Textdaten
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Autor: Zoë von Reuß
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Titel: Der schwarze Fritz
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aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 857–860
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[857]
Der schwarze Fritz.
Weihnachtserzählung aus dem Handwerkerleben.0 Von Zoë von Reuß.
1.

Immer näher rückt die Weihnacht. – Als die Kleinen heute Morgen vom Schlafe erwachten mit der seit Wochen gewöhnlichen Frage: „Wie oft müssen wir nun noch schlafen?“ hatte die Mutter beruhigend geantwortet: „Nur noch ein einziges Mal – morgen schon ist heiliger Abend.“

Aber auch die Spannung der Erwachsenen stieg, und mit ihr jene fieberhafte Thätigkeit, der die Tagesstunden nicht lang genug sind und welche darum längst die Nacht zur Hülfe genommen hat. Auf den Straßen und Plätzen rennt man in lauter Uebergeschäftigkeit hin und her, und in den Läden und Gewölben drängen sich seit gestern förmlich die Käufer. Am dichtesten aber war das Gedränge doch wohl dort an der Marktecke. Das alte, etwas rauchgeschwärzte Giebelhaus war aber auch ganz besonders günstig gelegen – man fiel sozusagen ordentlich hinein. Auch strahlte der stattliche, kürzlich renovirte Bäckerladen des Parterregeschosses in bunter festlicher Licht- und Farbenfülle bis weit auf den Marktplatz hinaus, und wo sonst die liebe, schlichte Gottesgabe in wohlgerathenen braunen Laiben neben den zierlichen frischen Semmelreihen aufgepflanzt stand – wie junge stramme gutgeschulte Recruten – da thürmten sich augenblicklich den kommenden Festtagen zu Ehren wahre Berge von Leckereien in allerlei verführerisch buntem Süßkram; denn das Weihnachtsfest macht ja die Spiel- und Naschfreuden fast zur Pflicht. Wenn man an dem unscheinbaren Hause vorüberging, war’s wohl wie ein warmer, würziger Odem, der Einem entgegenzog und sogar die Eiszapfen zu schmelzen versuchte, die oberhalb der Ladenthür und Fenster hingen. Drinnen drängten sich auch förmlich die Käufer; selbst die Ladenstube war ausgeräumt worden und beinahe zu einem gaumenreizenden Kunstgewölbe umgestaltet – auch hier stand die kaufende Menge Kopf an Kopf gedrängt. Der stattliche Bäckermeister, der aus der daneben gelegenen Wohnstube durch’s Ladenfensterchen in den bunten Trubel hinübersah, strich sich auch immer von Neuem das Bürgermeisterkinn und schmunzelte gar vergnüglich – der Jahresabschluß versprach gut zu werden.

Stetig hatte sich das Geschäft gehoben, so klein es begonnen. Es sind just fünfundzwanzig Jahre, daß des Meisters seliger Alter mit Weib und Kind aus der Vorstadt draußen in das rauchgeschwärzte Haus an der Marktecke gezogen. Damals standen die Kunden in erster Morgenfrühe noch draußen auf der Straße unter dem braunen Wetterdache, und die Mutter reichte ihnen das frische Gebäck zum Fenster hinaus. Aber der auf den saubern Verkaufstisch hineinstiebende Schnee konnte unmöglich weißer und weicher sein, als die duftenden Semmeln des Bäckermeisters. Das hatten die Reichen der Stadt bald gemerkt und kamen jeden Morgen in den neuen Laden. Die Armen aber stellten sich von weit und breit ein, weil an dem auf dem ausgehangenen Zettel verzeichneten Gewichte niemals ein einziges Quent fehlte. Und so mehrte sich der Wohlstand langsam, aber sicher. Ohne Kampf freilich ist’s auch nicht abgegangen. Es gab eine böse Zeit, wo die rissigen altersgrauen Mauern des Hauses ungleich fester standen, als drinnen der Friede der Familie!

Es werden nun bald ein zwanzig Jährchen sein, da brannte es drinnen lichterloh – Vater und Sohn lagen mit einander in Hader und Streit. Der älteste Sohn und heimliche Liebling des Bäckermeisters sollte eine reiche Bürgerstochter freien, damit man die kostbare Schmeer- oder vielmehr Mehlgrube hier an der Marktecke käuflich erwerben könne; denn bisher hatte sie der Meister nur in Pacht gehabt. Dann wollte ihm der Vater das aufblühende Geschäft überlassen und sich mit der Mutter auf den Altentheil zurückziehen.

Aber der Wilhelm hatte von jeher seinen eigenen Kopf und ging seinen eigenen Weg. Die dunstige Backstube war ihm zu eng, und vor dem Backofen war es ihm zu heiß. Am liebsten [858] saß er und zeichnete und wäre gern ein Baumeister geworden. Weil aber sein Vater das sauererworbene Geld zum Studium nicht hergeben wollte, so ward er, vielleicht aus Trotz, ein Zimmermann. Und mit seinem Herzen war’s fast ebenso wie mit dem Kopfe. Er hätte allerorten die reichste Bürgerstochter haben können; denn er ging stolz aufrecht wie ein Gardist und sah im Gesichte aus wie Milch und Blut. Und doch hatte er sein Herz einem blutarmen Mädchen geschenkt, der braven Eva, die sich und ihr altersschwaches Mütterchen kümmerlich von ihrer Hände Arbeit ernährte. Freilich sahen die Beiden aus wie das erste gotterschaffene Menschenpaar, wenn sie so bei einander standen – schön, frisch, gesund und fröhlich. Es war eine Lust, sie anzuschauen.

Aber der Meister sträubte sich mit Hand und Fuß und wollte die ungleiche Heirath nicht zugeben. Allein der Kopf des Jungen war nicht minder hart, als der des Alten. Er erklärte rund weg, nicht von seinem Evchen lassen zu wollen; sein Arm sei ebenso stark und fest wie sein Muth; darum koste es was es wolle – selbst das Erbtheil!

Ganz so schlimm ward’s glücklicher Weise freilich nicht. Der Alte gab dem Sohne auf Zureden der Mutter, mit der’s dazumal gerade zum Sterben ging, ein kleines Capital zum Anfang. Damit war er abgefunden.

Inzwischen war der zweite Sohn des Alten, der jetzige Meister, auch zum Manne herangewachsen. Er, der bis jetzt immer in der Backstube gesteckt hatte, war nun plötzlich Hahn im Korbe – um so mehr, als er wirklich bald dem Vater die Schwiegertochter zuführte, mit deren Mitgift das eigene Capital ergänzt und die Mehl– und Schmeergrube erworben werden konnte.

Der Wilhelm und das Evchen aber durften dem Alten nicht „unter die Augen kommen“ – so hatte er ihnen beim Abschiede erklärt – über das eigene Herz hinaus! Aber der böse Tod wartet leider nicht, bis wir uns eines Andern, Bessern besonnen haben; er nimmt am liebsten aus vollem Leben heraus – auch das Lebenslicht des starken Bäckermeisters erlosch plötzlich, unter einem einzigen Hauch! So kam es, daß der immer noch helllodernde Zorn des Vaters gegen den ältern Sohn den jüngern um so weicher bettete. Der Wilhelm war wirklich durch das Testament mit dem abbezahlten Pflichtteil abgefunden worden, so nöthig er jetzt pecuniäre Hülfe im Geschäft gehabt hätte; denn dem jungen Ehepaare dort draußen, weit in der Vorstadt, fehlte es an Allem, am Gelde und am Segen. Die Projecte des jungen Bauunternehmers gediehen nicht, und von den Kindern, die ihm Evchen geschenkt hatte, blieb ein einziges am Leben.

Es war kein geringer Triumph für den jungen Meister, als ihn der früher tausendmal beneidete Bruder um Hülfe – oder Gerechtigkeit, wie er sagte – ansprach, und natürlich war derselbe nicht Thor genug, sich die kaum gefüllten Taschen zu erleichtern. Da hielt sich der Wilhelm nicht mehr; es gab bitterböse Worte von Betrug und Erbschleicherei, und im Groll schieden die beiden Brüder, um sich niemals wiederzusehen; denn das einmal siedende Blut des ältern Bruders trieb diesen plötzlich fort, weit in die Welt hinaus. Er wollte anderwärts ein neues Haus gründen und neues besseres Glück suchen.

Ob er’s ernstlich gesucht? Es ist möglich – gefunden aber hat er’s sicher nicht.

Schon nach einem Jahre tauchte ein Gerücht auf, daß der Wilhelm Klauer, der Bruder des reichen Bäckermeisters an der Marktecke, an den Folgen eines Sturzes vom Baugerüst gestorben sei. Draußen im Laden wurde es von den klatschmäuligen Kundinnen nach allen Seiten hin besprochen, und auf die Weise erreichte es auch das Ohr des Meisters. Etwas Genaueres wußte aber Niemand zu sagen; auch von Weib und Kind schien jede Spur verweht, und der von unvergessenem wildem Groll erfüllte Bruder war der Letzte, sich um sie zu kümmern.

Darüber ist nun auch schon wieder ein halb Mandel Jahre hingegangen, und der Grund des Hauses festete sich unter den jungen Leuten jährlich mehr – wo Tauben sind, fliegen Tauben zu. Selbst die Ehre ist zuweilen käuflich, wenigstens das, was die Leute gewöhnlich so nennen. Wenn der Meister in der Bierstube zu dem Bekanntenkreis trat, so wurde er halb im Spaß, halb im Ernst „Herr Stadtvertrockneter“ angeredet. Dazu war er Mitglied und Vorstand verschiedener Vereine, und seit Kurzem sogar Kirchenrath, was die junge Meisterin veranlaßte, sich von dem Dienstmädchen, welches sie Sonntags allemal Frau Kirchenräthin zu nennen pflegte, lieber schlechtweg „Frau Räthin“ nennen zu lassen – der Kürze wegen. – –

„Guten Abend, Papa!“ sagt hinter dem Rücken des Meisters plötzlich eine frische Kinderstimme und erschreckt den starken Mann ein wenig. Er hatte nämlich ganz gegen seine Gewohnheit ein Weilchen wie sinnend dagestanden. Woher kamen ihm mit einem Male die Gedanken? Es ist doch sonst seine Sache nicht, sich mit dergleichen viel abzugeben. Ist’s das Weihnachtsfest, was die Erinnerungen wachruft, besonders die Jugenderinnerungen? Er wendet sich auch sogleich nach der Störung um, wie um seinen Fehler zu verbessern und erblickt die Gustel, die eben aus der Nachmittagsschule kommt, das letzte Mal vor den Ferien. Und das breite schwammige Gesicht des Mannes gewinnt an Ausdruck und Leben, als die Kleine herantritt; denn die Gustel ist Meister Klauer’s einziges Kind und sein Augapfel. Verspricht sie doch ein hübsches Mädel zu werden, und daß sie ein liebes Mädel ist, davon ist die ganze Hausgenossenschaft überzeugt – selbst Hofhund und Hauskater sind über diesen Punkt einig. Wie sie so neben dem Vater steht, reicht sie ihm fast bis an’s Kinn. Zärtlichkeit ist natürlich nicht die Sache eines gesetzten Mannes und wohlbestallten Meisters; dennoch fährt ihr der Vater, wohlgelaunt, wie er in Hinblick auf das Wachsthum des Geschäftes nun einmal ist, fast liebkosend über das Haupt, und der feine Mehlstaub, der dabei dem Arbeitskamisol und der blüthenweißen Schürze entfällt, legt sich auf das blonde, krause Haar des Mädchens wie Puder. Dazu nimmt er sich im Stillen vor, dem Töchterchen gegenüber morgen auch in seinen tiefsten Schubsack zu greifen. Die Weihnachtskunden gehen aus und ein, und vergnügt tritt der Meister in den dämmerigen Flur und streckt sogar das behagliche, wohlgenährte, aber ein bischen blasse Gesicht bis auf die Straße hinaus, um sich etwas zu verpusten und sich der lieben Abwechselung wegen den reinen kalten Winterodem einmal um die Nase ziehen zu lassen.

„Meister Hallmsleben schickt mich zum Fegen,“ tönt es ihm plötzlich entgegen. Die Stimme klingt fast noch kindlich, und als er aufblickt, sieht er einen Schornsteinfegerjungen mit Leiter und Besen, der soeben in’s Haus tritt um im Auftrage seines Herrn an die unsaubere, beschwerliche Arbeit zu gehen.

Die sonst alltägliche Nachricht lautet dem Ohre des Meisters heute wie eine Störung; denn die unangenehme, aber nothwendige Arbeit des Essenkehrens wird immerhin einigen Aufenthalt verursachen, und die Zeit ist kostbar. Doch läßt sich nichts dagegen machen. Aergerlich und der Ordnung wegen fragt der Meister kurz:

„Ist’s gemeldet worden?“

„Gestern Abend –“

„So hat’s der Geselle vergessen – Kreuzmillionenelement! Unsereins muß sich einmal um Alles kümmern! Scher’ Dich in’s Haus, Junge, und warte!“ Mit diesen Worten schlurft der Meister den dämmerigen Hausflur entlang; vermutlich giebt’s drinnen im Backhaus ein neues Donnerwetter.



2.

Der kleine Essenkehrer duckt sich indessen scheu und still in einen Seitenwinkel des großen feuchten Hausflurs, zwischen die Mehlsäcke, die rings an den Wänden stehen. Es ist bitterkalt draußen, und er klopft der Schneestaub von den Holzpantoffeln der nackten Füße. Dann liebkost er flüchtig den auf ergiebiger Mäusejagd befindlichen Kater, der auf den hochaufgerichteten Mehlsäcken umhersteigt und sich schnurrend und buckelnd an ihn herandrängt. Der Hinz hätte gewiß nicht mit ihm getauscht: er hatte es besser als „der schwarze Fritz“. Ja, „der schwarze Fritz“ – so nennen ihn nämlich höhnend die Cameraden und Genossen, mit denen zusammen er ehemals die Schule besuchte – ehe Vater und Mutter starben und er in’s Waisenhaus kam. Ja, ja, der Hinz hatte es gut. Alltäglich war ihm der Tisch mit übriggebliebener Milch und altbackenen Semmelbrocken vollauf gedeckt, und der liebe Gott hatte ihm selbst den warmen, bunten, dauerhaften Rock gemacht, während Fritz in seiner dünnen rauchgeschwärzten Kleidung wie ein Espenlaub zitterte. Er pustet in die Hände – ach, wenn er sich doch einmal tüchtig aufwärmen könnte! Halt, dort steht ja die Thür zur Back- und Knetstube offen, und ein Duft von allerlei feinen kostbaren Gewürzen weht ihn appetitreizend an. Dort drinnen ist’s gewiß mollig warm. Ob er wohl nicht ein bischen eintreten könnte, bis er in die zugige Esse [859] muß? Schüchtern tritt er näher. Der Raum scheint ja leer zu sein … doch – die kleine Bäckerstochter ist drinnen.

Gustel schiebt sich an den großen, teiggefüllten Trögen und Mulden entlang und scheint stark gelangweilt zu sein. Sie hat sich hierher geflüchtet, weil die Räume der Familienwohnung, deren Fenster auf die Straße zu gehen, fast sämmtlich jetzt zu Geschäftszwecken benutzt werden. Um sich die Zeit passend zu vertreiben, fängt sie endlich an, die aufgespeicherten Berge von Schaumconfect und Marzipan knabbernd einer gründlichen Mundprüfung zu unterziehen und dabei sich selbst die Devisen der Bonbons und Pfefferkuchenherzen laut vorzulesen.

Jetzt bemerkt die Gustel aber die schwarze Gestalt und fährt erschrocken zusammen. Aber gar bald gewinnt das runde freundliche Gesichtchen seinen ruhigen Ausdruck zurück. In dem geschwärzten Antlitz hat sie mit einem Male zwei blaue Augen erblickt, die sie bekannt ansprechen. Sie erinnert sich mit voller Bestimmtheit, gerade diesen kleinen Schornsteinfeger schon einmal hier im Hause gesehen zu haben – einmal oder zweimal – das eine Mal weiß sie’s ganz gewiß. Es ist im letzten Sommer gewesen, als die Eltern mit den Nachbarn Nachmittags eine Partie machten, die Gustel aber zu Hause bleiben mußte, der Schule wegen. Damals war der kleine Schornsteinfegerjunge auch gekommen um im Backhaus die Esse zu kehren, und war vom Hof aus einen Augenblick auf den Gartenfleck draußen getreten, um sich die Blumen in der Nähe zu betrachten. Die Gustel aber hatte gerade zufällig in der Laube gesessen und die römischen Könige gelernt – oder vielmehr lernen wollen; die alten hohen Herren wollten nämlich durchaus nicht in Gustel’s Kopf, obgleich sie sich Nachts das Geschichtsbuch unter das Kopfkissen gelegt hatte. Da – mit einem Male hatte der kleine Essenkehrer die ganze Reihe hergeschnurrt, vom seligen Romulus bis zum Tarquinius Superbus. Das hatte der Gustel natürlich sehr imponirt und ein Gespräch vermittelt, aus dem sie erfuhr, wie der kleine Schornsteinfeger – ach so lebensgern! – ein großer Schüler geworden und alle Tage mit buntumränderter Mütze zur Schule gegangen wäre, um so recht, recht viel zu lernen, besonders Zeichnen, was der Vater auch so gut gekonnt habe. Wer zeichnen könne und ordentlich Geld dazu habe, der könne nämlich studiren und Baumeister werden und schöne Kirchen und Thürme bauen. Wäre er Baumeister, würde er aber der Gustel zuerst ein schönes Haus bauen – das solle ihr schon gefallen. Nun, das that schon das Luftschloß; die Gustel lachte bereits mit dem ganzen Gesichte. Sie hatte mitleidigen Herzens oft an den armen kleinen Schornsteinfegerjungen denken müssen. Und nun sah sie ihn wieder, und er stand wie ein Häufchen Unglück frierend dort an der Thür. Vielleicht hatte er Hunger – da konnte sie ja helfen.

„Willst Du nicht ein paar Brödchen?“ fragte sie freundlich.

Fritz nickte leise und nahm dankend ein paar altbackene Semmeln, die der Geselle verächtlich abseits gelegt hatte, und schob sie in die Tasche.

„Komm doch ordentlich herein und wärme Dich!“ fuhr Gustel eifrig fort; „mache aber die Thür zu – so!“

Nur zögernd trat der Knabe näher, als fürchte er, daß bald ein Anderer kommen werde, um ihn hinauszuwerfen. Da hörte er die Gustel plötzlich van Neuem fragen:

„Möchtest Du nicht auch eine Frau zum Weihnachten?“

Fritz traute seinen Ohren nicht und sah verdutzt in die Höhe. Eine Frau? Sonderbar! Ja, wenn’s ein schönes Geschichtenbuch gewesen wäre!

„Ich meine eine aus Pfefferkuchen, wie sie dort oben auf den Börden stehen, mit Rosinenaugen und einer Nase von Mandelkern,“ gab Gustel Personalbeschreibung.

Jetzt freilich lachte der Fritz und liebäugelte zärtlich nach seinem braunen Schatz hinaus. Erfreut und verlegen stotterte er seinen Dank für das zukünftige Liebesglück. Gustel aber war noch nicht zufrieden.

„Nimm lieber ein Lebkuchenherz!“ gab sie guten Rath. „Sie schmecken viel schöner; es sind Nürnberger und werden drüben in der Conditorstube gebacken. Die häßlichen braunen Puppen dort sind nur für die Kinder,“ setzte sie altverständig hinzu. „Ich suche Dir eins aus, mit einem schönen Spruch –

Dies süße Herz, ich schenk es Dir,
Doch gieb das Deine mir dafür!’“

las sie von einem quer über einen riesigen Lebkuchen geklebten Papierstreifen ab. „Gefällt Dir das?“

„Sehr schön!“

„Oder weißt Du was,“ fuhr die kleine Plaudertasche fort, „der Geselle soll Dir mit Zuckerguß Deinen Namen daraufschreiben. Nicht wahr?“ Dabei schob sie sich an den langen blankgescheuerten Tischen entlang, auf welchen der Brodteig zu zierlichen Laiben ausgeformt wurde und auf welchen darum der Mehlstaub so dicht verstreut lag, wie draußen aus den Dächern der erste Schnee. „Wie heißt Du eigentlich?“

„Ich? Friedrich Wilhelm Klauer.“

Gustel traute ihren Ohren nicht und sagte:

„Du machst Spaß. Friedrich Klauer? So heißt ja mein Vater.“

„Doch – ganz gewiß!“ versicherte –Fritz.

„Buchstabire einmal!“ befahl die ungläubige Gustel und schrieb alsbald die Buchstaben mit den tintenbeklexten Fingerchen in den Mehlstaub nieder, wie um sich selbst zu überzeugen. Da öffnete sich schnell die Thür, und der Altgeselle trat ein, um nach dem Brodteig zu sehen. Der „schwarze Fritz“ aber erinnerte sich noch zu guter Stunde, daß er nicht in den geheiligten Raum gehöre und daß es hohe Zeit, sich zu drücken und an die Arbeit zu gehen. Darum schlüpfte er blitzschnell hinaus und trat in’s Backhaus. Dort hob er sofort den Eisenschieber in die Höhe, welcher die neben dem Backofen gelegene viereckige, zum Einsteigen bestimmte Oeffnung des Schornsteins verschloß, paßte die kleine Leiter hinein und streifte die Holzpantoffeln von den Füßen, um mit dem Handwerkszeug in den Orkus hinaufzusteigen. Von den letzten Sprossen der Leiter klimmt er dann weiter, indem er einen vorspringenden Stein gewinnt, oder in der steil herabfallenden Brandmauer, mit Händen und Füßen tastend, eine kleine Lücke erspäht, in welcher der nackte Fuß haften kann. Und so ist er bis zur Höhe der ersten Etage emporgeklommen. – Da, o Schreck und Grausen! sitzt er plötzlich fest! – War bei einer kürzlich vorgenommenen Ausbesserung des Mauerwerks die Schornsteinöffnung enger geworden, hatte er, was wahrscheinlich, beim Aussteige die Kniee zu sehr angezogen; er sitzt mit dem Handwerkszeuge wie eingekeilt, und kann weder vor– noch rückwärts. Umsonst bemüht er sich immer von Neuem – und so tritt ihm bald der Angstschweiß auf die Stirn. Vielleicht kann er Hülfe errufen? Er strengt die Stimme an – klingt nicht von unten herauf unausgesetzt das verworrene Geräusch von Menschenstimmen? Richtig, jetzt vernimmt er sogar deutlich die rauhe Baßstimme des dicken Bäckermeisters, welcher seinen Leuten befiehlt, den Ofen am Abend noch einmal zu heizen; die Arbeit soll die Nacht hindurch weiter gehen. Und mit steigendem Entsetzen erkennt Fritz die neue Gefahr: der neu aufsteigende Rauch muß ihn ja unfehlbar ersticken. Noch einmal strengt er alle seine Kraft an, Aber seine Worte verhallen nach oben, wenigstens werden sie in an der Geschäftigkeit und Unruhe dort unten nicht vernommen. Da, o da beginnt sich schwer und bleiern aus die Seele des armen Knaben die – Todesangst zu legen. Soll er also wirklich hier sterben, einsam und verlassen? Ach, verlassen freilich ist er auch im Leben. Und dennoch klammert sich die junge Seele mit allen Fasern verzweifelnd an das Licht, an das Leben. Unwillkürlich blickt er zur Höhe auf und sieht, wie zum Troste, hoch über sich im Aether schimmernd, ewig, treu, wachsam wie das Auge Gottes selbst – den hellen Abendstern



3.

„Kleine Hexe, was machst Du da?“ fragt der dicke Bäckermeister drinnen in der Backstube die Gustel.

Die Kleine hat sich von all den feinen appetitlichen Sächelchen dort ein ansehnliches Häuflein zusammengelesen, welches sie soeben etwas verstohlen in den weiten Schooß einer viereckigen, weißen Papiertüte zu bergen versucht.

„Ich – ich – Nichts!“ stottert aus der Gustel, trotz der unschuldigen Blauaugen, das böse Gewissen.

„Heraus mit der Sprache! Was soll damit? Giebt’s vielleicht wieder eine sogenannte Weihnachtsbescherung für arme Kinder in der Schule? Auch eine neue Mode! – Nun meinetwegen! Nimm aber von dem bunten, billigen Kram dort!“

Seit die Brühe des Wohlstandes, in welcher der Meister schwamm, so fett geworden war, hatte er zuweilen nichts dagegen, wenn auch die Armuth ihr Stücklein Brod hineintauchte. Er hatte mitunter weiche Anwandlungen – so auch heute.

[860] „Also pack’ Dir nur etwas zusammen für die Weihnachtsbescherung in der Schule, mein Kind!“ sagte er.

„Für die Weihnachtsbescherung in der Schule?“ rief Gustel entsetzt. „Wo denkst Du hin, Papa, dafür würde es doch nicht langen – das ist auch schon besorgt.“ Dazu warf sie als kleine Feinschmeckerin einen Blick voll tiefer Verachtung auf die empfohlenen unscheinbaren Pfeffernüsse. „Nein, die Tüte hier und das Lebkuchenherz will ich dem kleinen Schornsteinfegerjungen schenken, der draußen die Esse kehrt. Denke Dir nur: er heißt auch Klauer, wie wir. Friedrich Wilhelm Klauer, gerade wie auf dem Schilde über unserer Ladenthür steht. Ist er vielleicht ein Verwandter von uns?“

„Wir haben keine Verwandte, wenigstens keine, die uns etwas angehen. Du faselst wohl, Mädel?“

„Ich, ich dachte nur so – ’s ist doch ganz kurios. Ich wollt’s erst auch nicht glauben, aber er hat’s mir selbst gesagt, und ganz im Ernst. Dock steht’s, der Geselle soll ihm seinen Namen nämlich mit Zuckerguß auf das Herz schreiben. Wisch nicht mit dem Aermel darüber weg, Papa! Hier, hier steht’s.“ Dabei wies die Gustel aus das hölzerne, wohlbeschriebene Albumblatt der Tischplatte.

„Wie? Was?“ machte verdutzt der dicke Bäckermeister und starrte aus die bezeichnete Stelle.

„Frag’ ihn doch selbst, wenn er wieder kommt, um sein Herz zu holen! Wo bleibt er nur so lange?“

Der Meister wird immer aufmerksamer. Das blasse, aufgedunsene Gesicht erhält einen gespannten Ausdruck und die großen, runden wasserblauen Augen blicken fragend.

„Was spricht die Gustel da? Sonderbar und unerklärlich! Aber potztausend, wo steckt denn der verdammte Junge?“

Er erinnert sich mit einem Mal, daß er denselben ja gar nicht wieder gesehen hat, auch hat ihm Niemand Bezahlung abverlangt. Plötzlich packt ihn ein Gedanke. – Am Ende ist der Schornsteinfeger noch gar nicht fertig geworden mit seiner Arbeit, und er – der Meister – hat dem Gesellen befohlen, den Backofen von Neuem zu heizen.

„Da soll doch gleich …“

Der Meister ist hinaus, so schnell es seine Corpulenz erlaubt; denn es läuft ihm eiskalt über den Rücken, und als er in’s Backhaus tritt, rührt ihn vor Entsetzen fast der Schlag.

Neben dem geöffneten Schornsteine stehen ja noch die abgestreiften Holzpantoffeln des kleinen Essenkehrers, des armen Jungen – der seinen Namen trägt. Der Meister schwankt; ein Blick auf den vorhin gescholtenen trägen Gesellen, der vermutlich die Arbeitspause benutzt und ein paar Augen voll Schlaf genommen hat und darum erst jetzt das Holz zum Heizen herbeiträgt, giebt ihm glücklich die Fassung einigermaßen zurück. Noch ist’s hoffentlich nicht zu spät. Er eilt an die Maueröffnung und ruft mit Stentorstimme hinauf – schwache Antwort hallt zurück.

Und die breite Brust des Meisters athmet befreit, auch hat er alsbald glücklich seine Ruhe und Geistesgegenwart vollends wiedergefunden und commandirt nun wie ein Feldmarschall. Zuerst schickt er zum Meister des Verunglückten und läßt ihm den Vorfall melden. Aber die Gefahr und die eigene Ungeduld sind zu groß – er muß selbst Hand anlegen. Er holt Axt und Beil herbei und eilt mit dem Gesellen zur ersten Etage hinauf. Dort wird durch Klopfen und Rufen bald die Stelle festgestellt, wo der kleine Schornsteinfeger eingeklemmt ist. Dann schlägt man die Mauer ein, um den Knaben herauszuziehen

Er ist ganz erschöpft und vermag nur einzelne abgebrochene Worte zu sprechen, aber, obgleich der eigentliche Zusammenhang vorläufig noch unaufgeklärt bleibt, lassen Name, Alter und eine gewisse Familienähnlichkeit den Meister nicht mehr zweifeln, daß der arme, vor Kälte und überstandener Todesangst zitternde Knabe dort hier in’s warme Nest gehört, weil er das hinterlassene Kind seines einzigen, elend zu Grunde gegangenen Bruders ist.


Armes trotziges – wunderbares Menschenherz! Wer vermißt sich, dich auszukennen? Bist du hart wie Stein, so zermalmt dich plötzlich ein gewaltsamer Eingriff des Schicksals; bist du kalt wie Eis, so schmilzt dich glücklich die Reue und die Liebe. Denn dicht neben Neid und Geiz, Rachsucht und ungeahnter Leidenschaft, die deine Tiefen bergen, schläft sanft und leise auch der Gottesfunken, den ein gütiger Schöpfer als schönstes Erbteil in dich legte und glücklicher Weise so stark und kräftig erschuf, daß es oft nur eines Luftzuges bedarf, um ihn zu neuem Leben zu erwecken – Der heilige Abend war im Bäckerhause wie alljährlich in vorbereitender Uebergeschäftigkeit vergangen und der Meister hatte wegen des aufregenden Vorfalles nur mit seiner Frau unmittelbar nach demselben stille Rücksprache genommen.

Als aber die Schatten der heiligen Nacht erbleichten und im Osten der kurze späte Wintertag erglühte, als die purpurn durchleuchteten Rauchsäulen gleich stillen, frommen Dankopfern über den schneebedeckten Dächern emporwallten und dazu das „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden!“ aus den gefüllten Kirchen erklang, da stand der Meister stattlich geputzt und mit Hut und Stock zum Ausgehen bereit. Und als er nach einer Stunde von seinem Ausgange zurückkehrte, führte er einen hübschen, festtäglich geputzten Knaben an der Hand, dessen kluger bescheidener Ausdruck unendlich sympathisch berührte. Aus seinem Munde hatte er alles Wissenswerte vernommen – es fehlte kein Glied mehr in der Kette. Der in Haß und Groll geschiedene Bruder war wirklich in der Fremde verunglückt, seine Frau aber, das Evchen die immer zart gewesen und lange gekränkelt, hatte nur eine Sehnsucht gekannt: zurückzukehren nach der Vaterstadt, wo sie einst glücklich gewesen war und hoffen durfte, weniger verlassen zu sein. So hatten Mutter und Kind wieder eine Wohnung in der Vorstadt bezogen, mitten unter den alten Nachbarn. Aber schon nach sehr kurzer Zeit war die Mutter gestorben – an Lungenblutung, wie der Arzt gemeint. Der Fritz aber war in das Waisenhaus gekommen und später einem braven Meister überantwortet worden.

Die Gustel machte natürlich große glückliche Augen, als ihr der Vater den Bruder zuführte. Aber auch die Meisterin nahm ihn mit aufrichtiger Freundlichkeit auf. Er saß Mittags zwischen ihr und der Gustel, als ob er immer da gesessen und an den Platz gehöre. Er fühlte sich ganz zu Hause in dem warmen Bäckerheim. Der jüngste Lehrbube aber, der unten an der Tafel saß, sah über den überladenen Teller hinweg bis hinaus zu dem Platze seines heut so freundlich dreinschauenden Herrn und dachte pfiffig vor sich hin lächelnd:

„Ich möchte nur wissen, was unser Meister eigentlich Schönes zu Weihnachten erhalten hat?“

Und als nach all den winterlichen Festtagen das neue Jahr alles in’s alte Geleis gelenkt hatte, ging der Fritz in sauberer Alltagskleidung und rothumränderter Mütze wieder in die Schule, wie ehemals, als Vater und Mutter noch lebten – sein Herzenswunsch war ihm plötzlich, wie über Nacht, erfüllt worden.

Heute ist er ein ganzer Mann geworden und dazu wirklich ein tüchtiger Baumeister, wie er sich gewünscht hat. Die Gustel aber ist seine Frau und das schöne Haus hat er ihr längst gebaut.

Die traurige glückliche Katastrophe seiner frühen Jugendjahre pflegt er in vertrautem Freundeskreise gern zu erzählen. Auch ich erlauschte sie einst aus seinem eigenen Munde.