Der unglückliche Arme und Reiche

Textdaten
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Autor: Johann Gottfried Herder
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Titel: Der unglückliche Arme und Reiche
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aus: Zerstreute Blätter (Zweite Sammlung) S. 206–208
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Erscheinungsdatum: 1786
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
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Erscheinungsort: Gotha
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Quelle: Googleund Commons
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[206]

 Der unglückliche Arme und Reiche.

Also irren wir Menschen mit unsern Seelen, wir alle
Tragen die Gaben, die uns der Götter prüfende Waage

[207]

Zuwog, in unverständiger Brust. Der Dürftige klaget
Traurig und mißt den Göttern von seinem Uebel die Schuld bei,

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Achtet sich selbst nicht mehr, nicht mehr die männliche Tugend,

Wagt zu sprechen nicht mehr, nicht mehr zu beginnen was Edles,
Sondern schaudert und bebt, wenn die reichen Mächtigen dastehn;
Kummer und Elend nagen ihm stets das welkende Herz ab.
Jener im Gegentheil, dem über viele zu herrschen

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Gott gab und ihm Güter und Glück gewährete, denkt nicht,

Wem zu gut er die Erde mit seinen Füssen betrete;
Er vergisset, daß die ihn erzeugten, Sterbliche waren,

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Donnert in seinem Stolze dem Zevs gleich, hebet das Haupt hoch,
Ob er ein Zwerg gleich ist und buhlt um die schöne Minerva,

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Oder spähet sich gar einen Schleichweg aus zum Olympus,

Daß an der Göttertafel er mit Unsterblichen speise.
Aber es schleicht auch ihm mit leisen Tritten die Ate *) [1]
Ungesehen heran und unerwartet: sie wandelt
Auf dem Scheitel der Menschen; den Alten erscheinet sie Jungfrau,

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Jünglingen alt; doch bringt sie jedem Verbrechen die Strafe

Und vollführet Jupiters Amt und der strengen Vergeltung.


  1. *) Die Göttin des Uebels und Schadens.