes Revier zu beschreiten, dann aber nahm sowohl Ottwald wie Cesar einen Jägerburschen aus der Försterei als Begleiter mit.

Auf solchen getrennten Jagden der Brüder ereignete es sich zweimal, daß mitten im dichtesten Walde eine Kugel hart an Ottwald vorüberpfiff. Nur ein glücklicher Zufall rettete ihm das Leben. Ottwald verheimlichte dem Bruder diese Vorfälle nicht, und äußerte darüber sein Bedenken.

„Es muß ein verwegener Wilddieb sein,“ sagte Cesar entrüstet.

„Aber ich habe doch Niemand im Verdacht,“ versetzte Ottwald. „Wenn ich noch Jemand gesehen oder ihm gedroht hätte!“

„Ich habe es gethan, und zwar schon vor Jahresfrist,“ sagte Cesar. „Wir sind von gleicher Größe und tragen gleiches Jagdcostüm. Die Kugeln haben mir, nicht Dir gegolten! Es soll uns aber eine Warnung sein. Von jetzt an wollen wir das vereinzelte Jagen aufgeben. Wenn wir gemeinschaftlich durch die Wälder pirschen, wird Keiner dieser gewissenlosen Gesellen den Muth haben, auf uns anzulegen. Ich glaube den Frechen zu kennen, aber ich habe keine Beweise in der Hand. Beträfe ich ihn ein einziges Mal auf unsern Revieren, so würde ich ihm ohne Gnade die wohlverdiente Strafe angedeihen lassen. Es ist jedenfalls einer der Grubenarbeiter oben von der Gebirgswiese. Er haßt mich, weil ich ihm grober Fahrlässigkeit wegen im vorjährigen Sommer den Lohn kürzte. Seit der Zeit wilddiebt er.“

Diese Auslassungen Cesar’s beruhigten Ottwald. Die Brüder jagten jetzt wieder gemeinschaftlich, und wirklich passirte den Vereinigten nichts wieder.

Inzwischen ward es sehr herbstlich. Cornelie traf wieder auf einige Tage im Schlosse ein und meldete den Brüdern, daß sie in spätestens vierzehn Tagen zu ihnen zurückkehren und sie dann nicht wieder verlassen werde.

„Da wollen wir vorher noch recht junggesellenmäßig leben, und uns noch einmal tüchtig austoben,“ sagte Cesar. „Unser Nachbar, Baron Uhlendorf, hält in nächster Woche eine große Treibjagd. Schon im vorigen Jahre lud er mich ein, einer solchen beizuwohnen und Theil daran zu nehmen. Ich war damals aber leider unwohl, so daß ich der freundlichen Einladung nicht folgen konnte. Diesmal sind wir ihrer Zwei, beide munter, und zwei flinke Jäger mehr bei solchem Treiben sind immer gern gesehene Gäste. Du bist doch mit von der Partie?“

„Gewiß,“ erwiderte Ottwald heiter. „Und wenn es uns gelingt, einen guten Schuß zu thun, soll es die erste Aufgabe unserer Schwester sein, uns eine Probe ihrer Kochkunst abzulegen.“

Das Treiben dauerte zwei volle Tage. Man erlegte eine Menge Wild, und die Jäger befanden sich in der fröhlichsten Stimmung. [667] Nur das Wetter war unangenehm. Es fiel fortwährend ein feiner Regen, der recht empfindlich ward, und sämmtliche Jäger bis auf die Haut durchnäßte.

Ottwald, der unter die eifrigsten Jäger zählte, mochte sich heftig erkältet haben. Schon auf dem Heimwege fühlte er sich nicht ganz wohl und am andern Morgen erwachte er im vollen Fieber.

Cesar wollte zum Arzte schicken, was jedoch Ottwald nicht zugab.

„Ich medicinire nicht gern,“ sagte er, „auch hat es ja gar keine Gefahr. Wenn ich mich ein paar Tage ruhig im Zimmer halte, geht die Erkältung schnell vorüber. Sorge nur für etwas Lectüre, damit ich mir die Zeit vertreiben kann.“

Diesen Wunsch des Bruders erfüllte Cesar mit größter Bereitwilligkeit. Das Wohnzimmer des Kranken stieß an das Bibliothekzimmer. Es waren die letzten zum alten Schlosse gehörenden Räumlichkeiten, hingen aber mit dem Neubau nur durch einen Corridor zusammen. Als Knaben hatten die Brüder ihre Lectionen in dem Bibliothekzimmer gemeinschaftlich gelernt und der Raum, wo Ottwald gegenwärtig wohnte, war ihr Schlafzimmer gewesen. Ein altes großes Himmelbett mit schweren Vorhängen stand noch jetzt in dem Gemache und diente Ottwald als Ruhestatt. Die Wände bestanden aus Tafelwerk und kunstvollen Holzschnitzereien, deren Betrachtung einem Einsamen wohl einige Zeit Unterhaltung gewähren konnte.

Cesar brachte, so oft seine Zeit es erlaubte, einige Stunden bei dem leidenden Bruder zu. Abends las er ihm gewöhnlich vor. Auch speisten die Brüder gemeinschaftlich im Zimmer des Kranken oder vielmehr Cesar genoß Mittag- und Abendbrod bei dem Bruder. Ottwald selbst fastete größtentheils, da er wirklich heftig litt. Nur zu trinken begehrte er häufig und Cesar bereitete ihm nicht selten mit eigener Hand einen kühlenden Trank.

Inzwischen ward das Wetter stürmisch und rauh. Es regnete ununterbrochen und bald schwoll der Gebirgsfluß zu einem tosenden Strome an, der weiter oben im Gebirge beträchtlichen Schaden anrichtete. Weiter unten im Thale hatten die Mühlenwerke von dem zu starken Wasserzuflusse zu leiden. Einige waren genöthigt, ganz zu feiern, um von den heftig stürzenden Fluthen nicht Alles zerstören zu lassen. Nur da, wo der Bach durch Schleußen und Schützen besser geregelt werden konnte, trat keine Unterbrechung ein. Die von Caspar gepachtete Schneidemühle gegenüber dem Schlosse feierte nicht. Man mußte aber sehr vorsichtig sein und Tag und Nacht ein Auge auf den Zustand des treibenden Baches und auf die Schützen haben, damit diese, je nach der Menge des zuströmenden Wassers, bald mehr gehoben, bald tiefer gestellt werden konnten.

Ottwald’s Befinden besserte sich nicht, und Cesar drang abermals in ihn, doch ärztliche Hülfe zu brauchen.

„Nur noch zwei bis drei Tage lasse mir Zeit,“ versetzte der Kranke. „Ich kenne meine Natur und bin fest überzeugt, daß ich mich nach Ablauf von sieben bis acht Tagen in der Besserung befinde. Es ist nichts, als eine starke Erkältung, die sich auf den Unterleib geworfen hat. Daher meine andauernde Appetitlosigkeit und mein immerwährendes Uebelsein.“

Cesar fügte sich dem Wunsche des Bruders, dessen Aussehen Besorgniß erwecken mußte. Seine Gesichtsfarbe ward fahl, das Auge glanzlos. Die Hände zitterten ihm und ein feuchter Schweiß drang aus allen Poren. Die gestellte Frist verstrich, ohne daß Besserung eintrat. Ottwald war vielmehr so schwach geworden, daß er das Bett nicht mehr verlassen konnte. Cesar blieb meistentheils bei dem Kranken oder gab einem seiner Leute Auftrag, sich auf dem Corridor aufzuhalten, wenn Beschäftigungen ihn abriefen. Ohne weiter zu fragen, schickte Cesar nach dem Ärzte.

Die Kunde von der Erkrankung des jungen Herrn war bereits in die nächste Umgebung des Schlosses gedrungen, und diejenigen, welche Ottwald von jeher lieber gehabt hatten, als den barschen, stolzen und meistentheils verschlossenen Cesar, unterließen nicht, sich täglich nach dem Befinden des Kranken zu erkundigen. Caspar namentlich, der hoch erfreut war, nach Aussöhnung der Geschwister künftighin nur mit Ottwald allein zu thun zu haben, erschien jeden Morgen persönlich im Schlosse, um nachzufragen, wie sein Herr die Nacht zugebracht und wie es ihm jetzt ergehe.

Bald nach Entsendung des Boten schien Ottwalds Befinden sich zu bessern. Er lächelte jetzt über des Bruders Aengstlichkeit und berief sich abermals auf die Kenntniß seiner Natur.

„Morgen bin ich ein ganz anderer Mensch, gib Acht,“ sprach er. „Wollte sich nur der Appetit wieder finden und die häßliche Uebelkeit mich verlassen, so fehlte mir gar nichts mehr. Ich gedenke diese Nacht gut zu schlafen, denn ich fühle mich merkwürdig müde. Darum will ich auch Niemand belästigen. Ihr Alle bedürft ebenfalls der Ruhe, Du namentlich, Cesar. Also laßt mich allein! Sollte ich Jemandes Hülfe bedürftig sein, so läute ich; ich weiß aber im Voraus, daß es nicht nöthig sein wird.“

Cesar wollte den Bruder durch Widerspruch nicht aufregen. Deshalb fügte er sich dem Wunsche des Kranken. Gegen zehn Uhr ließ er ihm noch von seiner Haushälterin Anna ein kühlendes Getränk bereiten, wovon Ottwald jedoch nur wenig genoß. Er gestattete indeß, daß ein zweites volles Glas noch neben sein Bett gestellt werde, damit er auch während der Nacht in jeder Hinsicht mit allem Nöthigen versehen sei. Als auch dies zweite Glas von der Haushälterin Anna gebracht und von Cesar versucht worden war, trieb Ottwald den Bruder fast mit Gewalt fort. Dieser verließ den Kranken nur widerstrebend und betrat nach zehn Uhr nochmals dessen Zimmer. Er fand den Bruder ruhig schlafend und befahl Anna, deren Zimmer dem Wohngemach desselben schräg gegenüber lag, sich möglichst ruhig zu verhalten, damit Ottwald in keiner Weise gestört werde.

Am Abende des Tages, wo der bedenkliche Zustand Ottwald’s die Hülfe eines Arztes zur Pflicht machte, hellte der Himmel sich auf und eine stille sternen- und mondhelle Nacht breitete ihre Fittiche aus über Schloß, Bergwald und Fluß, dessen hochgehende Wellen noch immer Vorsicht nöthig machten.

Caspar, der am liebsten selbst überall nachsah, blieb wach. Er vermuthete ein Fallen des Wassers gegen Mitternacht. Geschah dies, so konnte er die fast zu drei Viertheilen geschlossenen Schützen heben und das Werk rascher arbeiten lassen, ohne zu fürchten, daß die stürzende Welle Schaden anrichten werde. Um sich nicht zu langweilen, griff er zu seinem Reißbret und zeichnete den Entwurf eines Grundrisses. Da er die Fensterladen an seinem Zimmer nicht schloß, um stets das vorüberrauschende Wasser im Auge zu behalten, blieb das gerade gegenüber gelegene Schloß ihm in Sicht. Die weißen Mauern des neuen Gebäudes glänzten im klaren Vollmondschein, als wären sie von Schnee. Dagegen stachen die schwarzen Wände des alten Schlosses grell ab. Nur in den beiden Eckzimmern, die gerade nach dem Mühlenthale sahen und die nach beiden Seiten hin Fenster hatten, flimmerte das Mondlicht so hell, daß sie fast illuminirt erschienen.

„Der arme Herr!“ sagte Caspar, hinüberblickend nach den monderleuchteten Fenstern. „Was ihm nur zugestoßen ist! Morgen laß ich mich nicht abweisen! Ich muß wissen, wie es ihm geht, was ihm fehlt! Unser einer hat manchmal auch einen guten Einfall und weiß mit einem Hausmittel oft mehr auszurichten, als die studirten Doctoren mit all’ ihren künstlich zusammengesetzten Getränken!“

Jetzt schlug es drei Viertel auf Mitternacht. Caspar stellte sein Reißbret bei Seite und verließ das Zimmer, um nach dem Stande des Mühlbaches zu sehen. Wie er den Bach entlang schritt, bemerkte er Licht in einem Zimmer des neuen Schlosses. Dieses Licht bewegte sich von einem Zimmer in’s andere, einen dunkeln Schatten hinter sich werfend. Am Ende des Neubaues verschwand es auf kurze Zeit; dann ward es wieder sichtbar in jenem Eckzimmer, wo sich die Bibliothek befand. Bald aber schimmerte es nur noch sehr schwach und zwar so, als ob es auf die Diele gestellt werde. Darauf deutete auch der ungeheuerliche Schatten hin, der sich gespenstisch am Fenster bewegte. Plötzlich war es, als ob eine breite Wandfläche sich vor das mondbeschienene Fenster des Nebenzimmers stelle. Es war ein dunkler Schatten, der das Fenster ganz verdeckte und jetzt mithin völlig verdunkelte. Dieser feste Schatten blieb geraume Zeit stehen. Endlich trat er wieder zurück, machte dem Mondlicht Platz und verschwand. Es war nicht anders, als ob eine breite Thür sich in ihren Angeln drehe oder als ob Jemand einen Schirm deckend vor das Fenster stelle und dann wieder entferne. Gleich darauf flimmerte das Licht abermals in dem Bibliothekzimmer, verschwand hier schnell und tauchte abermals in der Zimmerreihe des neuen Schlosses auf, durch die es so eilig fortglitt, als werde es von Jemand getragen, der laufend die Räume durchschreite.

Caspar mußte wieder an Ottwald denken. „Am Ende ist [668] er kränker geworden,“ sprach er zu sich, „und man trifft Anstalten, noch jetzt in der Nacht einen Eilboten abzuschicken.“

Da indeß Alles ruhig blieb, auch im Schlosse kein Lichtschimmer sich wieder sehen ließ, ging der Mühlenpachter zurück in sein Zimmer. Hier blieb er noch eine Viertelstunde sitzen, bis der Knappe eintrat. Der junge Mensch hatte seinen Herrn um Erlaubniß gebeten, bis Mitternacht ausbleiben zu dürfen, unter dem Vorgeben, daß er einen Freund in der Nachbarschaft besuchen wolle. Das Aussehen dieses Menschen kam dem Bretmüller wunderlich vor. Er zeigte sich erschrocken, verstört, und da Caspar schon früher bemerkt hatte, daß er etwas furchtsam sei, fragte er scherzweise, ob ihm vielleicht unterwegs ein Geist begegnet wäre.

„Es kann wohl sein, Herr,“ versetzte der Knappe zerstreut, und Caspar empfahl ihm lachend, die zweite Hälfte der Nacht wachsam zu sein und nach Verlauf von drei Stunden die Schützen um noch einige Zolle zu heben, damit die Sägen rascher arbeiten möchten.


III.

Um diese Zeit saß Cesar Hornburg wachend auf seinem Zimmer. Das vor ihm stehende Licht war tief herabgebrannt und dunstete. Vor ihm ausgebreitet lagen Rechnungen, Risse und ein Fascikel Acten. Der Tisch war zum Theil mit Zahlen beschrieben, die Cesar jetzt langsam wieder auslöschte. Er sprach kein Wort während dieser Beschäftigung, sie mußte ihn aber sehr interessiren und für ihn bedeutungsvoll sein, sonst hätte sein Auge nicht so hell funkeln können.

Jetzt stand er auf, zerriß die Rechnungen und warf die einzelnen Stücke in den Ofen. Das Actenbündel nebst den Rissen verschloß er in einem Schranke. Dann blickte er aus der Thür und lauschte. Da Alles still blieb, zog er sich wieder zurück, schnäuzte das Licht und stellte sich damit vor den Spiegel. Es ist thöricht, sich des Nachts mit einem brennenden Lichte im Spiegel zu besehen. Der blühendste Mensch sieht dann bleich, geisterhaft oder kränklich aus. Auch Cesars Bild hatte nichts Anziehendes. Der Schloßherr erschrak vor sich selbst und beinahe hätte er das Licht fallen lassen.

Cesar sah aber gar nicht krank aus, er bildete es sich nur ein. Das Licht und das weiße Spiegelglas neckten den blühenden, von Gesundheit strotzenden Mann mit fahler Todtenmaske. Zwei Mal noch sah er aus der Thür und horchte. Endlich ging er zu Bett, ohne jedoch den Schlaf zu finden, den er so heiß ersehnte.


IV.

Am nächsten Morgen erhielt Anna von ihrem Herrn den Auftrag, nachzusehen, ob sein Bruder noch schlafe. Die junge Haushälterin war über die Maßen erstaunt, den Schloßherrn so freundlich zu finden. Sie öffnete behutsam das Zimmer des Kranken, warf einen Blick auf das Bett und kehrte mit der Meldung zurück, der junge Herr schlafe so sanft, daß man ihn nicht einmal athmen höre.

„Die Natur hilft sich selbst, er wird genesen,“ versetzte Cesar. „Störe ihn Keiner, bis er die Glocke zieht!“

Cesar ließ sich sein Reitpferd satteln und ritt aus. Er wollte, da sich der Bruder offenbar in der Besserung befand, nöthige Geschäfte besorgen. Erst gegen Mittag durfte man seine Rückkehr erwarten. Die Mittagsstunde war jedoch längst vorüber, als Cesar aus dem waldigen Hohlwege in’s Thal hinabritt. Bei der Biegung der zum Schloß hinaufführenden Straße bemerkte er einen Trupp Menschen vor dem Schlosse, die lebhaft mit einander sprachen. Rasch sprengte er auf dieselben zu, forschende Blicke auf die Gruppe werfend.

„Was gibt es hier?“ fragte er die Nächsten.

„Es ist ein Unglück geschehen, Herr Hornburg,“ erwiderte Einer. „Ihren Herrn Bruder hat diesen Morgen der Schlag gerührt. Vor ein paar Stunden hat ihn die Haushälterin todt im Bette gefunden! Das arme Mädchen weint, daß es einen Stein erbarmen kann! Sie klagt sich unverantwortlicher Nachlässigkeit an und meint, weil sie Stunden lang nicht nach dem kranken Herrn gesehen, Schuld an dessen jähem Tode zu sein.“

Cesar’s Erbleichen sagte den Umstehenden, wie tief diese ganz unvermuthete Nachricht den Schloßherrn erschütterte. Ohne ein Wort zu sprechen, eilte er die Treppe hinan, durchschritt fast laufend den langen Corridor und stürzte in das Zimmer, wo er Abends zuvor den Bruder in anscheinender Besserung verlassen hatte. Er fand Alles, wie damals, als er von ihm ging. Ottwald lag, mit halber Wendung der Wand zugekehrt; seine linke Hand war fest auf’s Herz gedrückt, die Rechte hielt krampfhaft die Laken gefaßt.

Ottwald’s Aussehen hatte nichts Ungewöhnliches. Es war das eines Todten, den ein plötzlicher heftiger Krampf getödtet zu haben schien. Ob dieser Krampf mit Schmerzen verbunden sein mochte oder nicht, blieb jedenfalls problematisch. Die Gesichtszüge des Todten waren ruhig, nur um den Mund zeigte sich ein schmerzhafter Zug, und da er nicht geschlossen war, so schimmerten die weißen Zähne wie helle Perlen zwischen den mattblauen Lippen.

Auf dem Tische des Verstorbenen stand ein fast leeres Glas. Es war dasselbe, das Cesar dem Bruder kurz vor zehn Uhr Abends von der Haushälterin, mit erquickendem Getränk erfüllt, hatte reichen lassen. Der Kranke mußte es während der Nacht geleert haben.

Als sich Cesar einigermaßen ermannt hatte, rief er die junge Haushälterin zu sich, um sie zu examiniren. Er wußte, daß Anna bei vielen guten Eigenschaften doch etwas leichtsinnig war und sich zuweilen arge Nachlässigkeiten zu Schulden kommen ließ.

Anna trat zögernd in das Sterbezimmer, denn hier, neben dem todten Bruder, den der unglückliche Cesar zu verlassen sich weigerte, wollte er an die junge Person einige Fragen richten. Es fiel ihm dabei auf, daß Anna, die sonst Männern gegenüber keineswegs verlegen war, ihn nicht ansehen konnte. Sie zitterte, als schüttele sie heftiger Fieberfrost. Bei jedem Worte, das der Schloßherr an sie richtete, fuhr sie zusammen. Ihre Antworten brachte sie ohne rechten Zusammenhang und stotternd vor.

„Wo warst Du gestern Abend, als ich gegen zehn Uhr Dich rief? In der Küche fand ich kein Licht und doch hörte ich später Tritte auf dem Corridor!“

Anna faltete die Hände und fing an zu weinen.

„Was fehlt Dir? Weshalb weinst Du? Hast Du etwas verbrochen?“

„Vergeben – ach vergeben Sie mir, Herr Hornburg!“ stotterte die Haushälterin.

„Was? – Ich verstehe und begreife Dich nicht!“

„Ich verspreche, mich bessern zu wollen. … Sie wissen – es schickt sich doch nicht für mich –“

„Daß ich Deine braunen Augen hübscher finde, als die blauen meiner rechthaberischen Schwester?“ fiel Cesar ein. „Ist es das, was Dich beängstigt, so beruhige Dich. Du sollst nicht weiter von mir belästigt werden, denn es gehört nicht zu meinen Liebhabereien, spröden Mädchen nachzulaufen. Ich vermuthe jedoch, daß hinter Deiner Kälte etwas Anderes verborgen ist und daß dies zusammenhängt mit Deiner gestrigen Abwesenheit, als ich Dich rief. Soll ich Dir nun verzeihen, so beichte! Du hast einen begünstigten Liebhaber, wie?“

Anna rang die Hände, ohne Antwort zu geben. In den Schloßhof rollte ein Wagen und gleich darauf trat Cesar’s Schwester in großer Aufregung, begleitet von dem aus der Stadt mitgebrachten Arzte, in’s Zimmer. Das Zusammentreffen von Bruder und Schwester am Todtenbette Ottwald’s benutzte Anna, um den ferneren Aushorchungen ihres Gebieters zu entgehen.

Cornelia warf sich schluchzend über den entseelten Bruder und küßte wiederholt die kalten, bleichen Lippen. Und Cesar, der den Schmerz der Halbschwester nicht stören wollte, stand seitwärts in der Fensternische und sein Auge folgte finster den Handbewegungen des Arztes, der zuerst die Leiche sehr genau betrachtete, dann mehrmals das fast leere Glas aufhob und gegen das Licht hielt. Dann führte er es an den Mund, als wolle er daraus trinken. Kopfschüttelnd setzte er es aus der Hand, trat an’s Bett und nöthigte Cornelie mit sanfter Gewalt, das Lager des Todten zu verlassen.

[681] Während Cesar die Weinende in seine Arme schloß und sie durch leisen Zuspruch zu beruhigen suchte, unterzog der Arzt die Leiche nochmals einer genauen Besichtigung. Seine Miene ward dabei immer bedenklicher und ernster. Endlich deckte er das Laken über das bleiche schöne Antlitz des Verstorbenen, erfaßte Cesar’s Hand und bat diesen, ihm eine Unterredung unter vier Augen zu schenken. Cesar erklärte sich sogleich dazu bereit.

„Verschließen Sie sorgfältig die Thür des Zimmers,“ sagte der Arzt zu dem Schloßherrn, „und verwahren Sie den Schlüssel gut, damit kein Dritter Zutritt zu demselben erhalten kann.“

„Weshalb?“ fragte Cesar, den Arzt mit offenen Augen ansehend.

„Sie sollen es erfahren, wenn wir allein sind.“

Cesar führte die ganz von ihrem Schmerz beherrschte Cornelie in die Zimmer, welche sie früher bewohnt hatte, und kehrte dann zu dem Arzte zurück, der in einem elegant meublirten Gemache des Schloßherrn wartete.

„Nun, Herr Doctor, was haben Sie mir mitzutheilen?“ redete er diesen unbefangen an. „Wir sind jetzt völlig ungestört. Niemand kann uns hören oder beobachten.“

„Wann glauben Sie, daß Ihr Bruder gestorben ist?“ fragte der Arzt.

„Ich habe darüber gar keine bestimmte Meinung,“ versetzte Cesar. „Als ich heute früh am Tage das Schloß in nöthigen Geschäften verließ, lag mein armer Bruder noch in ruhigem Schlafe –“

„Sie sahen ihn selbst?“ warf der Doctor ein.

„Ich nicht, meine Haushälterin.“

„Ist das dieselbe Person, die Sie gewöhnlich zu mir schickten, wenn Sie meiner bedurften?“

„Zuverlässig.“

„Und wer bereitete Ihrem Bruder den Trank?“

„Ebenfalls meine Haushälterin.“

„Sie hat also alle Vorräthe, welche zur Haushaltung gehören, unter ihrem Verschluß?“

„Sie ganz allein.“

„Wenn dem so ist, Herr Hornburg, so muß ich Sie bitten, ein Auge auf dies Mädchen wie auf alle diejenigen zu haben, mit denen sie verkehrt oder verkehrte.“

„Aber warum das, Herr Doctor?“

„Weil ich Grund habe zu vermuthen, daß Ihr Herr Bruder nicht eines natürlichen Todes gestorben ist.“

„Sie erschrecken mich! – Wie wäre dies möglich, bester Doctor! Bedenken Sie, daß Ottwald seit Wochen bei mir lebt, daß wir bis gestern Abend gegen zehn Uhr noch heiter zusammen gesprochen haben; daß alle meine Leute erprobte Diener sind, die sich weder über mich noch viel weniger aber über meinen Bruder beschweren konnten. Und nun sollte plötzlich eine frevelnde Hand sich finden, die ihm nach dem Leben trachtete? – Unmöglich, unmöglich!“

„Sie mißverstehen mich, Herr Hornburg,“ versetzte der vorsichtige, kalt beobachtende Arzt. „Ich habe nicht gesagt, daß irgend Jemand Ihrem verstorbenen Bruder nach dem Leben getrachtet habe, ich glaubte nur Spuren an dem Todten zu entdecken, wie an dem Glase, aus dem derselbe Ihrer Angabe nach den letzten Labetrunk schlürfte, daß er eine der Gesundheit und dem Leben gefährliche Substanz zugleich damit genoß. Diese lebensgefährliche Substanz kann ihm in Folge unverantwortlicher Fahrlässigkeit gereicht worden sein. Dies, Herr Hornburg, ist vorläufig meine unmaßgebliche Ansicht. Als gewissenhafter Arzt ist es meine Pflicht, Anzeige von diesem auffälligen Todesfälle zu machen, damit der Leichnam secirt und den Ursachen des Todes nachgespürt werde. Stellt sich dann etwas Verdächtiges heraus, so wird eine Durchforschung aller Räumlichkeiten des ganzen Schlosses und ein scharfes Verhör aller Bewohner desselben die nicht abzuwendende Folge davon sein.“

Diese Eröffnung des Arztes machte einen sehr niederschlagenden Eindruck auf Cesar. Er wollte und konnte es nicht fassen, daß Ottwald in Folge einer Vergiftung gestorben sei, und eben so wenig vermochte er, wie sehr er sich auch abmühte, die Möglichkeit einer so groben Fahrlässigkeit sich zu erklären.

So unangenehm ihm die Sache war, den Verdacht des Arztes mußte er respectiren. Noch vor Abend ward ein reitender Bote abgefertigt, der ein Schreiben des Arztes der Gerichtsbehörde überbrachte. Der Arzt selbst blieb im Schlosse, dessen Bewohner gewissermaßen die Gefangenen seines Argwohnes waren. Cornelie ward von Cesar unterrichtet, gegen alle übrigen Schloßbewohner beobachtete man vollkommenes Stillschweigen.




V.

Zwei volle Tage verweilte die gerichtliche Untersuchungscommission auf dem Schlosse. Was sie daselbst trieb, erfuhren die [682] nächsten Umwohner zwar nicht, sie konnten aber doch ahnen, daß sich innerhalb der Schloßmauern etwas Ungewöhnliches zugetragen haben müsse. Erst nach der Abreise der Gerichtspersonen und des Gerichtsarztes, der sofort die Verhaftung der jungen Haushälterin folgte, drang die Kunde des Geschehenen in die Umgegend. Die Section Ottwald’s hatte ergeben, daß der kranke junge Herr an den Folgen einer starken Vergiftung gestorben sei. Der vorhandene Ueberrest des Trankes im Glase, das ziemlich geleert auf dem Tische stand, enthielt Arsenik. Diese Entdeckung führte zu weiteren Nachforschungen. Man drang in Küche und Speisekammer und fand hier eine angebrochene Kruke Himbeergelée, das ebenfalls mit einer bedeutenden Dosis Gift versetzt war. Wie dasselbe in diese Kruke gekommen sein konnte, blieb völlig unbegreiflich. Niemand als Anna hatte sie unter Verschluß, das junge Mädchen hatte sogar den Saft selbst bereitet, und sie war erst angebrochen worden, als Ottwald kühlendes Getränk verlangte.

Die Fragen, welche man an das Mädchen richtete, brachten eine solche Verstörung in ihr hervor, daß es die verworrensten Antworten gab und sich in hohem Grade verdächtig machte. Zuletzt antwortete sie nur durch Thränen, und als man ihr ankündigte, daß sie unter solchen Umständen ins Gefängniß wandern müsse und einer peinlichen Untersuchung entgegengehe, ergriff sie ein Zittern, das mehr als einer der Anwesenden für ein Zeichen ihres Schuldbewußtseins hielt.

„Was hältst Du von diesem entsetzlichen Unglücke?“ sagte Cesar zu Cornelie, als die Verdächtige abgeführt worden war und die beiden Stiefgeschwister sich allein sahen. „Die Zerstörung dieser schönen Besitzung oder ein Unfall, der mich Monate lang unfähig zu jeglicher Beschäftigung gemacht hätte, würde mich nicht halb so schwer treffen. Armer, armer Ottwald!“

Cornelie wußte sich kaum zu fassen. Der Tod des Bruders, mehr noch die Ursache dieses Todes beraubten sie fast der Besinnung. Sie irrte wie eine Wahnsinnige durch die Zimmer des weitläufigen Schloßbaues und kehrte dann wieder zu der entseelten Hülle des geliebten Bruders zurück, auf dessen bleiche Züge sie so fest ihre Augen heftete, als könnten diese fragenden Blicke den Schleier lüften, welcher diese geheimnißvolle That verhüllte.

„O daß Licht in diese Nacht dränge!“ rief sie wiederholt aus. „Daß ich ermitteln könnte, ob nur ein unseliger Zufall oder eine frevelnde Hand dem Bruder Gift in den Labetrank träufelte!“

Ueber ihre etwaigen Vermuthungen äußerte sich Cornelie gegen Niemand, selbst Cesar’s Fragen beantwortete sie nur durch Blicke oder ausweichend. Daß Anna mit Absicht ihrem Bruder Gift gereicht habe, glaubte sie nicht. Sie kannte das Mädchen als eine gute Person, ja sie wußte sogar, daß sie Ottwald mehr als andern Männern gewogen war und dies mehr wie einmal deutlich hatte merken lassen.

Von den Umwohnenden ward durch die schnell sich verbreitende Schreckensnachricht von dem Tode des jüngeren Hornburg namentlich der Mühlenpachter Caspar tief ergriffen. Dieser in seinem Fache sehr tüchtige Mann fühlte sich von jeher hingezogen zu Ottwald, den er ebenso seiner Herzensgüte wie seiner gediegenen Kenntnisse wegen hochachtete. Aber auch ihn überraschte die Nachricht von Anna’s Verhaftung und von dem Verdachte, der auf dem jungen Mädchen ruhte.

Begreiflicherweise sprach Jedermann nur von dieser geheimnißvollen Geschichte und so kam sie denn auch dem schon erwähnten Knappen Caspar’s zu Ohren, der im Auftrage seines Herrn einige Tage lang im Gebirge gewesen war, um einen Holzkauf für denselben abzuschließen. Es war am Tage der feierlichen Bestattung Ottwald’s, die unter großem Volkszulaufe stattfand; denn während die Mehrzahl an der Ansicht festhielt, es sei ein unglücklicher Zufall Schuld an dem Tode des jungen Mannes, glaubten Einzelne an ein vorliegendes Verbrechen und nahmen keinen Anstand, diese Vermuthung auch offen auszusprechen.

Von seinem Herrn erfuhr der Knappe auch die Verhaftung Anna’s. Er wankte, als er diesen Namen hörte, und alle Farbe wich aus seinem Gesicht. Caspar fragte erschrocken, was ihm fehle.

„Anna ist meine Braut,“ stammelte der erschrockene Knappe. „Sie ist unschuldig, ich weiß es – ich kann es beweisen!“

Caspar wußte nichts von dem Verhältnisse seines Gehülfen mit der hübschen Haushälterin des Schloßherrn, es überraschte ihn aber nicht, da beide junge Leute unter Umständen eine passende Partie machen konnten. Ihm war nur die mit fester Stimme hingeworfene Behauptung des Knappen von Wichtigkeit und diese griff er sofort auf.

„Du kannst es beweisen?“ erwiderte der Pachter, die Worte seines Gehülfen wiederholend. „Dann ist es Deine Pflicht, unverweilt Anzeige zu machen von dem, was Du weißt.“

„Das will ich auch, und ich werde noch mehr sagen, damit, wenn eine Teufelei dahinter steckt, sie mit Gottes Hülfe an’s Tageslicht gebracht wird. Ich war in jener Nacht im Schlosse und habe etwas gesehen, ich, was mich erschreckte.“

Caspar gedachte bei diesen Worten des wandelnden Lichtes, der plötzlichen Erleuchtung jenes Zimmers, wo Ottwald Hornburg krank lag, des ihm schon damals auffallenden Schattens und dessen Verschwinden, als das Licht sich wieder entfernte.

„Aus dem Schlosse also kamst Du in jener Nacht?“ fragte Caspar nachdenkend und den Knappen scharf fixirend. „Was hattest Du so spät im Schlosse zu thun?“

Der Gehülfe wollte mit der Sprache nicht recht heraus und begann eine sehr ungeschickte Lüge zu erzählen. Der Mühlenpachter ließ ihn aber nicht damit durchschlüpfen und trieb ihn mit wenigen Worten in die Enge.

„Die Wahrheit will ich von Dir wissen,“ redete er ihn streng an, „denn sie allein ist es, die Licht in dies schauerliche Dunkel zu bringen vermag. Einer schlechten Handlung halte ich Dich nicht für fähig, wenn Du auch eines dummen Streiches Dich zu schämen hast. Sprich also, was Dich so lange im Schlosse festhielt?“

Der Knappe gestand mit niedergeschlagenen Augen, daß Anna ihm in jener Nacht ein Stelldichein zugesagt und gewährt habe, weil sie in Folge der Krankheit des jungen Herrn, dessen Pflege der ältere Bruder Niemand überlassen wollte, ungestört zu bleiben hoffen durften.

Durch einige rasche Kreuz- und Querfragen erfuhr Caspar ferner, daß Anna dem Geliebten die Thür geöffnet, ihn in die Küche versteckt und daselbst so lange ohne Licht gelassen habe, bis der Schloßherr in sein eigenes Zimmer gegangen sei. Was inzwischen sich ereignet, wisse er nicht, denn er habe in lebhafter Unterhaltung mit Anna Alles vergessen und auf nichts geachtet. Ein plötzliches Poltern erst und das Knarren einer Thür habe ihn wieder für die Eindrücke der Außenwelt empfänglich gemacht. Gleich darauf hätte man vernehmbar gehen hören und ein blitzender Strahl, der sich an der Küchenwand abgespiegelt, habe erkennen lassen, daß Jemand mit Licht über den Corridor schreite. Er sei aufgesprungen, um sich nach diesem nächtlichen Wanderer umzusehen, denn er habe vermuthet, es möge der Kutscher des Herrn sein, der ihm mehrmals aufgepaßt und ihn wahrscheinlich mit Anna, die ihn nicht leiden könne, habe überraschen wollen. Seine Braut aber sei ihm zuvorgekommen und habe durch das Schlüsselloch gesehen, worauf sie ihm zitternd die Hand gereicht und ihn dringend gebeten, er solle sich doch um Gottes Willen ruhig verhalten. Diesem Wunsche seiner Verlobten sei er nun zwar nachgekommen, des Lauschens habe er sich aber doch nicht enthalten können. Erstaunt habe er darauf mit Anna Blicke gewechselt, die ihn durch Gesten wiederholt zum Schweigen aufgefordert.

Caspar schüttelte den Kopf zu dieser Aussage seines Gehülfen. Es wollte ihm nicht einleuchten, daß sie irgend etwas zur Erhellung des Dunkels beitragen könne, das über den Begebenheiten jener Nacht ruhte. Möglicherweise konnte die ganze Angelegenheit durch diese Aussagen des Knappen nur noch verwickelter werden, denn über die Zeit, wann wohl der erwähnte Lichtschimmer die Liebenden störte, wußte der Gehülfe wenigstens nichts Bestimmtes zu sagen.

Der Mühlenpachter überlegte im Stillen, was wohl zu thun sei. Er beobachtete den Knappen, der äußerst niedergeschlagen seine Arbeit that und dessen Gedanken offenbar bei der eingekerkerten Geliebten waren. Endlich beschloß Caspar, sich die Ehre einer Unterredung mit Cornelie Hornburg, der jüngeren Schwester des Verstorbenen, zu erbitten. Es konnte dies nichts Auffälliges haben, da beide Geschwister von jeher keine Geheimnisse vor einander hatten und Cornelie daher auch in die Geschäftsverhältnisse Ottwald’s viel besser eingeweiht war, als ihr älterer Stiefbruder Cesar.

Cornelie nahm den Besuch des Pachters gern an. Caspar [683] sprach erst nur geschäftliche Dinge mit der tief Trauernden durch, die jetzt das Sterbegemach Ottwald’s bezogen hatte, um gleichsam der Seele des Geschiedenen näher zu sein. Dieser Zufall gab dem jungen Pachter eine erwünschte Gelegenheit, später das Gespräch auf das traurige Ereigniß hinüber zu spielen. Er musterte dabei das Zimmer sehr genau, trat an’s Fenster und sah hinaus in das romantische Bergthal, in dessen Tiefe der Fluß rauschte. Die Wände des Zimmers bestanden aus altem Holzgetäfel, das fast schwarz war. Ein paar sehr verwitterte Portraits der früheren Schloßbesitzer hingen an der einen, dem alten Bibliothekzimmer zugekehrten Wand. Sie sahen recht ernst herab auf die zarte Gestalt des Mädchens, das hier den Tod ihres auf so eigenthümliche Weise umgekommenen Bruders beweinte.

„Merkwürdig,“ hob Caspar an, die Bilder mit scheinbarer Aufmerksamkeit betrachtend, „ich komme fast auf den Gedanken, Ihr verewigter Bruder habe mir ein Anzeichen geben wollen, daß ihm etwas passiren werde! Glauben Sie an Anzeichen, Fräulein Hornburg?“

Cornelie blickte bei dieser Frage den Mühlenpachter etwas verwundert an.

„Ist Ihnen etwas Auffälliges begegnet, das Sie auf einen solchen Gedanken bringt?“ gegenfragte sie dann.

„Gewissermaßen darf ich dies bejahen,“ versetzte Caspar.

„Und worin bestand dies Begegniß?“ fragte aufgeregter Cornelie.

„Es war in jener Nacht nicht ganz ruhig im Schlosse,“ fuhr der Mühlenpachter fort. „Es sind Leute auf- und abgegangen in allen Zimmern, und auch in dieses Zimmer habe ich kurz vor Mitternacht Jemand mit Licht treten sehen.“

„Wissen Sie das auch genau?“

„Ich kann es beschwören!“

„Aber Sie waren ja doch nicht im Schlosse?“

„Nein, ich war drüben in der Mühle, wo ich mich mit der Ausarbeitung eines Risses beschäftigte, an dem Lichte aber oder vielmehr an dem Schatten, den das Licht gegen das Fenster dieses Zimmers warf, sah ich ganz deutlich, daß irgend Jemand in das Zimmer trat.“

Cornelie ließ ihre Blicke von der Thür nach dem Fenster und von diesem wieder zurück an die Thür gleiten, dann lächelte sie und sagte freundlich:

„Sie irren sich doch wohl, lieber Caspar! Betrachten Sie gefälligst die Lage des Fensters und der Thür und haben Sie die Gefälligkeit, mir anzugeben, wie ein Mensch, der durch diese Thür tritt mit einem Lichte in der Hand, einen solchen gegen das Fenster werfen kann. Es ist dies völlig unmöglich oder alle Naturgesetze müssen sich verkehrt haben in jener Unglücksnacht!“

Caspar unterließ nicht, der Aufforderung des Fräulein zu folgen, und sein gesunder Menschenverstand ließ ihn sogleich die Richtigkeit der Bemerkung Corneliens einsehen. Er legte sinnend die Hand an die Stirn, er ging nach der Thür, er öffnete und schloß dieselbe zwei, drei Mal und trat unbefriedigter denn je wieder an’s Fenster, um auf die klappernde Sägemühle auf der gegenüberliegenden Thalwand hinabzusehen und sich die Erscheinung jener Nacht recht genau abermals in’s Gedächtniß zu rufen.

„Nun, habe ich Recht?“ fragte Cornelie nach einer Weile.

„Sie haben Recht, Fräulein Hornburg,“ versetzte Caspar, „und eben weil Sie Recht haben, erscheint mir der Besuch dieses Zimmers in der Nacht vor Ihres Herrn Bruders Tode noch viel bedeutungsvoller.“

„Sie werden sich in den Fenstern geirrt haben.“

„Gewiß nicht, Fräulein Hornburg! Es war dies Zimmer, das plötzlich durch Lichtgeflimmer erhellt und sodann durch einen vor das Fenster tretenden Schatten verdunkelt wurde.“

„Vielleicht wünschte mein Bruder Hülfe, entzündete ein Licht und die Stellung jenes Lichtes warf den Schatten, den Sie beobachteten, gegen das Fenster.“

„Dieser Annahme steht zweierlei entgegen,“ fuhr Caspar fort. „Die Lage des Verstorbenen im Bett am nächsten Tage und die Entfernung des Lichtes durch die ganze Flucht sämmtlicher Zimmer im Neubau.“

Cornelie erwiderte auf diese letzte Bemerkung des Pachters nichts. Sie saß in sich gekehrt da und sah unverwandt die Thür an, deren Schatten Caspar vor das Fenster hatte treten sehen.

„Schweigen wir über das, was Sie beobachteten,“ sprach sie nach längerem Sinnen. „Es darf Niemand außer uns Beiden etwas davon erfahren. Vielleicht wird der von Ihnen gesehene Schatten dann zu einem Licht, bei dessen Glanz wir die ganze Wahrheit erkennen. –“




VI.

Es vergingen nun Wochen und der Tod Ottwald’s war so ziemlich in Vergessenheit gerathen. Anna befand sich noch immer in Untersuchungshaft. Die mit ihr angestellten Verhöre führten insofern zu keinem befriedigenden Resultate, als sie fortwährend ihre Unschuld betheuerte. Den auf ihr ruhenden Verdacht aber vermochte sie durch nichts zu entkräften. Weder konnte sie angeben, auf welche Weise das Gift in die ihr allein überwiesene und anvertraute Kruke gekommen war, noch, weshalb sie das Zimmer des ihrer Pflege doch empfohlenen Mannes stundenlang hatte liegen lassen, ohne auch nur nach ihm zu sehen. So oft der Untersuchungsrichter diese Fragen an die Gefangene richtete, ward sie unruhig und in hohem Grade befangen. Sie verwirrte sich in ihren Antworten, widersprach sich und mehrte auf solche Weise nur den Verdacht, daß sie um den Tod Ottwald Hornburg’s wisse, wenn sie auch selbst nicht geradezu die Hand dazu geboten habe. Die Meinung, es liege ein berechneter Mord vor, gestaltete sich bei dem Untersuchungsrichter mehr und mehr zur Ueberzeugung. Er glaubte in der Gefangenen nicht die eigentliche Anstifterin des Mordes, wohl aber eine Mitwisserin, vielleicht sogar ein Instrument zu erblicken. Wer aber war der wirkliche Urheber des Verbrechens? Darüber ließen sich nicht einmal Vermuthungen aufstellen.

Im Laufe der Voruntersuchung fanden wiederholt Besichtigungen des Schauplatzes statt, wo Ottwald Hornburg seinen Tod gefunden hatte. Gleichzeitig wurden die nächsten Anwohner des Schlosses, sowie alle diejenigen, welche in Verbindung mit der Familie Hornburg gestanden hatten oder noch standen, vorgeladen und über ihr Wissen befragt. Auch Caspar mit sammt seinem Knappen erhielt eine Citation. Da Jeder allein vernommen ward, blieb Beiden die Aussage des Andern ein Geheimniß.

Nach den Vorkehrungen zu schließen, die von jetzt an das Gericht traf, mußte dasselbe auf die Aussagen der beiden letztgenannten Personen sehr großes Gewicht legen. Es erschienen nicht allein Abgeordnete desselben in der Sägemühle, welche Caspar gepachtet hatte, um sich hier die Stelle zeigen zu lassen, wo derselbe bis nach Mitternacht arbeitend zugebracht, und dabei das wandelnde Licht im gegenüberliegenden Schlosse, und was sonst damit zusammenhing, beobachtet; auch das Schloß selbst ward abermals von Gerichtspersonen heimgesucht und im Beisein Cesar’s, der bereitwilligst jede Auskunft ertheilte, besichtigt. Da man diesmal mit minutiöser Genauigkeit verfuhr und alle Winkel vermaß, besonders aber von dem Sterbezimmer Ottwald’s einen Riß aufnahm, erlaubte sich Cesar nach dem Zweck dieser Maßnahmen zu fragen. Der leitende Beamte erwiderte darauf mit geschäftlicher Trockenheit, man würde eines Planes, vielleicht eines Modelles aller Räumlichkeiten des Schlosses bei der öffentlichen Verhandlung des Processes bedürfen, da es nicht unmöglich sei, daß mittelst desselben sich manche noch immer sehr dunkle Punkte in der seltsamen Angelegenheit aufklären könnten.

Cesar Hornburg schien von diesen Aeußerungen des Beamten sehr unangenehm berührt zu werden. Er schritt schweigend neben ihm und seinen Begleitern durch die ganze Flucht der Zimmer, die sie ausdrücklich zu sehen wünschten. Nur auf direct an ihn gerichtete Fragen gab er kurze, bisweilen auch mürrische Antworten. Der Beamte achtete im Eifer seiner Pflichterfüllung nicht darauf. Als die Besichtigungscommission zuletzt Cesar’s Privatzimmer betrat, widmete der Beamte auch diesem eine Aufmerksamkeit, welche den Schloßherrn beinahe verletzte. Es waren dies die letzten Zimmer in dem neuen Anbau. Nur das Wohngemach Cesar’s hatte zwei Thüren, von denen die eine auf den Corridor mündete, die andere nach der zusammenhängenden Zimmerreihe führte, die an dem Sterbegemache Ottwald’s endigte. Hier ging abermals eine Thür nach dem Corridor, denn das Sterbezimmer hing nur durch letzteren mit dem neuen Schlosse zusammen. Gegenüber dieser Thür lag Anna’s Wohnung, am äußersten Ende des Corridors befand [684] sich rechts die Bibliothek, ein Erker- und Eckzimmer, links öffnete eine hohe Pforte den Eingang zum alten, jetzt unbewohnten Schloßflügel.

Die Commission besah sich alle diese Localitäten sehr genau, bemerkte sich die Zahl der Thüren, ihre Lage, wie sie mit einander zusammenhingen, und was sie etwa sonst für wichtig halten mochten. Auch das Bibliothekzimmer mußte Cesar den Herren öffnen. Es verging indeß einige Zeit, ehe sich der Schlüssel dazu finden wollte, denn es ward nur äußerst selten betreten. Nach Cesar’s Aussage hatte er selbst seit Jahr und Tag keinen Fuß in den ihn persönlich nicht sehr anziehenden Raum gesetzt.

Dieser Angabe entsprach das stark verrostete Schloß, das erst nach wiederholten Versuchen Hornburg’s nachgab. Die Thür knarrte und ließ sich schwer wieder schließen.

In diesem Zimmer war eigentlich nur die Aussicht interessant. Da Cesar kein Verehrer von Büchern war, hatte er seit dem Tode seines Vaters Alles ganz so gelassen, wie er es damals vorfand. Auf einem großen, in der Mitte des Gemaches stehenden Tische lagen eine Menge Bücher und Karten aufgestapelt, die sich jetzt mit einer dicken Lage Staub bedeckt zeigten. Spinnengewebe hingen an den beiden Fenstern, von denen eins nach der Thalschlucht und den Sägemühlen hinabsah. Dintenflecke und eine Menge Wachstropfen am Boden, namentlich in der einen Ecke unfern der Thür, wo ein hohes Bücherbort bis fast zur verräucherten Decke reichte, deuteten an, daß in früheren Tagen hier auch zu nächtlicher Stunde ein wißbegieriger Mann nach geistiger Nahrung sich umgesehen haben mußte.

Auch dies Zimmer ward sorgfältig vermessen, ein Plan davon aufgenommen, die Richtung der Fenster, endlich die Zahl und Stellung der Repositorien verzeichnet.

Diese Besichtigung dauerte mehrere Stunden. Es war schon dunkel, als die Commission das Schloß verließ. Cesar forderte sie aus Höflichkeitsrücksichten auf, mit ihm und seiner Schwester, die sich diesmal absichtlich verborgen gehalten hatte, zu diniren. Die Herren jedoch dankten kühl, und reisten unverweilt ab.

„Endlich!“ rief Cesar Hornburg, erleichterter aufathmend. „Es ist doch unausstehlich, was man sich in seinem eigenen Hause von stockfremden Menschen Alles gefallen lassen muß!“

In sein Zimmer zurückkehrend, fand er hier Cornelien, seiner harrend. Die Stiefschwester war bleich, und sah ihn noch ernster an, als gewöhnlich.

„Was Du für Augen hast!“ sprach Cesar. „Man könnte sich fürchten! Ich glaube, das Grübeln über Dinge, die sich nun einmal nicht so leicht ergründen lassen, gibt Deinen Augen einen so unangenehmen Ausdruck. Du wirst schwerlich damit Eroberungen machen.“

„Meinst Du?“ erwiderte schmerzlich lächelnd die Trauernde. „Ich will mich nicht beklagen, wenn es mir nur gelingt, mit meinen unangenehmen Augen Entdeckungen zu machen.“

Cesar antwortete nicht. Die Stiefgeschwister setzten sich zu Tische, wortkarger aber und deshalb unerquicklicher war das gemeinsame Mahl der so nahen Blutsverwandten kaum je verflossen.

Cornelie aß fast gar nichts, Cesar verschlang die Speisen mit unruhiger Hast, als wolle er nur einen quälenden Heißhunger stillen. Als er aufstand, fragte die Schwester, ob es ihm vielleicht genehm sei, ihr die längst verheißenen Mittheilungen in Bezug auf die Erbschaft zu machen, die sie nach dem Tode des Bruders unter einander zu theilen hätten.

„Ein andermal,“ erwiderte Cesar barsch. „Der Besuch dieser Quälgeister hat mich verstimmt. Ich bin verdrießlich und in solcher Stimmung, Du weißt es, kann ich leicht heftig werden, wenn Jemand anderer Meinung ist, als ich. Ich will mich mit Dir in Frieden, nicht unter Zank und Streit auseinander setzen.“

Die Geschwister trennten sich, und jedes verbrachte den noch übrigen Rest des Tages auf seinem Zimmer.




VII.

Zwischen Cesar und Cornelie war eine traurige Spannung eingetreten. Dem wiederholten Drängen der Halbschwester mußte Cesar Hornburg doch endlich nachgeben, und so legte er ihr denn eines Tages die Papiere vor, welche die den Halbgeschwistern zugefallene Erbschaftstheilung enthielten. Cesar brachte gleichzeitig verschiedene mit der Unterschrift Ottwald’s versehene Documente bei, aus denen hervorging, daß mehr als drei Viertheile der Liegenschaften, welche dem Verstorbenen in Folge der früheren Aussöhnung der Geschwister zugefallen waren, jetzt in des überlebenden älteren Bruders Besitz übergingen. Cornelie ging fast ganz leer aus. Nur eine wenig einträgliche Milcherei im Gebirge verblieb ihr, außerdem sämmtliche Schmucksachen, welche die beiden rechten Geschwister beim Tode ihrer Mutter auf deren besonderen Wunsch geerbt hatten.

Cornelie äußerte offen ihr Befremden über diese ihr völlig unbegreifliche Auseinandersetzung, und ließ dabei nicht undeutlich merken, daß sie sich für übervorteilt halte. Darüber ergrimmte Cesar; es gab eine sehr heftige Scene zwischen den Geschwistern, wobei von beiden Seiten harte, ja schwer beleidigende Worte fielen, und als sie endlich auseinander gingen, geschah es mit verbissener Groll im Herzen.

Von dieser Zeit an lebten die Halbgeschwister in vollständiger Trennung unter einem Dache. Die Wirthschaft war eine getheilte. Sie sahen sich nie, es sei denn, daß der Zufall eine flüchtige Begegnung herbeiführte. Einmal nur fand noch ein schriftlicher Verkehr zwischen Beiden statt. Cornelie vermißte nämlich einen Ring ihrer Mutter, der aus einem höchst einfachen Goldreifen mit einem einzigen Brillanten bestand. Sie wußte, daß Ottwald diesen Ring sehr hochschätzte und deshalb nie ablegte. Sie erinnerte sich auch, daß er ihn am Tage ihrer Abreise noch getragen hatte. Wie er als Leiche im Sarge lag, fehlte er an seiner Hand. Dies konnte ihr indeß nicht auffallen, weshalb sie auch kein Wort darüber äußerte. Sie nahm stillschweigend an, Cesar möge das ihr theure, wenn auch nicht gerade sehr kostbare Kleinod mit noch vielen andern dem Bruder zugehörigen Dingen an sich genommen haben, um es ihr später unaufgefordert zu überantworten.

Auf die schriftliche Anfrage der Schwester antwortete Cesar Hornburg, daß er nicht wisse, wo der fragliche Ring geblieben sei; er selbst habe ihn während der letzten Lebenstage des Bruders nicht mehr an seinem Finger bemerkt. Deshalb nehme er an, daß Ottwald ihn wahrscheinlich auf einer der Jagdpartieen, wobei man durch Dick und Dünn gegangen sei, verloren haben möge.

Cornelie glaubte nun zwar daran nicht, sie vermuthete vielmehr, Cesar wollte den Ring des schönen Steines halber und weil ihm kein anderes Juwel von seiner Stiefmutter zugefallen sei, nicht herausgeben, es fiel ihr aber nicht ein, weiter in ihn zu dringen. Uebervortheilt war sie ja doch auf alle Weise – das wußte sie – es fehlten ihr nur leider die genügenden Anhaltspunkte, um den habsüchtigen Halbbruder anzugreifen, und ihn mit Erfolg seiner Ungerechtigkeiten zu überführen. Durch einen langwierigen Proceß hätte sich dies vielleicht erreichen lassen. Dazu jedoch konnte sich Cornelie nicht entschließen, denn was gewann sie für sich und ihr ganzes Leben, wenn sie einen gegen den Bruder geführten Proceß mit der Ueberzeugung erkaufen mußte, Cesar sei ein unredlicher, der gemeinsten Handlungen fähiger Mensch? Das wollte sie nicht, und darum schwieg sie. Mit dem Bruder fernerhin auf freundschaftlichem Fuße zu leben, war ihr aber auch nicht möglich.

Es vergingen nun Wochen und Monate, ohne daß in dem Verhältniß der beiden Halbgeschwister eine Aenderung eintrat. Cesar war sehr thätig, aber auch sehr unstät. Es litt ihn nicht in seiner Behausung, und wenn er nicht mußte, blieb er gewiß nicht im Schlosse. Die ernste Gestalt der Schwester, die stets in tiefer Trauer einherging und durch nichts zu bewegen war, das Sterbezimmer Ottwald’s zu verlassen, mochte ihm unheimlich sein. Er hätte sie gern aus dem Schlosse vertrieben, wäre dies ohne großen Eclat und ohne daß er in den Ruf der unnatürlichsten Härte kam, zu bewerkstelligen gewesen. Stören übrigens oder belästigen konnte Cornelie den Eigenthümer des Schlosses nicht, denn sie lebte still und eingezogen für sich, machte keinerlei Ansprüche und ließ sich kaum hören.

[693] Im Frühjahr und Sommer machte Cornelie oft weite Fußtouren, um ihre Pächter zu besuchen, und mit ihnen über geschäftliche Angelegenheiten zu sprechen. Oft und gern verweilte sie in der Sägemühle, wo der intelligente Caspar wohnte. Verschiedene Personen sahen den jungen Mann und das trauernde Fräulein wiederholt lange mit einander sprechen, und zwar immer an ein und derselben Stelle, am rauschenden Bache, neben den Schützen. Worüber der Pachter sich mit Fräulein Hornburg unterhielt, erfuhr Niemand.

Cesar liebte es, weite Ausflüge zu Pferde zu machen. Das Wetter mochte sein, wie es wollte, er bestieg zu bestimmter Stunde seinen wiehernden Rappen, und jagte im vollen Galopp durch’s Flußthal in den rauschenden Wald hinein. Es war nichts Ungewöhnliches, daß er oft Tage lang ausblieb. Dann kam er gewöhnlich sehr ermattet zurück, sah bleich, abgespannt, geistig müde aus, und behandelte seine Untergebenen noch abstoßender als sonst. Viele waren der Ansicht, Cesar Hornburg ergebe sich aus unbekannten Gründen, vielleicht weil er den Bruder auf so traurige Weise unvermuthet verloren habe, und nun mit der Schwester in stiller Feindschaft lebe, einem wilden, die Natur rasch aufreibenden Lebenswandel.

So näherte sich der Todestag Ottwald’s. Das Gericht hatte lange nichts von sich hören lassen. Plötzlich, wenige Tage vor der verhängnißvollen Nacht, in welcher Ottwald Hornburg vor Jahresfrist ohne Zeugen gestorben war, erhielt Cesar eine Citatation zugleich mit der Anzeige, daß die Acten geschlossen seien, und die gegen seine frühere Haushälterin anhängige Klage vor den nächsten Assisen zur Verhandlung kommen solle. Cesar Hornburg ward vorgeladen, um Zeugniß abzulegen. Mit ihm zugleich wurden alle übrigen Personen, deren Aussagen möglicherweise dazu dienen konnten, Licht über diese dunkele Angelegenheit zu verbreiten, zu gleichem Behufe vor Gericht citirt. Unter diesen in erster Reihe befanden sich der Mühlenpachter Caspar und dessen Gehülfe, Anna’s, der Angeklagten, erklärter Bräutigam.

Cornelie erhielt keine gerichtliche Vorladung, da sie während der Nacht, die Ottwald aller Wahrscheinlichkeit nach den Tod gegeben hatte, nicht auf dem Schlosse gewesen war. Als nächste Anverwandte des in Folge einer Vergiftung Verstorbenen aber konnte ihr Niemand wehren, den öffentlichen Gerichtsverhandlungen beizuwohnen.

Um alles Auffällige zu vermeiden, und damit die große Menge nichts von dem Zwiespalt erfahre, welcher die Halbgeschwister nun schon viele Monate lang von einander entfernt hielt, forderte der klug berechnende Cesar Cornelie auf, ihn nach der Stadt, wo die Verhandlungen gehalten werden sollten, zu begleiten. Cornelie errieth den Grund dieser Aufforderung, erklärte sich schriftlich dazu bereit, und bestieg früh am Morgen der Assiseneröffnung den eleganten Jagdwagen ihres Halbbruders. Cesar begrüßte die tief Trauernde mit freundlicher Zuvorkommenheit. Auch er hatte Trauerkleider angelegt. Sein Aussehen war ruhig und sinnend; er sprach über gleichgültige Dinge mit Cornelie und ließ, als die Thurmspitzen der Stadt sich in der Ferne zeigten, sogar die Aeußerung fallen, er sei außerordentlich begierig, ob Anna an dem Tode des armen Bruders mittelbar oder unmittelbar schuld sei.

An dem Gerichtshause stand eine dicht gedrängte Menschenmenge, die großenteils die Neugierde herbeigelockt hatte. Die als Zeugen Vorgeladenen hielten sich ferne von diesen bloßen Zuschauern oder Zuhörern. Ihnen war ein besonderer Raum in der Gerichtshalle reservirt, und Cornelie, die zunächst Betheiligte, durfte mit Sicherheit erwarten, daß man ihr einen Platz anweisen werde, wo sie aufmerksam dem Gange der Verhandlungen folgen könne.

Bei dem Eintritte in den Gerichtssaal fiel sämmtlichen Zeugen vor allen ein sauber gearbeitetes Modell der Etage des Schlosses, wo Ottwald geendigt hatte, sowie der nächsten Umgebungen desselben in die Augen. Man sah hier die allergetreueste Nachbildung der Thalschlucht, des Mühlenbachbettes, der Sägemühle, welche Caspar bewohnte. Unter den Zeugen begegnete Cesar Hornburg auch dem Arzte, den er seit der Beerdigung seines Halbbruders nicht mehr gesprochen hatte. Beide Männer begrüßten einander höflich, sprachen einige Zeit zusammen, und musterten dann die Zuschauertribüne, welche die Zahl der Neugierigen kaum zu fassen vermochte.

Zur festgesetzten Stunde erschien der Präsident des Gerichtshofes, die Beisitzer, der Ankläger und die Geschworenen, zuletzt, von ihrem Anwalt begleitet, die jugendliche Angeklagte. Ihr Eintritt in den Saal veranlaßte eine lebhafte Bewegung und dumpfes Gemurmel rauschte wie Windesbrausen durch die geräumige Halle.

Anna sah unglücklich, aber ergeben in ihr Schicksal aus. Die Gefängnißluft, wohl auch die ausgestandene Angst, hatten die Rosen der Jugend auf ihren Wangen verblühen lassen. Bescheiden, festen Schrittes, aber ohne aufzublicken, trat sie in die Schranken, und nahm den für sie bestimmten Sitz ein. Nur einmal streifte [694] ihr Auge hinüber nach der Bank der Zeugen; sie begegnete dem Blicke ihres Verlobten, und hohe Röthe übergoß einige Secunden lang ihre bleichen Züge. Ob sie auch ihren ehemaligen Herren und Fräulein Cornelie Hornburg bemerkt hatte, war zweifelhaft. Regungslos vor sich niederblickend, harrte sie der Dinge, die da kommen sollten.

Es trat eine lautlose Stille ein, als der Staatsanwalt sich erhob, um die Anklage vorzutragen. Er sprach langsam, deutlich und nachdrucksvoll. Man konnte es aber seinem Vortrage doch anmerken, daß er von der Schuld der Angeklagten nicht völlig überzeugt sei. Aus der Anklage ging nur hervor, daß ein schwerer Verdacht auf Anna ruhe, bei der Vergiftung Ottwald Hornburg’s die Hand mit im Spiele gehabt zu haben. Es lag kein Grund vor, der annehmen ließ, das junge Mädchen habe mit Vorbedacht dem verstorbenen Bruder ihres Herrn Gift in den Labetrunk gemischt. Thatsache aber blieb, daß man bei der ungemein sorgfältigen Durchforschung des Schlosses nur in jener Kruke Gift gefunden hatte, aus welcher Anna den kühlenden Trunk für den Kranken bereitete, wie sie selbst gestand. Auf welche Weise dieser Saft mit Gift vermischt worden war, erklärte sie, nicht zu wissen.

Nicht ganz klar war ein Punkt in der Anklage, welcher die Aufmerksamkeit des Präsidenten, der Geschworenen und aller Anwesenden in nicht geringem Grade in Anspruch nahm. Es schien nämlich, als habe eine Art Liebesverhältniß zwischen Anna und Ottwald Hornburg bestanden, was dem älteren Bruder unangenehm gewesen zu sein schien. Ob eigensüchtige Gründe dabei obgewaltet, blieb unermittelt. Die Voruntersuchung erwies nur eine ausgesprochene Neigung Anna’s zu dem Knappen, den sie mit offenen Armen aufnahm, und der, wie sich durch Zeugen erweisen ließ, auch in jener Nacht, welche wahrscheinlich die Todesnacht des Verstorbenen war, auf deren Zimmer zugebracht hatte.

Die Angeklagte wechselte die Farbe, so oft ihr Name genannt ward. Im Uebrigen verhielt sie sich völlig passiv. Sie saß mit niedergeschlagenen Augen fast regungslos da. Nur einige Male hob sie schüchtern den Kopf und streifte mit klarem Auge ihren ehemaligen Herrn, der mit größter Aufmerksamkeit dem Vortrage des Staatsanwalts folgte. Dieser Blick der Angeklagten schien eine eigenthümlich magnetische Wirkung zu haben; denn so vertieft und gefesselt auch Cesar Hornburg von dem interessanten Vortrage war, immer wandte er den Kopf Anna zu, so oft der Blick des jungen Mädchens ihn traf. Diese wiederholte Berührung durch Blicke, die entweder auf ein stilles Einverständniß zwischen Cesar und Anna hinzudeuten schienen, oder auf ein nur diesen Beiden bekanntes gemeinsames Geheimniß, entging dem aufmerksamen Präsidenten nicht. Auch sein Blick ward schärfer, forschender, und alsbald war Cesar Hornburg unter allen Anwesenden für ihn die interessanteste Persönlichkeit.

Als der Staatsanwalt seinen Vortrag schloß, entstand eine schnell vorübergehende Bewegung in der menschenerfüllten Gerichtshalle. Der Präsident richtete verschiedene Fragen an die Angeklagte, die von dieser bescheiden, mit mädchenhafter Scheu, aber allgemein verständlich beantwortet wurden. Auf die Frage, ob sie schuldig sei, schlug sie die hellen Augen groß auf, und antwortete mit einem festen „Nein!“

Bei weitem der größte Theil der Zuhörer wurde durch das würdige Benehmen Anna’s für dieselbe eingenommen. Vor einer englischen Jury würde man Wetten auf und gegen ihre Unschuld gemacht haben. Und in der That mußte die Ueberzeugung in jedem ruhigen Beobachter Platz greifen, daß in der Person der Angeklagten entweder eine völlig Unschuldige vor den Schranken des Gerichts erschienen sei, oder daß man es mit einer ungemein verschmitzten Verbrecherin zu thun habe.

Das nicht hinlänglich klare Liebesverhältniß der Angeklagten, bei dessen Erwähnung Anna sichtlich von innerer Unruhe, vielleicht auch von schwer lastendem Schuldbewußtsein gepeinigt ward, erkannte der Präsident sofort als einen wichtigen Incidenzpunkt. Hier – so schien es – mußte sich ein Anhalt für weitere Ermittelungen finden lassen, und jedenfalls besaß Anna Kenntnisse über noch unerklärte Ereignisse, in deren Besitz das Gericht kommen mußte, ehe es einen Urtheilsspruch fällen konnte.

Mit väterlich milder Stimme forderte der Präsident die Angeklagte auf, jede von ihm gestellte Frage ohne Umschweife und der Wahrheit gemäß zu beantworten. Sei sie unschuldig an dem Verbrechen, dessen man sie zeihe, so werde dadurch ihre Unschuld am ehesten offenbar werden.

Anna bejahte nur durch Blicke. Auf die ersten an sie gerichteten Fragen, die von keiner großen Wichtigkeit zu sein schienen, gab sie rasche Antworten. Man fühlte aus denselben heraus, daß sie ungesucht waren und gleichsam von selbst über ihre Lippen kamen. Erst bei der scharf betonten Frage: ob sie liebe? stockte Anna, ein leises Zittern ging durch ihren Körper, die bleichen schmalen Wangen rötheten sich und mit einem nur Wenigen verständlichen Lallen gab sie eine bejahende Antwort.

„Wen lieben Sie?“ fuhr der Präsident fort.

Wieder trat eine Pause lautloser Stille ein, dann nannte die Angeklagte den Namen des auf der Zeugenbank sitzenden Mühlknappen.

Bei dem Kreuzfeuer von Blicken, das bei dieser Antwort den jungen Mann traf, ward dieser verwirrt. Er saß da wie im Fegfeuer und wagte weder rechts noch links zu sehen.

„Fanden Sie Gegenliebe?“

Auch diese Frage wurde bejaht. Der Mühlknappe athmete frei auf und ein dankender Blick glitt hinüber nach der Angeklagten.

„Wurden Ihnen von anderer Seite Hindernisse in den Weg gelegt oder gab es Menschen, die Ihre gegenseitige Neigung nicht billigten?“

„Darauf kann ich eine bestimmte Antwort nicht geben,“ sagte Anna zögernd, doch fest.

„Ich muß aber darauf bestehen, denn gerade von dieser Antwort hängt sehr viel ab. Besinnen Sie sich.“

Anna schien einen schweren Kampf mit sich zu kämpfen. Während sie zögerte, erhob sich der Mühlknappe, sah seine Geliebte fest an und machte eine bittende Handbewegung. Aller Augen richteten sich einige Secunden lang auf den jungen Mann. Da legte die Angeklagte die Hände wie zum Gebet zusammen, neigte den Kopf ein wenig und sagte: „Möge Gott mir helfen, wenn ich Unrecht thue; ich muß ja die Wahrheit sagen. Herr Cesar Hornburg sah meinen Umgang mit dem Knappen nicht gern.“

Der Genannte zuckte zusammen, aber er blieb regungslos sitzen. Die Versammlung versuchte in den kalten Zügen des vornehmen Herrn die Enthüllung des Geheimnisses zu lesen, das immer undurchdringlicher sich gestalten zu wollen schien.

„Gaben Sie Herrn Hornburg Veranlassung zu solchem Wunsche?“

„Ich kann mich nicht erinnern.“

„Falls Ihr Gedächtniß Ihnen nicht treu ist, werde ich Herrn Hornburg um nähere Auskunft bitten müssen. Ich wiederhole meine Frage: Aus welchem Grunde sah Ihr Herr es ungern, daß Sie sich versprochen hatten?“

Die Angeklagte begann still zu weinen und bedeckte ihre Augen mit beiden Händen. Cesar Hornburg lächelte unmerklich, während der Knappe ihn trotzig und herausfordernd anblickte.

Der Präsident ließ Anna Zeit sich zu beruhigen. Er wechselte leise Worte mit dem Staatsanwalt. Nach einer längeren Pause, während welcher die Angeklagte ihre Thränen trocknete, fragte er, an welchem Tage und zu welcher Stunde sie ihren Geliebten zum letzten Male gesprochen habe.

Mit den Augen abermals Cesar Hornburg streifend, nannte Anna den Tag vor Ottwald’s Tode.

„Um welche Stunde?“ wiederholte der Präsident.

„Nachts zwischen zehn und zwölf.“

Ein banges Athmen, als bilde die ganze Versammlung nur einen einzigen lebenden Organismus, ging durch den Gerichtssaal. Cesar zog sein Taschentuch und trocknete sich den Schweiß von der Stirn.

„Wo trafen Sie sich?“ forschte, die Stille unterbrechend, mit sonorer Stimme der Vorsitzende weiter.

Abermals zögerte Anna, abermals hob der Knappe bittend die Augen zu ihr auf.

„In meinem Zimmer am Ende des Corridor, welcher zum alten Schlosse führt.“

„Verließen Sie während Ihres Beisammenseins das Zimmer, wo Sie mit einander verkehrten?“

„Nein, erst als wir uns trennten.“

„Und wann geschah dies?“

[695] „Bald nach Mitternacht.“

„Besuchte Sie Ihr Verlobter immer so spät?“

„Nein.“

„Was veranlaßte ihn, gerade in jener Nacht so lange im Schlosse zu verweilen?“

„Die Krankheit Herrn Ottwald Hornburg’s.“

„Erklären Sie sich deutlicher. Wie konnte die Krankheit des jüngeren Hornburg ein Hinderniß für Ihre Zusammenkunft mit dem Knappen sein?“

„Ich mußte vorher im Auftrage meines Herrn den kühlenden Trank bereiten, von dem man sagte, Herr Ottwald Hornburg habe sich daran den Tod getrunken,“ versetzte die Angeklagte mit von Thränen halb erstickter Stimme.

„War Ihr Verlobter zugegen, als Sie diesen Trank bereiteten?“

„Nein.“

„Wann besuchte er Sie?“

„Wenige Minuten nach der Rückkehr des Herrn aus dem Zimmer des Kranken.“

„Um welche Zeit erfolgte diese Rückkehr?“

„Die Schloßuhr hatte eben ein Viertel nach zehn geschlagen.“

„Wohin begab sich Herr Cesar Hornburg?“

„Auf sein Zimmer.“

„Welchen Weg dahin schlug er ein?“

„Er ging über den Corridor.“

„Ging später Niemand mehr über den Corridor?“

Anna legte die Hand an ihre Stirn und verneinte nach kurzem Sinnen diese Frage, jedoch in einem Tone, der es zweifelhaft ließ, ob sie die volle Wahrheit sage oder mit Vorbedacht etwas geheim halte.

„Man hat aber später, wie durch Zeugen bewiesen ist, noch Licht im Schlosse gesehen.“

„Nicht im Corridor,“ sagte rasch und deshalb vielleicht in Uebereilung die Angeklagte. Sie mochte selbst fühlen, daß sie eine zu schnelle Antwort gegeben habe, denn sie erröthete und senkte beschämt die Blicke.

„Sie geben durch Ihre Antwort zu,“ fuhr der Vorsitzende mit größter Kaltblütigkeit fort, „daß später noch Licht im Schlosse zu sehen war. Wo haben Sie dasselbe bemerkt?“

„Am Ende des Korridors,“ erwiderte in sichtbarer Angst die Angeklagte.

„Sie sehen hier ein genau gearbeitetes Modell aller Räumlichkeiten des Schlosses,“ sprach der Präsident weiter. „Bezeichnen Sie jetzt die Stelle, wo Sie das Licht zuletzt bemerkten.“

Anna deutete auf den Raum zwischen der Thür des Zimmers, in welchem Ottwald gestorben war, und dem Eingange zum alten Schlosse.

„Das ist seltsam,“ erwiderte der Vorsitzende. „Ehe es gerade in diesem Raum kam, der nach keiner Seite hin ein Fenster hat, muß es doch anderswo geleuchtet haben. Wie also und von welcher Seite kam es in den von Ihnen bezeichneten Raum?“

Anna war offenbar unschlüssig. Unstät flog ihr Blick von der Gruppe der Gerichtspersonen bald auf ihren Verlobten, bald auf Cornelie und den wie eine Marmorstatue dasitzenden Cesar Hornburg. Endlich nannte sie die Thür des letzten zum Neubau gehörenden Zimmers.

„Wann bemerkten Sie das Erscheinen des Lichtes in der Thür dieses Zimmers?“ fuhr der Präsident in seinem fürchterlichen Examen fort.

„Einige Minuten vor zwölf Uhr Nachts.“

„Und in welcher Hand befand sich das Licht?“

„Wenn meine Augen mich nicht getäuscht haben, hielt es Herr Cesar Hornburg in der linken Hand,“ sagte Anna unbefangen und mit festerer Stimme.

„Wohin wendete sich der von Ihnen als Herr Hornburg Erkannte von diesem Winkel aus?“

„Ich habe darauf nicht geachtet,“ versetzte die Angeklagte.

„Warum nicht?“

„Weil ich fürchtete, der Herr möge mich bemerken und mich fortjagen, weil ich gegen sein Gebot mit meinem Verlobten zu so später Stunde zusammentraf.“

„Bemerkten Sie auch nicht, ob das Licht in diesem Raume ausgelöscht wurde oder ob es sich später wieder entfernte?“

„Es entfernte sich wieder.“

„Ohne vorher diesen Raum verlassen zu haben?“

„Nein, ich sah es durch den Schlüsselspalt verschwinden und erst nach längerer Zeit wieder erscheinen.“

„Wissen Sie nicht, wo es in der Zwischenzeit sich befand?“

„Darüber habe ich nur Vermuthungen.“

„Theilen Sie uns diese Vermuthungen mit.“

„Ich glaube, Herr Cesar Hornburg ging mit dem Lichte nach dem Eckzimmer, wo sich die alte Bibliothek befindet.“

„Was veranlaßt Sie zu dieser Annahme?“

„Weil ich zwei Mal das schrille Knarren einer Thür hörte. Die Thüren im Neubau, welche auf den Corridor sich öffnen, knarrten nie, eben so wenig die zum Zimmer des kranken Herrn Ottwald führende.“

„Und Sie erinnern sich ganz deutlich, daß der Besitzer des Schlosses, Herr Cesar Hornburg, in jener Nacht um die von Ihnen angegebene Zeit, mit einem Lichte in der linken Hand, aus der letzten Thür dieser Zimmerreihe trat und eine knarrende Thür öffnete, durch die er mit dem Lichte verschwand?“

„Ich bin bereit, meine Aussage zu beschwören.“

Während dieser Verhandlung richtete sich die Aufmerksamkeit des lautlos zuhörenden Publicums mehr und mehr auf den Mann, dessen Name so oft genannt worden war. Cesar Hornburg saß mit übereinander gelegten Armen auf seinem Platze, verwandte kein Auge von seiner früheren Haushälterin und schien jede ihrer Antworten zu verschlingen.

Es folgten jetzt Seitens der Präsidenten noch einige Fragen, deren Zweck war, zu constatiren, auf welche Weise der zu so später Stunde durch das Schloß wandelnde Cesar wieder zurück in sein Zimmer gegangen sei. Anna’s Antworten harmonirten vollkommen mit der Aussage des Mühlenpachters Caspar. Der Weg, den Hornburg, wie Anna angab, genommen hatte, entsprach in jeder Hinsicht dem Lichtschimmer, welchen Caspar, am Mühlbache stehend, genau um die angegebene Zeit durch die Zimmerreihe gleiten sah. Ein einziger Punkt nur, der sowohl den Gerichtspersonen wie dem gespannt zuhörenden Publicum viel zu denken gab, blieb unklar. Cesar Hornburg war nach dem Bibliothekzimmer gegangen, das blos den einen Eingang vom Corridore aus hatte, und doch sah Caspar gleich nach dem Verschwinden des Lichtes den Schimmer desselben zugleich mit einem beweglichen Schatten in das Zimmer treten, wo man am Vormittage darauf Ottwald entseelt in seinem Bette fand!

Die bereits weit vorgeschrittene Zeit und die sichtliche Abspannung der Angeklagten veranlaßten den Präsidenten, die Verhandlungen abzubrechen. Es war ohnehin nöthig, die vorgeladenen Zeugen zu vernehmen, um, vielleicht durch ihre Aussagen auf andere Spuren geleitet, die Untersuchung fortzusetzen. Im Publicum machte sich, als es den Gerichtssaal verließ, bereits die Meinung geltend, die unglückliche Angeklagte könne möglicherweise das vergiftete Getränk dem Verstorbenen bereitet haben, eines mit Absicht begangenen todeswürdigen Verbrechens aber werde sie schwerlich zu überführen sein.




VIII.

Am andern Tage war der Zudrang der Menge zu dem Gerichtssaale noch größer. Man mußte die Thüren militärisch besetzen, um möglichen Störungen, welche der ungestüme Andrang Neugieriger veranlassen konnte, vorzubeugen.

Die Gerichtshalle selbst hatte ein verändertes Aussehen erhalten. Die Fenster waren heute mit dichten schwarzen Gardinen versehen, die mittelst einer Schnur zugezogen werden konnten. Diese Draperie fiel den Zuhörern sogleich in die Augen und beschäftigte eine Zeitlang die Meisten mehr, als die in den Proceß verwickelten Personen.

Die Nachbildung des Schlosses, in welchem das Verbrechen begangen worden war, stand heute, etwas erhöht, gerade vor dem Präsidenten.

Nach Beeidigung der Zeugen, die zuvörderst vernommen werden sollten, und Erledigung sonstiger Förmlichkeiten, mußte zuerst der Verlobte Anna’s seine Aussagen machen. Der gewandte Richter erleichterte dem jungen Manne, dessen Schuldlosigkeit ja nicht erwiesen war, diese in keiner Weise. Seine Fragen waren so scharf zugespitzt, so ganz eigenthümlich gefaßt, daß ein Mensch, [696] der geflissentlich Manches zu verheimlichen hatte, alle Geisteskräfte anstrengen mußte, wollte er sich durch seine Antworten nicht in ein Netz von Widersprüchen verstricken. Der Knappe jedoch bestand diese schwierige Feuerprobe mit bewundernswürdiger Unbefangenheit. Er antwortete immer schnell und bestimmt, er suchte nirgends Ausflüchte, gab sich keine Mühe, irgend etwas zu verheimlichen, und so trafen denn seine Aussagen so ganz mit denen seiner Verlobten überein, daß Niemand an deren Wahrheit mehr zweifeln konnte. Auch der Knappe erklärte sich bereit, zu beschwören, daß es Cesar Hornburg, der Besitzer des Schlosses, gewesen sei, den er um die angegebene Zeit mit einem Lichte das Bibliothekzimmer habe betreten und etwa nach einer Viertelstunde es wieder verlassen sehen. Die Furcht, von dem jähzornigen Herrn bemerkt zu werden, der ihm wiederholt die Besuche im Schlosse verboten, habe ihn veranlaßt, sich ganz ruhig zu verhalten, um so mehr, als er gewahr geworden sei, daß Herr Cesar Hornburg nach allen Seiten hin sich umgesehen, gelauscht und nur zögernd den Rückweg angetreten habe. Selbst als er sich schon sicher geglaubt, sei er am Verlassen seines Versteckes noch einmal verhindert worden, denn der Schloßherr habe zwei Mal hinter einander die Thür geöffnet und gehorcht, als falle ihm ein Geräusch auf, dessen Ursache er ermitteln wolle. Die Furcht, dem Schloßherrn am Ende doch noch in die Hände zu fallen, erkläre auch die Zerstreutheit, welche Caspar an ihm bemerkt und welche diesen zu der scherzhaften Frage, ob er einen Geist gesehen, veranlaßt habe.

Zunächst mußte nun der Mühlenpachter Caspar sein Zeugniß deponiren. Die Spannung des Publikums steigerte sich, als auf einen Wink des Präsidenten die schwarzen Gardinen an den Fenstern unhörbar sich zusammenfalteten und dichte Finsterniß die Gerichtshalle einige Secunden lang erfüllte. Die Versammlung glich in diesem Moment einem Vehmgerichte. Darauf brachte man Lichter, die durch bereit gehaltene Hüllen leicht verdeckt werden konnten. Wozu diese seltsamen Vorbereitungen dienen sollten, errieth Niemand. Bald aber begriffen alle die Bedeutung, welche denselben beigelegt war. Man vernahm keinen Laut, keinen Athemzug, als der Vorsitzende die Frage an Caspar richtete:

„Wo befanden Sie sich, als Ihnen der Lichtschimmer im Schlosse zuerst auffiel?“

Caspar bezeichnete den Ort auf dem hochstehenden, sämmtlichen Anwesenden sichtbaren Modell. Man ersuchte den Zeugen, jetzt die nämliche Stelle einzunehmen. Darauf fielen die Hüllen über die Lichter, die Halle erfüllte Finsterniß, nur in einem einzigen Zimmer des Modelles brannte ein Licht, das mit einer einfachen mechanischen Vorrichtung alsbald langsam durch die Flucht der Zimmer fortbewegt ward.

„Ich fordere den Zeugen auf,“ sprach der Vorsitzende, „jede in der Bewegung des Lichtschimmers ihm bemerkbar werdende falsche Richtung genau zu bezeichnen.“

So glitt nun das bewegliche Licht von Zimmer zu Zimmer, verschwand momentan in jeder Thür und glänzte dann weiter. Caspar beobachtete den Schimmer, fand aber nichts zu erinnern. Jetzt trat das Licht auf den Corridor. Der Präsident winkte. Es blieb stehen.

„Erkennen Sie in dieser Nachahmung ein treues Abbild des wandelnden Lichtes in jener Nacht auf dem Schlosse des Herrn Cesar Hornburg?“ fragte er den Zeugen.

Caspar bejahte, ohne sich zu einer weiteren Bemerkung veranlaßt zu sehen.

Auf einen abermaligen Wink des Präsidenten begann das Licht sich wieder in Bewegung zu setzen. Jetzt erleuchtete es das Eckzimmer, wo sich die Schloßbibliothek befand. Hier rastete es und der Frage des Präsidenten an den Zeugen:

„Gleicht dieser Schimmer ebenfalls dem, welchen Sie beobachteten?“

folgte die kurze, das ganze Publicum erregende Antwort Caspar’s:

„Nicht ganz. Das Licht stand etwas niedriger.“

Sofort verkürzte sich dieses, der Schimmer im Modell gestaltete sich anders. Ein Schatten kroch an dem Fenster hinauf und fiel halb gegen die Decke.

„Das ist der Schatten, den ich sah,“ sprach der Zeuge. „Genau so bewegte sich das Licht.“

„Wo befindet es sich jetzt?“ fragte der Präsident.

„Auf der Stelle, wo man die Wachstropfen auf der Diele bemerkte,“ lautete die Antwort.

„Wie lange beobachteten Sie diese Gruppirung von Licht und Schatten?“ klang die nächste an den Mühlenpachter gerichtete Frage.

„Drei bis vier Minuten.“

„Wo bemerkten Sie später den Schein desselben?“

„Im Nebenzimmer, wo der jüngere Bruder Herrn Hornburg’s, wie ich wußte, krank lag.“

„Das Bibliothekzimmer hat aber keinen Ausgang[WS 1] nach dieser Seite. Wie also war es möglich, daß Sie von diesem aus einen Lichtschein in das Zimmer des Kranken dringen sahen? Sie werden sich geirrt haben.“

„Geirrt habe ich mich nicht,“ versetzte Caspar. „Ich hatte Zeit genug, den Schein, noch mehr den Schatten, den er warf, zu beobachten; er fiel mir seiner sonderbaren Gestalt wegen auf.“

„Wir müssen versuchen, durch eine veränderte Lichtstellung diesen Schatten zu erzielen.“

Alsbald verschwand das Licht, die Fenster blieben einen Augenblick dunkel, dann erhellte es den Raum, in welchem Ottwald Hornburg seinen Geist aufgegeben hatte.

„Die Erleuchtung des Zimmers ist gegenwärtig ganz anders, als ich sie in jener Nacht sah. Das Licht wirft jetzt gar keinen Schatten.“

„Wie ist dies möglich?“ sagte der Präsident.

„Die Erklärung ist leicht,“ bemerkte der Architekt, welcher im Auftrage des Gerichtes das Modell angefertigt hatte. „Die Thüren aller Zimmer öffnen sich nach dem Corridor. Ein Licht, das Jemand trägt, kann auf diese Weise keinen Schatten werfen.“

„Von wo aus bewegte sich der Schatten?“ fragte der Präsident den Mühlenpachter.

„Von der Seite links gegen das Fenster, das er ganz bedeckte.“

„Also vom Bibliothekzimmer aus?“

„So schien es mir.“

Der Zeuge durfte sich entfernen. Mit vernehmbarer Stimme ward nunmehr Cesar Hornburg aufgerufen. Aller Augen richteten sich auf den blassen, vornehmen, mit unsichern Schritten vor die Richter tretenden Mann. Mit gewohnter Ruhe und Sicherheit stellte der Präsident auch an diesen seine Fragen. Cesar antwortete ebenso ruhig und sicher. Er zeigte keine Spur von Befangenheit, nachdem die ersten Antworten über seine Lippen gekommen waren.

„Haben Sie etwas gegen die Aussagen zu erinnern, die in gleicher Weise sowohl die Angeklagte wie deren Verlobter gemacht haben?“

Cesar Hornburg verneinte, während seine bis dahin klare Stirn sich verfinsterte.


[709] „Sie geben demnach zu,“ fragte der Vorsitzende weiter, „daß Sie selbst, in eigener Person, um die bezeichnete Nachtstunde, mit einem brennenden Lichte in der Hand, nach dem Bibliothekzimmer gingen?“

Auch diese Frage bejahte Cesar Hornburg.

„Was veranlaßte Sie dazu?“

„Ich bedurfte eines Bündels Papiere, Käufe enthaltend, welche mein Vater vor seiner zweiten Vermählung abgeschlossen hatte. Mein Halbbruder Ottwald verlangte dieselben am nächsten Tage zu sehen und durchzulesen, da er angeblich nichts von deren Existenz wußte.“

„Ich mache Sie darauf aufmerksam, Herr Hornburg,“ bemerkte der Vorsitzende, „daß Sie bei der Anwesenheit der Untersuchungs-Commission in Ihrer Besitzung das Bibliothekzimmer derselben nicht sogleich erschlossen, weil Sie den Schlüssel dazu nicht besitzen wollten. Aus welchem Grunde verheimlichten Sie, daß Sie denselben besaßen und vor so kurzer Zeit erst in jenem Zimmer gewesen waren?“

Mit lächelnder Miene und freimüthig umherblickend versetzte Cesar: „Es war unüberlegt, daß ich dies that, aber ich kann ja gern sagen, was mich dazu veranlaßte. Von Gerichtspersonen sein Eigenthum durchstöbern zu sehen, ist unter allen Umständen höchst störend. Man hat kein Recht, sich ihnen zu widersetzen, ihnen zu wehren, daß sie im Amtseifer möglicherweise auch ihre Befugnisse überschreiten. Der plötzliche Tod meines armen Bruders konnte ja die Commission leicht veranlassen, auch unsere Papiere näher einzusehen. Dies hielt ich für unnöthig und, um dieser Möglichkeit vorzubeugen, die ich wahrscheinlich nicht ohne Weiteres gestattet haben würde, stellte ich mich, als sei erwähntes Zimmer seit Jahr und Tag weder von mir noch von sonst Jemand betreten worden.“

Cesar Hornburg sprach so unbefangen und sorglos, daß seine Worte offenbar einen guten Eindruck auf das Publicum machten. Ob die Gerichtspersonen ebenfalls davon befriedigt wurden, ließ sich nicht erkennen.

„Hatten Sie einen besondern Grund,“ fuhr der Präsident fort, „der Sie veranlaßte, den Weg nach der Bibliothek durch die Zimmerreihe und nicht durch den Corridor zu nehmen?“

„Auf dem Corridor hätte der Bruder meine Schritte leicht hören können,“ erwiderte Cesar. „Nur um ihn nicht in seiner Nachtruhe zu stören, durchschritt ich die Zimmer.“

„Wie lange hielten Sie sich im Bibliothekzimmer auf?“

„Ich habe meine Uhr darüber nicht zu Rathe gezogen, glaube aber wohl, daß vielleicht eine Viertelstunde verstrichen sein kann, denn ich fand das Gesuchte nicht sogleich.“

„Wo stellten Sie das Licht während des Suchens hin?“

„Da es keinen leeren Tisch noch Sessel im Zimmer gab, mußte ich es wohl auf die Diele setzen.“

„Können Sie die Stelle, wo es stand, genau angeben?“

„Ich bin nicht so anmaßend, mich dessen rühmen zu wollen, denn offen gestanden habe ich gar nicht darauf geachtet, weil ich es wirklich für unwichtig hielt. Möglich aber ist es, daß es eine Zeit lang gerade da gestanden hat, wo die scharfsichtige Untersuchungs-Commission die Flecke bemerkte.“

„Fanden Sie das Gesuchte?“

Cesar Hornburg bejahte diese Frage, aber so unsicher, als denke er an etwas Anderes.

„Gingen Sie genau auf demselben Wege wieder zurück, den Sie gekommen waren?“

„Ohne mich im Geringsten zu verweilen.“

„Sie traten also nicht noch einmal in das Zimmer, wo Ihr Halbbruder krank lag?“

„Nein!“

„Wie erklären Sie dann das Licht, das genau in der Zeit, wo Sie im Bibliothekzimmer sich aufhielten, von diesem in das Gemach Ihres kranken Bruders drang?“

„Dafür habe ich keine Erklärung und – Sie gestatten, daß ich meine Meinung offen ausspreche – ich glaube nicht an diesen Lichtschimmer. Niemand hat ihn gesehen, als der Mühlenpachter Caspar. Es ist bekannt, daß in jener Nacht der Mond schien. Wie leicht kann auch ein scharfes Auge durch Mondlicht getäuscht werden! Es gibt der Fenster viele in meinem Schlosse; eins liegt dem andern gegenüber. Ist da nicht anzunehmen, daß auf irgend eine Weise, die sich freilich nicht so leicht nachahmen läßt, weil uns die Gesetze der Strahlenbrechung gerade bei der Stellung des nächtlichen Gestirnes nicht bekannt sind, das Licht des Mondes sich auf dem Fenster des Gemaches widerspiegelte, das meinen unglücklichen Bruder beherbergte? Oder Caspar konnte sich auch täuschen in der dämmerigen Nacht. Was er für einen von innen heraus gegen das Fenster sich bewegenden Schatten hielt, trat von außen, vielleicht als ein vom dunstenden Thale aufsteigender Nebel, vor das Fenster. Soviel ich weiß, lassen sich fest gemauerte Wände nicht beliebig verschieben, eine feste, Jahrhunderte [710] alte Wand aber scheidet die Bibliothek von dem Zimmer, in welchem zu unser aller Betrübniß mein unvergeßlicher Bruder einsam verstarb.“

Cesar Hornburg’s Vortrag erregte Sensation bei einem Theile des nicht bestechlichen Publicums. Die leise Ironie, die aus seinen Antworten herausklang, verfehlte nicht ihre Wirkung, und die Zuversicht, mit welcher er auf die Möglichkeit hinwies, eine fest stehende Wand von der Stelle zu rücken, war ein argumentum ad hominem, vor welchem das Zeugniß Caspar’s von selbst zusammenfiel.

In diesem Augenblicke erschien ein Gerichtsdiener in dem nur spärlich erleuchteten, menschenerfüllten Saale. Er näherte sich in Eile dem Präsidenten, wechselte leise Worte mit diesem und überreichte ihm einen Brief und eine sorgfältig versiegelte Schachtel.

Cesar Hornburg stand noch auf dem Zeugenplatze, da sein Verhör von dem Präsidenten noch nicht für beendigt erklärt war. Es schien ihm die Zeit lang zu werden, denn er zog, während der Vorsitzende den Brief las, dann die Siegel von der erhaltenen Schachtel löste und einen schnellen Blick in dieselbe that, seine Uhr und musterte dabei die Reihen der aufmerksam lauschenden Zuhörer. Die Stimme des Präsidenten, die jetzt einen schärferen, harten Klang hatte, der Cesar’s verwöhntes Ohr höchst unangenehm berührte, störte ihn in dieser Musterung.

„Sie haben sich bemüht, Herr Hornburg, die Aussagen des Mühlenpachters Caspar als irrige zu bezeichnen,“ hob der Vorsitzende abermals an. „Was Caspar gesehen haben will, erklären Sie einfach als eine Augentäuschung. Könnten Sie diese Erklärung auch beweisen, so würden wir Ihrer Ansicht vielleicht beizutreten genöthigt werden. Das aber vermögen Sie nicht. Sie haben ferner bemerkt, eine feste Wand, die Jahrhunderte überdauert habe, lasse sich nicht von der Stelle bewegen. Gegen dies Argument hat gewiß Niemand etwas zu erinnern. Indeß wird Ihnen bekannt sein, daß alte Baulichkeiten, namentlich aber alte Feudalschlösser, oft Vorrichtungen enthalten, um auf geheimen Wegen darin nach Belieben umherwandern oder ein- und ausgehen zu können. Sollte es nun nicht denkbar sein, daß auch auf Ihrem Besitze von Alters her derartige verborgene Gänge oder versteckte Thüren sich vorfänden?“

Cesar verschlang gierig jedes Wort des ruhig, aber mit strenger Miene Sprechenden. Die Hitze im Saale schien ihn zu peinigen; er zog abermals das Taschentuch, um die perlenden Schweißtropfen auf seiner Stirn zu trocknen. Dann sagte er:

„Mir ist nichts davon bekannt geworden.“

„Dann haben Andere ein schärferes Auge und eine glücklichere Hand für verborgene Federn,“ fuhr der Präsident fort, „denn soeben meldet mir die heute Morgen dahin abgesandte Commission, daß es derselben nach langem Suchen gelungen ist, im Bibliothekzimmer eine Feder zu entdecken, durch deren Druck ein Theil der Wand zurückweicht und einen Eingang in das Zimmer öffnet, wo Ihr Halbbruder todt auf seinem Lager gefunden ward.“

Cesar Hornburg hielt sich nur mit Mühe aufrecht. Seine Gesichtsmuskeln zuckten krampfhaft, seine Hand zitterte. Als könne er die hundert und aber hundert auf ihn gerichteten Blicke nicht ertragen, oder als blende ihn der Schein der jetzt wieder hüllenlos dastehenden Lichter, hielt er das Taschentuch vor die Augen.

„War Ihnen diese geheime Thür, welche ein Bücherbord verdeckt, unbekannt?“ fragte der Präsident schärfer.

„Ich sah dieselbe nie,“ versetzte Cesar mit gepreßter Stimme.

Der Präsident griff nach der empfangenen Schachtel, entnahm derselben einen glänzenden Gegenstand und zeigte diesen dem Schloßbesitzer.

„Nach der Aussage Ihrer Halbschwester, Fräulein Cornelie Hornburg,“ sprach er weiter, „pflegte deren verstorbener Bruder bis zu dem Tage, wo dieselbe ihn verließ, einen Ring zu tragen, den er von seiner Mutter ererbt hatte. An dem Finger des Todten vermißte man diesen Ring. An der Stelle, wo zwischen Bücherbord und Wand die Feder verborgen ist, welche den verdeckten Eingang zu beiden Zimmern erschließt, fand man diesen Ring. Fräulein Cornelie Hornburg wird aufgefordert zu erklären, ob es derselbe ist, den ihr verstorbener Bruder trug und niemals ablegte?“

Cornelie’s Antwort lautete bejahend.

Der Präsident wandte sich abermals zu Cesar.

„Wie kam dies Kleinod neben die verborgene Feder?“ fragte er den unruhigen Herrn des Schlosses.

„Ich kann darauf keine Antwort geben,“ lautete dessen Erwiderung.

Der Präsident öffnete zum zweiten Male die Schachtel. Diesmal enthüllte er ein zusammengefaltetes Papier. Es war ein Briefbogen, welcher am oberen Ende den Stempel von Cesar’s Namenszuge trug.

„Bei Oeffnung der geheimen Thür entdeckte man ferner diese Papierhülse,“ fuhr er fort. „Dieselbe enthält den Ueberrest eines Pulvers. Der hier anwesende Gerichtsarzt wird uns sagen können, woraus dieses Pulver besteht.“

Der Gerichtsarzt erklärte es für weißen Arsenik.

Der Vorsitzende fuhr fort: „Es ist durch die Section der Leiche Ottwald Hornburg’s erwiesen, daß der Genuß einer starken Dosis Arsenik ihm das Leben geraubt hat. Die Auffindung einer mit gleichem Gift bestreuten Kruke jenes Himbeer-Gelées, aus welchem die Haushälterin des älteren Hornburg dem Kranken am Abend vor seinem Tode das kühlende Getränk bereitete, mußte den Verdacht auf diese Person richten, und hatte deren Verhaftung und, da sie sich durch ihre Aussagen nicht zu reinigen vermochte, ihre spätere Versetzung in Anklagestand zur Folge. Die neu erhaltenen Aufschlüsse leiten auf andere Spuren. Der verborgene Eingang aus der Bibliothek in das Zimmer, wo Ottwald Hornburg krank lag, erklärt den Schatten, welchen der Mühlenpachter Caspar gegen Mitternacht sich gegen das Fenster bewegen sah. Genau um diese Zeit hatte, seinem eigenen freien Geständniß nach, Cesar Hornburg das Bibliothekzimmer betreten, angeblich, um Papiere daselbst zu suchen. Es ist erwiesen, daß Niemand von allen Bewohnern des Schlosses mit dem Geheimniß jener verborgenen Thür vertraut war. Auch Cesar Hornburg leugnet, dieselbe zu kennen. Dagegen mehren seine Anwesenheit in der Bibliothek zu der Nachtstunde, wo Caspar Licht in beiden Zimmern und den seltsamen Schatten beobachtete, ferner der gefundene Ring, welcher der Leiche fehlte, endlich das Papier mit dem Giftrest den Verdacht, er wisse um den Tod seines Halbbruders, und sei dabei schwer betheiligt. Auf Grund dieses Verdachtes hin befehle ich, Cesar Hornburg zu verhaften.“

Diese unerwartete Wendung der Verhandlungen hatte Niemand vermuthet. Hielten auch die Meisten, und vor allen die Gerichtsbeisitzer, die Angeklagte selbst für schuldlos, so setzte man bei derselben doch eine unbewußte Theilnahme voraus. Auch diese Annahme war nach den gemachten Funden kaum mehr haltbar. Indeß konnte dies erst durch die weitere Fortführung des Processes festgestellt werden.

Cesar Hornburg gab keinen Laut von sich, die giftigen Blicke aber, die er bald dem Präsidenten des Gerichtes, bald Caspar zuschleuderte, dessen Aussagen ihm offenbar ganz allein so verderblich geworden waren, ließen kaum einen Zweifel seiner Schuld zu. Finster folgte er dem Gefangenwärter. Er verließ den Gerichtssaal, ohne der Schwester, die im Verein mit Caspar der tief erschütterten Anna sich zuwendete, einen Blick oder Abschiedsgruß zu gönnen.



IX.

Noch am Abend desselben Tages eilten sämmtliche Gerichtspersonen nach dem Schlosse der Familie Hornburg. Die trauernde Cornelie und der Mühlenpachter Caspar befanden sich in ihrer Begleitung. Es handelte sich um die Feststellung der Aussagen des Pachters. Dazu eignete sich Tag und Wetter vortrefflich. Der Himmel war klar, der Vollmond stieg glänzend auf über den Berggipfeln. Ein silberner Duft lag über Thal, Bergstrom, Wald und Schloß, als die Reisenden vor dessen alterthümlicher Eingangspforte hielten. Es war gerade ein Jahr verflossen seit Ottwald Hornburg’s Tode.

Kurz vor Mitternacht führte Caspar die Fremden an den Mühlbach, und wies ihnen hier den Platz an, von dem aus er die Bewegung von Licht und Schatten im gegenüber liegenden Schlosse beobachtet hatte.

Alsbald blinkte ein flackernder Lichtschimmer in der Zimmerreihe des Neubaues auf; er irrte von Gemach zu Gemach. Dann verschwand er auf kurze Zeit, um gleich darauf das Eckzimmer im alten Schlosse, das die Bibliothek enthielt, matt zu erhellen. Ein ungestalter Schatten lief an dem hohen, dem Thale zugekehrten Fenster hin, das im hellen Mondscheine wie mit Silberfunken überstreut war. Jetzt erhellte sich auch das Nebenzimmer. Es [711] war ein Gemisch von Lichtschimmer und Mondenglanz, der es erfüllte. Diese Helligkeit nahm man aber nur kurze Zeit wahr; denn langsam schob sich ein breiter Schatten zwischen Fenster und Licht, bis ersteres fast ganz davon bedeckt ward, und das Innere des Zimmers von Dunkel erfüllt sich zeigte. Das Bibliothekzimmer dagegen flimmerte fortwährend in derselben Beleuchtung, wie zuvor. Dies währte einige Minuten, dann verschwand der Schatten wieder langsam, und im Bibliothekzimmer ward abermals ein unförmliches Schattenbild sichtbar. Hierauf erlosch das Licht, um nach wenigen Secunden rückwärts durch die Flucht der Zimmer des neuen Schloßbaues zu gleiten.

„Es ist genau die Erscheinung der Nacht, in welcher Ottwald Hornburg sich den Tod trank,“ betheuerte Caspar abermals.

Mit Absicht überließ man Cesar Hornburg einige Tage der Einsamkeit und stillem Nachdenken. In dieser Zeit war man nicht müßig, um die bereits gegen ihn zeugenden schweren Thatsachen noch durch Ermittelung neuer zu vermehren. Worauf man bei Eröffnung des Processes wenig geachtet hatte, die Jahre lang zwischen dem älteren Hornburg und seinen jüngeren Halbgeschwistern bestandene heftige Feindschaft, der Proceß um die Erbschaft, welcher von allen Instanzen zu Ungunsten Cesar’s entschieden worden war, die nunmehr plötzlich zur Schau getragene Freundlichkeit des Letzteren, die mit einer gänzlichen und, wie es schien, auch redlich gemeinten Versöhnung schloß; endlich die seltsamen Ereignisse auf der Jagd, die jetzt abermals zur Sprache kamen, und das auf dieselbe folgende Erkranken Ottwald’s, das mit Erbrechen begann: dies Alles waren schwere Indicien, die Cesar eines wohl überdachten Mordes an dem ungeliebten Bruder laut anklagten. Auch das Benehmen gegen Cornelie, das mit einem abermaligen Bruche zwischen beiden Halbgeschwistern endigte, konnte nicht zur Verminderung des Verdachtes, der auf Cesar lastete, beitragen. Es ging vielmehr aus Allem hervor, daß Cesar Hornburg, erbittert über die seinen Händen entschlüpfte reiche Erbschaft, für deren alleinigen rechtmäßigen Besitzer er sich in seinem habsüchtigen Eigendünkel hielt, zum Morde seine Zuflucht genommen hatte, um sich doch zum Theil in den Besitz der Güter zu setzen, die er allein beanspruchte.

Die Verhöre, welche der Gefangene zu bestehen hatte, führten zu keinem Resultate. Er hüllte sich in ein so hartnäckiges Schweigen, daß kaum die einsilbigsten Antworten von ihm zu erlangen waren. Weder die Vorstellungen des Untersuchungsrichters, noch das Vorhalten der Verdachtsgründe, die ihn vor jeder Jury verurtheilt haben würden, änderten etwas in dem Benehmen des starrsinnigen Mannes.

So vergingen einige Wochen. In dieser Zeit war die Voruntersuchung, oder vielmehr das zur Eröffnung des neuen Processes vorhandene reiche Material so weit geordnet, daß die Verhandlungen vor dem Geschwornengericht beginnen konnten. Da der Gefangene sich entschieden weigerte, selbst einen Vertheidiger sich zu wählen, so ward ihm einer der bedeutendsten Rechtsgelehrten als solcher von Staatswegen zugewiesen.

Mit scheinbarer Gleichgiltigkeit sah Cäsar Hornburg diesen Vorbereitungen zu. Er ließ geschehen, was er nicht hindern konnte. Dagegen trat er in allen Dingen, wo sein eigener Wille den Ausschlag zu geben hatte, mit einer Schroffheit auf, die seinen unversöhnlichen, finstern, versteckten und rachsüchtigen Charakter nur zu deutlich verrieth. Er weigerte sich entschieden, seine Halbschwester Cornelie zu sehen und zu sprechen. Sein Auge funkelte vor Ingrimm, so oft man ihren Namen in seiner Gegenwart nannte.

Am Vorabende des Gerichtstages, der über Cesar Hornburg’s Schicksal entscheiden sollte, ließ Cornelie den Bruder noch einmal um eine kurze Unterredung bitten. Auch diese letzte Bitte blieb erfolglos. Niedergeschlagen ging das bedauernswerthe Mädchen, dem ein grausames Geschick auch den zweiten Bruder rauben sollte, von dannen. Cesar Hornburg begehrte allein zu sein. Er bat um Schreibmaterialien, da er noch Einiges zu notiren habe. Gern erfüllte man ihm diesen Wunsch.

Der Gefangenwärter hörte ihn lange noch in seiner Zelle auf- und abgehen. Auch vernahm er einige Male dumpfes Gemurmel und schwere Seufzer. Dann ward es still.

Am nächsten Morgen fand man Cesar Hornburg todt auf seinem Lager. Er hatte verborgen gehaltenes Gift genommen. In einem an den Präsidenten des Gerichtes adressirten Briefe bekannte er sich des Mordes schuldig, ohne jedoch eine Spur von Reue zu zeigen.

„Ich war ein unüberlegter Thor,“ hieß es in dem Schreiben, „daß ich die Wirkungen des Lichtes nicht berechnete. Ohne den verhängnißvollen Schatten würde der Verdacht nie auf mich gefallen sein. Da ich nun voraussehe, daß die Geschworenen bei der Wucht der gegen mich zeugenden Verdachtsgründe ihr „Schuldig“ über mich aussprechen werden, und ich demnach einer Verurtheilung nicht entgehen kann, ziehe ich einen freiwilligen Tod dem vom Gesetz dictirten vor.“

Anna erhielt an demselben Tage ihre Freiheit. Cornelie stattete sie reich aus, als sie einige Monate später dem Knappen ihre Hand reichte, und schenkte ihr die Sägemühle im Thale.

Caspar widmete sich von Stund’ an ganz der Architektur, erhielt zu diesem Behufe freigebig Unterstützung von Cornelie, und später den Auftrag, eine Aenderung im Schloßbau vorzunehmen.

Die verborgene Thür ward entfernt, und die Bibliothek mit Ottwald’s Sterbezimmer in eins verbunden.

Hier lebte Cornelie unter Büchern, mit Verwaltung ihrer Güter beschäftigt, lange Jahre, zurückgezogen von der Welt, und stets in Trauerkleidung gehüllt. Sie zeichnete sich durch Milde und Wohlthätigkeit aus, die sie in so ausgedehntem Maße übte, daß es schon nach wenigen Jahren auf ihren Besitzungen keinen Armen mehr gab.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Augang